Kelsen, Hans, Allgemeine Staatslehre – Studienausgabe der Originalausgabe 1925, hg. und eingeleitet v. Jestaedt, Matthias. Mohr Siebeck, Baden-Baden 2019. LXXXIV, 1004 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Der in Prag an dem 11. Oktober 1881 in einer kleinbürgerlichen, aus Ostgalizien kommenden Familie geborene Hans Kelsen wird nach dem Rechtsstudium in Wien, der katholischen Taufe (1905), der Promotion (1906) und der mit der Schrift über Hauptprobleme der Staatsrechtslehre erfolgten Habilitation (1911) während des Kriegsdiensts als Wissenschaftsoffizier im Kriegsministerium 1917 außerordentlicher Professor, 1918 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Staatskanzlei, 1919 als Nachfolger seines Lehrers Edmund Bernatzik ordentlicher Professor in Wien und (1919-1930) Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Österreichs. 1920 wirkt er unter Karl Renner bei der Ausarbeitung des Bundesverfassungsgesetzes Österreichs mit (vor allem Verfassungsgerichtsbarkeit). 1930 wird er seiner Mitgliedschaft in dem Verfassungsgerichtshof kraft Gesetzes enthoben. und wechselt nach Köln, wo er an dem 13. April 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft beurlaubt wird.

 

Eine moderne wissenschaftliche Biographie hat der über Genf und Prag in dem Exil in den Vereinigten Staaten von Amerika zu hohem Ansehen gelangende, an dem 19. April 1973 in Orinda bei Berkeley gestorbene, 2015 von Andreas Voßkuhle als wohl größter Demokratietheoretiker des 20. Jahrhunderts eingestufte Kelsen trotz eines sehr engagierten eigenen Hans-Kelsen-Instituts in Wien bisher nicht erhalten. Sein vollständigstes Werk legt der in Bonn 1961 geborene, dort 1992 mit einer Dissertation über Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung promovierte, 1999 mit einer Schrift über Grundrechtsentfaltung im Gesetz habilitierte, 2002 nach Erlangen-Nürnberg und 2011 nach Freiburg im Breisgau berufene Herausgeber der Hans Kelsen Werke nunmehr in einer gewichtigen, durch ein umfangreiches Sachverzeichnis von Abänderbarkeit bis Zwischenstufen benutzerfreundlich aufgeschlüsselten Studienausgabe vor. Gegliedert ist es in drei Bücher über das Wesen des Staates, die Geltung der Staatsordnung und die Erzeugung der Staatsordnung mit jeweils drei und damit insgesamt neun Kapiteln sowie 50 Paragraphen und zahlreichen Belegen und Verweisen.

 

In seiner umfangreichen Einführung legt der Herausgeber eindrucksvoll dar, dass Kelsens allgemeine Staatslehre mit ihren vielen Hinweisen auf zwanzig eigene Vorarbeiten der Jahre ab 1911 in ihrem Kern die nur unter einem abweichenden Titel vorgelegte Vorstufe (oder nullte Auflage) der Reinen Rechtslehre Kelsens von 1934 (Studienausgabe 2008) und 1960 (Studienausgabe 2017) und damit das Schlüsselwerk der von Kelsen begründeten und angeführten jungösterreichischen Wiener rechtstheoretischen Schule ist, in der durch Neuinterpretation des Erbes Georg Jellineks (Allgemeine Staatslehre 1900, 3. Auflage 1914, drei Bücher mit 22 Kapiteln) seitens Kelsens Staat(slehre) und Recht(slehre) als Einheit verstanden werden. Obwohl Kelsen von Neuhegelianern (Kaufmann, Heller, Carl Schmitt, Rudolf Smend, Schwind, Hold-Ferneck u. a.), Antipositivisten und Anhängern der Staatsautorität bekämpft wird, überstrahlt er in der Gegenwart viele von ihnen. Möge zu seinem weiteren Glanz auch die vorliegende Studienausgabe beitragen.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler