Mittelalter lesbar machen. Festschrift 200 Jahre Monumenta Germaniae Historica, hg. v. den Monumenta Germaniae Historica. Harrassowitz, Wiesbaden 2019. 280 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

„Sanctus amor patriae dat animum“ – unter diesem patriotischen Wahlspruch formierte sich 1819 unter maßgeblicher Mitwirkung des Reichsfreiherrn vom und zum Stein die Societas aperiendis fontibus rerum germanicarum medii aevi oder Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, ein bald in Anlehnung an die Bezeichnung ihrer Editionen kurz allgemein als Monumenta Germaniae Historica (MGH) bekanntes wissenschaftliches Großprojekt mit dem Anliegen der systematischen kritischen Publikation der Quellen zur Geschichte des deutschen und umliegenden europäischen Mittelalters, das bis heute besteht und 2019 mit der gegenständlichen Festschrift publikumswirksam sein 200-Jahr-Jubiläum angezeigt hat. In ihren fünf zentralen Abteilungen der Scriptores (Geschichtsschreiber), Leges (Rechtstexte), Diplomata (Urkunden), Epistolae (Briefe) und Antiquitates (Dichtung und Gedenküberlieferung) können die MGH eine eindrucksvolle Bilanz ihrer Bemühungen ziehen: „Nach 200 Jahren MGH liegen 370 Editionen in 441 Bänden vor, dazu drei Schriftenreihen mit zusammen rund 170 Bänden bzw. 210 Teilbänden und 136 Jahrgänge der Zeitschriften von 1820 bis 2019. […] Diese Editionsarbeit geht einher mit der langwierigen Sichtung der handschriftlichen Überlieferung in Archiven und Bibliotheken, ihrer kritischen Untersuchung und Bewertung. Am Ende steht die gedruckt und digital zugängliche Quellenausgabe. Diese Editionen sind die sichere Grundlage, auf der ein Geschichtsbild aufbauen kann“ (S. 34f.).

 

An der ausführlichen, 770 Seiten umfassenden Centenniumsschrift von 1921 aus Harry Bresslaus Feder, die eine detaillierte Geschichte der MGH bietet, will und soll die aktuelle Festgabe nicht gemessen werden. Nun geht es nicht mehr um eine möglichst lückenlose Gesamtdarstellung, sondern stattdessen um eine markante Skizze der bisherigen Entwicklungen sowie der Veränderungen und Herausforderungen, welche die Editionsarbeit der MGH in Zukunft kennzeichnen werden. Einem Grußwort des Bayerischen Staatsministers für Wissenschaft und Kunst, Bernd Sibler (seit 1944 befinden sich die MGH in der Obhut des Freistaats Bayern, zunächst bis 1949 im fränkischen Pommersfelden, ab dann in München), und dem Vorwort der aktuellen Präsidentin der MGH, Martina Hartmann, folgen die beiden Kernteile der Publikation: Zunächst vier „Essays“ im Gesamtumfang von an die 70 Druckseiten, die einen historischen Überblick über 200 Jahre MGH liefern (Enno Bünz), auf den wachsenden Stellenwert der Digitalisierung hinweisen (Clemens Radl, Benedikt Marxreiter, Bernd Posselt), die diffizilen Anforderungen des Edierens andeuten (Claudia Märtl) und das zukünftige Editionsprogramm der MGH umreißen (Martina Hartmann, Stefan Petersen, Enno Bünz); sodann 180 Seiten „Katalog“ auf der Grundlage markanter Stücke aus dem Archiv und der Bibliothek der MGH. Diese ausgewählten Schriftzeugen werden im Katalogteil unter Angabe ihrer Signaturen stets als Faksimile abgedruckt, bei problematischer Lesbarkeit darüber hinaus transkribiert und von verschiedenen sachkundigen Autoren im jeweils relevanten Kontext erläutert und kommentiert. Insgesamt handelt es sich so um 20 Skizzen (Kat.-Nr. 1 – 20), die, chronologisch fortschreitend, entsprechende Meilensteine in der institutionellen und personellen Entwicklung der MGH, daneben aber auch besondere Ereignisse, methodische Fragen und richtungsweisende Weichenstellungen der Editionsarbeit exemplarisch veranschaulichen. Mit den Themen MGH und Nationalsozialismus (4 Beiträge) sowie Digitalisierung (3 Beiträge) sind zwei inhaltliche Schwerpunkte klar auszumachen.

 

Wer angenommen hat, dass die MGH als eine wissenschaftliche Institution von internationalem Renommee von allen Anfechtungen verschont geblieben sind, der irrt. So habe bereits ihr erster, durchaus verdienstvoller wissenschaftlicher Leiter, Georg Heinrich Pertz, in seiner langen Amtszeit bis zu seinem Ableben 1876 einen desintegrativen, autokratischen Führungsstil gepflegt und „nicht für eine ausreichende Verbindung des Vorhabens zu Universitäten und Akademien gesorgt, sondern die MGH immer mehr als Einmann-Unternehmen betrieben und dazu beigetragen, dass ihm schließlich eine breite Front versierter Editoren gegenüberstand“ (S. 17f.). Die MGH sind im Übrigen „als privater Verein entstanden […] und haben diesen Grundcharakter, präsentiert durch die Zentraldirektion […], bis heute bewahrt“. Wie bei vielen wissenschaftlichen Initiativen blieb die Finanzierung stets ein heikler Punkt, und dementsprechend war man auf Idealismus umso mehr angewiesen: Auf dem „Prinzip, ehrenamtliche Editoren für das Vorhaben zu gewinnen, beruhen der Erfolg und das Ansehen der MGH bis heute zu einem nicht unwesentlichen Teil. Früher wie heute war nicht nur der sanctus amor patriae maßgeblich, sondern historisches Interesse und das verständliche Bedürfnis, an einem national wie international sichtbaren und geachteten Vorhaben mitzuwirken“ (S. 16f.). Nichtsdestotrotz „verglichen (manche) angesichts der unzureichenden Besoldung und der starken Inanspruchnahme (Georg Waitz ließ seine Mitarbeiter selbst an Heiligabend edieren) die Arbeit bei den MGH mit einer Galeere, an die sie ein ‚Seelenverkäufervertrag‘ gebunden habe“ (S. 21).

 

Die wesentlichen Stationen im Rechtsstatus der MGH dokumentieren die Stücke Kat.-Nr. 9, 12 und 17. Demzufolge wurden die MGH 1875 in den Rang einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhoben, den sie aber 1935 mit der Unterstellung unter die Aufsicht des Reichswissenschaftsministeriums wieder verloren. Nach Kriegsende und „der Übernahme der Rechts- und Fachaufsicht des Freistaats Bayern für die in München befindlichen Teile der MGH“ wurden unter anderem „die Transformation in ein nicht rechtsfähiges bayerisches Staatsinstitut, die Unterstellung […] unter die Aufsicht des Bundes in Analogie zur Max-Planck-Gesellschaft sowie die Einverleibung […] durch eben diese Max-Planck-Gesellschaft“ erwogen (S. 244). Nach der Sicherung der Finanzierung der MGH durch Bayern 1953 sollte es noch ein Jahrzehnt dauern, bis mit Unterstützung des in die Zentraldirektion gewählten Rechtshistorikers Hermann Krause 1963 den MGH durch München der Status einer eigenständigen Körperschaft des öffentlichen Rechts wieder zuerkannt wurde. Dennoch beschworen noch 2012 „schon länger bestehende Friktionen zwischen den MGH und dem zuständigen Ministerium“ anlässlich des Wechsels im Präsidentenamt „eine schwere Krise“ herauf, die erst 2018 mit Martina Hartmanns Ernennung überwunden worden sei, sodass, wie man lesen kann, „nun die berechtigte Hoffnung besteht, dass sich die MGH im Jubiläumsjahr 2019 wieder als die leistungsfähige Gelehrtengesellschaft und allseits hochgeachtete Institution präsentieren können, die sie in der Vergangenheit waren, und mit neuen Editionsvorhaben in die Zukunft aufbrechen“ (S. 33f.).

 

Für das Hochmittelalter werden die folgenden Desiderata benannt: Unter den Scriptores seien vor allem „die bereits in der Anfangszeit bei den MGH erschienenen Editionen verbesserungsbedürftig, da entweder die Handschriftenbasis, die Überlieferungszusammenhänge oder der Kommentar längst nicht mehr dem Stand der Forschung entsprechen“ (S. 67), was auf so bedeutende Quellen wie Einhards Vita Karoli Magni, die Historien Gregors von Tours, die Chronik Ottos von Freising oder Rahewins Gesta Friderici zutreffe. Den Diplomata fehlten vorrangig noch die Ausgaben der Urkunden des Saliers Heinrich V. und des Staufers  Konrad IV. Lücken, auf die hier im Detail nicht eingegangen werden soll, weisen auch die Abteilungen der Epistolae und der Antiquitates auf. Für die Rechtsgeschichte sind die Perspektiven auf dem Gebiet der Leges von hervorragendem Interesse. So gehöre gerade „die Edition der Leges barbarorum, also der sog. Stammesrechte, nicht zu den Ruhmesblättern der MGH“, weshalb „erst einmal ein Gesamtkonzept für eine Neu-Edition der Leges auszuarbeiten (wäre), die mit einem rechtshistorischen Kommentar ausgestattet und auch mit neuen Präsentationsmethoden in digitaler Form oder mit weiteren Hilfsmitteln versehen werden müssten“ (S. 68). Unter diesen Vorgaben schon in Arbeit seien die Kapitularien aus der Zeit Ludwigs des Frommen, (erstmalig) die fränkischen Bischofskapitularien und die Pseudoisidorischen Fälschungen, während „eine Neu-Edition des Decretum Gratiani wünschenswerter denn je (wäre), aber es wird wohl erst noch ein Konsens über die Entstehungszeit und die Textfassungen erzielt werden müssen, bevor eine solche Edition als Großprojekt in Angriff genommen werden könnte“ (S. 71).

 

Einhergehend mit der Verlagerung des Interesses der deutschsprachigen Mediävistik auf das Spätmittelalter seit den 1970er-Jahren seien auch die MGH gefordert, hier einen deutlichen Arbeitsschwerpunkt zu bilden, der sich vorrangig darum bemühe, „bestimmte Quellentypen zu bearbeiten, die aufgrund ihrer Menge sowie ihrer zeitlichen und räumlichen Streuung relevant sind und als langfristiges Arbeitsvorhaben der institutionellen Anbindung bedürfen“ (S. 77). Vorgesehen sei unter anderem die Fortführung und der Abschluss der Glosseneditionen zum gemeinen Recht durch „die Aufnahme des glossierten Weichbildrechts als dritter Säule des gemeinen Rechts in das Editionsprogramm, so dass neben dem kommentierten Land- und Lehnrecht auch das zur Trias des gemeinen Rechts gehörende, bisher aber nur in schlechten Auswahldrucken des 19. Jahrhunderts greifbare kommentierte Stadtrecht in kritischen Editionen vorliegt. Die Editionen der drei Säulen des gemeinen Rechts könnten dann mittels digitaler Edition des Remissoriums des Dietrich von Bocksdorf, des wichtigsten Hilfsmittels des 15. Jahrhunderts zur inhaltlichen Erschließung des gemeinen Rechts, miteinander verzahnt und gleichsam mit einem Dach versehen werden“ (S. 80).

 

Es bleibt zu wünschen, dass all diese ambitionierten Projekte rasch umgesetzt werden und damit der Forschung möglichst bald weitere wertvolle Arbeitsgrundlagen zur Verfügung stehen. Dies gilt in besonderem Maße für die Bestrebungen, die Editionstexte der digitalen MGH „nach international gültigen Standards ausgezeichnet als XML-Dateien nach den Vorgaben der Text Encoding Initiative unter dem Label openMGH zum freien Download und zur Weiterbearbeitung zur Verfügung zu stellen“ (S. 264). In das Literaturverzeichnis des großformatigen Bandes wurden übrigens die Editionen der MGH gar nicht aufgenommen; diese seien über die Webseite www.mgh.de jederzeit und vollständig abrufbar. Tatsächlich findet der Nutzer dort sowohl das Gesamtverzeichnis aller Veröffentlichungen als auch darüber hinaus ein MGH-Gesamtverzeichnis 2019 als pdf zum Download.

 

Kapfenberg                                                  Werner Augustinovic