Villinger, Ingeborg, Gretha Jünger – Die unsichtbare Frau. Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 463 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Der moderne Mensch hat sich seit seiner Entstehung als ein Erfolg erwiesen, der die Erde einigermaßen beherrschen und anscheinend auch mit gewichtigen Folgen durch sein Tun verändern kann. Dementsprechend wird für die Gegenwart geschätzt, dass weltweit täglich rund 350000 Menschen geboren werden, während gleichzeitig etwa 150000 sterben. Jeder von ihnen ist ein einmaliges Individuum, das in der ihm zufallenden Zeit sein Geschick in dem Rahmen seiner Anlagen und seiner Umwelt zu gestalten versuchen kann, wobei zwar einige wenige hervorragen können, die meisten sich aber mit sich selbst und ihrem unmittelbaren Umfeld zufriedengeben müssen.

 

In diesem allgemeinen Rahmen betrachtet die zwischen 1982 und 1988 in Freiburg im Breisgau und Siegen in Politikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Germanistik und Komparatistik ausgebildete, 1988 zur Magistra graduierte, danach den Nachlass Carl Schmitts an dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf erschließende und bearbeitende, 1994 mit einer Dissertation über Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne promovierte, 1998 mit der Schrift Die Medien des Politischen – Ernst Cassirers Philosophie als politische Theorie habilitierte, bis 2009 für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg tätige und den Briefwechsel zwischen Carl Schmitt und Gretha Jünger edierende  Verfasserin die unsichtbare Frau Gretha Jünger. Deren Leben gliedert sie nach einem kurzen Vorwort in achtzehn Abschnitte. Sie betreffen die Herkunft als Gretha von Jeinsen (1906-1922), Backfischphantasien (1912-1920), den Weg von der Haustochter zu einer Schauspielerin (1920-1922), die Begegnung mit Ernst Jünger (1922-1925), die Liebe im Schatten gesellschaftlicher Normen der Zwischenkriegszeit (1920-1930), den Schritt von der Schauspielerin zu der Ehefrau in Leipzig an einem Montag 1925, intellektuelle Zirkel in Leipzig (1925-1927), das Berliner Babylon (1927-1933), Berliner Netzwerke mit Schwager Hans, Siegfried mit der Hornbrille und dem Reisenden Weickhmann, den Einzug des Nationalsozialismus und den Abschied von der Bohème, den Rückzug aufs Land in Goslar (1933-1936), Überlingen (1936-1939), das Pfarrhaus in Kirchhorst in dem Norden (1939-1948), die Nachkriegszeit (1945-1960). Ravensburg (1948-1960), Wilflingen (Schloss mit Oberförsterei im Dorf 1950-1960), die Autorin und Gretha Jüngers tückische Krankheit zum Tode (1957-1960)

 

Insgesamt kann die Verfasserin dabei trotz vieler Quellenverluste vor allem an Hand des sehr umfangreichen Ehebriefwechsels von Ernst Jünger und Gretha Jünger zeigen, dass die unsichtbare Frau von Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung gekennzeichnet war. Ihr stetes Ziel war die freie Gestaltung ihrer emotionalen, künstlerischen und literarischen Möglichkeiten als Pianistin, Bühnenkünstlerin und Schriftstellerin in Verbindung mit Anerkennung und Respekt. Dass sie nicht die Bekanntheit Ernst Jüngers erlangte, dürfte außer auf individuelle auch auf generelle Gegebenheiten der Lebenszeit beruhen, die das vorliegende ansprechende Werk zumindest ansatzweise nachträglich zu relativieren vermag.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler