Demokratie und Populismus in der griechischen Antike und heute. Akten der ersten internationalen Tagung des ZAZH – Zentrum Altertumswissenschaften Zürich, UZH, 2020, hg. v. Riedweg, Christoph/Schmid, Riccarda/Walser, Andreas Victor in Zusammenarbeit mit Foletti, Benedetta/Semenzato, Camille (= Beiträge zur Altertumskunde 415). De Gruyter, Berlin 2024. IX, 512 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Vom 12. bis 14. Februar 2020 wurde in den Räumen der Universität Zürich die erste internationale Tagung des Zentrums Altertumswissenschaften Zürich (ZAZH) mit dem folgenden Fokus abgehalten: „Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Demokratie und Populismus stellte sich damals auch im Hinblick auf den 45. Präsidenten der USA mit besonderer Dringlichkeit, doch hat das Thema, das in diesem Band aus antiker Perspektive und in stetem Dialog mit moderner Politikwissenschaft beleuchtet wird, seither kaum an Aktualität verloren. Dies gilt umso mehr, als die in der Zwischenzeit stärker in den Vordergrund gerückten Probleme, darunter die Pandemie, die Klimakrise und der Ukrainekrieg mit seinen weltweit spürbaren Folgen, populistischem Aktivismus neue Nahrung bieten“ (S. V). Im Juni 2023, als dieses Vorwort verfasst wurde, hielt man eine weitere Präsidentschaft Donald Trumps wohl noch für so unwahrscheinlich, dass man ein solches Szenario erst gar nicht erwog. Heute, weniger als zwei Jahre später, steht die Welt perplex vor vollendeten Tatsachen.
Zum vorliegenden Sammelband ist eingangs anzumerken, dass er über www.degruyter.com auch als Open-Access-Publikation verfügbar ist. In ihrer Einleitung – sie enthält unter anderem einen Überblick mit kurzen Zusammenfassungen des Inhalts der folgenden 19 Beiträge – versuchen die Herausgeber, den Begriff des Populismus definitorisch einzugrenzen, indem sie verschiedene Forschungsansätze zur Annäherung an das Phänomen referieren. Dabei kommen sie zu folgendem Schluss: „Die Minimaldefinition, der Idealtypus, die Kategorisierung, die Ideologie oder die länderübergreifenden Kommunikationsmerkmale von Populismus werden in der aktuellen Populismusforschung gesucht, gefunden, vertieft und definiert, jedoch kaum vereinheitlicht. […] Entsprechend konnten und wollten auch wir für diesen vorliegenden Band nicht den Populismus definieren, den es in der Antike und Moderne zu erkennen und diskutieren gilt. Vielmehr sollen die Beiträge zeigen, wie sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerade auch aufgrund ihres unterschiedlichen Fach- und Forschungsbereiches dem Phänomen Populismus je anders annähern und welche Differenzen und Parallelen sie darauf aufbauend zwischen Gegenwart und griechischer Antike festmachen“ (S. 16f.). Das gesamte Projekt ist interdisziplinär angelegt: Unter den zwölf männlichen und sieben weiblichen Verfassern dominieren Althistoriker, Vertreter der Altertumskunde sowie der Klassischen Philologie, daneben finden sich auch Politikwissenschaftler und Philosophen. Mehr als ein Drittel von ihnen lehrt in der Schweiz, die weiteren verteilen sich auf Deutschland, die Vereinigten Staaten, Großbritannien, die Niederlande, Frankreich, Italien und Griechenland. Zehn der Beiträge sind in deutscher, neun in englischer Sprache verfasst. Ihre Anordnung lässt ein bestimmtes Muster erkennen: Die ersten fünf Beiträge (Edward M. Harris, Josine Blok, Daniel Kübler, Marc Bühlmann, Georg Kohler) kreisen mit politikwissenschaftlicher und philosophischer Expertise um das komplexe Verhältnis von Demokratie und Populismus einst und jetzt sowie um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen modernen Populisten und antiken Demagogen. Sodann – einsetzend im 5. vorchristlichen Jahrhundert – durchmessen die weiteren Studien, chronologisch fortschreitend, Jahrhundert für Jahrhundert den Zeitraum von der klassischen Antike (Giovanni Giorgini, Christian Mann, Riccarda Schmid) über den Hellenismus (Matthew Simonton, Christel Müller, Andreas Victor Walser) bis in das 2. nachchristliche Jahrhundert. Als Gewährsmänner und zugleich auch Objekte der Analyse werden namhafte Persönlichkeiten bemüht, darunter die Historiker Herodot und Thukydides (Carlo Scardino, Rosalind Thomas), der Komödiendichter Aristophanes (Gunther Martin, Christoph Riedweg), die Philosophen Platon (Cinzia Arruzza) und Aristoteles (Georgia Tsouni) sowie der griechisch-römische Rhetor, Politiker und Mäzen Herodes Atticus (Claudia Tiersch). Mit Kleon wird der wohl berüchtigtste athenische Populist und Demagoge in vielen Beiträgen genannt. Dass der amerikanische Althistoriker Eric W. Robinson gerade diesen nach dem Zeugnis seiner Kritiker besonders rüde auftretenden Kleon und Donald Trump im abschließenden Beitrag des Bandes – und damit an prominenter Stelle – kontrastierend betrachtet, ist ein Statement für sich. Jeder einzelne Beitrag ist mit seiner je eigenen Bibliographie versehen, während die reichhaltigen Register am Ende des Bandes (Autorenregister mit Kurzbiographien und Schriftenauswahl, Personenregister, Sachregister, Stellenregister der zitierten antiken Quellen) eine übergreifende Verklammerung sicherstellen.
Im Beitrag Daniel Küblers gewinnt der Begriff des modernen Populismus auf der Basis der bahnbrechenden Forschungen des niederländischen Politologen Cas Mudde eine klarere Kontur. Als die drei wichtigsten Komponenten werden der Antagonismus zwischen dem positiv konnotierten Volk und einer negativ konnotierten Elite, der Leitgedanke der unbegrenzten Volkssouveränität und ein antipluralistisches Blockdenken identifiziert. Aus diversen Ideologien jeglicher Couleur würden dann die jeweiligen politischen Inhalte entliehen, weshalb der Populismus als solcher selbst nur als eine „dünne Ideologie“ (S. 67) in Erscheinung trete und als Konzept dementsprechend flexibel und anschlussfähig sei. Er wurzele in der Demokratie selbst, indem er sich gegenüber dem realen Pragmatismus der Regierenden auf die Volkssouveränität berufe, und entwickle sich vornehmlich in Krisen, bedingt durch Gründe wie das Erodieren des Parteiensystems, Globalisierungseffekte, die Intransparenz staatlichen Handelns oder die Veränderungen in der Medienlandschaft. Wiewohl „keine grundsätzliche Inkompatibilität mit der Demokratie“ bestehe und „Optimisten“ im Populismus gar „ein sinnvolles demokratisches Korrektiv“ sehen, werde es spätestens dann gefährlich, „wenn populistische Bewegungen ihren Wahlerfolg dazu benutzen, die Spielregeln der liberalen Demokratie an ihre Ideologie anzupassen“, denn ihr Konzept sei bekanntlich das der „illiberalen Demokratie“ (S. 72f.).
Aus der Fülle der weiteren, durchweg inspirierenden Beiträge sei hier jener Riccarda Schmids („Populisten im Gerichtshof? Populismus und politische Kommunikation im Athen des 4. Jh. v. Chr.“) exemplarisch herausgegriffen und eingehender referiert, weil sie – rechtsgeschichtlich bedeutsam – die Kommunikation im athenischen Volksgerichtshof aufgreift und diese dem kommunikativen Agieren heutiger Populisten vergleichend gegenüberstellt. Dabei stützt sich die Verfasserin methodisch auf die Ergebnisse eines Zürcher Forschungsprojekts aus dem Jahr 2016 zur Identifikation populistischer Akteure anhand der Analyse ihrer politischen Kommunikation. Eine populistische Ideologie führe demnach „zu einer radikal und unabdingbar auf Volkszentrismus, Anti-Elitismus und Volkssouveränität ausgerichteten strategischen Kommunikation. Eine Ideologie kann aber nur vermutet werden – und das ist entscheidend –, wenn alle drei populistischen Kommunikationsstrategien die Kommunikation eines Individuums konsequent dominieren“. Stilistische Kunstgriffe manipulativer Art, wie sie gerade auch Populisten geschickt anwenden, würden hingegen – weil auch in anderen Zusammenhängen verbreitet und damit für das Phänomen zu unspezifisch – bei dem genannten Ansatz „nicht als Definitionsmerkmal einer populistischen Ideologie“ herangezogen (S. 309f.). Zu den drei Konstituenten der populistischen Ideologie Volkszentrismus, Anti-Elitismus und Volkssouveränität trete aber ferner das „stark kompetitive Element populistischer Rhetorik […]: Populismus ist an Kritik und Forderungen nach Veränderung und Umverteilung geknüpft“ (S. 313). In der antiken Demokratie hätten politisch motivierte Gerichtsprozesse eine „akzeptierte Form des politischen Wettbewerbs“ dargestellt (S. 314, Anm. 58). Aus den Gerichtsreden des Demosthenes (384 – 322 v. Chr.), die hier quellenmäßig den Bezugspunkt bilden, würden folgerichtig seine Reden in Privatprozessen ausscheiden, „da ihnen die Ausrichtung auf die gesamte Polisgemeinschaft sowie die Diskussion eines Antagonismus zwischen Volk und Elite und damit die auf das politische System ausgerichtete kompetitive Kommunikation fehlen“, wohingegen bei seinen vier überlieferten Reden aus Gerichtsprozessen, die auf einer öffentlichen Klage basieren (Rede gegen Leptines, Rede gegen Meidias, Anklagerede im Gesandtschaftsprozess, Kranzrede), „durch die Klageform die Ausrichtung auf eine den ganzen Demos tangierende Angelegenheit gegeben“ sei. Kompetitiv sollte durch die Ausführungen des Redners der „als monolithische Gruppe“ imaginierte Demos dabei „vor dem schädlichen und korrupten Gegner, der am besten aus dem Kollektiv entfernt werden sollte“, geschützt werden (S. 314). Die Untersuchung der vier Gerichtsreden führt zu dem abschließenden Befund, dass Demosthenes zwar „in seinem Auftreten und seiner Fähigkeit, das Publikum anzusprechen und anzuregen, den modernen Populist*innen in Nichts nachzustehen“ scheine und dass in seinen Reden „alle drei eine populistische Ideologie induzierende thematischen Deutungsrahmen erkennbar“ seien, jedoch Letztere, und das sei wesentlich, „nicht konsequent und nicht exklusiv“. So blieben die antiken Redner lediglich „Akteure im politischen System, die sich zwar populistischer Kommunikationsstrategien bedienen, wenn sie sich davon situativ in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern und der Interaktion mit dem Zielpublikum einen Vorteil erhoffen, sie propagieren aber keine populistische Ideologie und verfolgen nicht radikal ein darauf aufbauendes politisches Programm“ (S. 328f.). Im Vergleich mit der Gegenwart ergebe sich daher folgendes Bild: „Der moderne Populismus propagiert seine Ideologie mit dem Ziel, das demokratische System so zu reformieren, dass de facto eine Alleinherrschaft der das Volk vertretenden populistischen Akteur*innen entsteht. Die athenische Demokratie hatte sich im 4. Jh. hingegen als widerstandsfähig und krisensicher gezeigt, ohne entsprechende Vorstösse zur drastischen Reorganisation oder gar Etablierung einer Alleinherrschaft. Die Idee der Volks-Repräsentation gab es in der antiken Demokratie nicht in einer mit der Moderne vergleichbaren Form, weshalb auch strukturell den Staatsmännern keine Möglichkeit gegeben war, im Namen des Volkes Macht für sich zu beanspruchen. Vielmehr zeichnete sich die dēmokratia Athens damit aus, tatsächlich eine Volksherrschaft zu sein, und damit eine Demokratie, die moderne populistische Akteur*innen zwar propagieren, in dieser Ausprägung aber gar nicht real anstreben, da sie dafür ihre eigene politische Machtstellung zugunsten des Kollektivs aufgeben müssten“ (S. 329f.).
Dieses Beispiel führt, wie auch die weiteren Studien des verdienstvollen Sammelbandes, vor Augen, in welcher Weise die Beschäftigung mit der antiken Demokratie die Schärfung des Populismusbegriffs zu fördern vermag, die angesichts eines ausufernden inflationären Gebrauchs, unklarer Zuschreibungen und vor allem der aktuellen Erfolge populistisch agierender Feinde der Demokratie notwendiger denn je erscheint. Ein Diffundieren solchen Wissens in die Breite der Gesellschaft könnte womöglich deren Resilienz gegenüber jenen stärken, die als vorgebliche Verwirklicher der Volkssouveränität unter Berufung auf das Wohl des Volkes vor allem an eigener Macht interessiert sind.
Kapfenberg Werner Augustinovic