Donhauser, Gerhard, Das Böse bleibt. Philosophische Bewältigungsversuche einer unheimlichen Erbschaft. New academic press, Wien 2021. 291 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Rede von einem Bösen, wer oder was auch immer damit jeweils genau gemeint sein mag, hat bis in die unmittelbare Gegenwart zweifellos ungebrochen Konjunktur. Als beispielsweise die Vereinigten Staaten von Amerika 2001 nach dem Desaster von 9/11 ihren Kampf gegen den globalen Terrorismus ausriefen, sahen sie jenen wirkmächtig in einer „Achse des Bösen“ verbunden. Verschwörungstheoretiker jeder Couleur mutmaßen ein diffuses Böses im Hintergrund der aktuellen Corona-Pandemie ebenso am Werk wie – skurriler Weise – in den so dringend notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung derselben. Offensichtlich ist, dass das Böse nie einem selbst, sondern konsequent stets einem anderen zugeordnet wird und hierin als ein probates Mittel der Feindbildgenerierung taugt.

 

In Anbetracht dieses Sachverhalts lohnt sich sicherlich ein näherer Blick auf die geistesgeschichtliche Entwicklung der Dichotomie von Gut und Böse, verknüpft mit der Frage, ob die Verwendung einer solchen Begrifflichkeit überhaupt geeignet ist, im Hinblick auf unsere ethisch-moralischen Herausforderungen noch Erkenntnis und Besserung zu generieren. Dass mehr als ein exemplarisches Beleuchten der Problematik im Rahmen einer einbändigen Darstellung nicht geleistet werden kann, räumt auch der mehrfach promovierte Verfasser Gerhard Donhauser – er lehrt an den Universitäten Wien und Klagenfurt Philosophie und Rechtsphilosophie – ein. Seine Überlegungen nehmen daher ausschließlich Bezug auf „das einzige, das böse genannt zu werden überhaupt verdienen könnte, […] all jenes Handeln, Sinnen und Trachten, das selbstzweckhaft oder zumindest hauptsächlich destruktiv ist. […] Die Freude am Leiden und der Erniedrigung anderer (Menschen oder Lebewesen ganz allgemein) gehört hierher, das Machtgefühl, das sich einstellen mag, wenn jemand äußerste Gewalt über andere ausübt“. Doch sei selbst hier zu fragen: „Bringt es uns weiter, in solchen Zusammenhängen von böse zu sprechen? Oder aktualisiert diese Begrifflichkeit bloß Wertungsmuster, die aufgrund ihrer Schlichtheit und Instrumentalisierbarkeit für ganz andere Zwecke nicht minder problematisch sind als die gerade angedeuteten destruktiven Potentiale menschlichen Handelns selbst? Die anderen Zwecke, an die hier gedacht werden kann, sind insbesondere solche der Disziplinierung und des Zum-Schweigen-Bringens, denn wer wollte pro malo argumentieren? Nur, wer selbst böse ist, selbstverständlich“. Darüber hinaus weise „ein historisch informierter Blick insbesondere das substantivierte Böse als ein zutiefst religiöses Konzept aus. Eben dies gilt aber auch für die Zuschreibung des Adjektivs böse an menschliche und andere Wesen oder an deren Tun und Lassen. […] Aus dieser religiösen begrifflichen Dimension diffundiert nicht zuletzt die emotionale Dimension der Wendungen böse oder gar das Böse. Zu unterscheiden wäre also zwischen den tatsächlich problematischen Verhaltensweisen, die ich vorhin mit dem Begriff Destruktivität in Zusammenhang gebracht habe auf der einen und emotional stark aufgeladenen Wertungen auf der anderen Seite, welch letztere – mittels der Wendung böse – auf Sphären verweisen, die […] außerhalb des Menschlichen angesiedelt sind“ (S. 18f.).

 

Der eigentlichen, den Bogen chronologisch von der Antike über das Christentum bis in die Jetztzeit spannenden Analyse schickt Gerhard Donhauser zwei Orientierungseinheiten voraus. Die erste skizziert unter der Überschrift „Relevanzfragen“ anhand mehrerer prominenter Beispiele der Realisierung gemeinhin als böse wahrgenommener Taten (die Palette reicht dabei von exzessiver Polizeigewalt über die Morde der Manson-Satanisten bis zum „Leviathan“ des Thomas Hobbes und den sogenannten Trollfabriken unserer digitalen Medienwelt) die Implikationen und Schwierigkeiten der in Rede stehenden Thematik. In der zweiten wird der Leser mit „Methodische(n) Überlegungen“ vertraut gemacht; insbesondere geht es dabei um einen interdisziplinär angelegten kritischen Zugang zur Begrifflichkeit, um die Berücksichtigung mentalitätsgeschichtlicher und rezeptionsgeschichtlicher Perspektiven, psychoanalytische Referenzen und um das der Verwunderung entspringende eigenständige Denken. Sollte auch ein derartiger Zugang für jede seriöse Wissenschaft selbstverständlich und nicht weiter erklärungsbedürftig sein (man müsse, so der Verfasser, dieses Kapitel auch nicht unbedingt lesen, um dem weiteren Text folgen zu können), so schärft seine explizite Darlegung dennoch gerade die Aufmerksamkeit für eben jenen kritischen Umgang mit dem Inhalt und ist daher durchaus nützlich.

 

In seiner Untersuchung konstatiert Gerhard Donhauser das Fehlen der Existenz eines personifizierten Bösen bei den überlieferten Philosophen der griechisch-römischen Antike: „Aristoteles, Platon, Plotin, aber auch spätere, lateinisch schreibende Autoren des klassischen Altertums wie Seneca oder Marc Aurel, haben sich zwar im weitesten Sinn mit Problemen beschäftigt, die wir heute als moralische oder ethische bezeichnen. Anders als etwa Kant, Kierkegaard oder Arendt kannten sie ein Böses ganz offenbar nicht. Die Philosophen-Theologen des mittelalterlichen lateinischen Westens, die bis heute bekannt sind, beschäftigte dieses Thema hingegen sehr ausgiebig. […] Die Differenz zwischen antiker und neuzeitlicher europäischer Philosophie in Sachen Böses gründet wohl vornehmlich in einem Bereich, der einen grundlegenden Bruch des mittelalterlichen mit antikem philosophischen Denken markiert, und zwar jenem christlicher Religion und Theologie“ (S. 57f.). Religion definiert der Verfasser mit Clifford Geertz als „(1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen“ (S. 60).

 

Eine wesentliche Ursache dieser tiefen Verankerung des Begriffs des Bösen im Christentum mindestens seit (dem wohl einflussreichsten, von gnostischen und manichäisch-dualistischen Traditionen beeinflussten Kirchenlehrer) Augustinus liege im Offenbarungscharakter von Religion: „Religiöse, insbesondere christliche, aber auch jüdische und islamische Moral- und Ethikkonzepte kommen in aller Regel nicht ohne Normen aus, deren Grundlagen in transzendenten Sphären verortet und mit absoluter Begründungsmacht ausgestattet gedacht werden. Mehr noch als die Vorstellung eines (absolut) Guten erweist sich dabei jene eines (absolut) Bösen als hochproblematisch, weil Menschen, andere Lebewesen, aber auch soziale und kulturelle Phänomene oder Ideen auf dieser Grundlage leicht und ohne weiteren Argumentationsaufwand als per se schlecht, verworfen, womöglich gar dämonisch eingestuft und auch entsprechend behandelt werden können, dürfen, sogar sollen. […] Infolge religiöser Überformungen moralischer und/oder ethischer Fragen ist es vielen Menschen, auch wenn sie selbst nicht religiös sind oder zu sein meinen, geläufig, in diesem Zusammenhang an Kategorien wie gut oder böse zu denken, die wiederum viel mit Vorstellungen göttlicher Gebote, Sünde und Strafe dafür in einem Jenseits zu tun haben. Diese Kategorien diffundierten nicht zuletzt auch in philosophische Sphären des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Denken Sie an Immanuel Kants Rede von einem ‚radikalen Bösen‘, das äußerstenfalls zu selbstzweckhafter ‚Bosheit‘ steigerbar sei. Das ‚radikale Böse‘ fasst Kant als ‚Actus der Freiheit‘ auf, weil in der Entscheidung gründend, ‚Maximen‘ zu folgen, die ‚vom moralischen Gesetze‘ abweichen. Es sei die Wahl des Menschen, einem quasi-natürlichen Hang zum Bösen zu folgen. Keine Frage, dies erinnert augenfällig an die Lehre vom Sündenfall in ihrer spezifisch christlichen Prägung, und dabei nicht zuletzt an die Erbsündenlehre“ (S. 62).

