Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945, hg. im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Moskau v. Uhl, Matthias/Pruschwitz, Thomas/Holler, Martin/Leleu, Jean-Luc/Pohl, Dieter unter Mitarbeit v. Eberle, Henrik/Sacharow, Wladimir. Piper, München 2020. 1148 S., 3 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Aus gutem Grund gelten russische Archive unter Zeithistorikern, die zur Geschichte des Nationalsozialismus und der Besatzungszeit forschen, als eine Schatztruhe, die sich mit dem Zerfall der Sowjetunion weitgehend geöffnet hat und immer noch mit Überraschungen aufwartet. Als eine solche wird man auch die nun vorliegende Edition des Dienstkalenders Heinrich Himmlers für die Jahre 1943 bis 1945 einschätzen müssen. Zwar konnte das entsprechende Material für die Jahre 1941/1942 schon im Lauf der 1990er-Jahre entdeckt und 1999 im Auftrag der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg auch publiziert werden; darüber hinaus hat Michael Wildt 2002 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte eine Zusammenfassung der Blätter für 1937 veröffentlicht. Das Kreismuseum Wewelsburg hat in seiner Schriftenreihe 2013 zusätzlich einen Taschenkalender Himmlers für das Jahr 1940 vorgelegt. In dem gleichen Jahr kam es aufgrund einer Vereinbarung des Deutschen Historischen Instituts in Moskau mit dem Verteidigungsministerium der Russischen Föderation zu einem Digitalisierungsprojekt, im Zuge dessen man in einem erfassten Aktenbestand überraschend nun auch auf die verschollen geglaubten Terminblätter für den 1. Januar 1943 bis zum 30. November 1944 stieß. Diese bei Kriegsende beschlagnahmten und nach Moskau verbrachten Beuteakten waren zunächst im Sonderarchiv des Innenministeriums der UdSSR verwahrt und später an das Militär weitergereicht worden. Für die vorliegende Edition konnten eine vorhandene Lücke (Monatswende Oktober/November 1944) sowie der Zeitraum ab 1. Dezember 1944 bis zum letzten Eintrag am 14. März 1945 mit Materialien des Bundesarchivs geschlossen bzw. ergänzt werden.

 

In der Riege des nationalsozialistischen Führungspersonals wird dem umtriebigen Heinrich Himmler (1900 – 1945) von der Zeitgeschichtsforschung mit Recht eine Schlüsselrolle als gleichsam zweitem Mann nach Hitler zugeschrieben. Kein anderer Funktionär des NS-Systems konnte eine solche Fülle exekutiver Kompetenzen an sich ziehen und de facto eine solche reale Macht kumulieren wie Himmler, unter anderem als „Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern (17. Juni 1936), Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (7. Oktober 1939), Verantwortlicher für die Partisanenbekämpfung im Gebiet der Zivilverwaltung (18. August 1942), Reichsminister des Innern (24. August 1943), Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres (20. Juli 1944), Bevollmächtigter für die Reform der Wehrmacht (2. August 1944), Chef des Kriegsgefangenenwesens (1. Oktober 1944), Beauftragter des Führers für die Organisation des nationalen Widerstandes im Osten (18. Oktober 1944)“; dazu traten noch militärische Verwendungen als Oberkommandierender am Oberrhein und der Heeresgruppe Weichsel (S. 8). In der Beurteilung dessen, was diese Ämterhäufung in der Realität nach sich zog, nehmen sich die Herausgeber kein Blatt vor den Mund. Ihren Worten zufolge bestätige Himmlers Dienstkalender das lange bekannte Bild eines „intriganten, kleinlichen, pedantischen, nachtragenden, schulmeisterhaften, verbissenen und mitunter skurrilen Bürokraten, der zusammen mit zahlreichen Komplizen täglich Mord und Gewalt plante und ausführen ließ [und] die Verantwortung für den Tod von Millionen Menschen, die den rassisch und ideologisch geprägten Gewaltverbrechen der NS-Herrschaft zum Opfer fielen(, trägt)“ (S. 47f.).

 

Der eigentlichen Edition vorangestellt ist zunächst ein Textteil im Umfang von etwa 40 Seiten, der Himmlers private und dienstliche Gepflogenheiten, die Struktur des von ihm geführten Apparates und dessen historische Entwicklung sowie die wesentlichen Abläufe in den von ihm zu verantwortenden Tätigkeitsfeldern (u. a. Waffen-SS, Besatzungspolitik, Germanisierungs- und Siedlungspolitik, Judenvernichtung, KZ-System, außenpolitische Initiativen seit 1943) mit Schwergewicht auf dem in Frage stehenden, im Angesicht der näher rückenden Niederlage des Dritten Reichs von zunehmender Aktivität gekennzeichneten Zeitraum erläutert. Von dieser prägnanten Zusammenfassung werden insbesondere jene Nutzer profitieren, die mit der reichhaltigen Literatur zur Schutzstaffel (SS) und zu Leben und Wirken ihres Reichsführers Heinrich Himmler nicht allzu intensiv vertraut sind.

 

In der Edition werden drei unterschiedliche Elemente für den jeweiligen Tag (genannt sind immer der Wochentag, dazu Datum und Ausstellungsort – sehr oft eine von Himmlers Feldkommandostellen nahe dem aktuellen Führerhauptquartier) zusammengeführt: Die besagten, mit Maschine zweispaltig (eine Zeitleiste sowie eine weitere Spalte mit Nennung der jeweiligen Aktivität und den Namen der beteiligten Akteure) beschriebenen Terminblätter des Dienstkalenders (DK), die täglich in der Adjutantur des Persönlichen Stabes vorbereitet wurden, dazu die persönlichen handschriftlichen Notizen Himmlers auf seinem Tischkalender (TK) und ebenfalls von ihm handschriftlich festgehaltene Aufzeichnungen zu seinen Telefongesprächen (TB). Drei Faksimile-Abdrucke (S. 51, 53 und 55) vermitteln einen unmittelbaren visuellen Eindruck vom spezifischen Layout dieser Komponenten, die allerdings nicht für jeden Tag sämtlich vertreten sind. Für die weitere Kontextualisierung wurde jeder Tagesaufzeichnung sowohl ein ergänzender erläuternder Textteil angefügt als auch wurden bisweilen handschriftliche Notizen Himmlers zu Vorträgen und Besprechungen in Kursivschrift beigesetzt. Viele Informationen sind dann in Fußnoten, die zumeist Hinweise auf sonstige relevante Archivalien enthalten, weiter angereichert. Ohne diese essentiellen Ergänzungen könnten die sich auf Uhrzeit und Namen beschränkenden Angaben des Dienstkalenders häufig keinen ausreichenden Sinnzusammenhang generieren. Beispielsweise verzeichnet das Dokument für den 2. März 1944 unter anderem von 1600 bis 1800 Uhr ein Essen und eine Besprechung Himmlers bei Hitler, über deren Inhalt nichts Weiteres verlautbart wird. Mit Uhrzeit 2330 sind „SS-Obergruppenführer Kaltenbrunner, SS-Gruppenführer Müller, SS-Oberführer Schellenberg“ gelistet. Hierzu erläutert nun Anmerkung 156 unter Anführung der Archivsignaturen der ergänzenden Quellen: „Die drei unterbreiteten Himmler möglicherweise den Vorschlag, SS-Offiziere, als Überläufer der Wehrmacht getarnt, in das Nationalkomitee Freies Deutschland einzuschleusen. Himmler nahm von derartigen Plänen vorerst Abstand. Zwei Tage später unterzeichnete Müller einen Befehl zur ‚Aktion Kugel‘: Wiederaufgegriffene flüchtige Kriegsgefangene, unter Ausnahme von Amerikanern und Briten, seien nach ihrer Festnahme an die Sicherheitspolizei und den SD zu überstellen. Die Gefangenen wurden dann ins KZ Mauthausen gebracht, wo sie die SS erschoss“ (S. 644). Damit über das Tagesgeschäft nicht der große Zusammenhang des aktuellen politischen Geschehens aus dem Blick gerät, wird jener zu Beginn jeden Quartals auf wenigen Seiten umrissen.

 

Zweifellos stellt die Edition in der dargestellten Konzeption grundlegende Orientierungsmarken für einen Zeitraum bereit, der von einer starken Dynamisierung der gewaltsamen nationalsozialistischen Herrschaftspraxis geprägt war, in der wiederum Heinrich Himmler maßgebliche und unheilvolle Akzente setzte. Das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze offenbart, mit welcher Energie der Reichsführer-SS seine Agenden wahrzunehmen imstande war. Von 1200 Uhr dieses Tages bis hinein in die späte Nacht des Folgetages praktisch rund um die Uhr auf Achse, fand er „neben allen Maßnahmen zur Aufklärung des Attentats […] an diesem Tag noch Muße, in einem längeren Brief an Kaltenbrunner seine Gedanken zur Politik in den wieder zu besetzenden Gebieten der Sowjetunion zu entwickeln. […] – SS-Obergruppenführer Schmauser und Gauleiter Hanke wurden […] gebeten, den Anbau von Kok-Saghys in Niederschlesien zu unterstützen. – […] Himmler (antwortete) […] auf ein Schreiben von Reichsarbeitsführer Hierl […] – Ferner ordnete Himmler an, dass für Soldaten, die über das Attentat auf Hitler gesagt hatten, ‚dass es gut wäre, wenn der 20. Juli geglückt wäre, grundsätzlich die Todesstrafe geboten und auszusprechen ist‘. – An die HSSPF [= Höheren SS- und Polizeiführer; W. A.] im Osten sowie auf dem Balkan erging die Weisung, jeden Widerstand im Keime zu ersticken, ‚Widersetzliche und Meuterer, ganz gleich welchen Ranges, sind unverzüglich zu erschießen‘.“ (S. 811f.).

 

Dankenswerter Weise haben die Herausgeber ihr nützliches Quellenwerk nicht nur über ein Personenregister und ein Ortsregister aufgeschlossen, sondern sich auch die Mühe gemacht, ein ausführliches Sachregister zusammenzustellen. Obwohl „wegen des Umfangs auf ausführliche Biogramme verzichtet werden (musste)“ (S. 54), sind die dahingehenden Angaben weitgehend verlässlich und ausreichend. Entgangen sein mag der Aufmerksamkeit der Bearbeiter hingegen die Tatsache, dass Himmlers am 15. Mai 1944 vor Nachrichtenoffizieren in Salzburg gehaltene Rede (S. 726ff.) in einer kommentierten Edition Martin Molls und des Rezensenten [Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies JIPSS 2/2012, S. 134 – 160] im Druck zur Verfügung steht.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic