Gietinger, Klaus/Kozicki, Norbert, Freikorps und Faschismus. Lexikon der Vernichtungskrieger. Schmetterling Verlag Stuttgart 2022. 440 S. Abb. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Die Frage nach der personellen, der militärischen, der politischen Kontinuität der konterrevolutionären Soldateska nach dem Ersten Weltkrieg, von reaktionären Gewaltverbänden der frühen Weimarer Republik und ihrem politischen Terror hin zum Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus steht im Zentrum dieses Werkes. Sie kann nicht zuletzt für sehr aktuelle Problemstellungen der Genese und Dauer rechtsradikalen Terrors historische Lehrstücke für die Überlebenskraft und Einflüsse von Ideologien und Strukturen liefern.

 

 Die Publikation versteht sich explizit als fundiertes Speziallexikon von „Freikorps und Faschismus“ mit dem Fokus: „Waren die Freikorpsmänner die Vorhut der Nazis?“ (S. 147) Das engere, äußerst relevante Problem war schon seit jeher Gegenstand eindringlicher Forschungen. Hier scheiden sich historische Geister. Eine gewisse Lagerbildung zwischen links. liberal, konservativ und rechts zeichnet sich ab: Selbst in der quantitativen, der individualbiografischen oder kollektiven, namentlich der sozialhistorischen Bestandsaufnahme differieren die Autoren von anderen - sogar zu der ebenfalls mit aufschlussreichen Analysen aufwartenden jüngsten Arbeit Jan-Philipp Pompluns (Deutsche Freikorps: Sozialgeschichte und Kontinuitäten (para)militärischer Gewaltverbände zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus, Berlin 2020).

 

Theoretisch-analytische und deskriptiven Abschnitte über Ursachen, die Blutspuren der Freikorps zwischen 1919 und 1921 im Ruhrgebiet, in München, im Kapp-Putsch und Oberschlesien, die Zusammenhänge mit SA, SS, NSDAP, Militär, Reichssicherheitshauptamt und schließlich den Einsatzgruppen in dem Zweiten Weltkrieg (S. 6-147) knüpfen partiell an Vorarbeiten Klaus Gietingers an. Unter ihnen ragt die fulminante Biografie des Konterrevolutionärs Waldemar Pabsts heraus (Hamburg2008, s. dazu Irmtraud und Albrecht Götz von Olenhusen in: ZRG GA 2011, 821-824).

 

Gietinger ist sozialwissenschaftlich, zeitgeschichtlich und als Filmemacher ausgewiesen, sein Co-Autor als Sozialwissenschaftler. Sie greifen zentrale Fragen auf, wie sie schon bei Siegfried Kracauer, Erich Fromm, bei den Kritischen Theoretikern bis hin zu bekannten Studien von Erhard Lucas, Klaus Theweleit, Volker Ulrich und anderen Forschern verschiedener Disziplinen gestellt wurden. Wie aber erklärt sich mentalitäts- und sozialhistorisch der neuerdings sichtbarere hohe Arbeiteranteil der Freikorps?

 

Eine Fülle alter und neuer Probleme und Thesen sind zu besichtigen. Sie werden auch in Zukunft heftig umstritten bleiben: „Die Vernichtungskrieger waren Akademiker, Offiziere, Wirtschaftsfachleute, Architekten, Polizisten und Ärzte. Sie kamen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft ....“ (S. 148). Die Freikorps bildeten nach diesen Kernthesen das wesentliche Zentrum der „frühen Sturmtruppen des deutschen Faschismus“, der nachfolgenden Führungscliquen und schließlich der mörderischen Eliten „der Massenvernichtung im 2. Weltkrieg in Verwaltung, Wehrmacht und Sondereinsatzkommandos. Die zugespitzte Verengung auf gruppenzentrierte Kontinuitäten oder – weniger Diskontinuitäten könnte Fragen der Generationszugehörigkeit, zu Einflüssen der Desintegration durch die Auflösung der Reichswehr und manche der sozioökonomischen Ursachen in den Hintergrund verweisen. Hier überwiegt der Grundtenor: die Freikorps als ein wesentliches ideologisch-personelles Reservoir für folgenreiche monströse Entwicklungsstränge in Deutschland und Europa dem Zweiten Weltkrieg.

 

Der minutiöse lexikalische Teil (S.149-421) bietet eine in dieser Form bisher nicht vorliegende Fülle an Informationen und kategorialen Bewertungen. Gestützt auf Archive und Standardwerke liegt ein unvergleichlich genau und auf Werdegänge zentriertes Lexikon vor, das biografische Chronologien und Querverbindungen quellenkritisch zumeist im Scheinwerfer der Grundthesen belegt. Die historischen Standpunkte, vor allem Gietingers engagierter Ansatz, in den lexikalischen Abbreviaturen auch verbunden mit bildkräftiger Freude an scharfzüngiger Polemik, liefern mehr als nur luzide wie lesbar präsentierte Miniaturportraits im Kontext.

 

Die Personalunion von Freikorpsangehörigen in anderen Gruppen, Vereinen. Parteien oder Institutionen ist allerdings ein vielleicht stärkere Bewertung verdienendes Moment, Anlass für intensivere differenziertere Bestandsaufnahme und Qualifizierung der Übergänge, Abgrenzungen, Differenzen und Abschattierungen im zeitlichen Verlauf.

 

Ein qualitativ und quantitativ vergleichender Blick auf so manchen prototypischen Nucleus, auf scheinbar ephemere, erst retrospektiv bedeutsame Vorläufer, auf Soldatenräte und Bürgerräte, singuläre terroristische fellow-travellers, auf Polizeiverbände, paramiltärische Einwohnerwehren und ähnlich strukturierte militante bzw. unterschiedlich wirksame Formationen (in der Weimarer Republik mit der geheimen, der sog. Schwarzen Reichswehr) hätte das vielscheckige Bild um komplexe Dimensionen der revisionistischen deutschen Innenpolitik in und nach der Novemberrevolution mit deren fatalen Konsequenzen erweitert.

 

Abwegig wäre es, wollte man bei einer solchen mammutähnlichen Meisterleistung beckmesserische biografische Detailkritik üben. Doch hätte womöglich eine ausführliche direkte Auseinandersetzung mit anders gepolten Historikern wie Sönke Neitzel, Mathias Sprenger oder Peter Keller der Gesamtperspektive ebenso genützt wie lexikalisch die sinnvolle Aufnahme von Spezialstudien zu bekannten protofaschistischen Formationen, ihren prominenten oder marginaleren Protagonisten, zu parallelen Gruppen und kolludierenden wie konkurrierenden Organisationen, (Susanne Meinls Pilotstudie zur „Nationalsozialisten gegen Hitler“, 2000, oder manche andere Monografie zur Innenpolitik nach 1918, zu den Nationalrevolutionären und ihren Ideologen, zu Ernst Jünger und seinem Umfeld, zur Resonanz in politischer Justiz und Gesellschaft könnte man u. a. zu einigen Desiderata zählen.). Dennoch wird davon unberührt jede künftige Forschung auf dieses neue, theoretisch wie empirisch und gesellschaftspolitisch-historisch klar positionierte, sachkundig komponierte Kompendium nicht verzichten können.

 

Düsseldorf                                                      Albrecht Götz von Olenhusen