Träger der Verschriftlichung und Strukturen der Überlieferung in oberitalienischen Kommunen des 12. und 13. Jahrhunderts, hg. v. Keller, Hagen/Blattmann, Marita (= Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster X, 25). Monsenstein und Vannerdat, Münster 2016, 504 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Zivilisatorisch und kulturell waren die Hochkulturen des Altertums den an ihren Grenzen lebenden Barbaren in vielen Belangen erheblich überlegen, woran sich durch die Einfügung weiter Teile in das Weltreich der Römer grundsätzlich nichts änderte. In der Völkerwanderung überschritten freilich vor allem germanische Völker den zu ihrer Abwehr von den Römern an Donau und Rhein errichteten Grenzwall und errichteten danach auf dem früheren Boden Westroms eigene Reiche. Dass dabei die römische Zivilisation und Kultur beeinträchtigt wurde, steht außer Frage, doch ist unklar, inwieweit in den früheren Provinzen noch ein Vorsprung gewahrt werden konnte, der einen rascheren Wiederaufstieg ermöglichte.

 

Für den in dem Frühmittelalter einsetzenden Verschriftlichungsprozess ist in diesem Zusammenhang von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Universität Münster der Sonderforschungsbereich 231 Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter eingerichtet worden, in dessen Rahmen auch das Teilprojekt A über den Verschriftlichungsprozess und seine Träger in Oberitalien (11.-13. Jahrhundert) bearbeitet wurde. Die Arbeit hieran wurde 1986 aufgenommen und führte neben Einzelveröffentlichungen der Beteiligten 1991 und 1995 zu zwei Sammelwerken über Statutencodices, hg. v. Keller/Busch und kommunales Schriftgut, hg. v. Keller/Behrmann. An dem Ende des Jahres lief die institutionelle Förderung des Forscherteams aus, doch verhinderten personelle Veränderungen und weitere Wechselfälle, dass zusätzliche Untersuchungen trotz 2003 abgeschlossener Redaktion der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden konnten, was erst 2016 gelang.

 

Der damit vorliegende Sammelband enthält nach einem kurzen Vorwort Marita Blattmanns und einer Einführung Hagen Kellers in neue Formen des Dokumentationsverhaltens in der Gesellschaft Oberitaliens in dem 12./13. Jahrhundert neun Einzelbeiträge. Sie betreffen Bemerkungen an Hand eines bisher unbeachteten breve recordationis de ficto der mailändischen Lektoren (zweite Hälfte 13. Jahrhundert), Beobachtungen zu der Struktur der Überlieferung der 1135 gegründeten Zisterzienserabtei Chiaravalle Milanese, Entstehung und Entwicklung des ältesten Liber iurium von Como (angeregt 1225 bis 1227), die Entstehung der Vercelleser Urkundensammlung des 13. Jahrhunderts, Beobachtungen an Mailänder und Novareser Urkunden des 12. und 13. Jahrhunderts (zeitlich deutlich sinkende Zeugenpräsenz), Prozessschriftstücke als Gegenstand theoretischer Überlegungen in den Bologneser artes notariae des 13. Jahrhunderts, Beobachtungen zu dem 12. Jahrhundert an der Überlieferung der Zisterzienserabtei Chiaravalle, den Podestà Guillelmus de Pusterla und die Fortschritte in der kommunalen Administration und die interkommunale Schiedsgerichtsbarkeit in dem frühen 13. Jahrhundert an Hand Südpiemonts. Die dabei gewonnenen vielfältigen Einzelergebnisse (neue Schriftguttypen, Neuanlage von Urkundenbüchern, Aufbau von Archiven) sind von den Bearbeitern an dem Ende des Bandes auf jeweils rund einer Seite zusammengefasst und über die Register der Personen und Familien, der Orte und der Sachen von Abkommen bis Zukunftsbewusstsein für den Benutzer aufgeschlossen, der sich auf der Grundlage des Sammelbands ein eigenes Urteil über den schrifttechnischen Vorsprung Oberitaliens in dem ausgehenden 12. und dem gesamten 13. Jahrhundert bilden kann.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler