Conard, Nicholas/Kind, Claus-Joachim, Als der Mensch die Kunst erfand – Eiszeithöhlen der Schwäbischen Alb. Theiss/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017. 192 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Seit dem 9. Juli 2017 zählen sie kraft ihrer herausragenden Bedeutung für die Geschichte der frühen Menschheit offiziell zum UNESCO-Weltkulturerbe: die sechs Höhlen im Achtal (Hohle Fels, Geißenklösterle, Sirgenstein) und im Lonetal (Hohlenstein, Vogelherd, Bockstein), gelegen auf der Schwäbischen Alb im Großraum Ulm (vgl. die Karte S. 12f.). Als der Homo sapiens vor mutmaßlich etwa 43.000 Jahren in Mitteleuropa heimisch wurde, boten ihm jene Formationen günstige Bedingungen zur Bewältigung seines entbehrungsreichen Lebens. Generationen engagierter Laien und Wissenschaftler ist es zu verdanken, dass seine erstaunlichen Hinterlassenschaften wieder ans Tageslicht gelangen konnten und uns heute die Möglichkeit eröffnen, ein konkretes Bild vom Leben, den Fähigkeiten und Leistungen unserer frühen Vorfahren zu gewinnen. Über all das berichtet der vorliegende, großformatige, aufwändig polychrom illustrierte und sehr gefällige Band. Verfasst haben ihn die beiden in Tübingen ansässigen Gelehrten Nicholas J. Conard, Leiter der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen und wissenschaftlicher Direktor des Urgeschichtlichen Museums Blaubeuren, und Claus-Joachim Kind, Referent für Steinzeitarchäologie beim Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg, die in den genannten Höhlen persönlich die seit eineinhalb Jahrhunderten bestehenden Sondierungs- und Grabungstätigkeiten in der Tradition von Oscar Fraas, Robert Rudolf Schmidt, Gustav Riek, Robert Wetzel, Eberhard Wagner und Joachim Hahn fortgesetzt haben und dabei weitere bemerkenswerte Funde sichern konnten. Diese werden im vorliegenden Buch in einer jedermann eingängigen Weise näher vorgestellt und in den historischen ebenso wie in wissenschaftsgeschichtliche Kontexte eingebunden, sodass der Leser inspirierende Einblicke nicht nur in die Fundkomplexe auf der Schwäbischen Alb, sondern darüber hinaus in Methoden und Probleme der Urgeschichtsforschung insgesamt sowie in das Procedere des Weltkulturerbes erhält.

 

Die herausragende Bedeutung der noch dem frühesten Jungpaläolithikum, also der ausgehenden Periode der Altsteinzeit (etwa 43.000 bis 11.700 vor heute), zuzurechnenden Fundstücke kommt plakativ in der Titelzeile des Bandes „Als der Mensch die Kunst erfand“ zum Ausdruck. Stellvertretend für eine Vielzahl an Artefakten und Schmuckstücken seien die in ihrer Bedeutung für die Menschheitsgeschichte wichtigsten – weil mit einem Alter von etwa 40.000 Jahren bislang weltweit ältesten – Objekte angeführt: die Venus vom Hohle Fels als älteste bekannte Menschenfigurine überhaupt – bemerkenswerter Weise also eine Frau und wohl 15.000 Jahre früher entstanden als die berühmte Venus von Willendorf in der Wachau –, der sogenannte Löwenmensch aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle als frühester Nachweis eines figürlichen Mischwesens, mittlerweile ergänzt durch vergleichbare kleinere Stücke vom Hohle Fels und dem Geißenklösterle, die eine erste Musiktradition nahe legenden, zum Teil aus den Flügelknochen von Schwänen und Geiern, zum Teil aus Mammutelfenbein gefertigten Funde von Flöten sowie Tierdarstellungen wie das berühmte Vogelherdpferd, auf Schloss Hohentübingen ausgestellt und Logo der Abteilung für Ältere Urgeschichte der Universität Tübingen. Sämtliche Stücke mussten aus einer kleineren oder größeren Anzahl von Fragmenten wieder zusammengesetzt werden. Wie wichtig es dabei war, die älteren, ungenaueren Grabungen im Wettlauf mit verschiedenen Raubgrabungen durch Neusondierungen auf dem Stand der Zeit zu ergänzen, illustrieren die folgenden Ausführungen: 2005 wurde beschlossen, am Vogelherd „den von Riek zurückgelassenen Grabungsaushub noch einmal systematisch auszugraben. […] Wie sich herausstellte, benötigte die Grabungsmannschaft acht Grabungskampagnen – von 2005 bis 2012 –, um den alten Abraum aus der Höhle auszugraben, und es dauerte sogar bis Anfang 2016, bis die immense Arbeit des Auslesens der mehr als 32000 Sedimentproben und zahlreicher Tonnen von Material aus der Höhlenfüllung abgeschlossen war. Zehntausende Fundobjekte wurden dabei zutage gefördert“ (S. 72f.).

 

In der unter anderem von Nicholas J. Conard vertretenen „Donaukorridor- Hypothese“ wird „vermutet, dass moderne Menschen rasch über das Donautal nach Mitteleuropa einwanderten und sehr früh im Verlauf ihrer Ausbreitung über Europa existenzfähige sowie archäologisch sichtbare Populationen bildeten“. In diesem Rahmen sei anzunehmen, „das Entstehen figürlicher Kunst im oberen Donautal stehe mit einer hier herrschenden Konkurrenzsituation zwischen modernen Menschen und Neandertalern im Zusammenhang. […] Neandertaler (lebten) in kleinen Gruppenverbänden, in denen auf höchst effektive Weise miteinander kommuniziert wurde, ohne dass es in der materiellen Kultur, im Kommunikationssystem, künstlerische oder symbolische Komponenten gegeben hätte“ (S. 162f.). Was die Interpretation der Funktion der Höhlenfunde von der Schwäbischen Alb angeht, hat die Wissenschaft bereits „buchstäblich Dutzende von Antworten“ geliefert, die Rede ist „von l’art pour l’art, von Jagdmagie, taktilen Erfahrungen, von Spielzeugen, Schamanismus und vielen anderen Funktionen“, unter denen zuletzt das „Fruchtbarkeitsmodell“ durch die Venusfigurenfunde eine besondere Betonung erfahren habe: „Man kann sich kaum das Glücksgefühl vorstellen, das der Frühling mit seinem wärmenden Sonnenschein, dem Schmelzen des Eises, dem grünen Gras, den blühenden Pflanzen und der Geburt von Tieren bei den Menschen auslöste, die gerade unsäglich lange Winter in den dunklen Höhlen der Schwäbischen Alb ausgestanden hatten“. Wie in vielen Fragen sei auch hier ein multikausales Erklärungsmodell als wahrscheinlich zu präferieren, denn „alle Kunst, ob religiös oder weltlich – soweit solche Kategorien überhaupt sinnvoll sind –, hat niemals nur eine einzige Bedeutung“ (S. 168ff.).

 

Allein drei große Kapitel beschäftigen sich ausführlich mit allen Fragen um die Geschichte der Fundkomplexe und die wissenschaftliche Einordnung der einzelnen Fundstücke, vier weitere liefern übergreifende Informationen zur Entstehung und Charakteristik der Eiszeiten, zum biologischen Werdegang, der Ausbreitung und der Lebensweise der Gattung Homo, zur Geologie und Archäologie der Albhöhlen sowie zum UNESCO-Welterbe. Spezialthemen wie Grabungstechniken, die dreidimensionale virtuelle Vermessung von Fundstellen oder die Methoden der experimentellen Archäologie werden in eigenen kleinen Exkursen expliziert, ein Glossar im Anhang erklärt insgesamt 35 Fachbegriffe. Eine besondere Stärke des Bandes liegt in der ausgezeichneten Qualität der  Fotografien und sonstigen Illustrationen wie der Grundrisse und stratigrafischen Aufrisse der Höhlen. Wer, angeregt durch die Lektüre und die Vielfalt des visuellen Materials, die archäologischen Stätten und Funde selbst vor Ort in Augenschein nehmen will, findet in den „Tipps für die Besichtigung“ (S. 190f.) sowohl Hinweise zur Lage und zum Zugangsstatus der Höhlen als auch die Adressen und Öffnungszeiten der relevanten Museen. Der spektakuläre Befund, dass sich so zumindest nach derzeitigem Kenntnisstand die Geburt der Kunst auf heute deutschem Boden vollzogen haben könnte, sollte bei der räumlichen Nähe Motivation genug sein, dieses Angebot weidlich zu nützen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic