Hage, Simon/Hesse, Martin, Aufholjagd. Der Kampf um Kunden, Ideen und Innovationen – wie die deutschen Autobauer zurück an die Weltspitze wollen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2022. 303 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Über viele Jahrzehnte galten die Premium-Automobile deutscher Hersteller als das Non plus ultra der Branche. Der stets boomende Industriezweig war ungeachtet konkurrenzindizierter Rationalisierungsschritte erster Garant für Arbeitsplätze in Deutschland und konnte sich damit der Rückendeckung der Politik sicher sein. Doch mittlerweile sind Umstände eingetreten, die daran zweifeln lassen, ob sich dieser Höhenflug fortsetzen wird. Sie haben zu tun mit dem Klimawandel und dem damit verbundenen unausweichlichen Kulturwandel im Bereich der Mobilität, mit technischen Skandalen und einer mächtigen Konkurrenz, welche die Zeichen der Zeit früher erkannt, rechtzeitig die Weichen gestellt, Strukturen optimiert und sich einen Vorsprung erarbeitet hat, dessen Einholung den deutschen Autobauern nun erheblich zu schaffen macht.

 

Die beiden Journalisten Simon Hage, Jahrgang 1980, und Martin Hesse, Jahrgang 1969, haben als Fachredakteure bei namhaften Blättern Expertise erworben und arbeiten nun für das Wirtschaftsressort des Magazins „Der Spiegel“. Schon über Jahre beobachten sie die Entwicklungen in der Automobilindustrie, unterhalten Kontakte bis in die Spitzen der Konzerne und berichten über Trends, kriminelle Machenschaften, neue Anforderungen und die daraus resultierenden Erfordernisse der Transformation. „Aufholjagd“ haben sie ihre jüngste Schrift betitelt und machen damit klar, dass es nicht mehr darum geht, eine Spitzenposition zu verteidigen – aufholen muss jemand, der bereits in Rückstand geraten ist, und das sei bei der deutschen Automobilbranche zweifellos der Fall. „Dieselgate“ (eine kreative Wortschöpfung in Anlehnung an die Watergate-Affäre, die in den 1970er-Jahren den Rücktritt des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon erzwang), die vorsätzliche Manipulation von Abgaswerten mit Hilfe einer speziellen Abschaltsoftware, die sogar den seinerzeitigen Audi-Chef Rupert Stadler in Untersuchungshaft und vor das Strafgericht brachte, sei die Spitze des Eisberges einer grundsätzlich verschlafenen technologischen Wende gewesen und „katapultierte […] die gesamte deutsche Autoindustrie in eine Vertrauenskrise. […] In den deutschen Autokonzernen selbst ist […] eine Art von Kulturkampf entbrannt. Dass sie sich wandeln müssen, ist mittlerweile unstrittig. Doch die Frage, wie schnell der Umbruch gehen soll und wie alternativlos er tatsächlich ist, entzweit die traditionellen Hersteller – untereinander und auch intern“ (S. 15ff.).

 

