BärPassau20000914
Nr. 1226 ZRG 118 (2001)
Passau in
der Zeit des Nationalsozialismus. Ausgewählte Fallstudien, hg. v. Becker,
Winfried (= Schriften der Universität Passau). Universitäts-Verlag, Passau
1999. 574 S.
„Das schreckliche Mädchen“ nannte Michael Verhoeven seinen Spielfilm des Jahres 1990, in dem ein junges Mädchen fast zehn Jahre lang – anfangs noch Schülerin, dann Studentin, verheiratet und mit zwei Kindern der nationalsozialistische Vergangenheit von Passau nachspürt. Dem wissenschaftlichem Eifer der Protagonistin widersetzen sich Mitglieder kommunaler Einrichtungen gleichermaßen wie Repräsentanten aus Kirche und Presse, so daß der Volkszorn geschürt und die Neonazis auf den Plan gerufen werden. Dieser auf authentischen Begebenheiten beruhende Fall ist jedem im Gedächtnis, der sich nun an die Lektüre des hier vorgestellten Bandes macht und sich daher zwangsläufig die Frage stellt: War Passau, die bayerische Bischofstadt mit zum Zeitpunkt der Machtergreifung 25.000 Einwohnern in besonders hohem Maße „nationalsozialistisch“? Die zwanzig Autoren der nun vorliegenden regional- und lokalgeschichtlichen Studie wollten u. a. diese im Sammelband nicht offengelegte Fragestellung inzident klären. Der heterogene Kreis der in erster Linie historisch ausgewiesenen Autoren, Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter, Lehrer, Heimatpfleger, Journalisten u. a., von denen einige aus Österreich kommen, bildete eine Garantie für einen Pool unterschiedlichen „Vorverständnisses“, der der Bewältigung des Themas guttut. Dadurch ist der Leser gezwungen, das dokumentierte Unrecht selbst zu evaluieren und die Einschätzungen der Autoren anhand des Zahlen- und Tatsachenmaterials selbst zu gewichten.
Horst W.
Heitzer untersucht die Behandlung politisch Unangepaßter, sozial Auffälliger
und geistig Kranker in Passau 1933-1945 und kommt nach Auswertung von 265
Einzelfällen zu dem Ergebnis, daß ab 1933 auch verstärkt politisch und sozial
Auffällige nach dem Polizeistrafgesetzbuch zu „gemeingefährlichen“
Geisteskranken erklärt wurden. Aus einer solchen Kategorisierung resultierte
regelmäßig und so auch in den untersuchten Fällen die Einweisung in die Heil-
und Pflegeanstalt (S. 212), in das Konzentrationslager Dachau (S. 215), die
Unfruchtbarmachung (S. 222) oder im Rahmen der „Aktion T4“ sogar die Gaskammer
(S. 225). An drei Fallstudien zeigt Heitzer, daß
der Passauer NS-Oberbürgermeister und der Stadtrat die rechtlichen Vorgaben
vorsätzlich instrumentalisierten, um sich politisch Unangepaßter auf diese
grausame Weise zu entledigen.
Elmar W. Eggerer behandelt die Passauer KZ-Außenlager „Waldwerke“ und „Oberilzmühle“ und ihr Umfeld 1942-1945. Er geht davon aus, daß insgesamt wohl über 1000 Häftlinge durch die Passauer KZ-Außenlager geschleust wurden, die u. a. auch im Stadtgebiet beispielsweise zum Ausgraben von Blindgängern und zu allgemeinen Aufräumungsarbeiten herangezogen und daher von der Bevölkerung zur Kenntnis genommen wurden. Insgesamt wurden nach den vorhandenen Belegen im Bereich des Lagers Oberilzmühle vier Häftlinge wegen angeblichen Fluchtversuchs erschossen oder erschlagen. Allerdings ist die Quellenlage so dürftig, daß sich die Geschichte der drei Außenlager des KZ Mauthausen nicht mehr vollständig ermitteln läßt.
Christoph
Wagner untersucht die brutale Ermordung ca. 170 russischer
Kriegsgefangener im Raum Passau Ende April 1945 durch SS-Einheiten, wobei sich
weder die Frage nach der befehlgebenden Instanz noch nach der genauen Zuordnung
der Täter zu militärischen Einheiten abschließend klären läßt. Derselbe Befund
gilt sowohl für die Haltung oder Beteiligung der Passauer Bevölkerung als auch
für die Rolle des Passauer Kreisleiters und Oberbürgermeisters, der
nachträglich zumindest seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der
Kriegsgefangenen einräumte.
Von Verbrechen berichtet auch der Zeitzeuge Josef Krumbachner, der als Mitglied der katholischen Jugendbewegung von einer Reihe Racheaktionen der SS gegen Mitglieder seiner Organisation erfuhr, bei der Betroffene zusammengeschlagen wurden , das Augenlicht verloren bzw. das Heim des katholischen Burschenvereins zerstört wurde. (S. 477ff.)
Martin
Hille setzt sich in seinem Beitrag „Zur Sozial- und
Mitgliederstruktur der Passauer NSDAP in den zwanziger und dreißiger Jahren“
(S. 9-42) mit dem vor dem Hintergrund vorhandener Forschungsergebnisse
überraschenden Phänomen auseinander, daß die NSDAP gerade bei der fast
durchwegs katholischen Passauer Bevölkerung (95 Prozent) bereits bei den
Reichtstagswahlen vom 14. 9. 1930 im Landesvergleich weit überdurchschnittlich
(31 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 74,2 Prozent) reüssieren konnte. Hille
führt dies vor allem auf eine an den örtlichen Gegebenheiten ausgerichtete,
ursprünglich gemäßigte und religionsfreundliche Fassade der dortigen
NSDAP-Ortsgruppe und der diesbezüglichen Taktik ihres Leiters ganz im Sinne von
Punkt 24 des Parteiprogramms („positives Christentum“) zurück. (S. 19, 22f.)
Angesichts der Bevölkerungsstruktur verwundert es daher nicht, daß die
katholische Bevölkerung mit 85 Prozent im Jahr 1932/33 eine deutliche Mehrheit
unter den Parteigenossen stellten. Dennoch waren die Protestanten mit 12,4 %
bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil weit überdurchschnittlich in der Passauer
Ortsgruppe repräsentiert. (S. 28)
Der Beitrag
Winfried Beckers behandelt „Die Organisation der NS-Volksgemeinschaft in
Passau. Gleichschaltung-Konflikt-Widerstand.“ Becker kommt dabei zu dem
Ergebnis, es sei verfehlt, Passau zum besonderen Hort und zur herausragenden
Hochburg des Nationalsozialismus emporzustilisieren. Der Verweis auf die vergleichsweise
geringe Zahl an Parteigenossen (S. 137), die katholische Einbettung der
Bevölkerung (S. 158f.) und die Aufzählung einiger Passauer Vertreter des
Widerstandes (S. 161ff.) erscheint für dieses Ergebnis jedoch etwas dünn.
Zumindest das Wahlergebnis bei der Reichstagswahl 1930 läßt sich auf diese
Weise kaum erklären.
Bernhard
Löffler beschreibt die Situation der insgesamt 43 Passauer Juden in
den Jahren 1933-1945. Er schildert den Boykott jüdischer Geschäfte im Jahr
1933, die Arisierungswellen der Jahre 1935 und 1938/39 und die Situation der
wenigen zurückgebliebenen Juden nach 1939. Unter Berücksichtigung der geringen
Zahl jüdischer Mitbürger in Passau kommt jedoch auch Löffler zu dem
Ergebnis, daß Passau im Kontext der Zeit und verglichen mit anderen Städten
nicht als herausragend antisemitisch erscheine. Als Protagonisten der
nichtsdestotrotz erschreckenden und im Einzelfall mörderischen Judenpolitik (S.
189) benennt er kommunale und parteiliche Funktionsträger, insbesondere einen
Großteil der Stadträte (S. 198), wohingegen das Schicksal der Juden für die
Mehrheit der damaligen Passauer eine in der alltäglichen Anspannung eines
totalitären Regimes „wenig beachtete Nebensache“ darstellte. (S. 199)
Weniger
grausam lesen sich drei ausführliche Analysen der zeitgenössischen Printmedien,
die deren Instrumentalisierung für die Ziele der Machthaber darstellen. Stefan
Rammer untersucht Zielsetzung und Programmatik der NS-Organe
„Niederbayerische Rundschau“ (Oktober 1930-Dezember 1931) und „Passauer Wacht“
(November 1932-Januar 1933), indem er deskriptiv die in diesen beiden Zeitungen
forcierte Diffamierung der Juden und anderer politischer Gegner des
Nationalsozialismus sowie die mediale Auseinandersetzung mit der Kirche
beschreibt.
Helmut Böhm behandelt
das Eindringen der nationalsozialistischen Ideologie ins Feuilleton der
„Donau-Zeitung“, nachmals Ostmark-Zeitung. (S. 353-387) Sehr sorgfältig stellt
schließlich Josef Goldberger „Österreich und seine politische
Entwicklung im Spiegel der Passauer ,Donau-Zeitung’
1933-1938“ dar, einer bis zur Gleichschaltung katholisch geprägten Passauer
Tageszeitung mit ursprünglich antinationalsozialistischer Tendenz. Der Autor
resümiert, daß zwischen der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und dem
Juli-Putsch in Österreich im Jahr 1934 eine Phase diffamierender
nationalsozialistischer Angriffe und Polemiken lag, die entsprechend der
Hitler’schen Politik bis zum Einmarsch 1938 von eine Phase der Zurückhaltung
gegenüber österreichischen Themen abgelöst wurde. (S. 135)
Anna
Gugerbauer blickt ebenfalls auf das deutsch-österreichische Verhältnis,
wenn sie „Die Entwicklung der Beziehungen Passaus zu den österreichischen
Nachbarn (1918-1938)“ behandelt. Die guten Verkehrsverbindungen, die Grenzlage
der Stadt sowie die engen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen
Beziehungen zwischen den grenznahen Gebieten begünstigten im Konnex mit dem
fortdauernden Anschlußwillen weiter österreichischer Bevölkerungskreise die
enge Verflechtung zwischen deutschen und österreichischen Nationalsozialisten.
(S. 76ff.) Desweiteren beschreibt Gugerbauer detailliert die Terror- und
Propagandaaktionen ab 1933, die vom Dritten Reich aus -zunächst vielfach von
„österreichischen Legionären“- im Grenzgebiet gegen Österreich unternommen
wurden. (S. 85-103)
Mit dem Verhältnis zwischen den Kirchen und den nationalsozialistischen Machthabern beschäftigen sich Herbert W. Wurster, der das Bistum Passau untersucht (S. 389-406) und Albert Strohm, der die evangelische Gemeinde Passau für die Zeit des Nationalsozialismus behandelt (S. 407-436). Akribisch beschreibt Hubert Buchinger „Die Passauer Schulen in der nationalsozialistischen Zeit“, indem er sämtliche nationalsozialistisch geprägten Veränderungen an den zahlreichen Schulen Passaus, insbesondere den erzwungenen Abbau kirchlicher Einflüsse darstellt. In Ergänzung dazu erörtert Anton Landersdorfer die Umbrüche der philosophisch-theologischen Hochschule, die mit vergleichbaren Einflußnahmen kämpfen mußte. (S. 439-466)
Eine Reihe
kulturgeschichtlicher Beiträge leitet Walter Hartinger ein, der die
nationalsozialistische Festkultur untersucht. Dazu stellt er u. a. den Tag der
Machtergreifung, den in einen Heldengedenktag umgewandelten Volkstrauertag,
„Führers Geburtstag“, den Muttertag, den Tag der Sonnenwende etc. in ihrer
tatsächliche Ausgestaltung in Passau dar und setzt die dortigen Inszenierungen
in Beziehung zu Hitlers Zielen der Massensuggestion.
Gleiche
Interessen verfolgten die nationalsozialistischen Machthaber mit der von Manfred
Seifert untersuchten Thingbewegung in Passau und dem von Maximilian
Lanzinner betrachteten Bau der Nibelungehalle 1934-1936. Letzterer
ermöglicht hinsichtlich der fortdauernd ungesicherten Finanzierung und des im
Eigentum des Landes befindlichen Grundeigentums einen Einblick in die
ungeordneten Verwaltungsabläufe im NS-Staat. Ebenfalls kulturhistorisches
Interesse verrät Hans Göttlers Beitrag zu den Passauer Heimatdichtern in
der NS-Zeit, die die gesamte Bandbreite von dezidiert regimekritischer
Literatur zu völkisch-nationalistischer Blut- und Bodendichtung abdeckten.
Die Lektüre
gestattet dem Leser einen vielseitigen Einblick in das Leben in einem
nationalszozialistischen Microkosmos, der durch die große Bandbreite
untersuchter Themen sehr weitgehend erschlossen wird. Im Vordergrund steht in
den meisten Beiträgen die Deskription, nicht die wissenschaftliche Reflektion
des überörtlichen Forschungsstandes und dessen Überprüfung am Einzelfall. Das
genuin rechtshistorische Interesse, wie Recht unter den Bedingungen des
Nationalsozialismus funktionierte, befriedigt der Band dabei natürlich nur
periphär. Die Einzelstudien regen jedoch die Frage an, inwieweit sich
nationalsozialistische Normalität von nationalsozialistischen Exzessen
unterscheidet. Ein mathematisches Aufrechnungsverfahren hilft hier ebensowenig
weiter wie notwendig subjektive persönliche Erinnerungen. Man wird daher
lediglich resümieren können, daß auch in Passau nationalsozialistische
Greueltaten vollzogen wurden, daß es auf der anderen Seite Anklänge von
Widerstand und Nonkonformismus vor allem in katholischen Kreisen gab und daß
beides auch für viele andere deutsche Städte gilt. Die Verantwortung dafür lag
mit wenigen Ausnahmen beim Kreisleiter und Oberbürgermeister Passaus, seinem
nicht minder furchtbaren Stadtrat und den örtlich stationierten SS-Verbänden.
Die Haltung der Bevölkerung läßt sich im Nachhinein nicht mehr mit
wissenschaftlicher Präzision erfassen, da sie gleichermaßen durch erhebliche
Repression als auch durch innere Zustimmung determiniert gewesen sein kann.
Berlin Fred
G. Bär