Puchner, Martin, Die Sprache der Vagabunden. Eine Geschichte des Rotwelsch und das Geheimnis meiner Familie, aus dem Englischen von Fienbork, Matthias. Siedler, München 2021. 284 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wohl zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte gab es Einzelne und Gruppen, die aus unterschiedlichen Gründen – überwiegend in der Konsequenz widriger Umstände, seltener aus freien Stücken – abseits der etablierten Mehrheitsgesellschaften lebten. Diese Außenseiter entwickelten neben ihren eigenen Regeln und Normen auch eigene Formen der Kommunikation, die sowohl der Festigung des inneren Zusammenhalts als auch dem Schutz nach außen diente. Vom sesshaften Establishment als Fahrende, Vagabunden, Bettler, Gauner und Räuber wahrgenommen, waren sie stets einem Verfolgungsdruck ausgesetzt, der ihre Existenz immer wieder bedrohte. Der Begriff des Rotwelsch taucht in Mitteleuropa bereits um 1250 auf, über die folgenden Jahrhunderte und verstärkt seit dem Dreißigjährigen Krieg entwickelt sich dieser Soziolekt gleichsam zu einer Lingua franca, einem „ausgewachsene(n) Idiom für Fahrende aller Art“ (S. 46). Diese gesprochene Sprache wird ergänzt durch ein Zeichensystem, die sogenannten Zinken, mit deren Hilfe Eingeweihten Hinweise und verschlüsselte Botschaften an öffentlich zugänglichen Orten hinterlassen werden konnten.

 

Der Argwohn der Obrigkeit galt daher nicht nur den gesellschaftlichen Außenseitern selbst, sondern vor allem auch ihrer Kommunikation. Für Martin Luther sei in seinem „Liber Vagatorum“ (1528) „Rotwelsch […] der Beweis, dass die drei Gruppen, die er am meisten verachtete – Landstreicher, Bettler und Juden –, verwandt waren. […] Weil die Sprache hebräische Elemente enthielt, war sie ihrem Wesen nach eine jüdische Sprache, dem Christentum fremd und feindlich gesinnt. […] Die hebräischen Wörter, die durch Juden nach Deutschland gefunden hatten, breiteten sich unter den Fahrenden aus, drangen in die deutsche Sprache ein, ebenjene Sprache, die er mit seiner Bibelübersetzung adeln wollte“ (S. 42f.). In Luthers Nachfolge bemühten sich vor allem Polizeikräfte bzw. deren Vorgängerinstitutionen jeweils mehr oder weniger erfolgreich, über Verhöre Zugang zu dem exklusiven Code des Rotwelsch zu erlangen. Das rassenideologisch fundierte nationalsozialistische Deutschland verschärfte die These einer engen Verbindung, ja Identität von Judentum und „asozialer Unterwelt“, beide in den Augen der Nationalsozialisten „Schädlinge“, von denen man die deutsche „Volksgemeinschaft“ befreien müsse.

 

Wie in so vielen anderen Fällen sind es auch hier die Jahre der Hitler-Diktatur, auf deren Folie ein allgemeines Forschungsinteresse plötzlich in persönliche Betroffenheit mündet. Der Verfasser des vorliegenden Bandes, der 1969 in Erlangen geborene, Englisch und Komparatistik in Harvard lehrende Literaturwissenschaftler Martin Puchner, bemerkt als Kind, dass seine bürgerlichen Eltern (der Vater ist Architekt, die Mutter Volksschullehrerin) Fahrenden Speisung gewähren, sein Onkel Günter beschäftigt sich sogar intensiv mit dem Rotwelsch. Bei Recherchen entdeckt Martin gleichsam per Zufall, dass Karl Puchner, sein geliebter Großvater väterlicherseits, promovierter Namensforscher und nach dem Zweiten Weltkrieg Direktor des Bayerischen Hauptstaatsarchivs und Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, schon 1930 der NSDAP und dann auch der SA beigetreten war. Unter anderem war er auch Autor und Vortragender eines Artikels mit dem Titel „Familiennamen als Rassenmerkmal“ mit folgenden abschließenden „Handlungsempfehlungen“: „1. Alle jüdischen Namen sollten erfasst werden. Ein solches Register sei die Grundlage für praktisches Handeln einschließlich der Lösung ‚der ganzen Judenfrage‘. 2. Namensänderungen sollten Juden künftig nicht mehr gestattet werden. 3. Juden sollte es künftig verboten sein, deutsche Vornamen anzunehmen“. Eine „Sprachmischung“ erschien Karl Puchner „noch abscheulicher als das Jiddische, und das war Rotwelsch. […] Man weiß ja, dass teilweise das Judentum engstens mit dem Gaunertum verbunden war. Das sogenannte Rotwelsch ist so eine Mischung von Deutsch, Hebräisch und Zigeunerisch. Leider hat sogar unsere Umgangssprache manche Wörter dieser trüben Quelle entnommen“ (S. 27ff.).

 

Diese überraschende Entdeckung verstört den Verfasser und animiert ihn, sich auf der Basis des von Onkel Günter hinterlassenen Facharchivs sowohl intensiv mit der Geschichte des Rotwelsch, vor allem aber auch mit den Mythen und Verwerfungen seiner eigenen Familiengeschichte näher zu befassen. In Hinblick auf Letztere kann er nicht alle Fragen klären, so auch nicht jene zentrale, ob das Naheverhältnis der Generation seines Vaters zum Rotwelsch in einer möglichen Scham über das Mitläufertum und die Mitschuld des Großvaters wurzelt. Dessen Verhalten ist zwiespältig, denn es sei nicht bekannt, dass er später in irgendeiner Weise das Rotwelsch-Interesse seiner Söhne missbilligt habe, auch habe er als Archivdirektor von der verlockenden Möglichkeit, die eigene Personalakte zu frisieren, keinerlei Gebrauch gemacht. An späterer Stelle des Buches zeigt Martin Puchner – ohne etwas bagatellisieren zu wollen – dann in Grenzen Verständnis für das Handeln seines Großvaters, da er in diesem auch Ähnlichkeiten mit seinen eigenen Verhaltensmustern erkennt: „Karl mit seinen alten Namen, Manuskripten und Dokumenten. Wie konnte man sich nur für so langweilige Dinge interessieren! Doch als nach der Machtergreifung Namen plötzlich eine große Rolle spielten, erkannte er die einmalige Gelegenheit, sein Wissen (und seinen Antisemitismus beziehungsweise seine Angst vor allem Undeutschen) in den Dienst der damaligen Politik zu stellen. Der Wunsch, dem eigenen Forschungsschwerpunkt zu Relevanz zu verhelfen, war mir nicht fremd. Jeder Akademiker möchte, dass seine Arbeit nicht als rein ‚akademisch‘ abgetan wird“ (S. 232).

 

Wie diese Feststellungen erkennen lassen, ist Martin Puchners Arbeit alles andere als eine streng systematisch-wissenschaftliche Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Rotwelsch. Die sich über insgesamt 15 Kapitel erstreckenden Ausführungen des Verfassers sind in einem subjektiven Ton gehalten und ein Konglomerat aus persönlichen Eindrücken, Informationen zur Geschichte der eigenen Familie und wesentlichen Wegmarken der Entwicklung des Rotwelsch sowie philosophischen Gedanken. Zu den wechselnden Schauplätzen des Geschehens zählen Nürnberg, Prag, Wien, die Schweiz und New York, und neben dem sachkundigen Onkel Günter Puchner erscheinen weitere die Geschichte des Rotwelsch prägende Persönlichkeiten wie Schleiferbärbel und Konstanzer Hans, Friedrich Christian Benedict Avé-Lallemant, Gregor Gog, Ferdinand Baumhauer oder François Miche. Die Beziehungen des Rotwelsch zum Jiddischen und zum Esperanto werden ebenso erörtert wie Günter Puchners Bemühungen, auf dem Weg der Übersetzung von Weltliteratur in das Rotwelsch (unter anderem auch die verpönte erste Strophe der deutschen Nationalhymne) diesen Soziolekt zur Literatursprache aufzuwerten. In Übereinstimmung mit der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins ist Rotwelsch in der Wahrnehmung des Verfassers jedenfalls „das beste Argument für ein Verständnis von Sprache als Werkzeug“ (S. 248). Und für die Zukunft prophezeit und fragt er: „Immer mehr Menschen werden sich auf den Weg machen, neue Migrantensprachen werden entstehen, aus denen jenes Selbstbewusstsein erwachsen wird, von dem Gog, der König der Vagabunden, einst sprach […]. Was, wenn Rotwelsch nicht eine historische Kuriosität wäre, sondern ein Vorbote der Zukunft?“ (S. 224f.). Rechtsgeschichtliche Felder werden dort berührt, wo Martin Puchner berichtet, wie sein Großvater mütterlicherseits, der einfache Bauer Joseph Kresser, in Berlin vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler zu Strafhaft verurteilt wird, die er im Zuchthaus Coswig absitzt (Kap. 6: „Der Bauer und der Richter“), wo er die große Bedeutung der im Zuge des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses etablierten Simultanübersetzungen hervorstreicht (vgl. Kap. 11: „Anklage in Hikels-Mokum“) oder wo er über Guantánamo sinniert, jenen „rechtsfreien Raum, wo verdächtige Personen auf unbestimmte Zeit gefangen gehalten werden konnten, ohne Anklage, ohne Gerichtsurteil“ (Kap. 12: „Das fehlerhafte Sternenbanner“).

 

Das Bildmaterial, überwiegend Martin Puchners Familienbestand entnommen, unterstreicht zusätzlich den stark privaten Charakter der Darstellung. Viele Kapitel enden jeweils mit einer „Rotwelsch-Stunde“: Hierbei werden Rotwelsch-Ausdrücke zu bestimmten Themengruppen zusammengestellt und in das Deutsche übersetzt, bisweilen auch Zinken abgebildet und erläutert. Der Leser findet neben vielen schwer aufzulösenden Begriffen auch manches in die heimischen Dialekte eingeflossene Bekannte, so Wörter wie schummeln, mauscheln, Bulle oder Kittchen. Der Rotwelsch-Lieblingsbegriff des Verfassers entstammt der Themengruppe „Weglaufen, sich davonmachen, fliehen“ und lautet „einen (den) Hasen machen“. Der größere Zusammenhang ist wohl die (nicht nur in seiner Familie) stets präsente Versuchung einer Strategie der Vermeidung, sich nicht mit dem Unangenehmen konfrontieren zu wollen und stattdessen lieber rechtzeitig das Weite zu suchen. Mit dem vorliegenden, sehr persönlichen und ehrlichen Buch, das mit seinen schillernden Vernetzungen weit über die Geschichte eines Soziolekts hinausführt, hat Martin Puchner lobenswerter Weise genau das nicht getan.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic