Gerd Krumeichh, Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann. Die Nazis und die Deutschen 1921-1940. Herder, Freiburg i. Br. 2024. 347 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Wie es Hitler gelang, einen großen Teil der deutschen Gesellschaft in das Lager des Nationalsozialismus zu ziehen, ist für die historische Forschung eine immer noch nicht restlos beantwortete Frage. Dank Gerd Krumeich, in der Neueren Geschichte der Nachfolger Wolfgang J. Mommsens in Düsseldorf, mittlerweile Emeritus und ausgewiesener Experte vor allem für den Ersten Weltkrieg, wissen wir es nun wieder ein wenig besser: Hitler – so sein bewusst provokant gewählter Titel – „gewann“ diesen Krieg gewissermaßen im Nachhinein doch noch, und er gewann ihn für die große Masse der durch die überzogenen Friedensbedingungen gedemütigten, in ihrer nationalen Ehre gekränkten Deutschen. Mit dem siegreichen Ende des Frankreichfeldzuges im Juni 1940 schien die „Schmach von Versailles“ ein für allemal ausgelöscht, Hitler stand auf dem Gipfel seiner Popularität, und es „fühlte sich wohl die NS-Bewegung ganz mit Deutschland identisch“ (S. 279)..
Die Idee, dass die Umstände der deutschen Niederlage, die revolutionären Umtriebe, der Waffenstillstand und der Diktatfrieden mit der festgeschriebenen Kriegsschuld des Deutschen Reiches als juristischer Basis für gewaltige Reparationsforderungen eine enorme Hypothek für die junge Weimarer Republik darstellten, die man per se für vieles davon verantwortlich machte („Dolchstoßlegende“), ist selbstverständlich nicht neu. Dessen ungeachtet gebe es „bislang keine Geschichte der Weimarer Republik, die das Trauma des verlorenen Krieges durchgehend verarbeitet hätte“ (S. 11) [treffender wohl: „durchgehend untersucht“; das Trauma verarbeiten mussten die davon Betroffenen. WA]. So will der Verfasser auch „nichts wirklich zuvor ganz Unbekanntes“ präsentieren, sondern lediglich „in die Tiefen der nationalsozialistischen Aneignung des Ersten Weltkriegs vor[…]dringen“ (S. 16). Dabei sei zu unterscheiden „zwischen dem, was die Geschichtswissenschaft heute von all diesen Ereignissen und Verhältnissen weiß, und dem, was die Zeitgenossen davon wussten oder zu wissen glaubten und wovon sie überzeugt waren. Allein das damalige Wissen und die Überzeugungen der Menschen können erklären, was sie für wahr hielten und wem sie Glauben schenkten. […] In den Jahren nach 1919 […] ging es (allen) um die klare Verbindung zwischen Schuld am Kriege, Schuld am Tod von etwa zehn Millionen Soldaten und ungeheuren Verwüstungen. Nur daran entzündeten sich Hass und Rachegedanken und nur deshalb konnten Politiker wie Hitler Gehör finden, die versprachen, diesen ‚Schandvertrag‘ wieder abzuschaffen“ (S. 12). Hitler habe in erster Linie Glaubwürdigkeit erlangt, weil er „die Menschen als jemand ansprach, der als ‚einer unter Millionen‘ den Krieg an der Front erlebt hatte, verwundet worden war und sogar das Eiserne Kreuz (EK I) erhalten hatte – eine Auszeichnung für besonderen persönlichen Mut. Das wurde zwar schon in den 1920er Jahren angezweifelt und stimmte wohl auch nicht zur Gänze, war aber für die allermeisten Menschen, die ihm folgten oder zuhörten, unzweifelhaft wahr“ (S. 13).
