BühlerDerkodifikationsgedanke20000613 Nr. 10075 ZRG 118
(2001)
Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen
Gesetzbuches (BGB), hg. v. Behrends, Okko/Sellert, Wolfgang (=
Abhandlungen der Akademie der Wisssenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse,
Dritte Folge, 236). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000. 229 S.
Am 24. bis 25. April 1998 fand in Göttingen eine Tagung
statt über das Thema „Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen
Gesetzbuches (BGB)“, dessen Beiträge sowie die jeweils nachfolgenden
Diskussionsvoten in diesem Band publiziert wurden.
1. Der Anlass des 100jährigen Jubiläums des deutschen
Bürgerlichen Gesetzbuches bietet für Okko Behrends[1] die
Gelegenheit, den geistigen Grundlagen dieses Gesetzbuches nachzugehen.
Unbestritten ist dessen romanistischer Charakter. Sein Menschenbild im Einklang
zu den übrigen europäischen Kodifikationen ist freiheitlich. Getreu einer
national‑, staatlich‑ und etatistischdenkenden Rechtslehre ist das
Bürgerliche Gesetzbuch das Kind des bismarckischen bzw. des preußisch gelenkten
deutschen Reiches. Dies führte zu einer Sinnentleerung des vom Bürgerlichen
Gesetzbuch repräsentierten Privatrechtsbegriffes, was dann die „unbegrenzte
Auslegung“ (nach Bernd Rüthers) durch die Nationalsozialisten möglich
machte. Diese Entwicklung war keineswegs zwingend. Die als Modell dienende
römische Rechtsordnung, der Code Civil, die Geistesverwandtschaft zwischen Savigny
und Montesquieu, die Volksgeistlehre, die gewohnheitsrechtliche und
nicht verfassungsrechtliche Legitimation der Privatrechtsordnung waren zwar
geistige Grundlagen der deutschen Rechtsentwicklung bis zur Ausarbeitung des
Bürgerlichen Gesetzbuches. Inzwischen hat sich aber die von Hegel
inspirierte statistische Betrachtung als die sich immer stärker durchsetzende
erwiesen. Einen Höhepunkt, bei welchem ein rechtstheoretisch festgehaltener
Etatismus das Privatrecht „in der babylonischen Gefangenschaft“ des Staats
festhält (S. 82), stellt das Bürgschaftsurteil des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG NJW 1994, 38) dar. Dass ein solches Urteil dem Romanisten, der sich
beruflich mit einer auf der Gleichheit der Rechtssubjekte beruhenden
Rechtsordnung beschäftigt, ein Greuel ist, ist verständlich. Aber ist die
Prämisse der Gleichheit der Rechtssubjekte nicht doch nur ein selten erreichtes
Ideal? Anderseits ist nicht zu verkennen, dass bei der entgegengesetzen
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die reiche Bank zwar befriedigt
wird, der Bürge dagegen der staatlichen Fürsorge anheim fällt, was nicht
anderes heißt, als dass für ihn der Steuerzahler aufzukommen hat. Ist es nun
wirklich erstrebenswert, dass letztlich der Steuerzahler dafür aufkommen muss,
dass die Bürgschaft zu Gunsten einer Bank, die das Risiko der Kreditvergabe
eingegangen ist, honoriert wird, nur weil dies die einzig dogmatisch
befriedigende Lösung ist? Allein diese Schlussfolgerung zeigt, dass privates
und öffentliches Recht in der heutigen Zeit nicht mehr als „feindliche Mächte“
betrachtet werden können. Vielmehr hat der „Staat“ heute mehr denn je dafür zu
sorgen, dass der privatrechtliche Verkehr unter Privatrechtssubjekten nicht nur
in geordneten Bahnen verbleibt, sondern auch nicht auf Kosten des Staates
ausgetragen wird. Aus diesem Grunde ist, wie in der Diskussion von Christian
Starck hervorgehoben ‑ das Verfassungsgericht nicht als Vormund
sondern als „Moderator“ der Privatrechtssubjekte zu betrachten.
2. Im Jahr 1954 hatte Franz Wieacker seinen Aufsatz
„Aufstieg, Blüte und Krise der Kodifikationsidee“ in der Festschrift für Gustav
Böhmer veröffentlicht. Das Thema wird nun wieder aufgenommen durch Wolfang
Sellert[2]
allerdings mit dem Ergebnis, dass es die Germanisten namentlich in der
Germanistenversammlung in Frankfurt am Main 1846 und Lübeck 1847 sowie in der
Frankfurter Paulskirche 1848 gewesen sind, die den Kodifikationsgedanken in
Deutschland vorangebracht haben. Die Kodifikation verwirklicht haben dagegen
die Romanisten (Windscheid, Planck) ganz im Gegensatz zur Schweiz, wo
die Redaktoren der kantonalen Kodifikationen lauter Germanisten waren (Johann
Kaspar Bluntschli in Zürich, Johann Jakob Blumer in Glarus, Andreas
Heuster in Basel, Eugen Huber als Schöpfer des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches).
3. Hans Hermann Seiler[3] zeigt anhand
anschaulicher Beispiele, wie seit 1949 der Kodifikationsstil des Bürgerlichen
Gesetzbuches durch detaillierte, unsorgfältig gefasste und weitschweifige
Bestimmungen verdorben wird und dass dies nicht durch Transformation von EG‑Richtlinien
entschuldigt werden kann. Der neue Gesetzgebungsstil führt zur
„Genauigkeitshypertrophie“ und Kasuistik. Dennoch oder vielleicht deswegen
fällt der größte Teil der strittigen Fragen durch die Maschen der unterlassenen
Regelungen.
4. Horst Dreier[4] bezieht die
Kodifikationseigenschaft einer Verfassung insbesondere des deutschen
Grundgesetzes und befasst sich dann insbesondere mit dem Problem der
Beständigkeit, die bei einer Verfassung qualifizierter zu bejahen ist als bei
einer „gewöhnlichen“ Kodifikation. Die Verfassung soll zwar wandelbar sein,
aber dies darf nicht schleichend und bloß durch Auslegung geschehen, sondern
muss offen und nach den Änderungsregeln erfolgen. Auf zwei „Einbrüche“ in das
verfassungsmassige Abänderungssystem geht Dreier besonders ein, das
vorrangige Recht der Europäischen Gemeinschaft und den Beitritt der Ex‑DDR
zum Grundgesetz. Eine eigentümliche Stellung nimmt schließlich das gemäß Art.
79 GG unabänderliche Verfassungsrecht ein. In der nachfolgenden Diskussion
wurde die Kodifikationseigenschaft der Verfassung bejaht, die Entkodifizierung
des Privatrechts dagegen beklagt.
5. Joachim Münch[5] behandelt unter
dem Titel „Strukturprobleme der Kodifikation“ die klassischen Fragen, die mit
der Kodifikation zusammenhängen wie das Bedürfnis nach einem allgemeinen Teil,
das Sprachenproblem, die Regelungsdichte, die Öffnung, die Kasuistik und die
Generalklauseln und ihr gegenseitiges Verhältnis, wobei er für die
Generalklauseln kombiniert mit Falltypen plädiert, schließlich stellt er den
Entwicklungsstand und die Zukunft der Kodifikation dar, bleibt dieser gegenüber
aber skeptisch.
6. Mit Erstaunen entnimmt man aus dem Beitrag von Reinhard
Richardi[6],
dass Deutschland immer noch nicht über ein gesetzliches Arbeitsvertragsrecht
verfügt. Richardi plädiert denn auch für eine Kodifikation des
Arbeitsvertragsrechtes, wobei es seiner Ansicht nach genügen würde, wenn diese
Lücke im Bürgerlichen Gesetzbuch geschlossen würde.
7. Tokiyasu Fujita[7] korrigiert und
ergänzt das in Europa herkömmliche Bild der Rezeption des deutschen Rechts in
Japan. Diese Rezeption bleibt unbestreitbar herausragend, aber sie begann schon
vor dem Bürgerlichen Gesetzbuch (Lorenz von Stein und Rudolf von
Gneist) in der Zeit der MeijiVerfassung (1889). Nicht ganz zu
unterschätzen ist der gleichzeitige Einfluss des französischen Rechts und der
französischen Rechtswissenschaft. Beträchtlich war zudem der Einfluss des
amerikanischen Rechts nach 1945, doch geht dieser offenbar zurück, weil er mit
der japanischen Mentalität nicht in Einklang zu bringen ist.
8. Die konzise Darstellung der neueren Rechtsgeschichte
Griechenlands durch Konstantinos D. Kerameus[8] zeigt dreierlei
auf: 1. Das Handelsgesetzbuch ist eine echte Rezeption des französischen Code
de Commerce. 2. Durch das Bestehen einer Zivilprozessordnung ausgearbeitet von Georg
Ludwig von Maurer herrscht in Griechenland das Verfahrensrecht vor dem
materiellen Recht vor. 3. Das griechische Zivilgesetzbuch ist weder eine
Rezeption des deutschen Rechts noch des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches
sondern eine eigenständige Kodifikation des griechischen Rechts mit den Mitteln
der Kodifikationstechnik des Bürgerlichen Gesetzbuches. Dennoch ist der
Verfasser skeptisch zur Zukunft der Kodifikation angesichts der derzeitigen
Entwicklung in der Europäischen Gemeinschaft.
Das Letztere spricht nicht gegen die Vorzüge der
Kodifikation als Methode. Sie bleibt nach wie vor, wegen der Übersichtlichkeit
und der Systematisierung, die sie für das geltende Recht dem Chaos, welches das
angelsächsische und europäische Recht mit sich bringt, überlegen. Was nützt eine
Rechtsordnung, die von den Rechtsanwendern nicht mehr angewendet wird, weil sie
zu kompliziert, zu unverständlich und zu unübersichtlich ist? Die mangelnde
Kenntnis des europäischen Rechts, sogar bei Spezialisten, sollte hierfür
Warnung genug sein. Diese und analoge Feststellungen erfolgten jeweils in den
Diskussion im Anschluss an die Referate.
Zürich Theodor
Bühler
[1] In „Das Privatrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs, seine Kodifikationsgeschichte, sein Verhältnis zu den Grundrechten und seine Grundlagen im klassisch-republikanischen Verfassungsdenken“, S. 9ff.
[2] In „Der Beitrag der Germanisten zur Kodifikation des Zivilrechts: 1814-1849“, S. 83ff.
[3] In „Bewahrung von Kodifikationen in der Gegenwart am Beispiel der BGB“, S. 105ff.
[4] In „Bestandssicherung kodifizierten Verfassungsrechts am Beispiel des Grundgesetzes“, S. 119ff.
[5] In „Strukturprobleme der Kodifikation“, S. 147ff.
[6] In „Bedingungen für eine Kodifikation des Arbeitsrechts“, S. 175ff.
[7] In „Die Kodifikation als Voraussetzung für Rezeptionen ‑ aus der japanischen Perspektive“, S. 197ff.
[8] In „Die Kodifikation als Voraussetzung für Rezeptionen“, S. 217ff.