Ihrem Thema geben die Verfasser eine klare Struktur. Wie einem Bühnenstück stellen sie ihren Ausführungen die Dramatis Personae als ersten Abschnitt voran, eine Kurzcharakteristik wesentlicher Akteure im Management der deutschen und internationalen Automobilszene: Audi-Chef Markus Duesmann; VW-Konzernboss Herbert Diess; Silja Pieh, strategische Vordenkerin bei Audi; Oliver Hoffmann, Entwicklungsvorstand bei Audi; Multivisionär, Elektroauto-Pionier und Tesla-Chef Elon Musk; Li Shufu, Gründer und Chef des chinesischen Fahrzeugkonzerns Geely; William Li, mit seinem Elektroauto-Start-up Nio ein „chinesische(r) Elon Musk“; BMW-Chef Oliver Zipse; Mercedes-Chef Ola Källenius; Laurin Hahn und Jona Christians, Gründer des Münchner Elektroauto-Start-ups Sono Motors. Anhand des farbigen Bildteils, der geschlossen mittig eingebunden ist, kann sich der Leser einen unmittelbaren Eindruck vom realen Aussehen dieser Manager verschaffen. Im zweiten Abschnitt „Die Revolution“ werden die grundlegenden Aspekte der Krise der deutschen Automobilindustrie umrissen, im dritten die Aktivitäten der Rivalen aus den Vereinigten Staaten und China dargestellt. Das vierte Kapitel will zeigen, welche unterschiedlichen Wege jeweils Volkswagen, Daimler und BMW einschlagen, um gegen die ausländische Konkurrenz zu bestehen, und welche Chancen sich für aufstrebende Elektro-Start-ups wie Sono Motors auftun. Kapitel fünf begibt sich auf die „Schlachtfelder der Zukunft“, auf denen nun an Stelle der hohen Ingenieurskunst der klassischen Motoren- und Getriebebauer das Ringen um die beste Batterietechnik, die leistungsfähigsten Mikrochips und die klügste Software über Erfolg und Misserfolg entscheiden würde. Dass damit auch für die Politik ein neues Zeitalter angebrochen sei, die sich von ihrer bisherigen, von Lobbyinteressen bestimmten Autoindustriepolitik möglichst bald verabschieden müsse zugunsten einer umfassenden „Verkehrspolitik, die diesen Namen auch verdient“ (S. 259), erläutert der sechste Abschnitt. Im abschließenden siebten Kapitel versuchen die Verfasser ein Resümee zu ziehen und eine Antwort zu finden auf die zentrale Frage „Haben die deutschen Autobauer den Mut zum Wandel?“. Dieser sei dringend geboten, verlange aber „ein völlig neues Verständnis von Fortschritt“ (S. 272), „Veränderungsbereitschaft“ (S. 277), den gesellschaftlichen Wandel berücksichtigende „neue Geschäftsmodelle“ (S. 280) und nicht zuletzt auch „verrückte Ideen und de(n) Mut, sie in die Tat umzusetzen“ (S. 283) – allesamt Faktoren, denen die erfolgsverwöhnten, lieber auf bewährte Traditionen setzenden Spitzenmanager der deutschen Autobranche in der Vergangenheit eher mit Skepsis und Vorbehalten begegneten. Ein gleichsam als Postskriptum gedachter „Schluss“ illustriert anhand einer Begegnung der beiden „mächtigsten Autobosse der Welt“, VW-Chef Herbert Diess und Tesla-Chef Elon Musk, im Rahmen des Forums Alpbach Mitte Oktober 2021 die unterschiedlichen, nicht zuletzt auch vom jeweiligen persönlichen Charakter geprägten Denkkulturen der „beiden Alphatiere“ (S. 285f.).

 

Fasst man die Fakten zusammen, so skizzieren die Verfasser für das Automobil folgende Zukunftsperspektive: Besonders, aber keineswegs ausschließlich im urbanen Bereich werden umfangreichere Mobilitätskonzepte gefragt sein, die den automobilen Individualverkehr ergänzen und vielleicht zunehmend ersetzen. Elektroantrieb und Brennstoffzelle sollen in nur wenigen Jahren die überkommene fossile Verbrennertechnik verdrängen, aus Fahrzeugen werden rollende, in ihren Funktionen zentral vernetzte und hoch leistungsfähige Computer, die sich durch ständiges Sammeln von Daten laufend optimieren und die Basis für autonomes Fahren ebenso wie für komplexe Sharingmodelle legen. Alle diese futuristisch anmutenden Entwicklungen befinden sich – wenn auch bislang nur punktuell – bereits in fortgeschrittenen Stadien der praktischen Erprobung. Batterietechnik, Mikrochips und Software bilden hierfür das technologische Fundament, sodass Zulieferer, die überleben wollen, nicht umhinkommen werden, vornehmlich in diesen Segmenten Expertise anzubieten. Im Interesse einer optimalen Wertschöpfung, der Sicherung von Arbeitsplätzen und der größeren Unabhängigkeit von marktwirtschaftlichen Verwerfungen zeigt sich aber auch der Trend, diese Kernkompetenzen wieder verstärkt bei den Fahrzeugherstellern zu halten, zumal dort die klassische mechanische Ingenieursarbeit an den vielfältigen Komponenten der Motoren- und Getriebetechnik durch den Elektromotor praktisch obsolet werden dürfte.

 

Wie bereits festgehalten, reagieren die deutschen Marktführer auf dieses Szenario nicht einheitlich. Im Volkswagen-Konzern „verantworten Topmanager künftig nicht mehr in erster Linie die Hardware einzelner Automodelle, sondern die Software für eine ganze Fahrzeugklasse. Die Ingenieure bauen also erst die Software, dann das passende Auto dazu. […] Die konzernweite Softwareeinheit Cariad, zunächst aufgehängt bei Audi, soll aus Volkswagen die zweitgrößte europäische IT-Schmiede hinter SAP machen. […] Volkswagen, der Massenhersteller von Autos, will künftig neben Blechkisten auch Bits und Bytes in Großserie produzieren“ (S. 98). Anfang der 2030er-Jahre solle zudem „mit Produktion und Verkauf der Verbrenner endgültig Schluss sein“, ausgenommen China, wo man „noch flexibler bleiben“ wolle (S. 108). Mercedes Benz wiederum versucht sich primär als „Pionier für nachhaltigen und modernen Luxus“ (S. 126) zu positionieren, „statt mit immer neuen Modellen in die Breite zu gehen, sollen Kernprodukte wie die S-Klasse technologisch veredelt werden“ (S. 130). Um das Profil als Luxusmarke noch mehr zu schärfen, wurde die LKW-Sparte bereits abgesondert und als eigenständige Gesellschaft an die Börse gebracht. Bis 2025 will man alle Modelle auch mit Elektroantrieb anbieten, eine Softwareoffensive und die Zusammenarbeit mit dem chinesischen Konzern Geely sollen helfen, bestehende Rückstände bei der IT rasch aufzuholen. BMW will sich hingegen (noch) nicht festlegen, stellt sich „demonstrativ gegen den Mainstream“ und postuliert: „Profitables Wachstum geht nur über Technologieoffenheit“ (S. 148). Neben Elektroautos hätten auch Wasserstoffautos und Verbrenner weiterhin ihren Platz. Die Münchner wollen „zwar nicht alles selber machen, aber das Wesentliche. Die wichtigsten Funktionen verteilen sich auf drei Betriebssysteme, eines für das Infotainment inklusive Navigation, eines für das Sicherheits- und Fahrassistenzsystem, das irgendwann autonomes Fahren ermöglichen soll, und eines für die Steuerung und das Zusammenspiel von Motor und etlichen Standardkomponenten wie Bremsen und Lenkung“ (S. 160).

 

Welche Wege tatsächlich zu dem angepeilten Ziel der „Aufholjagd“ der erfahrenen deutschen Autohersteller führen, die Position an der Weltspitze wieder zu erringen und nachhaltig zu verteidigen, lässt sich heute noch nicht sagen. Viel wird von den Fähigkeiten und den Konzepten der allerorten sprießenden Konkurrenten abhängen, nicht zuletzt auch davon, ob neben Tesla und den ostasiatischen Automobilkonzernen branchenfremde Riesen wie Apple, Google oder Baidu ihr Potential an Mitteln, Daten und IT-Kompetenz ausschöpfen und möglicherweise mit eigenen Entwicklungen auf den Automobilmarkt drängen. Außen vor bleibt bei alldem die philosophische Frage des in der Tradition klassischer Fahrzeugtechnik sozialisierten  Autolenkers, ob die gepriesenen Innovationen überhaupt im ureigenen Interesse des Nutzers liegen oder ob dieser nicht vielmehr in ein System gezwungen wird, das ihn kontrolliert, ihm jede Eigenverantwortung entzieht und von dem letztendlich andere profitieren.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic