Wörner, Hartmut, Der Wegbereiter und der Lieblingsschriftsteller des 'Führers'. Eine Studie zur Rezeption von Houston Stewart Chamberlains 'Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts' durch Karl May. Hansa Verlag Husum 2020. 148 S. Abb. Angezeigt von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) fungiert in Hartmut Wörners eindringlicher Studie als Gewährsmann und Inspirator für Karl Mays späte ideologische und ästhetische Konzeptionen. Wie viele Zeitgenossen war Karl May von der Lektüre der zweibändigen „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“, 1899 erschienen, in 5. Auflage 1904/05, mehr als nur fasziniert. Dessen historische Kulturphilosophie, sein Rassenkonzept, der antijüdische Rassismus, das Bild des Chinesen und des germanisch-indianischen Amerikaners sowie die philosophisch ambitionierten Kunstauffassungen flossen mutatis mutandis in Karl Mays Drama „Babel und Bibel“, aber auch in mehrere andere spätere Werke auf die eine oder andere Art und Weise ein.

 

Der Verwaltungsjurist und Karl-May-Forscher Wörner entwickelt die Differenzen der Rezeption Mays und Chamberlains in der Weimarer Republik und nach 1933. Chamberlain wird vor und nach 1914 als Schriftsteller im völkisch-rechtsradikalem Lager hoffähig. Nach 1933 werden seine Werke wiederum zu Bestsellern. Anders als May, der im Dritten Reich instrumentalisiert und wegen seiner pazifistischen, christlichen und humanitären Inhalte teils nur noch „gesäubert“ erscheinen darf, zählt Chamberlain zweifellos zu den ideologischen Vorreitern und Wegbereitern des Nationalsozialismus.

 

1923 vom Richard-Wagner-Verehrer Hitler in Bayreuth besucht, wird der Schriftsteller 1926 Mitglied der NSDAP.

 

Neben zahlreichen anderen Protagonisten der intellektuellen Eliten um 1900 sieht Karl May Chamberlain als seinen ideologischen Mentor, sich selbst als seinen Adepten und ihn als verehrungswürdigen „Führer“ aus den Niederungen in die höhere Welt der „Geistes- und Edelmenschen“. Direkte und indirekte Linien verlaufen von Chamberlains magnum opus bis hin zu Karl Mays nach 1905 entstandenen Werken.

 

Minutiös belegt Wörner seine Darstellung mit einer Fülle von Zitaten, Anleihen, Übernahmen und inhaltlichen Entsprechungen: Das Werk Chamberlains aus Mays Bibliothek als wesentliche Fundgrube. Der Entwurf einer rassisch unterlegten Geschichte, das schöpferische Germanentum, die kritische Sicht auf den politischen Katholizismus als Machtpol, die notwendige Symbiose von Weltanschauung, Wissenschaft, Religion und Kunst bilden die Schwerpunkte der Parallelen. Das gilt vor allem für Mays dubiose, vergleichsweise abstrakte Kunsttheorie, die mit ihren ideologisch-religiösen Aufladungen und Kontinuitäten sichtbar wird. Die Abkehr von der kruden Kolportage, von den zu Bestsellern emporsteigenden „Reiseerzählungen“ des scheinbaren Weltreisenden in Orient und Okzident wird vor allem durch die schwerverdaulichen Früchte ideologisch aufgeladener Erkenntnisse dem Schriftsteller und seinem Verleger gar nicht bekommen. Der Bruch im Werk, bereits seit 1899 begonnen, nach der Orientreise unübersehbar, leitete Misserfolge ein. Dem Kreuzfeuer verschiedener konfessioneller, pädagogischer und anderer persönlich motivierter Gegner vermochten auch die Kette der Prozesse nicht Einhalt zu gebieten.

 

Wörners eindringliche Untersuchung ist ein fundierter Beitrag für die über die Philologie und Literaturgeschichte hinausgehende Historisierung der Biographie und der Werkgeschichte. Der Schriftsteller mit seiner literarischen Wende nach 1900 zur Allegorie und Symbolisierung, als „vorletzter Großmystiker“ (Arno Schmidt), wird hier im schillernden Gesamtbild einer vielfarbigen „Moderne“, rückwärts wie vorwärts gerichtet, neu situiert.

 

Chamberlain ist Gegenstand von Huldigungen Mays neben anderen wissenschaftlichen Exponenten wie dem durch den „Methodenstreit“ weithin umstrittenen Leipziger Universalhistoriker Karl Lamprecht. Er und andere gehören zu denjenigen gelehrten Zeitgenossen, die der Schriftsteller als seine durch weitreichende Lektüren gewonnenen „Lehrmeister“ betrachtet. Lamprechts historisches Konzept eines kollektiven nationalen Seelenlebens musste einen nun auf eigene Art psychologisch agierenden Autor sozusagen aus der eigenen Seele sprechen. Die historische Analyse präsentiert den Zusammenhang, in dem sich, unversehens oder auch sehr bewusst orchestriert, eine „deutsche Volksseele“ als Inspiration und theoretisches Muster bis hin zu einer „ästhetischen Dialektik“ von Idealismus und Naturalismus im Spätwerk erweist. Jetzt figuriert ein Schriftsteller, der sich an herausragenden zeitgenössischen Protagonisten zu orientieren sucht, denen er sich innerlich und ideologisch sehr nahe oder verwandt empfindet.

 

Mays neu justiertes Selbst- und Kunstverständnis positioniert sich gegen das wachsende Heer seiner realen und imaginierten Feinde., unter denen der rechtsradikale Renegat Rudolph Lebius, dem Jürgen Seul jüngst eine fulminante Biografie gewidmet hat, neben vielen anderen aus mehreren Lagern hervorragt. Während sich der Schriftsteller Karl May in Kunst und Kulturgeschichte um neue innere wie äußere Fixpunkte in einer Art selbstgeschaffenem „Netzwerk“ von wissenschaftlichen Lehrern und Forschern zu bewegen trachtet, muss er sich zugleich mit einem wachsenden Rattenschwanz von rechtshistorisch außerordentlich interessanten Rechtshändeln gegen vielseitige Angriffe zur Wehr setzen. Die eigene dubiose Vergangenheit, deren er sich durch intensive Lektüren kulturhistorischer Werke und deren Verarbeitung wie fluchtartig entziehen zu können sucht, holt ihn jahrelang ein.

 

In umfänglichen weiteren Korrespondenzen wettert May gegen die Fesseln eines „allen höheren Gefühlen baren Materialismus“, gegen „sozialistische Heilande und sonstige Erdgeruchsapostel“. Neuere Literatur wie die der Wiener Moderne wird als dekadenter „Kunstverfall“ apostrophiert. Hier berühren sich Gefolgsmänner Chamberlains mit religiös fundierten Rechts-Völkischen wie Friedrich Lienhard, dessen „neo-idealistischen“ Aufsätze, ebenfalls rezipiert, sich so inbrünstig eine Erlösung aus den „Verwirrungen“ eines gegenwärtig anscheinend die Oberhand gewinnenden „Materialismus“ erhoffen.

 

Wörners Studie mit ihrem Ansatz, die Einbettung eines Autors in die kulturellen Strömungen seiner Zeit plastisch aufzuzeigen, liefert Anstöße für ähnliche interdisziplinäre Forschungsarbeit in den Feldern zwischen Kultur-, Literatur- und allgemeiner Geschichte.

 

Düsseldorf                                                      Albrecht Götz von Olenhusen