Kellmann, Klaus, Dimensionen der Mittäterschaft. Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich. Böhlau, Wien 2018. 666 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Der Mensch ist zwar ein eigentümliches Individuum, aber zugleich auch ein Wesen, das ohne den Mitmenschen nicht bestehen kann, weshalb es sich allein schon wegen seiner Arterhaltung mit anderen Menschen zusammenschließen muss und aus innerem unerklärlichem Antrieb auch zusammenschließt. Zu dieser einfachsten, anfangs vielleicht losen, später aber immer stärker verrechtlichten Verbindung eines Mannes und einer Frau kamen später viele andere wie die Gruppe, die Horde, der Stamm, das Volk, der Staat oder die Völkergemeinschaft mit mannigfaltigen unterschiedlichsten Teilmengen. Bald konnten sich dabei immer mehrere gegen einen oder auch mehrere verbinden, wie dies besonders deutlich in der Beteiligung an Straftaten in der Form von Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe sichtbar wird.

 

Mit einem besonderen und auch besonders bedeutsamen Aspekt menschlicher Mittäterschaft beschäftigt sich das vorliegende, stattliche und thematisch besonders eindrucksvolle Werk des 1951 geborenen, in Kiel in Germanistik, Geschichte und osteuropäischer Geschichte ausgebildeten, 1982 mit einer Dissertation über Wandlungstendenzen kommunistischer Parteien in Westeuropa  promovierten, von 1985 bis 2017 als Dezernent und stellvertretender Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein in Kiel tätigen Verfassers, der in seinem Vorwort besonders daraufhin weist, dass sein Werk eigentlich von einem Franzosen, Norweger, Litauer oder Kroaten geschrieben hätte werden müssen, in deren Ermangelung er  sich aber notgedrungen als Mitglied und Nachfahre der Täternation der Sache angenommen habe, um einen Baustein für das sichere Fundament eines Europa von morgen als einer Verantwortungsgemeinschaft für das Handeln von gestern zu schaffen. Gegliedert ist die grundlegende Untersuchung zwischen Vorwort und Einführung einerseits und schließlichem europäischem Gedächtnis und europäischer Identität andererseits in 24 Kapitel. Sie betreffen nacheinander Österreich, Italien, die Schweiz, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Estland, Litauen, Polen, die Sowjetunion, die Ukraine, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien und Griechenland.

 

Von Adolf Hitler, der sich in seiner Zielsetzung für den Kampf gegen die Juden und für ihre Vernichtung entschied und den das Umschlagbild bei der Begrüßung des Staatschefs Frankreichs Marschall Henry (!) Philippe Pétain in Montoire-sur-le-Loir an dem 24. Oktober 1940 zeigt, sind zwar die tatsächlichen äußeren Schritte auf diesem menschenverachtenden Wege bekannt, nicht aber seine eigentlichen inneren Beweggründe hierzu, die kaum über die inneren Gedanken hinaus zu äußerem Wort und äußerer Schrift gefunden haben. Das gilt in ähnlicher Weise auch für alle ihn unterstützenden Politiker nicht nur des Deutschen Reiches, sondern auch seiner außerdeutschen Kollaborateure, deren vielfältige Kollaboration der Verfasser umsichtig und umfassend als ein vielschichtiges, äußerst diffiziles Phänomen und hochkomplexes Zusammenspiel aus den unterschiedlichsten Motiven, Kontexten und Konstellationen mit ständig wechselnden Akteuren, Profiteuren, Mittätern, Verfolgern und Zuschauern versteht. In diesem Rahmen gelangt der Verfasser auf Grund seiner eindringlichen Forschungen zu dem Ergebnis, dass die Instrumentalisierung der Kollaborateure zu den menschenverachtendsten Praktiken der von Hitler angestrebten Herrenmenschen gehörte, worüber Europa dauerhaft einer schonungslosen Selbstvergewisserung bedarf.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler