Schlögel, Karl, Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. Beck, München 2017. 912 S. Besprochen von Steffen Schlinker.

 

Die Sowjetunion ist vor über 25 Jahren untergegangen und mit ihr - trotz vielfacher nostalgischer Anwandlungen - ihre Gesellschaftsordnung, die Karl Schlögel eine „Zivilisation sui generis“ nennt (S. 18). Schlögels großes Buch über das „sowjetische Jahrhundert“ will keine politische Geschichte sein, die chronologisch die Jahre des Sowjetkommunismus nacherzählt und dessen Ereignisse analysiert und deutet, sondern die Geschichte einer spezifischen Lebensform. Der Untertitel spricht daher von der „Archäologie einer untergegangenen Welt“ (S. 20). Die Praktiken und Routinen dieser Welt, deren Sprache und Baustil, deren Infrastruktur und deren Umgangsformen werden in 65 einzelnen Beiträgen unterschiedlicher Länge beschrieben (S. 20). So ermöglicht der Autor anhand von Bibliotheken und Straflagern, Plattenbauten und Hochöfen die „Besichtigung eines Zeitalters“ (S. 22f.).

 

Unter den vielen Organisationsformen des menschlichen Zusammenlebens wird man das sowjetische Modell nicht als glücklich und erfolgreich bezeichnen können. Die Misslichkeiten begannen schon im Alltagsleben. Der Autor gewährt dem Leser Einblicke in die Realität der Lebensmittelversorgung, indem er anschaulich die Märkte und die Warteschlangen schildert (S. 305, 553ff.). Die Warteschlangen seien hingenommen worden „wie ein Naturereignis“ (S. 555). Und wie es bei Jelena Osokina heißt, „in der sowjetischen Warteschlange [hätte] fast das ganze Land angestanden“ (S. 553).

 

Nach außen sichtbar waren vor allem die Plattenbausiedlungen, die Paraden und die kollektiven Arbeitseinsätze zur Straßenreinigung im Winter oder Herbst, aber auch die Ordnungen des Alltags von der Eheschließung und der Aufnahme in Parteiorganisationen bis hin zu den Feiern zum Jahreswechsel oder zum Betriebsjubiläum (S. 544ff.).

 

Dem westlichen Betrachter fällt vor allem auf, dass im Mittelpunkt des Lebens die Arbeitswelt im Betrieb stand, die wesentlich auch das ganze sonstige Leben prägte, so dass kaum ein privater Bereich mehr blieb (S. 52ff.). Von der Arbeitsstelle hing die vom Betrieb zugeteilte Wohnung ab, in den Kantinen wurde gegessen. Der Freizeitgestaltung dienten die betrieblichen Sportstätten, Kulturpaläste, Ferienheime und Sanatorien (S. 303ff.). Das Fehlen jeglicher Privatsphäre wird besonders offensichtlich in dem Kapitel über die Gemeinschaftswohnung, in der verschiedene Familien, zusammen häufig rund 30 Personen, leben mussten (S. 322ff.). Der Autor veranschaulicht, dass die Gemeinschaftswohnung ein erhebliches Konfliktpotential barg und jede Privatsphäre unmöglich machte. Der Zwang, die Bad- und Küchenbenutzung zu regeln, ließ den Alltag zum „Ausnahmezustand“ werden (S. 324). Daraus folgte einerseits ein Zusammenbruch der Höflichkeitsformen (S. 343), andererseits der Wunsch, sich möglichst außerhalb der Wohnung aufzuhalten: „Man ist bei sich eher außer Haus als zu Hause.“ (S. 343). Eine gewisse Entfernung von der kollektiven Einbindung ermöglichte vermutlich die Datscha, die der Erholung und vor allem der Selbstversorgung in der real existierenden sozialistischen Mangelwirtschaft diente (S. 291ff.). Die staatliche Volkserziehung zeigt der Autor am Beispiel des offiziellen Ratgebers für Ernährung, Tischsitten und Manieren, dem „Buch vom schmackhaften und gesunden Essen“, der zugleich ein Mittel der innenpolitischen Propaganda war (S. 264ff.).

 

Für lange Zeit ein Teil des Alltagslebens war die Stimme des Radio-Sprechers Juri Borisowitsch Lewitan (S. 739ff.). Die Sprache kennzeichnete aber vor allem das „Stakkato der Abbreviaturen“ (S. 180), das auch in der Deutschen Demokratischen Republik intensiv praktiziert wurde. Einen Einblick in das wissenschaftliche Leben gewähren das Kapitel über die sowjetischen Bibliotheken mit ihren Beständen „verbotener“ Bücher und Zeitschriften (S. 476ff.) sowie das Kapitel über die Große Sowjetenzyklopädie (S. 217ff.): Auf individuelle Beiträge musste zugunsten von Autorenkollektiven nach und nach verzichtet werden, weil die Parteilichkeit des Lexikonwerks den sachlichen Inhalt von der jeweils aktuellen Parteilinie abhängig machte und ein „Irrtum“ den Autor schnell das Leben kosten konnte.

 

Auf dem Land und in der Stadt sind bis heute die Versuche einer planmäßigen Neuschöpfung der Landschaft und der Lebensformen erkennbar (S. 166ff.). Technik und Motor, Maschine und Beton sollten die gewachsene und traditionelle Lebensweise ausrotten. Die „Natur und die darin lebenden Menschen [wurden als etwas verstanden], deren Widerstand gebrochen werden muss[te].“ (S. 168). Der Autor spricht anschaulich von einem Vorgang der „Umschmiedung“ (S. 156), die „Hybris und Heroismus“ zugleich ausdrückte (S. 167). In all diesen Projekten dominierte die „Sprache des Krieges“ (S. 167). „Pathos kompensiert[e] mangelndes Knowhow“ (S. 168). Den Reaktorunfall von Tschernobyl im Jahr 1986 versteht der Autor daher als Ausdruck für Industriegläubigkeit unter Verzicht auf Kontrolle und Ersatzteile (S. 170ff.). Und er zitiert zutreffend das Diktum von Rudolf Bahro von der „Ökonomie der Verantwortungslosigkeit“ (S. 171): „Da alles allen gehörte, gehörte es niemandem, und da niemand verantwortlich war, war niemand zur Verantwortung zu ziehen. Niemals ist leichtfertiger und verschwenderischer mit den Reichtümern der Natur und der Gesellschaft umgegangen worden als in der Sowjetunion. ... Es gab keine ökonomische oder institutionelle Vetomacht gegen den schrankenlosen und rücksichtslosen Einsatz von stofflichem und Humankapital.“ (S. 171). Und so ist auch in einem Mehrfamilienhaus das Treppenhaus, das ja niemandem gehört, ein Ort der Verwahrlosung (S. 383ff.).

 

So erwies sich die Sowjetunion wie eine Gesellschaft, in der die staatliche Propaganda die Wirklichkeit aushöhlte: „Die Empirie muss[te] sich den Zielvorgaben [der fünf-Jahres-Pläne und Statistiken] beugen.“ (S. 495), aber mehr noch als Staat mit einem von der Sozialistischen Partei verordneten einfachen Weltbild, das nur schwarz und weiß, Freund und Feind kannte. Jeder Gegner war daher immer der Feind, der vernichtet werden musste und keine Existenzberechtigung mehr hatte. Erzwungene Einheitlichkeit dominierte, lebendige Vielfalt war unerwünscht. Daher sollte man den Westen als Gegenmodell weniger mit dem Wort „Kapitalismus“ beschreiben (S. 20), sondern vielmehr als freiheitlichen Rechtsstaat mit Grundrechten und Verfahrensgarantien.

 

Das Phänomen der Industriekombinate schildert der Autor am Beispiel von Magnitogorsk, einer Stadt aus der Retorte, deren Zentrum ein riesiges Strahlwerk war, aufgebaut von Zwangsarbeitern (S. 118ff.). Der Autor nennt es die Geburt der Stadt aus der Fabrik (S. 126) und gibt hier zugleich ein Beispiel für die Umerziehung zum „neuen Menschen“ (S. 122), für „Enthusiasmus und Terror“ (S. 122), für Inkompetenz und Umweltverschmutzung (S. 131).

 

So musste in der Sowjetunion die Gesellschaft alles sein, der Einzelne war dagegen nichts: „Der Einzelne ist nur etwas, sofern er das Ganze stärkt. Bleibt er zurück, hat das Kollektiv das selbstverständliche Recht, sich von ihm loszusagen, sich von ihm zu befreien.“ (S. 168). Es war von Anfang an ein Kennzeichen der Sowjetunion, missliebige Personen ohne weitere Verfahren zu ermorden, in Straflager einzuweisen oder bestenfalls ins Ausland zu verschicken (S. 75ff., 78ff., 90). So sollte die neue Gesellschaft in bewusster und brutaler Abkehr von der Tradition aufgebaut werden. Kirchenglocken mussten - zu Walter Benjamins Genugtuung - verstummen (S. 728ff.), und ein neuer Kalender führte die neue Zeitrechnung mit einer 5-Tage, statt einer 7-Tage-Woche ein (S. 580ff.).

 

Die Kapitel über die Deportation der Bauern und die Zerstörung bäuerlich-dörflicher Strukturen, über den Großen Terror, die Überwachung durch den Geheimdienst sowie über die Straflager am Weißen Meer und in Sibirien gehören zu den eindringlichsten und berührenden Teilen dieses Buchs. Eine Karte der sowjetischen Lager findet sich auf der hinteren Einbandseite: „Das Territorium der ehemaligen Sowjetunion, über das Stürme der Gewalt hinweggegangen sind, ist markiert von Punkten massenhaften Leidens. Man kann von einer Memoriallandschaft des Todes und Überlebens sprechen, zu der jede Epoche und jede Generation ihren Anteil hinzugefügt hat. ... Dazu gehören Orte der Massenexekutionen des NKWD und des Gulag“ (S. 51). Die fürchterlichen Lebensverhältnisse in den Arbeitslagern des Gulag schildert der Autor mit bestürzender Anschaulichkeit (S. 141ff., 151ff.). Für das Leben in Kolyma, im Nordosten Sibiriens, wo über Jahrzehnte hinweg Millionen Russen zu Tode kamen, zieht er beispielsweise die Berichte der Lagerhäftlinge Jewgenija Ginsburg und Warlam Schalamow heran (S. 644ff.). Als zweites Beispiel dient die Klosterinsel Solowki (S. 674ff.), in dem die Sowjets ihr erstes Konzentrationslager errichteten, über das sich der Dichter Maxim Gorki lobend äußerte.

 

So wird Schlögels Buch zu einer Vorarbeit für ein imaginiertes Museum der Sowjetunion (S. 834ff.): Das Mausoleum auf dem Roten Platz könnte „als Ort ewigen Angedenkens an die Opfer der Gewalt [dienen], abstrakt und hart genug, um die Unermesslichkeit der Leiden der Namenlosen und Vergessenen des sowjetischen Jahrhunderts in sich aufzunehmen." (S. 832). So wie die Initiatoren des Lubjanka-Projekts, benannt nach dem Sitz des sowjetischen Geheimdienstes, planen, das „Labyrinth des Terrors“ in ein „Forum der offenen Gesellschaft“ zu verwandeln (S. 834).

 

Die Sowjetunion ist untergegangen, aber ihr Erbe lastet schwer auf dem heutigen Russland. Das gilt einerseits für die kleptokratische ehemalige Funktionärsschicht, andererseits für den „als Egalitarismus verkleidete[n] Neid der Passiven auf die Aktiven, der Faulen auf die Fleißigen, der Zukurzgekommenen auf die Erfolgreichen, der arm Gebliebenen auf diejenigen, die es zu etwas bringen wollten - dies ist wahrscheinlich eine der schwersten mentalen Erbschaften des in Jahrzehnten nivellierten sowjetischen Dorfes.“ (S. 468).

 

Karl Schlögel hat mit diesem Buch ein Standardwerk der Kulturgeschichte geschrieben, die Geschichte einer Kultur, die mit viel Pathos begann und in einer Sackgasse endete. Es fesselt den Leser durch seine Sprache und seinen Inhalt. Niemand wird es wohl aus der Hand legen, ohne Gewinn daraus gezogen zu haben. Es ist aber auch ein Buch, das dazu anregt, das Gegenmodell zur Sowjetunion, die freiheitlich-rechtstaatliche Friedensordnung der Europäischen Union, dankbar hochzuschätzen.

 

Würzburg/Tallinn                                                       Steffen Schlinker