Kleinheyer, Adrian, Schadensersatz im Immateralgüterrecht – Die Bestimmung des Verletzergewinns. Nomos, Baden-Baden 2017. 213 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Die immerhin schon nicht mehr ganz junge Rechtsgeschichte der sog. dreifachen Schadensberechnung im Immaterialgüterrecht – konkreter Schaden, Lizenzanalogie, Herausgabe des Verletzergewinns – zeigt, dass dieses System sich in der deutschen Judikatur Ende des 19. Jahrhunderts im Urheberrecht entwickelte und dann auf andere Teilgebiete des Immaterialgüterrechts übertragen worden ist. Die Methode dient heute auch im EU-Recht als Vorbild (RL 2004/48/EU) für die freilich noch keineswegs als gelungen zu bezeichnende europäische Rechtsvereinheitlichung.

 

Erstmals hat das Reichsgericht 1895 im „Ariston“-Fall bei einem Komponisten dieses Kompensations-System entwickelt. Sie fand dann auch im Patentrecht und Gebrauchsmusterrecht Anwendung. Der Bundesgerichtshof hat sie ins Persönlichkeitsrecht und Lauterkeitsrecht übertragen. Das Problem, dass der Verletzte keine Einbuße erleidet, aber der Verletzer hohe Gewinne erzielt, ist allgemein bekannt. Man spricht in der Literatur von der Notwendigkeit, bei der hohen Verletzungsanfälligkeit von ubiquitären Rechten den Kompensationszweck durch die Präventionsfunktion und Abschreckungsfunktion zu ergänzen.

 

Die abstrakte Berechnungsmethode ist seit mehr als einem Jahrhundert akzeptiert und gehört zum Allgemeinwissen selbst bei Beginn der Studiums des Immaterialgüterrechts und Schadensersatzrechts. Dogmatische Abhandlungen zu diesem Problem gibt es zuhauf. Das EU-Recht hat jetzt viele davon zu Makulatur gemacht. Dennoch bleibt trotz solcher allgemeiner Normierungen die dogmatische Grundlage für den Anspruch auf Verletzergewinn weiterhin strittig.

 

Die wichtigsten Kernfragen des Immaterialgüterrechts werden daher jetzt in dieser stringenten Arbeit, einer Dresdener Dissertation (Betreuer: Horst-Peter Götting), neu untersucht. Sie stellt die Systematik des immaterialgüterrechtlichen Schadensersatzanspruchs und die Schritte zur Bestimmung des Gewinns dar, insbesondere die Kriterien der Rechtsprechung und den Meinungsstand in der Literatur. Schritt 1: Verletzergewinn nach Erlös, abzugsfähige Kosten, Gemeinkostenanteilsurteil (BGH), damit der Verletzer sich nicht mehr „arm rechnen“ darf, neue Tendenz zur Berücksichtigung niedriger Preise des Verletzerprodukts und besonderer Vertriebsbemühungen des Verletzers (BGH GRUR 2012, 1227 – Flaschenträger). Schritt 2: Verletzungsgewinn: hier greift der Verfasser sehr aufschlussreich und innovativ auf die Verhaltensökonomie bei Kaufentscheidungen zurück, um die sehr differenzierte Kritik an dem Bundesgerichtshof systematisch-sachlich-wissenschaftlich zu untermauern oder auch Ergebnisse der Judikatur besser zu begründen.

 

Die interdisziplinäre Methode, welche grundsätzliche ökonomische Erkenntnisse für die Jurisprudenz nutzbar macht, wird damit sehr fruchtbar angewendet. Statt der Reduktion von Komplexität führt die Verwendungen von Erkenntnissen eines anderen Fachgebiets zu einer rationaleren und überzeugendere Begründung von Rechtsentscheidungen und zu einer vertieften Weiterentwicklung der Lehre auf der Basis sozialwissenschaftlicher, hier: ökonomischer und kaufpsychologischer Wissenschaft.

 

Dabei wird bei den sog. kognitiven Kaufentscheidungen zwischen extensiven und limitierten, affektiv geprägten, impulsiven und habitualisierten Kaufentscheidungen unterschieden. Der Verfasser beleuchtet die kompensatorischen und nichtkompensatorischen Auswahlregeln sowie die von der Judikatur angewendeten Umstände aus dem Katalog der Einflüsse auf Kaufentscheidung und Kauferfolg. Die Probleme bei der Verletzung von Teilen fremder Rechte werden an dem bekannten „Gasparone“-Fall (Libretto von 1931) demonstriert. Der Bundesgerichtshof entschied sich hier für eine nicht quantitative, sondern qualitative Übereinstimmung beim Vergleich von Werk und unfreier Bearbeitung (BGH GRUR 1959, 379). In der Rechtsprechung wird zwischen der rechtmäßigen Benutzung eigener oder fremder Schutzrechte und der schadensersatzpflichtigen Nutzung von Schutzrechten Dritter unterschieden. Das überzeugt den Verfasser. nicht. Er stellt qualitativ auf die Bedeutung des geschützten Produkts für das Gesamterzeugnis aus Käufersicht ab.

 

Eine Studie, welche das rechtstatsächliche und dogmatische Material seit Ende des 19. Jahrhunderts so präzise, systematisch und in allen subtilen Variationen auf einem begrenztem Raum auffächert, gehört zu den absoluten Seltenheiten. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass selbst die gut bedachte Richtlinie in den nationalen Umsetzungen keine einfachen Interpretationen herbeiführt und folgenreiche Missverständnisse verursachen kann.

 

Die hier vorgestellte, ungemein eindringliche und überzeugende Analyse der Rechtsprechung insbesondere pro und contra „Kausalitätsabschlag“ ist von wesentlicher dogmatischer wie ungemein praktischer Bedeutung. Die differenzierenden Ergebnisse, die hier nicht insgesamt vorgestellt werden können, werden wohl die geltende Judikatur in Teilen verändern oder jedenfalls ernstlich und prinzipiell in Frage stellen müssen. Wer sie nachvollziehen möchte, wird sich über die Zusammenstellung der einschlägigen Urteile seit 1895 bis zur Gegenwart besonders freuen.

 

Die komplexe Kritik bezieht auch das Problem der Verletzung von Betriebsgeheimnissen und einer Neuerfindung, eines „revolutionären Schutzrechts“, mit ein. Die rechtliche Beurteilung ist danach abhängig davon, wie sich die Kaufentscheidung für das Verletzungsprodukt darstellt, nicht nur im Vergleich zu dem Original, sondern auch zu allen Alternativen und Kaufanreizen aus der Sicht des Käufers. Die differenzierte Betrachtungsweise hat beispielsweise für verletzte Qualitätsmarken und Prestigemarken Bedeutung wie für die Frage, ob Anspruch auf vollständigen Verletzergewinn gegeben ist etwa bei 3D- Marken oder Parallelimporten von Arzneimitteln. Das Verletzerverhalten und sein Verschuldensgrad sind, so der Verfasser, nicht zu berücksichtigen.

 

Die vorbildliche, hier gar nicht auszuschöpfende Arbeit, die Überkompensation und Unterkompensation vermeiden hilft, ist von unschätzbarer Bedeutung für künftige immaterialgüterrechtliche Schadensfälle aller Bereiche. Neben dem dogmatischen Gewinn werden Gerichte und Opfer von Verletzungsfällen, diese prophetische Aussage sei an dieser Stelle einmal erlaubt, vermutlich auch an der sehr nützlichen Detailanalyse von Urteilen künftig gewiss erhebliche monetäre Vorteile erreichen können. Ob allein der Präventionsgedanke, wie er zum Teil in der Literatur vertreten wird, als theoretischer Ansatz und in concreto weiterhilft, scheint allerdings angesichts der Thesen und des Fazits der Arbeit auf Grund der menschlichen Natur bei Kaufentschlüssen und der wirtschaftlichen Realität von Produkterzeugung, Produktbestandteilen und der Beeinflussung von Kaufentscheidungen weiterhin als höchst zweifelhaft. Die sozialwissenschaftlich untermauerte Analyse von Entscheidungen für ein Produkt im Auswahlfeld und ihre Konsequenzen für eine adäquate Schadensersatzberechnung bleibt auch nach dieser bewundernswerten Arbeit ein Dauerproblem.

 

Düsseldorf                                                     Albrecht Götz von Olenhusen