AmendInstitutionen20000915 Nr. 10078 ZRG 118 (2001)

 

 

Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, hg. v. Schilling, Heinz unter redaktioneller Mitarbeit von Behrisch, Lars (= Ius Commune Sonderheft 127). Klostermann, Frankfurt am Main 1999. VIII, 360 S.

Der überwiegende Teil der in dem Band zusammengefassten Beiträge wurde anlässlich eines Symposions vorgetragen, das im Oktober 1997 im deutsch-italienischen Studienzentrum der Villa Vigoni stattfand. Die Tagung bot erstmals einem international besetzten Expertengremium die Gelegenheit zum wissenschaftlichen Austausch über laufende Forschungen und deren Koordination, die im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt „Soziale Kontrolle in der frühen Neuzeit: Das Alte Reich im europäischen Vergleich“ stehen. Das Vorhaben wurde von Hermann Roodenburg (Amsterdam), Pieter Spierenburg (Rotterdam), Bernd Roeck (Zürich) und Heinz Schilling (Berlin) initiiert und wird seit 1996 von der Volkswagen-Stiftung finanziell unterstützt. Frucht der gesamten Unternehmungen soll letztlich ein Handbuch zu sämtlichen „Formen und Erscheinungsweisen formeller, halbformeller und informeller Sozialkontrolle“ (S. VII) sein.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Auf das große Ziel des Handbuchs zur Sozialkontrolle, in das auch die hier versammelten Einzelstudien münden werden, darf mit großer Spannung gewartet werden. Denn bereits die bei einzelnen Beiträgen angewendeten Forschungsstrategien, „die bewußt und methodisch kontrolliert darauf abheben, das Zusammenspiel der Kräfte ‚von oben’ und ‚von unten’ sowie von staatlichen bzw. kirchlichen Ordnungskonzepten und individueller bzw. gemeindlicher Selbstzucht zu erfassen und darzustellen“ (S. VIII), dokumentieren anschaulich die ertragreiche Verknüpfung von makrohistorischen und mikrohistorischen, von strukturgeschichtlichen und alltagsgeschichtlichen Ansätzen und damit das, wofür Schilling in seiner Einleitung (S. 3-36) nachhaltig plädiert, nämlich für Offenheit und Pluralismus geschichtswissenschaftlicher Interpretamente.

In seiner Einleitung verortet der Herausgeber zunächst die „Erforschung frühneuzeitlicher Kontroll-, Regulierungs-, Disziplinierungs- und Zuchtvorgänge“ in der geschichtswissenschaftlichen Landschaft. Dabei führt Schilling den das Projekt leitenden Begriff „Disziplinierungsforschung“ als Zusammenfassung der Deutungsmittel Sozialdisziplinierung im Sinne Gerhard Oestreichs, Konfessionalisierung und der Kommunalismus-Repulikanismus-Debatte ein, die die deutsche Frühneuzeitforschung beherrschen. Dabei hat das Untersuchungsspektrum vor allem in den 1980er und 1990er Jahren durch Internationalisierung des Forschungsfeldes und der zunehmenden Interdisziplinarität sowohl eine sachliche als auch eine methodisch-theoretische Ausweitung erfahren. Sodann fasst Schilling frühere Forschungserträge zum Thema unter Stichpunkten wie „innerzivilisatorischer“ und „interzivilisatorischer“ Gesellschaftsvergleich, „Mikro- Makro- Doppelperspektive“, „Methodenpluralismus“ oder „Interdisziplinarität“ zusammen und charakterisiert mit diesen Parametern die den im Band versammelten Autoren geleistete Orientierungshilfe.

Der Einführung schließen sich insgesamt dreizehn Beiträge an, die in drei Kapitel aufgegliedert sind. Im ersten Kapitel „Justiz, Militär, Kirche“ dominieren vor allem makrohistorische, im zweiten Kapitel „Armenfürsorge, Erziehung, Nachbarschaft, Ehre“ mikrohistorische Aspekte. Das dritte Kapitel ist einzelnen Fallstudien vorbehalten. Das erste Kapitel beginnt mit einem Beitrag von Karl Härter (S. 39-63) zur sozialen Kontrolle und Durchsetzung von Polizeyordnungen im frühneuzeitlichen Strafverfahren. Mittels Polizey und Strafjustiz habe der frühneuzeitliche Territorialstaat – zumindest noch – nicht monopolistisch formelle Sozialkontrolle ausgeübt. Vielmehr, so Härter, habe zumindest bei den „einheimischen Untertanen“ im Gegensatz zu Angehörigen von Randgruppen die Möglichkeit, mit der Obrigkeit über Strafen zu verhandeln, eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Härter bezeichnet dieses Aushandeln als „Interaktion zwischen formeller und informeller Selbstkontrolle“ (S. 63). Ebenfalls dem ersten Kapitel zugeordnet sind die Beiträge Rolf Pröves (S. 65-85) zur „Dimension und Reichweite der Paradigmen ‚Sozialdisziplinierung’ und ‚Militarisierung’ im Heiligen Römischen Reich“ und Martin Ingrams (S. 87-103), der sich mit der Konkurrenz zwischen kirchlicher und weltlicher Jurisdiktion hinsichtlich der Sittenzucht im frühneuzeitlichen England beschäftigt. Bemerkenswert ist Ingrams Fazit, nach dem gerade dieses Konkurrenzverhältnis nicht überwunden werden konnte und hierdurch das 18. Jahrhundert nicht am Anfang, sondern vielmehr am Ende einer teilweise erfolgreichen moralischen Disziplinierung gestanden habe. Das erste Kapitel schließt mit dem Beitrag Frank Konersmanns (S. 105-146) zur „Kirchenzucht pfälzischer und provenzialischer Presbyterien zwischen 1580 und 1780“. Im zweiten Kapitel sind die Beiträge Maarten Praks (S. 149-166) zur sozialen Kontrolle und Armenfürsorge in nordniederländischen Städten, Stefan Ehrenpreis’ (S. 167-185) zur Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Erziehungs- und Bildungswesen, Carl A. Hoffmanns (S. 187-202) zu Nachbarschaften in städtischen Gesellschaften des sechzehnten Jahrhunderts, Tomás A. Mantecóns (S. 203-223) zur Ehre in der nordspanischen Gesellschaft und Marco Bellabarbas (S. 225-248) mit dem Titel „Honor Discipline and the State. Nobility and Justice in Northern Italy, Fifteenth to Seventeenth Centuries” vereinigt. Hoffmann charakterisiert Nachbarschaften einerseits als Akteure eigenverantwortlicher, andererseits als Instrumente obrigkeitlicher sozialer Kontrollen und weist damit gleichzeitig auf das Spannungsverhältnis zwischen obrigkeitlicher Kontrolle und Untertanenprotest gegen obrigkeitliche Organe hin. Bellabarba skizziert in seinem Aufsatz anhand des Aufschwungs und des Rückgangs des Duellierens selbst und des Schrifttums hierzu die Veränderungen der Ehrkonzeption. Doch, so Bellabarba, weniger durch die große Zahl der Verbote als vielmehr „durch die ‚sanfte’ Disziplinierung des Adels – durch die Anerkennung seiner Vorrechte und symbolischen Privilegien – habe man die Identifizierung von adliger Ehre mit dem Staat erreicht; „die individuelle wich einer institutionellen und kollektiven Disziplin“ (S. 248). Das dritte Kapitel schließlich ist den Fallstudien Xavier Rousseauxs (S. 251-274) über „‚Sozialdisziplinierung’, Civilisation des moeurs et monopolisation du pouvoir. Eléments pour une histoire du contrôle social dans les Pays-Bas méridionaux 1500-1815“, Ute Lotz-Heumanns (S. 275-304), Detev Tamms und Jens Chr v. Johansens (S. 305-324) sowie Lars Behrischs (S. 325-357) gewidmet. Lotz-Heumanns Beitrag beschäftigt sich mit der sozialen Kontrolle und Kirchenzucht in Irland im späten 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Aufschlussreich sind die unterschiedliche Akzeptanz und die unterschiedlichen Effekte, die die Disziplinierungsmaßnahmen der zwei Konfessionskirchen bei der „‚doppelt konfessionalisierten’“ irischen Gesellschaft erzielten, und zwar nicht nur für Fragen der Vergangenheit. Tamm und Johansen berichten über soziale Kontrolle im frühneuzeitlichen Skandinavien. Behrisch beschließt den Reigen mit einem Fallbeispiel über Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Russland und liefert damit einen interzivilisatorischen Vergleich zwischen dem lateinisch-europäischen und dem griechisch-orthodoxen Zivilisationstyp. Mit großer Zurückhaltung nähert sich Behrisch der beachtlichen Feststellung an, dass im Gegensatz zu den Ländern Westeuropas – „falls diese denn tatsächlich dem ‚Fundamentalprozess’ der Sozialdisziplinierung unterlagen“ (S. 357) – Sozialdisziplinierung in der frühmodernen russischen Gesellschaft jedenfalls nicht durchgesetzt werden konnte.

Es zeigt sich somit, dass Untersuchungen, wie sie von Härter, Hoffmann, Bellabarba und anderen vorgenommen wurden, den Ertrag komplementärer Forschungsstrategien demonstrieren, und dass Phänomene wie Polizeiordnungen und Kirchendisziplin einerseits und solche wie Nachbarschaft, Ehre und Armenfürsorge andererseits nicht dazu geeignet sind, „Struktur- und Kulturgeschichte beziehungsweise Makro- und Mikrohistorie gegeneinander auszuspielen“ (Schilling, S. 25).

Frankfurt am Main                                                                                                     Anja Amend