BraunederBrandt20000208 Nr. 1053 ZRG 118 (2001)
Brandt, Hartwig, Der
lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte 1800 bis
1945. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998. IX, 226 S.
Sowohl der kundige Wissenschafter, der sich wieder einmal,
wie auch der unkundige Neugierige, der sich erstmals über deutsche
Verfassungsgeschichte informieren möchte, sollte unbedingt Brandts Buch
lesen. Dessen Absicht ist es, „eine Studie über ‚verfasste’ Politik, eine
Geschichte der politischen Systeme in Deutschland seit 1800“ vorzulegen, keine
„Rechtsgeschichte von Institutionen, sondern eine Geschichte politischen
Handelns ‚in Verfassung’“ (Vorwort). Dies ist ausgezeichnet gelungen und bietet
sich ansprechend dar, ja mehr noch, hinein verwoben in die Darstellung wurden
weiters die politische Literatur, also Theoretisches über Staat und Verfassung,
sehr wohl auch die Institution und schließlich fehlt es nicht an Auslotungen
der gesellschaftlichen Kräfte. Dargelegt wird all das mittels einer höchst
anschaulichen Sprache, elliptische Satzkonstruktionen drängen Wesentliches
nahezu auf, einprägsame Feststellungen charakterisieren präzise: Hinter Kants
erlaubtem „Räsonnieren traten schon die Umrisse des Citoyen hervor“ (10); durch
den Beitritt zum Rheinbund „retteten“ Miniaturstaaten „ihre Existenz und
überwinterten in diesem Gehäuse der Moderne“ (22).
Eingangs beschreibt Brandt knapp, aber eben
anschaulich, die Situation im „reichischen Deutschland“, und zwar überwiegend
kontrastierend zum revolutionären und sodann napoleonischen Frankreich. Eine
Typologie macht Neues wie auch fortdauernde Relikte begreiflich (22): Dort ist
die Rede von den „Kunstschöpfungen ohne jeden Grund“ wie etwa Westfalen sowie
von jenen Staaten, die „Teile des archaischen Deutschland vereinnahmt hatten“
wie etwa Bayern, hier sind die sächsischen und thüringischen Staaten
aufgezählt. Zu diesen Rheinbundstaaten dann eine Gegenüberstellung: „Der
preußische Ausnahmezustand (27ff.) mit den preußischen Reformen. Damit sieht man
sich allerdings jäh am Ende des Kapitels „Staatsrevolution“ (1801‑1815),
„jäh“ deshalb, da sich doch die Frage einstellt: Und was ist mit Österreich? Es
wird nachgetragen: im nächsten Kapitel „Nation und Konföderation“ unter „Nation
ohne Staat“ (konkret 46ff.), aber eben zu diesem Thema und nicht als
gleichgewichtige Erscheinung neben Rheinbund und Preußen. Im wesentlichen
leitet dieser Abschnitt über zum nächsten: „Deutscher Bund“ (50ff.).
Vorgeschichte und Auswirkungen sind anschaulich und präzise vermittelt,
vielfach auch wieder einprägsam: „Nie wieder bis 1945/49 ist die politische
Landkarte Deutschlands so grundlegend verändert worden wie 1814 (51) - ob da
wohl das Ausscheiden Österreichs aus der deutschen Verfassungsgestaltung 1866
mitgedacht wurde? Wie auch immer: Dass der Deutsche Bund und seine Staatenwelt
sehr vehement von Österreich beherrscht waren, zeigen die folgenden
Ausführungen mit etwa der sehr exakten Beschreibung Metternichscher Politik.
Eine besonders interessante Facette wird vorgestellt, nämlich Lombardo‑Venetiens
„neuständische Vertreterversammlungen“ (59), die freilich auch in anderen
Ländern zufolge Art. 13 DBA eingeführt waren (z. B. Tirol 1816). Dass diese
Entwicklung steckenblieb, ortet Brandt bei Kaiser Franz höchstpersönlich
(59). Gewichtiger wäre dies alles zu Tage getreten, hätte Österreich jene
Behandlung erfahren, die stets Preußen angedeiht. Denn auch zum Abschnitt
„Preußen, der Staat ohne Konstitution“ (76ff.) fehlt ein ebensolcher betreffend
die Präsidialmacht des Deutschen Bundes. Gerade wegen der ambitionierten
Darstellung des frühkonstitutionellen Verfassungssystems mit „Gottesgnadentum
und Geblütsrecht“ auf der einen Seite und der Tatsache, es „respektierte auch
den Code Civil“ (68) auf der anderen wäre es reizvoll, eine Verfassungsordnung
analysiert zu bekommen, die wie die österreichische ihre Parallele zum Code
Civil, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, nicht bloß respektierte, sondern
just ab 1812 in Kraft setzte, aber ohne formelle Verfassung, ja mit einem System,
zu dem Brandt richtig bemerkt, es habe „die Konstitution hingegen
verweigert“ (71). Mit dieser Feststellung eröffnet Brandt überdies eine
weitere treffende Kurzanalyse der Verfassungszustände in Deutschland, nämlich
in der Unterscheidung von verfassungslosen, altständisch geordneten und
neuständisch verfassten Staaten. Das Vorführen von „Konstitutionen mit
neuständischem Einschlag“, von „neoständischen Korrekturen“ (71f.) zählt zu
einer besonders wertvollen Einsicht, weil sie einen zeitgenössisch wichtigen
und für den Rest des Jahrhunderts noch bedeutsamen Verfassungstyp betont. „Das
konstitutionelle System“ behandelt ein eigenes Kapitel (80ff.), die
konstitutionelle Monarchie war schließlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in
Deutschland der Verfassungstyp schlechthin. Dies machen auch die beiden
folgenden Kapitel deutlich: „Verfassungsstaat und nationale Bewegung (1848‑1866)“
(98ff.), wo in einem Abschnitt „Konstitutionalismus, Parlamentarismus,
Nationalismus“ (117ff.) beschrieben sind, sowie anschließend „Verfassungsstaat
und konstitutionelle Stagnation (1866‑1914)“ (130ff.).
Die Revolution, eigentlich die Revolutionen von 1848/49
werden anschaulich beschrieben und klug analysiert, etwa zu Recht darauf
hingewiesen, es „begann mit agrarischen Revolten“, zu Recht den vielfältigsten
Vereinen gedacht wie auch dem Zeitungswesen (99) und vielem mehr. Es kann hier
nicht beschrieben, es muss gelesen werden. „Aber da war noch Österreich ...“
(106ff.), allerdings war 1848/49 viel von diesem „da“. Beispielsweise ging es
nicht um „die deutschsprachigen Besitzungen“ einerseits und die übrigen
andererseits, sondern um die Bundesgrenze, die auch Böhmen und somit die
Tschechen miteinschloss, was eben auch einen Konfliktstoff, aber innerhalb des
noch existierenden Deutschen Bundes abgab. Österreichs Regierung hatte übrigens
nicht erst mit der Verfassung 1849 seiner Aufteilung in bundeszugehörige und
nicht‑bundeszugehörige Gebiete eine Absage erteilt, sondern bereits im
April 1848 in einer ausdrücklichen Feststellung und mit der Verfassung 1848,
welche diesen Unterschied nicht machte, da es beispielsweise Galizien in die
Österreichische Verfassung vorbehaltlos miteinbezog ‑ dass dies mit
Ungarn nicht geschah, hatte mit dem Deutschen Bund nichts zu tun. Brandts
Feststellung, dass „die österreichische Haltung nie zweifelhaft war“, trifft
daher ganz besonders zu (108) ‑ Österreichs Abgeordnete in der
Paulskirche sahen dies freilich überwiegend anders. Als Muster für einen
Einzelstaat dominiert weiterhin Preußen: „Preußen als konstitutioneller Staat“
1848 bis 1866. Das Gegenmodell Österreichs wird freilich nicht verschwiegen,
aber wieder anderswo eingebaut (121). Hier ist kurz in der alten Diktion
„Februarpatent von 1861“ die Reichsverfassung 1861 beschrieben, das
Charakteristikum „konstitutioneller Staat“ richtigerweise auf „halbierten
Konstitutionalismus“ korrigiert, treffender wäre es, von einer „neuständischen
Monarchie“ zu sprechen, welche als Konzept schon seit 1852 grundgelegt war. Brandt
verharrt forschungsbedingt, hier an der Schwelle zu einer weiteren Einsicht,
nämlich der, dass Österreichs Bundesreformpläne, konkret der Fürstentag 1863
mit seiner geplanten Delegiertenversammlung der Einzelstaatsparlamente, genau
an das neuständische Konzept von 1852/1861 mit dem gleichfalls aus einer
Delegiertenversammlung der österreichischen Landtage bestehenden
Abgeordnetenhaus des Reichsrats anknüpft.
Mit 1866, das freilich sowohl in der Ereignisgeschichte wie
auch in derVerfassungsgeschichte ein wenig zu kurz kommt, lässt Brandt
richtigerweise eine neue Periode beginnen, deren Verfassungsgefüge,
Verfassungswirklichkeit und Verfassungsentwicklung er treffend beschreibt. Das
Ende mit 1914 mag überraschen, ist aber plausibel mit der nun anhebenden neuen
Situation einer Kriegsverfassung begründet (172ff.): Zuerst kommt es zum
„Rückzug von Reichstag und Parteien“, worauf die „zivile Macht von Kanzler und
Reichsämtern verfiel“ (173). Die Parlamentarisierung vom 28. Oktober 1918,
wenngleich „wichtigste Verfassungsentscheidung seit 1866“ (175f.), griff
bekanntlich nicht mehr. Ein wenig rasch geht in der Darstellung die „Demission
des Kaisers“ über die Bühne (176): Die Übergabe der Kanzlerschaft durch Max von
Baden an Friedrich Ebert „rechtlich fragwürdig“ (176), könnte verständlicher
dadurch werden, dass Kaiser Wilhelm seiner Abdankung einen Reichsverweser
wollte folgen lassen, der einen neuen Reichskanzler hätte einsetzen sollen -
diese Rolle kam zufolge der Abdankung ohne Reichsverweserschaft dem bisherigen
Reichskanzler zu. Zur Zäsurlosigkeit des Jahres 1918 trägt bei Brandt
offenbar auch der treffende Hinweis bei, die spätere Weimarer Koalition gehe
auf den „Interfraktionellen Ausschuss“ von 1917/18 zurück (178).
Zur Problematik der Weimarer Republik weist Brandt zu
Recht darauf hin, dass „das Rollenverständnis von Abgeordneten und Parteien dem
neuen System nicht angemessen, sondern durchwegs konstitutioneller Tradition
verhaftet“ war (184). Es ist eben, wie sich zur selben Zeit auch in Österreich
feststellen lässt, etwas anderes, wenn Parlamentsparteien selbst eine Regierung
stellen, als eine vom Monarchen eingesetzte bloß tolerieren müssen. „Die
Abschaffung der Republik“, verfassungsrechtlich richtig: die Abschaffung der
Demokratie, setzt Brandt mit der „Investitur des ersten
Präsidialkabinetts“ Ende März 1930 an (185) und subsumiert hierunter auch noch
den 30. Jänner 1933, da in einem „Europa, das den autoritären Staat auf dem
Vormarsch sah, ... kein sensationelles Ereignis“ (191). Aber anschließend kam
wesentlich anderes, nämlich das „Ende des Verfassungsstaates“ (191ff.), das
schließlich in „Führerherrschaft und Auflösung der Institutionen“ (196ff.)
mündet. Die knappe Darstellung ist treffend und schlüssig. Sehr wesentlich
diagnostiziert Brandt den Verfall einer Staatsorganisation in Wechselwirkung
der Zerstörung von Formen und Inhalten. Diese „Entstaatlichung“ (202) bewirkte
wohl auch, dass ein organisierter Einparteienstaat in dem Sinne, dass er sich
staatlicher Institutionen zumindest als Maske bedient, nicht eintreten konnte
(201). Ein „Trieb zur Destruktion“ zerbrach den Staat „als ein Stück in
Jahrhunderten gewonnener Rationalität“ (205). Diese Analyse ist verdienstvoll
auch deshalb, weil damit das positive Wesen des geordneten Staates zu Tage
tritt. Brandt macht auch deutlich, dass selbst innerhalb der NSDAP von
einer hierarchischen Organisation keine Rede sein konnte, vielmehr das
Führerprinzip, da jeweils auf mehreren Stufen wirksam, destruktiv wirkte
(203f.). Ehrlicherweise kapituliert Brandt an einem Punkt: Es seien
nämlich alle „Versuche, die kriminelle Energie des NS‑Regimes zu
erklären, bis heute nicht an ihr Ende gelangt“ (205). Mit 1945 schließt
praktisch die Darstellung.
Das Eingangs positiv Vermerkte sei nochmals in Erinnerung
gerufen, und zwar nun bekräftigt mit der Feststellung, dass es Brandt
gelungen ist, seine Art der Darstellung vom zum Ende gehenden Fürstenstaat bis
zum untergegangenen Führerstaat aufrecht zu erhalten. Wohl eine der
lesenswertesten Verfassungsgeschichten!
Wien Wilhelm
Brauneder