Die Frage, ob es aus der Perspektive des Deutschen Reiches wirklich klug gewesen sei, wie geschehen im Vertrauen auf die Ankündigungen des amerikanischen Präsidenten Wilson die Waffen frühzeitig zu strecken, oder ob – was Gerd Krumeich mit Bezugnahme auf zeitgenössische alliierte Lagebeurteilungen für durchaus möglich und plausibel hält – längerer militärischer Widerstand die Voraussetzungen für ein deutlich günstigeres Friedensabkommen geschaffen hätte, konnte auch der Reichstag der Weimarer Republik bei seiner Ursachenforschung nicht klären. Die Bekanntgabe der deutschen Kriegsverluste von zwei Millionen Toten und viereinhalb Millionen Verwundeten aber habe in der deutschen Bevölkerung einen „Schock“ ausgelöst, den wir „bislang nur erahnen (können)“. Es habe sich dadurch wohl „die Frage nach dem Sinn des Krieges, nach Kriegsschuld und Ursache der Niederlage noch tiefer in das (Unter)-Bewusstsein der Menschen eingefressen“, denn anders sei „die ungeheure Schärfe und Dauerhaftigkeit der Auseinandersetzung […], welche die Politik der Weimarer Republik von Anfang bis Ende bestimmte, nicht zu erklären“ (S. 36). Je stärker in der Realität das Auseinanderdriften der Gesellschaft augenscheinlich wurde, desto größer wurde die Sehnsucht der Menschen nach Zusammenhalt, nach einer „Volksgemeinschaft“, die man in der sentimentalen Rückschau auf das kurzlebige „Augusterlebnis“ 1914, als der Kaiser keine Parteien, sondern nur mehr Deutsche kennen wollte, projizierte.
Es seien die Nationalsozialisten gewesen, die diese kollektiven, vom Ersten Weltkrieg überschatteten und geprägten Mentalitäten und Bedürfnisse am besten wahrnahmen und am konsequentesten bearbeiteten. So spielte „in Hitlers Reden, gleichgültig ob vor NS-Publikum oder vor einer größeren Öffentlichkeit, die Erinnerung an den Krieg eine entscheidende Rolle“ (S. 57). Hierbei fand, so der Verfasser, „die permanente Betonung von Deutschlands Größe, von Volkstum und Volksgemeinschaft, von Brechung der ‚Schandfriedens‘ von Versailles und Friedensstiftung durch Rüstung und Machtpolitik auch Beifall bei Nichtnazis oder sogar entschiedenen Gegnern des Nationalsozialismus“ (S. 62). Authentische Erzählungen von Nationalsozialisten aus der „Kampfzeit“ (sog. Abel-Collection) offenbaren, „dass in den Berichten der alten Nazis Kriegserlebnis, Revolution, ‚Dolchstoß‘ und ‚Versailles‘ immer wieder als Motivation der eigenen Politisierung und Hinwendung zu Hitler angegeben werden“ (S. 91). Hitler selbst trat, wie bereits erwähnt, mit dem Eisernen Kreuz und dem Verwundetenabzeichen ganz bewusst im Habitus des ehemaligen Frontkämpfers und Kriegsversehrten auf, „ein einfacher Gefreiter, der dann aus der Empörung über Kapitulation, Revolution und ‚Schandfrieden‘ das Wort ergriff und das aussprach, was alle Deutschen zutiefst anrühren sollte und auf Dauer auch tat“ (S. 259). Dass es erhebliche Zweifel an der Echtheit des berühmten, oft veröffentlichten Bildes gibt, das ihn angeblich am 2. August 1914 bei Kriegsausbruch in der Menge auf dem Münchener Odeonsplatz zeigt (vgl. Abb. S. 257), hat dessen emblematischer Wirkung keinen Abbruch getan.
Die nationalsozialistische Sturmabteilung (SA), befehligt von ehemaligen Offizieren des Weltkriegs, sei mit dem Anspruch aufgetreten, sie sei „legitimer Nachfolger des deutschen Weltkriegssoldaten“. Sie sei daher intern streng zur Wahrung von Zucht und Ordnung sowie zum Gehorsam gegenüber der Polizei angewiesen worden, was sie „grundsätzlich von den Rotfront-Kämpfern, die oft sehr gezielt auch auf die Polizisten einprügelten, (unterschied)“ (S. 142). Während sie in den Großstädten zwar vorwiegend durch Gewalt auf den Straßen in Erscheinung trat, habe es daneben im kleinstädtischen und ländlichen Raum eine SA gegeben, „die ganz anders auftrat und durch Geschlossenheit, Ordnungswillen, Hilfsbereitschaft sowie Präsenz bei allen örtlichen Veranstaltungen auffiel“, in Formation auch an Gottesdiensten teilnahm und deren „auch hier immer militärischer Gestus zumeist als ‚kraftvoll‘ und ‚jung‘ rezipiert wurde“ (S. 148). Diese scheinbare Integration der Nationalsozialisten in das traditionelle bürgerlich-nationale und soziale Leben ließ Berührungsängste bei der Bevölkerung schwinden und sie wohl auch über manche Gewalttat der SA hinwegsehen, die so in den Kontext der Bewahrung oder Wiederherstellung geordneter Verhältnisse gestellt werden konnte, wohingegen man die revolutionäre Linke als gefährliche Bedrohung verstand.
In ihrem Bemühen um die von weiten Teilen der deutschen Gesellschaft ersehnte Restauration der nationalen Ehre bewiesen die Nationalsozialisten beachtlichen Instinkt wie auch Fingerspitzengefühl. Ihr Engagement galt den von der Republik vernachlässigten „Kriegskrüppeln“ ebenso wie der aktiven Bekämpfung der alliierten Reparationsforderungen (Anti-Young-Kampagne), dem Ringen um die Deutungshoheit bei der soldatischen Narration des Weltkriegs (Remarque-Skandal) oder um eine als würdig empfundene Form des Kriegsgedenkens. Bei der (Um-)Gestaltung von Weltkriegsmonumenten auch nach der Machtübernahme 1933 „vermieden [sie] es vielfach, die nationale bzw. nationalistische Tradition durch zusätzliche NS-Symbolik zu überformen. Auf diese Weise konnten erhebliche potenzielle Reibungsflächen mit Personen und Gruppen vermieden werden, die dem NS wohlgesonnen, aber keineswegs zugehörig waren und bei denen eine ‚Umgestaltung‘ ihres traditionellen Denkmals mit NS-Symbolik sicherlich Unwillen oder sogar Protest hervorgerufen hätte“ (S. 215). Ähnliches gelte für die Erzählungen vom Krieg, wenn der Verfasser fragt: „War für den Erfolg von Beumelburg, Ettighoffer und Dwinger zwischen 1933 und 1945 nicht letztlich entscheidend, dass die Nationalsozialisten mangels eigener literarischer Kompetenz quasi ihr Schiff auf die Welle der älteren nationalen Kriegserzählung setzten und an deren Erfolg partizipierten, indem sie sich, ungeachtet ihrer viel weitergehenden Ziele, als unbedingte Bewahrer der soldatischen Tradition inszenierten?“ (S. 198).
Im Gedenkjahr 1929, zehn Jahre nach Versailles, stand die NSDAP „als die Partei da, die mit äußerster Vehemenz für die Beseitigung des Versailler ‚Schandfriedens‘ und aller seiner ökonomischen und politischen Konsequenzen eintrat“ (S. 121f.). Ihren Parteitag in Nürnberg gestaltete sie bewusst als Inszenierung des Ersten Weltkriegs. Dieser Parteitag „beflügelte den Aufstieg des NS zur Massenpartei. […] So ging die Partei gestärkt in das Jahr 1930, in dem sie bei den Reichstagswahlen den entscheidenden Durchbruch erzielen sollte. […][Sie konnte sich] trotz ihres Extremismus und Rabaukentums als eine Partei präsentieren, die das ‚Erbe des Weltkriegs‘ selbstbewusst und stark antrat und deshalb helfen konnte, das deutsche Trauma zu überwinden“ (S. 136f.). Hitlers nachfolgende, von vorgetäuschten Friedensbeteuerungen begleitete außenpolitische Erfolge – angefangen mit der Rückholung des Saarlandes im Frühjahr 1935 und gipfelnd im Sieg über Frankreich im Juni 1940 – seien zeitgenössischen Stimmen zufolge „von der Bevölkerung noch 1938 als ein Triumph Deutschlands und nicht als ein Erfolg des Nationalsozialismus gewertet“ worden (S. 249f.). Die Interessenskongruenz könnte nicht augenfälliger sein.
Eckart Conze hat in seiner Besprechung des Buches in der Süddeutschen Zeitung vom 8. Juli 2024, S. 19 neben grundsätzlichem Lob („Die Untersuchung erschließt teilweise wirklich Neuland und überzeugt durch ihren systematischen Zugriff“) auch einige Kritik an Krumeichs Darstellung ventiliert. Im Gegensatz zu den breiten Interpretationsansätzen George F. Kennans und Jörn Leonhards fördere Krumeichs Engführung auf das Weltkriegstrauma die völlige Ausblendung weiterer, für das Scheitern der Weimarer Republik kausaler Ursachen. Darin meint Conze „fast wieder die frühe deutsche Weimar-Historiografie zu erkennen und ihre tendenziell apologetische Sichtweise, dass die ‚Hitlerei‘ primär das Ergebnis des verlorenen Weltkriegs und des demütigenden Friedens von Versailles gewesen sei“. Dieser Vorwurf geht aber insofern ins Leere, als Gerd Krumeich selbst mit Bezug auf ausgewählte Publikationen von Gudrun Brockhaus (2019), Daniel Schmidt (2015), Thomas Rohkrämer (2013), Alexander Meschnig (2008) und Peter Fritzsche (1999) von der Existenz „einige(r) weiterführende(r) Bücher zu der Frage, warum die Deutschen den Nationalsozialismus an die Macht gebracht haben“, spricht, weshalb er selbst nun „exklusiv, ohne auf die vielen anderen Motivationsstränge für den Erfolg der Nationalsozialisten einzugehen, die Themen Bewältigung der Kriegsniederlage, Ehrung der Gefallenen, Heroisierung der ‚Frontkämpfer‘ in den Fokus der Betrachtung“ stelle (S. 13). Die Arbeit ist methodisch getragen von dem steten Bemühen, anachronistische, dem heutigen Stand der Forschung entnommene Rückprojektionen tunlich zu vermeiden. Aus dieser den zeitgenössischen Wissensstand rekonstruierenden Perspektive betont der Verfasser bereits in seinen prominent placierten Eingangszitaten den qualitativen Unterschied zwischen der breiten Masse der nazifizierten „Abermillionen Mitläufer“ (S. 14), die sich zwischen 1933 und 1938/39 aus einem falschen Verständnis heraus, aus Opportunismus oder einfach um nicht weiter belangt zu werden den diversen nationalsozialistischen Organisationen anschlossen, und dem harten Kern der „echten Nazis“, die die NS-Ideologie quasi mit Haut und Haar internalisiert hatten. Die fatalen Folgen dieser historischen Interaktion zwischen einer extremistischen Minderheit und einer sich nicht hinreichend abgrenzenden Mehrheitsgesellschaft sollten im Auge behalten werden, wenn aktuell die Beseitigung von „Brandmauern“ gegenüber extremistisch unterwanderten politischen Parteien in Erwägung gezogen wird. Krumeichs Studie ist auch ein Lehrbeispiel dafür, was passieren kann, wenn es die verantwortliche Politik verabsäumt, elementare Bedürfnisse der Bevölkerung zu lesen und adäquat zu berücksichtigen. Finden diese Bedürfnisse erst einmal Aufnahme bei der robusten politischen (Un-)Kultur der extremistischen Ränder, ist die Erosion der politischen Mitte nur eine Frage der Zeit.
Kapfenberg
Werner Augustinovic