Kümin, Beat, Imperial Villages – Cultures of Political Freedom in the German Lands c. 1300 – 1800 (= Studies in Central European Histories 65). Brill, Leiden 2019. XV, 277 S., 56 Abb., 2 Anhänge. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.

 

Der in Warwick lehrende Professor für frühneuzeitliche Geschichte Europas legt eine dem verstorbenen Historiker Peter Blickle gewidmete Studie zu den ‚Reichsdörfern‘ vor, einer staatsrechtlichen Besonderheit des Heiligen Römischen Reiches. Für kürzere oder längere Perioden zwischen 1300 und 1800 unterstanden Dörfer nur der Gewalt des Reiches und keinen lokalen Trägern hoheitlicher Rechte. Im 17. und 18. Jahrhundert nahm sich die Reichspublizistik dieses Themas an, jedoch gab es bei Ende des Dreißigjährigen Krieges nur noch wenige Reichsdörfer. Ihre Zahl verringerte sich bis zum Ende des Alten Reichs noch weiter. Die Arbeit ist in drei Abschnitte gegliedert, die wiederum in sieben Kapitel unterteilt sind. Nach einer allgemeinen Einführung in das Thema widmet sich Kümin den Reichsdörfern Gochsheim und Sennfeld, um die sich die Reichsstadt Schweinfurt und der Fürstbischof von Würzburg stritten, den Reichsdörfern Soden und Sulzbach, die zwischen der Reichsstadt Frankfurt und dem Kloster Limburg, später Kurpfalz und schließlich dem Erzstift Mainz strittig waren und dem freien Dorf Gersau am Vierwaldstätter See. Ausgehend von der Frage, wie „frei“ die politischen und religiösen Handelnden in des Reiches kleinsten Teilen waren, geht er der Frage nach, wie weit in der frühmodernen Entwicklung der Territorien die Selbstverwaltung sich in diesen Einheiten entwickeln konnte und kommt zu der Frage, inwieweit eine Fallstudie an Reichsdörfern etwas zu der allgemeineren Frage des Einflusses der Bevölkerung auf die Tagespolitik in diesen Kleinstterritorien herausarbeiten kann. Bei der Erörterung des Standes der Wissenschaft stellt Kümin fest, dass gerade die Forschungen zu den höchsten Gerichten des Alten Reichs viele Erkenntnisse erbracht haben, die auch den Status von Reichsdörfern betreffen. Anhand von Robin Dunbar’s Hypothese stellt er fest, dass gerade die Reichsdörfer wegen ihrer Überschaubarkeit geeignet sind, Funktion und Zusammenhalt kleiner Gemeinschaften zu untersuchen. Die Vielzahl und Vielfalt der Territorien, die im Alten Reich bestanden, macht es verständlich, dass sich das Interesse der Forschung bislang stärker den größeren Territorien zugewandt hat. Jedoch verdienen die mehr als dreihundert Reichsdörfer, - Flecken, - Höfe, - Täler, das Interesse der Forschung, denn tausende von Bürgern und Bauern lebten besonders im Mittelalter in diesen Gemeinschaften und regelten ihre lokalen Angelegenheiten ohne direkten fürstlichen Einfluss. Kümin gliedert die bislang bekannten Reichsdörfer in Cluster, die er in Franken, dem Elsass, in der Region um den Zusammenfluss von Rhein und Main und in Oberschwaben ausmacht. Hinzu kommen einzelne Dörfer und Talschaften in der Schweiz. In Norddeutschland sind die anders strukturierten Gemeinden in Dithmarschen und Friesland zu beachten, sie hat er aber wegen ihrer Besonderheiten nicht in seine Studie einbezogen. Vor dem Jahre 1300 sind nur wenige Anzeichen bäuerlicher Selbständigkeit zu finden, im Mittelalter wächst jedoch die Zahl der relevanten Gemeinden an. In einer Vielzahl von ‚Untertanenprozessen‘ an den höchsten Gerichten des Reichs zeigt sich die Spitze eines Eisbergs der Unzufriedenheit der Landesbewohner mit den maßgeblichen Gegnern einer örtlichen Autonomie. In der zeitgenössischen Terminologie besteht zwischen der Bezeichnung für Reichsdörfer und für andere mehr oder weniger freie Dörfer der Ausdruck ‚Flecken‘, ihnen wird eine Stellung zwischen Städten und gemeinen Dörfern zugewiesen. Die fünf Fallstudien sollen helfen Gesichtspunkte für eine Umschreibung des Begriffs 'Reichsdörfer' zu liefern. Gemeinsam ist ihnen, dass sie deutliche Zeichen von Selbständigkeit aufwiesen, dass sie von Zeitgenossen als ‚frei‘ wahrgenommen wurden und dass sie ihre besondere Stellung vom Mittelalter bis zum Ende des Alten Reichs bewahren konnten. Die vier heute in Hessen oder Bayern liegenden Orte nahmen die Reformation an und wurden evangelisch, Gersau in der Innerschweiz blieb wie die umgebenden Kantone katholisch. Die fünf Dörfer sind ein Beleg für die Vielfalt, die das Alte Reich quasi-unabhängigen Vereinigungen von Bauern erlaubte. Im zweiten Teil und hier im dritten Kapitel zeigt Kümin unterstützt von Schaubildern, wie in den einzelnen Dörfern die örtliche Willensbildung erfolgte. Für Gochsheim, Sulzbach und Soden stellt der Verfasser eine mit allen Vorbehalten als ‚aristokratisch‘ zu bezeichnende Willensbildung fest, während in Sennfeld und Gersau bei weitgehendem Einfluss der Einwohner ein ‚demokratischer‘ Meinungsbildungsprozess Grundlage des Zusammenlebens war. Belege für diese Einschätzungen entnahm der Autor der Literatur über die Gemeinden und zahlreichen Quellenbelegen, die er in vierzehn verschiedenen Archiven gefunden hat. Neben dem Bezirksarchiv Gersau bot das Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden die meisten Archivalien. Diese Unterlagen erlaubten tiefe Einblicke in die Praxis, etwa bei der Erhebung von örtlichen Abgaben.  