 

Der Verfasser legt in der Folge dar, wie sich die Konzepte eines personifizierten Bösen (in der Figur des christlichen Teufels) sowie des Zornes Gottes im Christentum etablierten und dabei die Funktion der Identitätsbildung und Identitätsstärkung (Abgrenzung zum ursprünglich dominierenden Judentum sowie zu konkurrierenden, als Häresien gebrandmarkten Auslegungen des Christentums) erfüllten. Im Zuge des „Irrwitz(es) der neuzeitlichen Hexenverfolgungen“ war es jeweils opportun, „dem Teufel ein menschliches Gesicht zu verleihen“ (S. 113). „Der Zorn Gottes, offenbar als Affekt vorgestellt, lässt sich […] in einen Zorn der Gläubigen kanalisieren, der bis zum Hass steigerungsfähig ist“ (S. 123). In den vorherrschenden orthodoxen Strömungen des Islam sei eine „Art Übernahme des göttlichen Zorns durch menschliche Verehrerinnen und Verehrer der angeblich zürnenden Gottheit“ zu beobachten – „jedenfalls wurden im Lauf der Zeit und an verschiedenen Orten soziale Rituale und Strafrechtspraktiken entwickelt, die Menschen daran hindern sollen, etwas zu tun oder auch nur zu äußern, das als kränkend für die Gottheit oder […] die religiösen Gefühle der Frommen betrachtet werden konnte“ (S. 125). Den Glaubensabfall bedrohe die islamische Rechtslehre bis heute mit dem Tode.

 

Sehr ausführlich und kritisch referiert Gerhard Donhauser das Sittengesetz (der berühmte kategorische Imperativ) und die Auffassung vom Bösen bei Immanuel Kant, dessen sperrige Terminologie er allgemein verständlich zu erläutern versteht. Vor allem in der Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793/94) attestiert der große Königsberger Philosoph jedem Menschen einen natürlichen (im ursprünglichen, die Wurzel ansprechenden Sinn des Wortes „radikalen“ ) Hang zum Bösen; ihm zufolge sei „‘die Bösartigkeit der menschlichen Natur‘ keine ‚Bosheit‘, verstanden als ‚Gesinnung (subjektives Prinzip der Maximen), das Böse als Böses zur Triebfeder seiner Maxime aufzunehmen (denn dies ist teuflisch), sondern vielmehr Verkehrtheit des Herzens, welches nun, der Folge wegen, auch ein böses Herz heiß[e]‘. Indem der Mensch ‚das Übergewicht der sinnlichen Antriebe über die Triebfedern aus dem Gesetz‘ gestellt und in seine Handlungsmaxime ‚aufgenommen‘ habe, hätte er ‚gesündigt‘“ (S. 195). So tauchen bei Kant „immer wieder […] Assoziationen zu zentralen Topoi christlicher Sündenlehre auf“, womit er sich letztlich „in eine argumentative Gemengelage (verstricke), in der die ursprünglich vorausgesetzte grundlegende Unabhängigkeit moralphilosophischer Lehren von religiösen Ansätzen unterlaufen wird“ (S. 205f.). Weiterführende Interpretationen der Vorstellung eines naturgegebenen menschlichen Hangs zum Bösen bei Kant stammen von Bettina Stangneth sowie von Hannah Arendt.

 

Für Letztere ist, bezugnehmend auf den Zusammenbruch moralischer Gewissheiten während der 1930er- und 1940er-Jahre, „entgegen der Auffassung Kants ‚das radikal Böse‘ dasjenige […], das ‚nicht hätte passieren dürfen, d. h. das, womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht vorübergehen darf‘“ (S. 226). Ihrem Bestreben, eine Natur des Bösen näher zu fassen, entspringt auch ihr ebenso prominenter Begriff der „Banalität des Bösen“ für „das Verhalten eines ‚konkreten Menschen, der auf seiner Suche nach Orientierung einen Maßstab wählt, der nicht davor schützt, böse Taten zu fördern und mit anderen zu verwirklichen, weil es eben kein Vernunftanspruch ist, den man immer nur im bewussten Denken findet. Stattdessen richtet sich dieser Täter an der Gemeinschaft aus, die zufällig um ihn herum existiert.‘ So könne ‚die Illusion entstehen, dass ein Leben ohne Zweifel möglich ist, wenn man einfach funktioniert‘“ (S. 231). Die vorhin bereits erwähnte Bettina Stangneth hat Arendts „banalem Bösen“ dann noch ein „akademisches Böses“ hinzugefügt und gegenübergestellt, denn „Rahmenbedingungen […] schaffen, von denen man genau weiß, dass sie Fehlentwicklungen hervorbringen, weil sie gezielt Denkungsarten fördern, die ihrerseits fehlgeleitet sind, könne nur derjenige, der die Ergebnisse akademischer Arbeit der letzten dreihundert Jahre für eigene Interessen verwende […] und die unvermeidliche Schädigung anderer Menschen und der Gesellschaft zumindest wissentlich in Kauf nehme“ (S. 236).

 

Abschließend geht der Verfasser kurz auf drei „grundsätzliche Distanznahmen“ zu den dargelegten Konzeptionen ein: die umstrittenen Umwertungsversuche Friedrich Nietzsches, die nicht weniger problematische Gleichsetzung des Bösen mit dem Phänomen der Aggression bei Konrad Lorenz sowie auf Sigmund Freuds Triebmodell (Eros und Thanatos als Primärtriebe). Gerhard Donhausers persönliche Bilanz zum Kontrastpaar Gut – Böse fällt sachlich-distanziert aus, denn „ein selbstzweckhaftes Festhalten an überkommenen Kategorien scheint jedenfalls weder erkenntnisfördernd noch geeignet, menschliches Handeln unter moralischen Gesichtspunkten zu verbessern. […] Nur stete kritische Reflexion kann […] helfen, verbunden mit einer möglichst hohen Genauigkeit bei der Beschreibung dessen, was als problematisch eingeschätzt wird, aus welchen Gründen, und welche Konsequenzen aus der Einschätzung erfließen sollte[n]“ (S. 255). Mit Recht wird hier im Kern bekräftigt, dass eine einfache Schwarz-Weiß-Terminologie kraft ihres denunziatorischen Potentials in letzter Konsequenz den Ansprüchen einer achtsamen Kommunikation in komplexen pluralistischen Gesellschaften nie gerecht werden kann.

 

Dank seiner juristischen Qualifikation berührt der Verfasser im Zuge seiner Darstellung immer wieder die Sphäre des Rechts, die entsprechende gedankliche Konstrukte von einem Bösen in handfeste soziale Realität transformiert (beispielsweise die Hexenprozesse und die daran Anstoß nehmende, 1631 anonym publizierte ‚Cautio Criminalis‘ des Friedrich Spee von Langenfeld, S. 113ff.; Blasphemiegesetze der islamischen Welt und Europas, S. 125ff.; Determinismus und Strafrecht, insbesondere Gefährdungsrecht, S. 202ff.). Anzumerken ist leider, dass die formale Qualität der Arbeit in der Sorgfalt hinter dem Inhalt zurücksteht. Ob die praktisch identische Wiedergabe des Zitates der Feindbilddefinition Martin Reisigls auf S. 119 und dann abermals auf S. 120f. wirklich gewollt oder doch ein Versehen ist, bleibt unklar. Vor allem die zahlreichen Verschreibungen legen den Verdacht nahe, dass diese durchaus verdienstvolle Studie unter Zeitdruck fertiggestellt und vor der Drucklegung unzureichend oder gar nicht mehr kontrolliert worden sein könnte.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic