Mitten in Deutschland, mitten im Krieg. Bewältigungspraktiken und Handlungsoptionen im Dreißigjährigen Krieg, hg. v. Ackermann, Astrid/Meumann, Markus/Schmidt-Funke Julia A./Westphal, Siegrid (= bibliothek altes Reich 33). De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2024. X, 611 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

2018 jährte sich der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, einer zentraleuropäischen Katastrophe ersten Ranges, der in manchen Gebieten des Reichs mehr als zwei Drittel der Bevölkerung zum Opfer fielen, zum 400. Mal. Zu den zahlreichen Publikationen, die dieses Gedenken als Frucht hervorbrachte, zählt auch der vorliegende Sammelband, der seine Entstehung einer gemeinsamen Tagung der Universitäten Erfurt, Jena und Osnabrück vom 12. bis 14. September 2018 im thüringischen Gotha verdankt. Ihr Anliegen sei es gewesen, „das im Zuge des medial befeuerten öffentlichen Gedenkens einmal mehr bemühte Stereotyp zu durchbrechen, demzufolge die Zeitgenossen des Dreißigjährigen Krieges nicht nur unermesslichem Leid ausgesetzt gewesen seien – woran grundsätzlich kein Zweifel besteht –, sondern gar nicht anders gekonnt hätten, als sich diesem Leid schicksalsergeben auszuliefern. Demgegenüber sollte die Tagung ihren Fokus auf die Agency der Menschen lenken und mit Hilfe eines akteurszentrierten Zugangs der Frage nachgehen, welche Handlungsoptionen Menschen , die nicht zu den Herrschenden und den Militärs gehörten, selbst in stark vom Krieg betroffenen Gebieten besaßen, um dem Krieg aktiv zu begegnen und diesen – in welcher Form auch immer – zu bewältigen“ (S. IX). Diese Ankündigung macht neugierig, nicht zuletzt infolge der jüngsten Kriegsereignisse in Syrien, Gaza oder der Ukraine. Wer sich die Verwüstungen dort vor Augen hält, muss einiges an Phantasie aufbringen, um sich ein Verweilen als Zivilist an diesen attackierten, zum Teil furchtbar devastierten Stätten überhaupt vorstellen zu können. Ist unter solchen bzw. vergleichbaren Rahmenbedingungen abseits reaktiven Rückzugs an Agency im Sinne realisierbarer Möglichkeiten proaktiver Gestaltung überhaupt zu denken? Die Herausgeber glauben diese Frage zu bejahen und zeigen zu können, „wie die Zeitgenossen mit dem Erlebten, Beobachteten oder Gehörten zurechtkamen, wie sie sich das Geschehen und ihr eigenes Erleben erklärten und wie sie ihre Situation erträglicher zu machen versuchten. Dazu gehörte es, aktiv auf den Krieg zu reagieren, sich gegen ihn zu wehren, sein Recht einzufordern oder gar von der kriegsbedingten Lage zu profitieren“ (S. 24).

 

Die von aussagekräftigen Faksimiles zeitgenössischer Druckwerke begleiteten 16 Beiträge des Bandes verteilen sich inhaltlich gleichmäßig auf fünf Sektionen. Sie sind übergreifend durch einen Nachweis der Abbildungen, ein Personenregister und eine mit 61 Seiten Umfang besonders gründliche  Bibliographie aufgeschlossen. Ein erster Teil „Beschreiben und bewältigen“ widmet sich den zeitgenössischen literarischen Kriegsnarrativen, wie sie von den Chronisten der Apokalypse (Andreas Bähr) sowie von den Werken eines Andreas Gryphius und eines Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (Friedrich Beiderbeck, Dirk Niefanger) geprägt wurden, mit den Zielen der heilsgeschichtlichen Exegese, der mahnenden Warnung, der Verarbeitung und der Reflexion. „Überleben und Überwinden“ untersucht zunächst anhand ikonographischer Quellen die allgemeine Spirale der Gewalthandlungen in der Kriegsgesellschaft (Markus Meumann), beleuchtet exklusiv den Handlungsspielraum von Zivilistinnen (Stefanie Fabian) und schließlich am Fallbeispiel eines Kaufmanns die Optionen und Aussichten, sich bei Verbrechen des Militärs durch Anrufen der Landesobrigkeit erfolgreich Recht zu verschaffen (Johannes Kraus). Die ambivalenten Auswirkungen auf die Städte und den Handel analysiert der Block „Gewinnen und verlieren“ anhand des von 1642 bis 1650 schwedisch besetzten Leipzig (Alexander Zirr), der kriegsfernen Kommunen „im Ruhestand“ Lübeck, Hamburg, Bremen und Köln (Philip Hoffmann-Rehnitz) und der für die Herzöge von Sachsen-Weimar tätigen süddeutschen Kaufleute Georg Ayrmann und Marx Conrad von Rehlingen (Astrid Ackermann). „Entscheiden und erinnern“ geht sodann der Frage nach, „wie Fürsten, Amtsträger sowie politische und theologische Berater mit dem Krieg umgingen, mit welchen Instrumentarien und auf welcher Informationsbasis sie Entscheidungen über den Krieg trafen und mittels welcher Lösungswege und Strukturen sie versuchten, ihre Aktionsfähigkeit wie die Landesversorgung zu sichern“ (S. 20). Die vielseitigen Motive und Bedingungen der Errichtung von Schloss Friedenstein in Gotha (Stefanie Freyer), der Versuch einer Neutralitätspolitik durch Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg (Siegrid Westphal), die politische Entscheidungsfindung in Weimar und die Rolle Friedrich Hortleders (Marcus Stiebing)  sowie die zu repräsentativen wie bewusstseinsbildend-pädagogischen Zwecken angelegte Flugblattsammlung Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha (Ulrike Eydinger) kommen in diesem Kontext zur Sprache. Den Schlusspunkt setzt die fünfte Sektion „Glauben und hoffen“, die sich mit der religiösen Dimension der Bewältigungspraktiken befasst. Auf die Rolle Gottes fokussierende Predigten hätten zwar Antworten auf die Frage nach den Kriegsursachen und den Verantwortlichen angeboten, aber erst die späte Übernahme von Eigenverantwortung durch die menschlichen Akteure habe den Weg zum Frieden ebnen können (Georg Schmidt; eine gegenteilige Meinung vertritt Andreas Bähr). In Thüringen zeigten sich unterschiedliche Auswirkungen des Krieges auf die lutherische Konfession, die in Gotha hauptsächlich die Bedeutung der Frömmigkeit, im benachbarten Weimar aber stärker jene des Trostes hervorgehoben habe (Julia Schmidt-Funke). Ein letzter Beitrag berichtet vom kriegsbedingten Scheitern der Bildungsreformpläne und Projekte des innovativen Pädagogen Wolfgang Ratke in Anhalt-Köthen, Sachsen-Weimar und Schwarzburg-Rudolstadt (Dorothea Meier).

 

Überprüft man die behandelten Themenkomplexe nun auf die Präsenz freier Handlungsoptionen abseits der unumgänglichen Reaktionen auf das Kriegsgeschehen, so verbleibt nach Ansicht des Rezensenten nur ein verschwindender Restbestand. Die Asymmetrie zwischen den Möglichkeiten der bewaffneten Mächte und der ihrer Gewalt ausgelieferten Zivilbevölkerung blieb stets gewaltig. Dementsprechend wird etwa festgehalten, dass selbst die die individuellen wie kollektiven traumatischen Erfahrungen verarbeitende Literatur „die große Diskrepanz zwischen den überwältigenden Gewaltereignissen und den beschränkten Reaktionsmöglichkeiten Betroffener sichtbar werden lässt“ (S. 108). Ebenso trägt die situative wie auch organisierte (Harzschützen, oberösterreichische Bauern), teils exzessive Gegengewalt der bäuerlichen Bevölkerung vornehmlich den defensiven Charakter einer reaktiven „Selbsthilfe“ gegenüber dem eskalierenden Militär, bei der „offensicht[ ]lich […] auch transgressiver, also übermäßiger, der eigentlichen Situation nicht angemessener bzw. das Ausmaß der in den Augen der Zeitgenossen zur Erreichung eines bestimmten Zieles notwendigen bzw. legitimen Gewaltanwendung überschreitender Gewalt eine zentrale Rolle zu(kam)“ (S. 158). Obwohl sich, wie gezeigt wird, mutige Frauen unter den schwierigen Bedingungen dieses Krieges weiterhin für das Funktionieren ihrer Familien oder auch als Fürsprecherinnen für ihre Männer einsetzten, so gilt doch insgesamt, dass man „viele Situationen benennen (kann), in denen Frauen Opfer von Gewalt wurden“ und dass sie „das Risiko sexualisierter Gewalt in ungleich höherem Maße tragen (mussten)“ (S. 198).

 

Was der Bürger realistisch vom Rechtsweg erwarten durfte, illustriert der gut dokumentierte Fall des wohlhabenden Kaufmanns Hans Castner aus Neumarkt in der Oberpfalz, der 1622 Opfer eines Einbruchs von Soldaten wurde, bei dem ihm erhebliche Sachwerte geraubt und überdies seine Ehefrau schwer verletzt wurden. Verbissen kämpfte der Geschädigte über mehr als drei Jahre bei der Militärjustiz und diversen zivilen Stellen bis hinauf zu seinem Landesherren, Kurfürst Maximilian von Bayern, um sein Recht, wobei er – ungeachtet der Tatsache, dass es sich um ein Offizialdelikt handelte – weitgehend in Eigenregie Beweise und belastendes Material gegen die mutmaßlichen Täter sammeln musste und von Seiten des Militärs nicht nur konsequent behindert, sondern auch inhaftiert, mit Klagen eingedeckt und an Leib und Leben bedroht wurde. Wenn es ihm endlich zu Jahresbeginn 1626 gelang, von dem zuständigen Regiment einen Gerichtsschein zu erwirken, der ihm „die Festnahme und das Verhör der beiden flüchtigen Verdächtigen Grünwitz und Huber ausdrücklich gestattete“, so kann dies angesichts des hohen Aufwandes und der außergewöhnlichen persönlichen Energie, die Castner über einen langen Zeitraum investieren musste, nur als ein höchst bescheidener Ertrag erscheinen. Denn ob die Verdächtigen je ergriffen wurden und ob es gar zu einer Erstattung des Diebesgutes kam, ist nicht bekannt. Wenn also auch „die Landesherrschaft keineswegs völlig machtlos gegen die Gewalt der ‚Soldateska‘ (war)“ und daher „die Untertanen auch im Krieg regelmäßig das Regulierungsangebot der Behörden“ nachfragten, waren, wenn die Causa Castner repräsentativ sein sollte, die Aussichten auf gerichtlichen Erfolg selbst für informierte und engagierte Angehörige des gutsituierten Bürgertums offenbar nur bescheiden (S. 230).

 

Inwieweit die in den manchen Städten durch die Besatzungs- oder Nachkriegssituation (Leipzig, Lübeck, Bremen) dynamisierten Auseinandersetzungen zwischen Rat und Bürgerschaft als aktiver Umgang mit den Herausforderungen des Krieges zu werten sind, scheint ebenso fragwürdig wie das Unterfangen, die politischen Bemühungen verschiedener Landesfürsten, ihre Territorien möglichst unbeschadet durch die Fährnisse der Zeit zu bringen, dieser Kategorie zuzurechnen. Solche Prozesse erscheinen vielmehr als eigenständige, mit dem Krieg vielfach nur mittelbar verbundene Entwicklungen. Am überzeugendsten erscheint ein solcher Konnex wohl auf dem Gebiet der Ökonomie, wo gewiefte Unternehmer – der bedeutendste unter ihnen war zweifellos Wallenstein selbst – die spezifischen Bedürfnisse des Krieges aktiv in den Dienst ihrer wirtschaftlichen Interessen zu stellen vermochten. So habe beispielsweise der Leipziger Großkaufmann und Finanzier Johann Zipfel von der Kollaboration mit den schwedischen Besatzern „in besonderem Maße“ profitiert (S. 273), und auch dem bereits erwähnten, aus einer Augsburger Patrizierfamilie stammenden Marx Conrad von Rehlingen sei es gelungen, „für sich selbst wie für den Herzog von Weimar günstige Geschäfte zu machen [… , er] verfügte bei seinem Tod über ein umfangreiches Vermögen“ (S. 335). Mit Blick auf den aktuellen weltweiten Boom der Rüstungsindustrie lassen sich Kriegsgewinne somit unschwer als zeitlose Universalie in der Geschichte der Menschheit ausmachen.

 

In der Gesamtschau kann der vorliegende Band als Anstoß verstanden werden, die (ganz offensichtlich stark limitierten) Aktionsmöglichkeiten unterschiedlicher Individuen und Gruppen im Krieg auch über den historischen Rahmen des Dreißigjährigen Krieges hinausgehend zu hinterfragen. Diese erscheinen – so könnte eine These lauten – umso eingeschränkter, je weniger Status, Mittel und Macht ein Akteur jeweils einzubringen vermag.

 

Kapfenberg                                                  Werner Augustinovic