Im nächsten Kapitel werden die Beziehungen zu auswärtigen Schirmherren und die Bemühungen um die Abwehr von Landesherren beschrieben, die auf die jeweiligen Orte Einfluss nehmen wollten. Die Reaktionen auf derartige Versuche hingen sehr stark von den jeweiligen Vertretern der Einwohner ab. Die Personen der Landammänner (Gersau), Reichsschultheißen (Gochsheim und Sennfeld), Oberschultheißen (Sulzbach) und Schultheißen (Soden) spielten hierbei eine maßgebliche Rolle. Ein Verzeichnis dieser Amtsträger ist als Appendix 2 (S. 223-236) beigefügt. Die Listen zeigen, dass in manchen Gemeinden einzelne Familien über lange Zeit Einfluss hatten. Die Familie Camenzind in Gersau hatte zwischen 1394 und 1798 erhebliches Gewicht. In Kapitel 5 widmet sich der Verfasser dem kirchlichen Einfluss in den Dörfern. Entsprechend der üblichen kommunalen Tradition wurden Pastoren, Priester und höhere Würdenträger respektvoll behandelt, die Schaffung und der Unterhalt örtlicher Kirchen wurden von den Dörfern als eine ihrer wesentlichen Aufgaben betrachtet. Unbestritten blieb die Lehrmeinung der jeweiligen Konfessionen, manchmal suchte eine Gemeinde engen Kontakt zur Diözese, etwa als sich Gersau bemühte, dass weniger offizielle Festtage angesetzt würden als üblich waren. Im 3. Teil, Kapitel 6, widmet sich Kümin der Repräsentation der Gemeinden nach außen, ein Aspekt dem die Forschung zum Alten Reich eine große Bedeutung zumisst. Wappenführung, Siegelführung und Pflege der angemessenen Titulatur wurden in einem Umfang beachtet, der in keinem Verhältnis zur Größe der Gemeinden stand. Hier zeigt es sich, dass in den Gemeinden eine gute Kenntnis des ‚angemessenen Umgangs‘ verbreitet war. An zahlreichen Zitaten aus Aktenstücken zeigt der Verfasser Beispiele der Briefanreden. Einem Trend der Zeit folgend bedienten sich die Gemeinden des Mediums Druck, um über ihre gerichtlichen Verfahren mit ihren Gegnern zu berichten. Handschriftliche Chroniken hielten die Ereignisse in den Gemeinden akkurat fest. Damit bedienten sich die Gemeinden der Mittel, die zu dieser Zeit auch von Reichsstädten für ihre Selbstdarstellung gepflegt wurden. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten suchten die Gemeinden auch durch repräsentative Bauten, wie Rathaus, Kirche und Schulhaus, den Eindruck eines funktionierenden Gemeinwesens zu unterstützen. Bis heute zeugt eine aufwändige Ausmalung des Rathauses in Gersau von diesen Bestrebungen. Die fränkischen Gemeinden trieben weniger Aufwand, kunstvoll gestaltete Bierkrüge erinnern dort an bessere Zeiten. Im abschließenden Kapitel fasst der Autor als Ergebnis der Studie zusammen: die Anzahl von über 300 Gemeinden, die zu einem Zeitpunkt ihrer Geschichte vor 1803 einen freien Status hatten oder ihn mit guten Argumenten beanspruchten, war erheblich größer als dies gemeinhin angenommen wird. Zum Beleg hierfür nennt der Autor in einer Liste 312 Plätze (Appendix 1, S. 209-222) mit Kurzangaben eines Literaturfundorts. Oft ist hierbei ein Artikel von Köbler in ZIER 2015 angeführt, diese Orte sind sämtlich auch in G. Köblers. Historischem Lexikon der deutschen Länder, 7. Auflage, München 2007, Neudruck 2019(, 12. Fassung unter http://www.koeblergerhard.de/HELD-HP/held12.htm in dem Internet) genannt. Besonders beachtenswert ist der Hinweis des Verfassers, dass in jedem Einzelfall einer Bezeichnung als Reichsdorf o. ä. nur eine sorgfältige Untersuchung der Urkunden und ähnlicher Akten die Entscheidung erlaubt, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang dieser Ort ‚frei‘ war. Die große Zahl ‚freier‘ Gemeinden mit zehntausenden von Bewohnern erfordert jedoch ein Überdenken hinsichtlich dieses Phänomens und es ist unrichtig die Reichsdörfer als einen pittoresken Nebenaspekt in der Vielzahl der staatsrechtlichen Möglichkeiten im Alten Reich zu vernachlässigen. Das Nachdenken über diesen Aspekt ist das Verdienst des Buches, dem eine baldige Übertragung ins Deutsche zu wünschen ist.

 

Ulm                                                                                                               Ulrich-Dieter Oppitz