DerschkaSchuster20000223 Nr. 711 ZRG 118 (2001)
Schuster, Peter, Der
gelobte Frieden. Täter, Opfer und Herrschaft im spätmittelalterlichen Konstanz.
Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 1995. 187 S., 3 Abb.
Zum populären Bild vom Menschen des späten Mittelalters gehört seine Rohheit: Den ständigen Gewaltausbrüchen auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen wird mit den Mitteln einer barbarisch grausamen Strafjustiz begegnet. Der Bielefelder Historiker Peter Schuster sichtete die Protokollbücher des Konstanzer Rates aus dem 15. Jahrhundert und gelangt auf dieser Basis zu einer bedeutend differenzierteren Sicht der Dinge. Freilich fände man heute kaum einen Historiker, der dieser pauschalen Einschätzung zustimmte. Indes wurde sie durch Wissenschaftler vom Range eines Jakob Burckhardt, Johan Huizinga oder Norbert Elias dem allgemeinen Bildungsgut vermittelt; außerdem wendet sich die „Weiße Bibliothek“ des Konstanzer Universitätsverlages, in der Schusters Buch erschien, nicht nur an den Fachhistoriker, sondern insbesondere auch an den qualifizierten Laien, der sich für die Geschichte des Bodenseeraumes interessiert. Und nicht zuletzt ist es immer verdienstvoll, jene wenig spektakulären Rechtsquellen, die im Laufe langjähriger Tätigkeit von Gerichten wie eben dem Konstanzer Rat anfallen, etwas genauer in Augenschein zu nehmen. So gelingt es Schuster, aus den Straf‑ und Protokollbüchern zwei exemplarische Biogramme zu destillieren, die über die bloße Aufzählung strafbarer Handlungen weit hinausgehen. Es werden neben den Lebensumständen auch die Motive und damit individuelle Charakterzüge der Protagonisten sichtbar. Allerdings verfällt Schuster der faszinierenden Dialektik seiner eigenen Erzählung, wenn er dem Lebensweg des reichen Kaufmanns Konrad Stickel mit Bertschi Brüttel „eine typische Unterschichtenbiographie des 15. Jahrhunderts“ (S. 16) entgegenstellen möchte. Brüttel mag als städtischer Angestellter ebenso erfolglos gewesen sein wie als selbständiger Kornhändler, und die von Schuster zitierten Steuerbücher weisen ihn nicht eben als exzellenten Steuerzahler aus: Damit gehört er jedoch eher dem unteren Rand der Mittelschicht an als der schwer zu fassenden eigentlichen Unterschicht, die in den Steuerbüchern gar nicht erst aufscheint. Der Erzählung folgt die Analyse: Kontrastiert man diese Überreste der Rechtswirklichkeit etwa mit normativen Strafbestimmungen des Mittelalters, erweist sich die Konstanzer Strafjustiz als ausgesprochen nachsichtig. Schuster möchte diesen ‑ bekanntlich nicht auf Konstanz beschränkten Befund nun nicht als Beleg für die Ineffizienz der Ratsgerichtsbarkeit werten; vielmehr sei er Ausdruck des Bemühens um Ausgleich, um den Frieden in der Stadt, der als wichtiger angesehen wurde als das unbarmherzige Durchsetzen rechtlicher Bestimmungen. Dahin deuten auch die vielfältigen Möglichkeiten, Gnade zu erweisen (S. 119ff.). So weit ist Schuster sicher zuzustimmen. Problematisch ist dagegen seine Charakterisierung des Rates, dem er „Allmacht“ attestiert sowie die Kompetenz einer „unumschränkten Strafzumessung an Leib und Gut“ und die Freiheit, Gesetze „nach Belieben“ zu beugen (S. 54f.) ‑ von solch einem Organ dürfte man die Tugend des „Augenmaßes“ (S. 78) wohl kaum erwarten. Schuster begründet seine Ansicht mit dem jährlichen Bürgereid, durch den sich die Konstanzer u. a. auf das verpflichteten, was „die rät richtind, ordnint und setzind“ (S. 52), d. h. auf das, was die Räte beschließen und urteilen. Eine willkürliche Gesetzgebungskompetenz des Rates, wie Schuster möchte, schließt diese Formulierung in keiner Weise ein. Ganz im Gegenteil schworen ja auch die für die Strafgerichtsbarkeit zuständigen Angehörigen des kleinen Rates, die geschworene Satzung einzuhalten; und eine Änderung der Satzung war nur mit der Mehrheit des Rates, also des kleinen und des großen Rates, möglich. Und nicht zuletzt war auch in städtischen Kontexten das Landrecht von Belang; wie in vielen anderen Städten, so ließ man auch in Konstanz im 15. Jahrhundert ein Landrechtsbuch zusammenstellen. Daß der Rat in manchen Fällen die Strafe milderte oder ganz erließ, braucht man nicht wie Schuster als Nonchalance gegenüber dem geschriebenen Recht anzusehen; forderte das Landrecht doch ausdrücklich solche Anpassungen an die Schuld und die Lebensverhältnisse des Beklagten (vgl. Schwabenspiegel Ldr. 359, Lnr. 126d). Kritikwürdig sind zahlreiche Details, die eine gewisse Nachlässigkeit beim Schreiben und bei der redaktionellen Betreuung des Buches offenbaren. Eine Reihe verstümmelter Ortsnamen wäre vermeidbar gewesen; ferner könnte eine genauere Lokalisierung der vorgestellten Ereignisse in der Stadt durchaus auch einen sozialgeschichtlichen Ertrag zeitigen: So hätte man z. B. erwähnen können, daß Konrad Stickel ausweislich der Steuerbücher im Steuerbezirk „Korb“ lebte, während Bertschi Brüttel im ärmlicheren Bezirk „Spital“ wohnte. Das Desinteresse an den konkreten lokalen und regionalen Bezügen äußert sich etwa auch darin negativ, daß einerseits pauschal behauptet wird, der Rat habe aus außenpolitischen Gründen Gnadenbitten seitens hochgestellter Persönlichkeiten entsprochen, andererseits dieser Zusammenhang nicht für einen einzigen konkreten Fall nachgewiesen wird (S. 146f.). So heißt es etwa, der Rat habe „auf Bitten des Markgrafen“ einem säumigen Schuldner die Schuld erlassen (S. 73), ohne daß wir erfahren, um was für einen Markgrafen es sich handelt. Wenig hilfreich ist da die Liste der Petenten (S. 129f.), die einen „Markgraf von Röttel“ (Hachberg‑Sausenberg auf Rötteln?) nennt und u. a. aus dem Abt der Reichenau einen „Herrn von Ow“ macht.
Ein gewisses Unbehagen bereitet schließlich auch der
Gesamtcharakter des Buches. Wie eingangs bereits angedeutet, bietet die
regionalgeschichtliche Reihe, in welcher es erschien, ausgewiesenen Fachleuten
ein Forum, sich auch an weitere Kreise zu wenden. Diesem Bedürfnis werden die
beiden brillanten biographischen Skizzen des ersten Kapitels gerecht, nicht
aber langatmige Zitate mittelhochdeutscher Texte, die zudem Textlücken und
unklare Lesarten enthalten (z. B. S. 104f.: hier wird, wie auch an anderen
Stellen, ausführlich auf Basler und nicht auf Konstanzer Quellen
zurückgegriffen). Der Sprachrhythmus und die Begrifflichkeit dieser Zitate
vermitteln freilich ein Zeitkolorit, das bei einer Paraphrasierung oder
Übertragung ins Neuhochdeutsche ein Stück weit verloren ginge; indes wären dann
und wann weitere Erläuterungen angebracht gewesen: Kaum ein Leser würde es Schuster
verübeln, wenn er ihm etwa die vier aufsässigen Merzler (S. 125) als Händler
vorstellte.
Bei aller Kritik bleibt aber festzuhalten, daß das Büchlein
eine durchaus lesenswerte Studie darstellt; Schuster vermag glaubhaft zu
vermitteln, daß die „Funktionalisierung des Rechts für die Interessen der
Stadt“ (S. 148) den Rechtsalltag der Strafjustiz im 15. Jahrhundert bestimmte
und daß sich auch unscheinbares Material wie die Konstanzer Ratsprotokolle bei
entsprechendem Zugriff als „Quelle von sozialgeschichtlich unschätzbarem Wert“
(S. 47f.) erweisen kann ‑ ein Umstand, der weitere derartige
Untersuchungen anregen sollte.
Konstanz
Harald Rainer Derschka