Jenseits des Staates? Über das Zusammenwirken von staatlichem und nichtstaatlichem Recht, hg. v. Beck, Susanne/Meder, Stephan (= Beiträge zu Grundfragen des Rechts 39). V & R unipress, Göttingen 2021. 230 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Wie verhalten sich außerstaatliche Normenregime zu staatlichen Rechtssystemen? Die Selbstregulierung verschiedener Felder und staatliche Normengeflechte lassen sich in ihren Funktionen, im partiellen Zusammenwirken und in den Konflikten wissenschaftlich nicht leichthin durchdringen.

 

Die von Susanne Beck und Stephan Meder (Leibniz-Universität Hannover) edierten, divergierenden, aber durch das übergreifende Erkenntnisinteresse verknüpften und genährten Ergebnisse der Ringvorlesungen präsentieren fundamentale, rechtshistorisch, zivilrechtlich, strafrechtlich, wirtschaftsrechtlich und soziologisch intendierte Ansätze zu einer bedeutsamen Debatte. Die vielseitigen Analysen widmen sich der Eigenlogik normativer Systeme und den gegebenen oder zunehmenden Entkoppelungen von nationalen oder internationalen Regelungssystemen.

 

Das im Anschluss an Talcott Parson entwickelte, sehr theoretische, soziologische Normen-Gefüge des sog. AGIL-Schemas im Unternehmenssystem der Wirtschaft (Dirk Baecker) bietet allerdings für die engere Frage der Zusammenhänge von staatlichem und nichtstaatlichem Recht allenfalls einen abgehobenen, eigenlogischen Erwägungen und Ableitungen verpflichteten Überbau von unjuristisch und nicht moralisch verstandenen „Normen“ als „Leitbilder“.

 

Alte und neue Fragestellungen beherrschen Bereiche, in welchen „regulierte Selbstregulierung“ in Gestalt neuer Materien wie dem extraterritorial law als Problem der Anwendung nationalen Rechts auf Auslandssachverhalte zunehmend auftaucht (Stephan Meder/Claudia Kurkin). Die Problemfelder extraterritorialer Praxis - zwischen Judicial territorialism und Sustainable Development Goals mit den aufgefächerten, grundsätzlichen Zielen von Grundrechten und Umwelt werden, auch in historischen Ableitungen und Exkursen, expliziert – mit seinen grundsätzlichen Ansätzen hin zu an aequitas orientierten Ausnahmen vom territorialem jus strictum.

 

Reflexionen über historisch übernommene, durch Gewohnheit entwickelte, von oben oktroyierte oder gar selbstregulierte Rechtsquellen lassen die produktive Perspektive zu auf Genese und Gestalt geschichtlicher Lehren und Institutionen – bei Gustav Hugo das verschriftlichte Produkt faktischer sozialer Interaktion (Christoph Sorge). Diese luzide Sicht auf Hugos Rechtsquellenlehre im Kontext der „Franzosenzeit“ deutet das vielschichtige Werk als Plädoyer gegen Absolutismus und staatszentrierten Bonapartismus für ein „Recht, das sich so ganz von selbst macht“ -  in dieser eingängig-locker anmutenden Formel womöglich missverständlich, entspräche sie nicht den fein ziselierten Grundlagen einer hier präsentierten komplexen Rechtstheorie. Ihr zufolge vermochte die politische Intervention des Code Napoléon die Quellen des römischen Rechts oder des Gewohnheitsrechts nicht zu verstopfen oder zu ersetzen.

 

Beispiele von Selbstregulierung als Alternative zu dem staatlich gesetztem Recht: als vertrautes Gelände die Versicherungswirtschaft: (Alexander Djazayeri) mit ihren Statuten der Verbände und Unternehmen, einem Verhaltenskodex für Vertrieb und Datenschutz, handelsgebräuchliches ungeschriebenes Rückversicherungsrecht und Prozeduralisierung durch autonome Verfahrensregelungen liefert sie reiches Anschauungsmaterial für recht problematische autonome Gestaltungsräume. Ob damit aber wirklich die Interessen von Unternehmen und Versicherungsnehmern gleichmäßig besser berücksichtigt werden (S. 96)? Nach dem bekannten Wort, dass oft einige gleicher sind als andere, ist der, welcher Versicherungen und derjenige, der Prämien nimmt, keineswegs im gesicherten Stand eines gleichgerechten, selbstregulierten Privilegs. Wenn Verhaltenskodizes nicht allgemein, sondern nur für beigetretene Unternehmen gelten, werden die kritisch zu befragenden Grenzen eines nicht sonderlich streng geachteten Codex of Conduct zudem mehr als deutlich.

 

Im Gegensatz dazu bietet die komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht „das Referenzgebiet“ für private, normativ wirkende Selbstregulierung (Roland Schwarze). Mit der normativ durchtränkten primären und sekundären Selbstregulierung (Tarifautonomie, Betriebsautonomie) wird die komplementäre Zuordnung zur staatlichen Regulierung offenbar. Autonomie erscheint hier als verdichtete Abhängigkeit von Normensystemen, die in Bezug auf Genese und Kontrolle von stärkeren Zusammenhängen als in anderen Feldern charakterisiert ist. Kompensatorischer Schutz gehört zu den Erfordernissen der Dysfunktionen von Vertragsautonomie. Er bedarf der sozialstaatlichen Regulierungsgebote, der Stärke der Akteure und gegebenenfalls auch der staatlich notwendigen Schließung von Wirkungslücken. In diesem Forschungsfeld lassen sich Kontexte vielleicht am leichtesten aufzeigen.

 

Wie sich neue Formen regulativer Kooperation im Kommunikationsrecht und Strafrecht bewähren oder nicht bewähren, vermag die Spannung zwischen dem privaten Regelsystem und dem Strafrecht zu identifizieren (Susanne Beck/Maximilian Nussbaum). Wie stellt sich das noch in der Erprobung befindliche Verhältnis von Gemeinschaftsstandards sozialer Netzwerke zum Strafrecht im Kontext des NetzD-Strafrechts dar? Der kritische, dogmatische und kriminologisch-sozialwissenschaftliche Blick vermag Inkongruenzen zwischen privatrechtlichen und strafrechtlichen Maßstäben aufzudecken. Danach scheinen sich Normen und Praxis noch auf einem Trampelpfad in mehr oder weniger „sauberen“ Kommunikationsräumen mühsam zu bewegen, in welchem ökonomisch motivierte Akteure privater Selbstregulierung plus staatliches Kontrolldefizit wenig dazu beitragen, mit gesellschaftlicher Transparenz ein System sozialer Regeln im Netz zu entwickeln. Solche subtilen Analysen von regulierten „Kooperations-Designs“ im Netz von Selbstregulierung und Selbstermächtigung unter schwächlich normativ gestylter Aufsicht, gekleidet in das härene lückenstarrende Gewand staatlicher Kontrolldefizite vermitteln innovative Perspektiven auf enge Zusammenhänge von „technologischer Faktizität“ und „kontrafaktischer Garantien“ (S. 57).

 

Fragmentarischer Zustand und offensichtliche Aporien des Völkerstrafrechts in Verbindung mit dem Internationalen Strafgerichtshof, mit Strafvollstreckung und Strafvollzug jenseits des Staates - besser verstanden als: jenseits eines einzigen Staates - tangiert Fragen der Zurechnungsnormen, eines Kodex von Tatbeständen und das Konzept einheitlicher Sanktionsrealisierung (Georgia Stefanopoulou). Das in der Regel höhere Interesse an spektakulären, meist lange post factum stattfindenden Prozessen vor dem IStGH und seinen Strafaussprüchen verflacht dann eilends zum Desinteresse an dem Strafvollzug.

 

Der als aktienrechtlich bedeutsam geltende „Corporate Governance Kodex“ (DCGK) kann als Exempel für die fragwürdige Genese von Rechtsgeltung ohne staatliche Rechtsetzung dienen (Petra Buck-Heeb). Wenn Freiwilligkeit und Sanktionsmangel – mit dem Güte-Siegel des Bundesgerichtshofs – als Charakteristikum eines verfassungsrechtlich ohnehin problembelasteten selbstgeschaffenen Rechts der Wirtschaft fungieren, bleibt die instruktiv vorgestellte akademische Debatte  der Comply-or-explain-Mechanismen (§ 161 AktienG) vergleichsweise kraftlos – bis hin zur bekannten Folgenlosigkeit von „Diversity Management“ oder Angemessenheit von  Vorstandsvergütungen. Die damit formulierte Kritik ist einmal mehr bemerkenswert.

 

Faktisch, rechtlich und aktuell bedeutsam nimmt sich die Vorstellung von staatlich regulierter Selbstregulierung in Gestalt von Compliance Monitorships aus. Für den VW-Konzernjuristen Malte Wilke liegen die minutiös gepriesenen Vorzüge von monetär unterfütterten Non-Prosecution-Agreements auf der Hand. Compliance Monitorship, Plea-Agreements und (strafrechtliche) Sanktionsfreiheit für deviante Unternehmen haben in den Vereinigten Staaten von Amerika - auch kritisch diskutierte -  Tradition. Compliance Systeme standen 2021 sogar Pate für ein gescheitertes deutsches Verbandssanktionen-Gesetz. Die Frage bleibt, ob Wilkes kenntnisreich mit allen Nuancen und Finessen detailfreudig vorgestelltes US-System tatsächlich ein so nachahmenswertes Vorbild sein sollte. Prävention und Ahndung von abweichendem Verhalten wohlorganisierter kriminogener Protagonisten (oder gar von Gangs in Großindustrien) mittels penibel ausgehandelter namhafter Bußzahlungen in Millionenhöhe oder Milliardenhöhen wären meines Erachtens in ihren faktischen Effekten erst noch notwendiger Gegenstand weiterer Forschung und Evaluierung, ehe sich eine rechtspolitische Imitation einer rechtlich fundierten Bußgeldindustrie als Rezept probate Vorsorge und zivilistisches Medikament massenweise anböte. Immerhin stehen Interessen von Eignern, Staat, Wirtschaft und Gemeinwohl in speziellen Gemengelagen auf dem Prüfstand. Die Lehren aus der Praxis von Monitoring scheinen so fragil zu sein wie die Effekte auf unternehmerische Praktiken. Das könnten die neuere Enthüllungen und Debatten etwa nur um Facebook aufzeigen.

 

Die Zweispurigkeit von staatlichem Recht und privater Normsetzung steht im Zentrum der Kooperation von Staat und organisiertem Sport (Klaus Vieweg). Haftungsfragen, Doping und Immissionsschutz bilden hier den begrenzten Ausschnitt vielfältiger Probleme der „Flickenteppiche“ unterschiedlichster Regelungen, welche statt durch staatliche Normen und Systeme über relativ untangierbare privatautonome Verbands- und Monopolstrukturen geprägt werden. Sinn und System solchen Sportrechts wird hier tendenziell vergleichsweise beifällig kommentiert. Das Defizit an staatlicher Normierung oder Kontrollmechanismen bzw. Korrekturmechanismen scheint mit populärer oder juristischer Akzeptanz zu korrelieren. Der Hang oder Zwang zu möglichst undurchdringlicher Autonomie die lichtscheuen Arkana schützenden Strukturen bis hin zu weitgehend intransparenter bis fragwürdiger Verbandsgerichtsbarkeit mit eigenen Mitteln und Maßstäben bilden seit jeher die Signaturen eines medial so beachteten und einflussreichen wie ökonomisch wesentlichen Bereichs.

 

Wie angesichts der politischen, ökonomischen und populären Bedeutung der organisierten Events im Sportsystem eine Beachtung der Momente und Wertmaßstäbe des allgemeinen Rechts mit verfassungsrechtlicher grundierter Justizgewährungspflicht erreicht werden kann, bleibt weithin offen. Die Realität der nationaler und internationalen Verbandsstrukturen, Entscheidungs-  und Konfliktlösungen entspricht kaum rechtsstaatlichen Ansprüchen auf externistische Transparenz, Einhegung von Monopolen, rechtliche Überprüfung von Vertragsrecht, Verwertungsrecht, Arbeitsrecht oder Freizügigkeitsrecht, - vom Steuerrecht oder der Permanenz von Skandalen durch Leaks und Aufklärung durch investigative Medien ganz zu schweigen. Die hier gebotene partielle formalrechtliche Bestandsaufnahme vermag immerhin auf einige Ausmaße rechtlicher Defizite und ungelöster Problemstellungen implizit aufmerksam zu machen.

 

Düsseldorf                                                      Albrecht Götz von Olenhusen