Hoeppel, Alexander, NS-Justiz und Rechtsbeugung. Die strafrechtliche Ahndung deutscher Justizverbrechen nach 1945 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 109). Mohr Siebeck, Tübingen 2019. XX, 585 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Jeder Jurist hat bei der Verknüpfung eines tatsächlichen Geschehens mit einem einzelnen Sollenssatz eine individuelle, oft nicht besonders schwierige, manchmal aber auch kaum zu lösende Aufgabe, da es von seiner Entscheidung über die Gleichwertigkeit des tatsächlichen konkreten Geschehens mit dem abstrakten Tatbestand einer Norm abhängig ist, ob die Rechtsfolge der allgemeinen Norm in individualisierter Form auch Rechtsfolge des tatsächlichen konkreten Geschehens wird. Stuft er das tatsächliche Geschehen überzeugend und richtig als Einzelfall des abstrakten Tatbestands ein, gilt für den Handelnden die konkretisierte Rechtsfolge der Norm, andernfalls nicht, was bei Strafnomen mit der Todesstrafe als Rechtsfolge eine Entscheidung über Tod oder Leben eines Straftäters bedeuten kann. Beugt er bei diesem Vorgang das Recht, kann er selbst wegen Rechtsbeugung strafbar werden, was in der Rechtswirklichkeit allerdings ziemlich selten bejaht wird.

 

Mit dem Sonderfall des Verhältnisses zwischen der Justiz während der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Straftatbestand der Rechtsbeugung beschäftigt sich die gewichtige, auch  einige ungedruckte Quellen verwertende Arbeit des 1984 als Sohn eines Rechtsanwalts, dem er sein Werk in Dankbarkeit für Unterstützung, intellektuelle Anregungen und konstruktiver Kritik widmet, geborenen, in neuerer Geschichte, neuester Geschichte, politischer Wissenschaft und Philosophie an der Universität Erlangen ausgebildeten, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Zentralinstitut für angewandte Ethik und Wissenschaftskommunikation seiner Universität, als Lehrbeauftragter für Verhandlungslehre und als selbständiger Verhandlungstrainer tätigen, in Erlangen 2018 promovierten Verfassers. Es gliedert sich nach einer Einleitung über nationalsozialistische Justiz und den Historiker als Richter in fünf Sachkapitel. Sie betreffen rechtsphilosophische, methodologische und strafrechtsdogmatische Propädeutik, die strafrechtliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen durch die alliierten Siegermächte und die Übergabe an die bundesrepublikanische oder deutsche Justiz, rechtsbeugende Rechtspositivisten vor Gericht, Bilanz der strafrechtlichen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Justiz und den liberalen Rechtsstaat in dem Gewirr der Nachweisketten.

 

Insgesamt gelangt der Verfasser an dem Ende seiner sehr verdienstlichen Untersuchung zu der ansprechenden Ansicht, dass trotz Annahme bzw. Unterscheidung zweier Entwicklungsphasen nach 1945 und ab den sechziger Jahren eine Vermeidungsstrategie zu der Umgehung der Klärung strafrechtlicher Verantwortlichkeit der Richter unter Ausblendung sämtlicher, sonst gängiger Kriterien der Zurechnung strafrechtlich relevanten Verhaltens erfolgte. Vermieden wird nach seinen Erkenntnissen die Frage, ob und inwiefern die Rechtsprechung nach 1945 bei der Aufklärung von Justizverbrechen in potentiell rechtsbeugender Weise und mit Hilfe einer durch die Rechtswissenschaft vorgenommenen außergesetzlichen unbegrenzten Auslegung des Tatbestands der Rechtsbeugung den eigenen Berufsstand entschuldigt hat. Als Ausdruck dieser Verdrängung sieht er die bis heute wesentlich  unveränderte, faktisch vor Strafverfolgung von Richterunrecht schützende Rechtsdogmatik des Tatbestands der Rechtsbeugung, so dass für ihn bis zu einer „rechtsdogmatisch kohärenten Klärung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Judikative und der Überwindung einer exkulpierenden Erinnerungsgeschichte“ die die Funktion des Rechtsstaats gewährleistende und den Spruch des verantwortlichen Richters legitimierende Rechtssicherheit „im Argen liegt“.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler