Schuld. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein Konstitutivum des Menschseins, hg. v. Bachhiesl, Christian/Bachhiesl, Sonja Maria/Köchel, Stefan. Verlag Velbrück, Weilerswist 2020. 386 S. Angezeigt von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

 

Die große Bandbreite der Tagung zum Thema „Schuld“ an der Karl-Franzens-Universität Graz 2019 reicht von der Biologie und Physik über die verschiedenen Fachbereiche der Geschichte und der Rechtswissenschaften sowie Natur- und Sozialwissenschaften bis zu Philosophie und Theologie.

 

Damit wird die herausragende Tagungsreihe der Editoren unter initiativer Leitung Christian Bachhiesls mit ihrem hohen interdisziplinären Anspruch fortgesetzt. Hier findet sich von Beginn an ein repräsentativer Querschnitt durch je unterschiedliche Perspektiven auf wissenschaftliche Konzepte, harmonisierende Denkweisen oder fruchtbare Dissenzen. „Das Bild der Schuld ergibt ein inkonsistentes Mosaik“ (Manfred Prisching). Die soziologische Vorstellung solcher neutral definierter Inkonsistenzen steht im Kontrast zur These vom gemeinschaftsbildenden Netz von „Schuldigkeiten“, welches anscheinend extensiver mit dem Schuldbegriff die ökonomische „Unterwerfung der Welt“ durch verpflichtend abhängig machende Schulden verbindet, während ein engerer sozial imprägnierter Begriff von Schuld diese eher als Verpflichtung anderen gegenüber begreift.

 

Auf einen wiederum mit wissenschaftlichem Erkenntnisanspruch konzipierten Sammelband passt die Innen- und Außenansicht eines farbenfrohen, vielschichtigen mosaikartigen Kaleidoskops weit besser als die negativere Konnotation von unauflöslichen Abhängigkeiten in Permanenz bei der Annäherung vieler gelehrter Positionen und Thesen an das Phänomen „Schuld“.

 

Für die Disziplin der Rechts-Ikonologie wird die weltgerichtliche Seelenwaage im Mittelalter durch den ewigwährenden Kampf zwischen Engel und Teufel rechtshistorisch erhellend visualisiert (Gernot Kocher). Der mittelalterliche Diskurs im Umgang mit Schuld und Strafe erweist sich als aufschlussreich bei der Bestattung von Toten: unglücklich-dubiose Todesumstände selbst als sprechender Ausweis persönlicher Schuld oder als postume Strafe (Romedio Schmitz-Esser). Hingegen stellen Herrscher und Künstler in diesen frühen Epochen gerne großzügig dem Recht „enthoben“ sich selbst wie Caravaggio möglichst außerhalb aller Gesetze (Josef Ploder) - der „böse Bube“, ein „Modell“ und Moment frühmodernen Rechts- und Staatsdenkens mit der plastisch vorgeformten, wenig vorbildlichen Figur des Künstlers als Verbrecher, wie ihn Horst Bredekamp jüngst anderwärts präsentiert hat.

 

Verantwortlichkeit von Wissenschaft und Denkweisen stehen etwa am Beispiel herausragender Gelehrter in der Zeit revolutionärer Umbrüche – um 1600 oder nach der Französischen Revolution - im Zentrum der tiefreichenden Überlegungen (Alois Kernbauer etwa zu Francis Bacon, C. Bachhiesl zu Chateaubriand). So wie politische oder philosophische Grundfragen auf abstrakten Ebenen (S. Köchels kritische Studie zu Kants kategorischem „Imperativ“) oder mit konkreten Modellen einzelner Schriftsteller oder Denker abgehandelt werden, so werden beim ewig wiederkehrenden mythologjscben Medea-Stoff (Ursula M. Lagger) diffizile Extremkonstellationen am Beispiel des biblischen Mythos „Kain und Abel“ ( Elisabeth Pernkopf zu Imre Kertész) anders, neu oder aus moderner Perspektive betrachtet: Täter und Opfer erscheinen so gesehen in totalitären Todesmaschinerien womöglich sogar als austauschbar - eine Sichtweise, die der Hannah Arendts in komplexerer Art und Weise nicht nur in der Debatte um den Jerusalemer Eichmann-Prozess widerstrebt, wenn sie sich den Fragen persönlicher Schuld und subjektiver bzw. kollektiver Verantwortung auf ihrer argumentativen Position stellt (Sonja Bachhiesl).

 

An den Bereich vergessener, verdrängter Wissenschaftsgeschichte knüpft eine eindringliche Studie an, welche ausführlich dem Werk Franziska Baumgartens gewidmet ist. Ihre frühe, eigentlich wegweisende, aber doch letztlich wenig rezipierte Arbeit „Die deutschen Psychologen und die Zeitereignisse“ (1949) und die folgenden beispielhaften Aktivititäten der aus der Emigration zurückgekehrten Verfasserin für eine Aufarbeitung der Vergangenheit der Psychologie im Nationalsozialismus (Laurens Schlicht/Carla Seemann) vermögen die bekanntlich gleichermaßen begrenzten Impulse nach dem Zweiten Weltkrieg zur Aufklärung in den verwandten Disziplinen Psychiatrie und Psychoanalyse in Erinnerung zu rufen.

 

Es sind Divergenzen der generellen oder methodischen Gesichtspunkte, welche sich bei der Frage nach Schuld und Strafe in der Entwicklung und Aktualität des Rechts offenbaren. Der dogmatische, aber im Kern auch zwei unterschiedliche Haltungen zur kriminologischen Erfahrungswissenschaft dokumentierende Schulenstreit zwischen Franz von Liszt und Karl Binding zur Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit erscheint bei Sophie Tichy etwas holzschnittartig als eher akademischer, ephemerer Disput wortgewaltiger Gelehrter: Indeterminismus der Klassik versus Determinismus der Moderne, der sich in der Folge durch nivellierende Annäherung fast erledigt habe. Seine differenzierte Langlebigkeit steht jedoch außer Frage. Das belegen andere Beiträge des Bandes.

 

In der vergleichsweise knappen Skizze Benjamin Kollers mit den strafrechtlichen Unterschieden der „Finalisten“ des deutschen Bundesgerichtshofs zu dem österreichischen „agnostischen“ Schuldbegriff der Dogmatik des Strafgesetzbuchs Österreichs wird man mit einem eher charakterologischen Ansatz vertraut gemacht. Der normative Befund wird im geltenden Recht durch Ansätze von sog. Kollektivschuld jedenfalls in der Kategorie kollektiver Verantwortung ergänzt, erweitert oder auch differenziert (Benjamin Galler).

 

Zwischen den subtilen Entwicklungen einer Strafrechtsdogmatik seit der Jahrhundertwende mit ihren Hochhäusern zwischen kriminologischer, psychologischer oder sozialtherapeutisch-kriminalpolitischer Erfahrungswissenschaft und Erkenntnissen neurobiologischer Pathologie klaffen theoretische und praktische Abgründe. Wie weit und wie einflussreich oder eher Mangelware ist etwa die Neurowissenschaft mit ihrem Aufklärungsanspruch über Zusammenhänge zwischen Gehirnstruktur und Sozial-Verhalten heute schon Gegenstand derzeitiger Rechtswissenschaft und Praxis ? (Kirsten Brukamp). Implizit wird diese Frage wohl eher negativ beantwortet. Die vorgestellten theoretischen und kasuistischen Ergebnisse zeigen allerdings in begrüßenswerter Klarheit auf, wie differenziert heute die Zusammenhänge zwischen Neurowissenschaft, Strafrecht und Rechtspolitik zu sehen möglich ist und welche Fragestellungen von enormer Tragweite sich ergeben, wenn neurobiologische Pathologien die empirische Sicht auf Schuld und Strafe erweitern und differenzieren können oder sollten.

 

Der spekulative oder hypothetische Charakter mancher scheinbar schlüssiger medizinisch-biologischer Sachbeweise ist in diesem Kontext sichtbarer als im vertrauteren, objektiver angelegten Gelände forensischer Toxikologie als einem wichtigen, ungemein ausgebauten Anwendungsbereich der historisch-dogmatisch entwickelten, aber dauernd fortentwickelten Rechtsmedizin (Stefan Pollak, Annette Thierauf-Emberger). Deren pragmatische, in den Jahren der Zunahme multipler Drogenökonomie - als kriminologisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Problem - beträchtlich erhöhte Bedeutung für die juristische Beurteilung von normativ definierter Zurechnungs- und Schuldfähigkeit liegt auf der Hand. Die Einsicht in die statistisch nachweisbaren kriminologischen Effekte von Rauschmitteln auf bestimmte Straftaten aus dem bedrohlichen Sektor Gewalttaten und deren relevante Zunahme wird anscheinend kaum hinreichend durch wirksame rechts- oder sozialpolitische Maßnahmen kompensiert, die jenseits von Repression und Sanktions-Wiederholungen sich ausagieren. So steht auch hier die Frage nach Zurechnung, Schuldschattierungen und Strafbarkeitsbedingungen im Fadenkreuz von zahlreichen Herausforderungen und Handlungsoptionen, zwischen Hermeneutik und Empirie bei der Entschlüsselung menschlicher Intentionen, materieller Manifestationen oder kausal verstandener Ereignisketten (C. Bachhiesl).

 

Düsseldorf                                                     Albrecht Götz von Olenhusen