Winter, Tobias, Die deutsche Archivwissenschaft und das „Dritte Reich“ – disziplingeschichtliche Betrachtungen von den 1920ern bis in die 1950er Jahre (= Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz, Forschungen 17). Duncker & Humblot, Berlin 2018. 606 S., Abb. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Das Archiv als die Einrichtung zu der möglichst gut geordneten Sammlung und Aufbewahrung sowie Verwertung von Schriftgut ist schon in dem Altertum dort vorhanden, wo Schriftgut anfällt und seine Wartung vorteilhaft erscheint, wie dies beispielsweise in der christlichen Kirche seit dem 3. Jahrhundert der Fall ist. In dem weltlichen Bereich werden Archive mit dem 12. Jahrhundert sichtbar, doch wird das Archiv allgemeiner für die Forschung erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts geöffnet. Danach lassen sich auch in den Archiven politische Entwicklungen erfolgreich aufspüren.

 

Das vorliegende, die deutsche erste Hälfte des 20. Jahrhunderts betreffende Untersuchung ist die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung der von Willi Oberkrome geförderten und betreuten, in dem Wintersemester 2017/2017 von der philosophischen Fakultät der Universität Freiburg im Breisgau angenommenen Dissertation des in Germanistik und Geschichte ausgebildeten, unter anderem bei Franz-Josef Brüggemeier an dessen Lehrstuhl angestellten und mit eigener Lehrverantwortung betrauten Verfassers. Das stattliche Werk gliedert sich nach einer Einleitung über Fragestellungen, Forschungsstand und Quellenlage sowie Methodik in vier Teile mit zwölf Kapiteln. Dabei geht es nacheinander um Rahmenbedingungen, Weichenstellungen und Wendepunkte bis zu dem Ende des ersten Weltkriegs, Krisenerfahrungen und Diktatur in der Zwischenkriegszeit, die mit einem Schlage alle technischen Schwierigkeiten und Rücksichten beiseite räumende Zeit des zweiten Weltkriegs und die Entnazifizierung und den Wiederaufbau nach der Stunde null.

 

Insgesamt greift der Verfasser bei seinem ausführlichen, durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis auf den Seiten 514 bis 600 breit abgestützten und durch ein Personenverzeichnis von Abel über Brackmann, Hitler und Papritz bis Zipfel aufgeschlossenen Versuch, eine bisher bestehende Forschungslücke zu schließen, ziemlich weit aus. Dabei kann er zeigen, dass die Geschichte des deutschen Archivwesens in seiner Untersuchungszeit von beachtlichen Kontinuitäten bestimmt war. Nach seiner ansprechenden Einschätzung hat die Erkenntnis, dass die Ostforschung Teil des Nationalsozialismus war, auch für die Archivwissenschaft Gültigkeit.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler