BraunederLandwehr20000717
Nr. 10105 ZRG 118 (2001)
Landwehr, Achim, Policey im Alltag. Die
Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg. Klostermann,
Frankfurt am Main 2000. X, 430 S.
Die von Wolfgang
Reinhard und Michael Stolleis betreute Freiburger Dissertation
behandelt zwei von der rechtshistorischen Forschung erst in jüngerer Zeit
favorisierte Themenbereiche, nämlich lokale Herrschaft und Normbefolgung, und
dies in glücklicher Verknüpfung. Es geht um die herrschaftlichen Auswirkungen
der württembergischen Policeyordnungen von 1495 bis 1805 in Stadt und Amt
Leonberg unweit Stuttgarts, im behandelten Zeitraum im wesentlichen eine
Weinbau betreibende Ackerbürgerstadt.
Im
„Implementationsprozeß“ der Policeynormen unterscheidet der Verfasser drei
Personengruppen: Den „Programmgeber“, das ist der Landesfürst, und zwar im
Falle des Policeyrechts ohne Landstände; als „Programmanwender“ die „Spitzen
der weltlichen und geistlichen Verwaltung“; sie sind gleichzeitig ein kleiner
Teil der „Programmempfänger“ zufolge ihrer Stellung als Untertanen des
Landesherrn, die Masse der Programmempfänger bilden allerdings die Untertanen
von Stadt und Amt Leonberg (55f.). Nach diesen Gruppen ist im wesentlichen die
weitere Darstellung aufgebaut. Unter „Anspruch der Obrigkeit“, also des
Programmgebers, sind insbesondere das Wesen der Policey, das Verständnis des
Gemeinen Nutzens, Motive und Begründungen für den Erlaß des Policeyrechts,
seine theoretische Erfassung, die Regelungsmaterien und etwa auch das äußere
Erscheinungsbild der entsprechenden Drucke abgehandelt. Die zweite Gruppe, die
Programmanwender, finden ihre Beachtung unter dem spezifischen Aspekt der
„Kontrolle der Amtsträger“, wozu deren Visitationen im Zeitraum von 1550 bis
1750 analysiert werden. Unter „Policey vor Ort“ geht es sozusagen um das
Verhältnis zwischen Programmanwendern und Programmempfängern, nämlich, nach
einer Erläuterung der Behördenstrukturen, um die Anwendung des Policeyrechts
gegliedert nach den Materien „Gottesdienstbesuch und Sonntagsheiligung“,
„Ehekonflikte“, „Schule“, „Feldgrenzen, Viehhaltung, Metzgerhandwerk“,
„Nachtruhe“ sowie „Brandschutz“. Schließlich kommt noch ein Tätigsein der
Programmempfänger als „Politik der Untertanen“ zur Abhandlung, nämlich ihr
Vorbringen in Supplikationen zu Themen wie etwa „Handel“, „Brauereiwesen“,
„Hochzeiten“.
„Herrschaft
zwischen Norm und Praxis“ betitelt sich die Zusammenfassung. Unter anderem
betont der Verfasser das Auseinanderklaffen zwischen Policeyrecht und sozialer
Wirklichkeit, daß dies zu dessen Ansteigen beigetragen habe, die soziale
Doppelrolle der Amtsträger als verlängerter Arm des Landesfürsten wie auch als
Mitglieder der reglementierten Gesellschaftsschichten, das volle Bewußtsein der
Geltung der Policeynormen zufolge der „Umgehungsversuche“. Hier setzt sich der
Verfasser auch mit der Sozialdisziplinierungsthese auseinander, in die er das
Erziehungswesen und die Disziplinierungsfunktionen der jeweiligen
Gemeinschaften einzubringen fordert. Anknüpfend an Winfried Schulzes
Verrechtlichungsthese sieht der Verfasser in den Policeynormen Elemente einer
normativen Struktur, zu der aber auch die Normunterworfenen ihrerseits durch
ihr Verhalten beitragen, nämlich insoferne, als sie sich dem normativen Wollen
auch entziehen können.
„Sollten
diese Ausführungen mehr Fragen aufwerfen, als sie endgültig beantworten, so
entspricht dies durchaus ihrer Intention“, stellt der Verfasser am Schluß fest,
zumal er eher ein „theoretisches Gerüst“ für ähnliche Untersuchungen habe
erstellen wollen als „ein fein verschnürtes Paket handlicher Lösungen“ (329).
Dies ist vollauf gelungen, aber eben auch deshalb, weil die Darstellung ganz
konkrete Einblicke anhand von einzelnen Fällen in das Rechtsleben wie auch in
den planenden Willen des Gesetzgebers und in theoretische Reflexionen bietet.
Damit stellt die Arbeit einen schönen Beweis für einen sehr greifbaren
Fortschritt der rechtshistorischen Forschung dar: Über die traditionelle
Verfassungsgeschichte hinaus hat sich eine Rechtsgeschichte des öffentlichen
Rechts etabliert.
Wien Wilhelm
Brauneder