Bammé, Arno, Ferdinand Tönnies. Metropol, Marburg 2018. 132 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Mit seinem bis heute bekanntesten und bedeutendsten Jugendwerk und Hauptwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) legte Ferdinand Tönnies (1855-1936) einen noch heute beachtenswerten und einflussreichen Text zur Soziologie vor. Seit 1912 nannte er es im Untertitel „Grundbegriffe der reinen Soziologie“. Mit dem Begriffen „Kommunismus“ und „Sozialismus“, die dort zunächst auftauchten, verband er die Vorstellung von empirischen Kulturformen, Eigentumszustände und in der Empirie feststellbare Tendenzen der Vergesellschaftung von Dienstleistungen und Institutionen. Mit dem grundlegenden Werk wird ein soziologisches System entfaltet, das in den folgenden Jahrzehnten weitgehende Ergänzungen und Anwendungsformen erfährt. Eine bis heute andauernde Debatte um sein sperriges Werk hat die Anerkennung Tönnies’ als eines der wichtigen Gründungsväter der deutschen Soziologie neben Simmel und Max Weber erschwert.

 

Mit der präzisen Einführung in das Werk von Tönnies, das bis heute in dem Rang nach Max Webers Werken gestellt wird, entfaltet Arno Bammé, bedeutender Tönnies-Spezialist an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, sehr eingängig die eigensinnige Begriffsarchitektur des Gelehrten. Nach seiner Intention wird damit ein „Werkzeugkasten“ geliefert, mit dem sich das umfangreiche Werk des frühen Soziologen leichter erschließen lässt.

 

System und Inhalt der Soziologie von Ferdinand Tönnies lassen sich insgesamt aus der auf 24 Bände angelegten „Kieler Edition“, einer Gesamtausgabe, entnehmen. Sie folgt der Chronologie. Demgegenüber ist die zeitgleiche „Klagenfurter Edition“ inhaltlich strukturiert.

 

Tönnies war bestrebt, seine Kategorien „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ als gedankliche Konstrukte zu nutzen, um das soziale Leben in seiner Aktualität zu erklären, aber auch in seinen geschichtlichen Wandlungen zu erfassen. Was Max Weber später „Idealtypen“ nennen wird, sind bei Tönnies die sogenannten „Normalbegriffe“, „Artefakte des Denkens“, nicht empirisch vorfindbar, aber bestimmt, die Wirklichkeit zu verstehen.

 

Die Eigentümlichkeit des Begriffssystems und willenstheoretischen Systems
hat bis heute die Rezeption und Wirkung dieser Soziologie nicht erleichtert.
Denn Tönnies verbindet, wie Bammé zeigt, voluntaristische, rechtshistorische, sozialphilosophische und naturrechtliche Strömungen (S. 32ff.). Die aktuelle Bedeutung dieser Soziologie sieht der Verfasser in der psychologisch fundierten Sozialtheorie und Erkenntnistheorie, die, weit über die Bedeutung als soziologischer Klassiker hinausgehend und etwa Alfred Sohn-Rethel nahestehend, Gesellschaftstheorie und Erkenntnistheorie zusammendenkt. Danach entfalten sich abstrakte oder fiktive Kopfgeburten mit Eigenleben und Eigendynamik zu technologischen Artefakten.

 

Für Bammé ist Tönnies der aktuellste Klassiker, weil sich von ihm der Bogen schlagen lässt von seiner Analyse des naturwissenschaftlichen Forschungsstandes des 19. Jahrhunderts bis hin zu modernen artifiziellen Kommunikationssystemen und „transhumanen Kommunikationsprozessen“ (S. 100) mit der spezifischen Eigendynamik künstlicher Intelligenz.

 

Die der Analyse angefügte Kurzbiographie zeichnet die Lebensstationen und Wissenschaftsstationen eindrucksvoll nach. Tönnies war nicht nur ein bedeutender Theoretiker, sondern auch empirischer Feldforscher etwa im Bereich der Kriminalwissenschaften. Im bekannten Werturteilsstreit der Soziologen zwischen Max Weber und Wilhelm Goldscheid versuchte er als der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zu vermitteln.

 

Im Kampf gegen den rassisch begründeten Sozialdarwinismus bei Zeitgenossen umstritten, aber nach langjähriger Existenz als Privatdozent allzu spät durch seine zunehmende wissenschaftliche Anerkennung als Wissenssoziologe, als Präsident der Hobbes-Gesellschaft öffentlich geehrt, wird er in den letzten Jahren seines Lebens über seine politischen Stellungnahmen gegen den aufkommenden Nationalsozialismus ( „Rückfall in die Barbarei“) und gegen die vulgären Wirkungen des Antisemitismus zu einem der seltenen Antipoden des neuen Regimes und aus dem Dienst entlassenen Protagonisten des Widerstandes.

 

Das Werk Bammés liefert weit mehr als nur eine Einführung. In der dichten Verbindung von Darstellung und Deutung, Biografie und wissenschaftlicher Rezeption bietet es eine eindringliche Perspektive auf das bis heute wirkungsmächtige System eines der wichtigsten deutschen Soziologen. Seine empirischen Beiträge zur Verfassung der Landwirtschaft, über das politische Parteienspektrums, zur Bevölkerungsbewegung, zur Kritik der öffentlichen Meinung und zur Kriminalistik wären von manchen Zweigen der gegenwärtigen Wissenschaft womöglich genauer als bisher in den Blick zu nehmen. Das gleiche gilt z. B. für seine Forschungen und Positionen zu Thomas Hobbes, die sich in der Rezeption seines Werkes durch Hans Kelsen auf der einen Seite und Carl Schmitt auf der anderen Seite ausprägen und bis heute einen Gegenstand der Diskussion bilden.

 

Düsseldorf                                                     Albrecht Götz von Olenhusen