Rubel, Alexander, Religion und Kult der Germanen. Kohlhammer, Stuttgart 2016. 174 S., 12 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

So groß das Bedürfnis des Menschen ist, die Geheimnisse der ihn umgebenden Welt zu enträtseln, so bescheiden ist häufig das gesicherte Wissen, das er zu gewinnen vermag. Gilt es dabei noch die zeitliche Dimension zu überwinden, also Sachverhalte zu klären, die in einer weit zurückreichenden Vergangenheit liegen, auf die nicht mehr unmittelbar zugegriffen werden kann, führen selbst ausgeklügelte wissenschaftliche Methoden und fächerübergreifendes Arbeiten meist nur zu Hypothesen höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit. Phantasie und Ideologie füllen dann die Lücken und suggerieren Gewissheiten, die mit der Realität oft wenig zu tun haben. Auch unsere populären Bilder von „den Germanen“ sind so in Wahrheit nicht viel mehr als eine Klitterung heterogener Elemente bisweilen zweifelhafter Provenienz.

 

In Anbetracht dieser zunehmend rezipierten Erkenntnis sind seriöse Publikationen zu den alten Völkern in dem, was sie als gesichertes Wissen postulieren, heute deutlich zurückhaltender als noch vor einigen Jahrzehnten. Das gilt auch für Alexander Rubels „kurze(n) Überblick für ein breites Publikum, das über keine fachspezifischen Vorkenntnisse in den für dieses Forschungsfeld relevanten Disziplinen Alte Geschichte, Archäologie und germanistische Linguistik verfügt“ (S. 10). Der Direktor des Archäologischen Instituts der Rumänischen Akademie in Iaşi macht klar, dass ein zeitgenössisches Gemeinschaftsbewusstsein der durch ihre germanischen Dialekte verwandten Stämme höchst unwahrscheinlich sei, ihre Zusammenfassung unter fragwürdigen Gesichtspunkten als „Germanen“ gehe auf Caesar zurück und sei wohl von den so Bezeichneten irgendwann übernommen worden. Analog habe es auch „(e)ine Religion der Germanen als einheitliche Größe nie gegeben“, was „angesichts der weitgehend mündlichen Tradierung, der regionalen Unterschiede und der lokalen Sonderentwicklungen bei geographisch weit verstreuten Stämmen kaum verwundern kann“ (S. 22). Die Quellen, die uns über einzelne religiöse oder kultische Praktiken Auskunft geben, seien stets kritisch zu prüfen, so Caesar, Tacitus oder auch die diversen Heiligenviten. Interessant seien die „Gesetzestexte der frühen germanischen Reiche, die auf dem Boden des ehemaligen Römerreichs entstanden und nach römischem Vorbild seit dem 6. Jahrhundert Gesetze kodifizierten. In diesen Rechtstexten […] tauchen Verbotsbestimmungen für heidnische Bräuche auf, deren Kenntnis uns gerade aufgrund ihrer Unterdrückung durch die staatlich sanktionierte neue Religion erhalten geblieben ist“. Eine Rückprojizierung jüngerer Aufzeichnungen auf die Frühzeit der germanischen Kulturen, wie sie oft leichtfertig vorgenommen wurde und wird, müsse als überwiegend spekulativ in Frage gestellt werden. Das sei das Hauptproblem der späten isländischen Überlieferungen des 12. und 13. Jahrhunderts: „Sie könnten sehr wohl in Teilen […] vorchristliche Realitäten wiedergeben; oder auch nicht. Die nordische Philologie hat noch kein Kriterium herausarbeiten können […], nach dem sich unterscheiden ließe, welche Teile der Überlieferung echte Erinnerung an heidnische Bräuche dokumentieren und welche freie Umarbeitungen und Neudeutungen heidnischer Stoffe und Motive vor christlichem Hintergrund darstellen“ (S. 28f.). Dieses Korpus der literarischen Zeugnisse wird ergänzt und korrigiert durch die epigraphische, ikonographische und archäologische Überlieferung.

 

Alexander Rubels Streifzug durch Religion und Kult der Germanen setzt ein mit einer Bestandsaufnahme der Heiligtümer und der Opferpraxis und fasst dann die Erkenntnisse über die germanische Götterwelt in der Frühzeit zusammen. Hier gelangt die Arbeit zum Schluss, dass „(d)ie Hauptgottheiten, die mit den Wochennamen […] bereits in der Römerzeit für uns Konturen gewinnen, ihr mythologisches Profil erst in viel späterer Zeit (erhalten). Wie die ‚Wodansreligion‘ sich ausbreitete und sich zu einem von Verwandtschaftsbeziehungen, Feindschaften und Kriegen geprägten Götterhimmel ausbildete, ist nicht einfach nachzuvollziehen. […] Überregional verbreitete Aspekte von Religion können für die Frühzeit aufgrund der erst später ausgebildeten strafferen Stammeskulturen kaum angenommen werden. […] Wir müssen erkennen, dass es eine einheitliche ‚germanische Religion‘ nur in unserem akademischen Schubladendenken gibt (auch dieses Büchlein leistet mit seinen Kategorisierungen seinen Beitrag dazu)“ (S. 48). Ähnliches gelte für das nächste Kapitel, den genaueren Blick auf die Mythologie; es lasse sich „lediglich feststellen, dass die Götterwelt der Germanen, wie auch die nordische Mythologie[,] sich in die allgemeinen Grundstrukturen der indogermanischen Religionen einordnen lässt. Konkrete mythologische Vorstellungen auf die sprachwissenschaftlich als indogermanischen Ursprungs identifizierten Namen und Sachen zurückzuführen, ist indes nicht statthaft, da diese Vorstellungen oft überhaupt erst in der Überlieferung des Mittelalters belegt sind“ (S. 62). Selbst Entstehung und Gebrauch der berühmten Runen, die „einerseits mit plausiblen Argumenten einer im wesentlichen profanen Kommunikationssituation zugeschrieben werden (können), (sich) andererseits mit ebenso überzeugenden Argumenten auch als Zeichen beschreiben (lassen), die in erster Linie in magisch bestimmten Vorstellungen entstanden und verwendet worden sind“, seien „letzten Endes eine Glaubensfrage“ und ließen sich „auf dem derzeitigen Wissensstand nicht endgültig klären“ (S. 75).

 

Weitere Kapitel des Bändchens versammeln die verfügbaren Informationen über die Jenseitsvorstellungen der germanischen Welt, „von denen wir nur die spätesten Stufen aus Skandinavien kennen (für die mitteleuropäische Germania der römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit fehlen ausführliche Darstellungen völlig)“ (S. 86), fokussieren auf die Rheinlande als Kontaktzone zwischen den religiösen Vorstellungen der Römer und ihrer indogermanischen Nachbarvölker, wo „die Identifizierung der einheimischen Götter mit römischen Vorbildern keineswegs eine komplizierte Angelegenheit (war), sondern nach den Regeln polytheistischen Pluralismus auf geradezu organische Weise (erfolgte)“ (S. 91), und thematisieren weibliche Gottheiten, die Christianisierung sowie aktuelle Phänomene der Okkupation tatsächlicher oder vermeintlicher germanischer religiöser Traditionen in Form eines völkisch geprägten Neuheidentums, eines naiven „Spaßheidentums“ oder des boomenden Fantasy-Genres. Im Fantasyepos „Der Herr der Ringe“ habe „(m)it dem altenglischen Epos Beowulf, Grimms Märchen und der älteren Edda im Gepäck der Professor für Altenglisch und Kenner der germanischen Sprachen Tolkien eine phantastische Welt entworfen, die in vielen Details an nordischen Mythologemen orientiert ist“ (S. 119). Eine Antwort auf die Frage, was darüber hinaus von den „Religionen“ der Germanen in seriöser Weise auf uns gekommen ist, bietet die Schlussbetrachtung an. Sie weist darauf hin, dass „germanische Sitten mindestens indirekt das Christentum beeinflusst (haben)“, vorwiegend im Phänomen der Heiligenverehrung, denn „(m)it Hilfe von Heiligen […] war das Christentum auch im germanisch-polytheistischen Kontext leichter zu vermitteln“ (S. 137).

 

Wie diese Ausführungen zeigen, handelt es sich somit bei der vorliegenden Kurzdarstellung des Verfassers zu Kult und Religion der Germanen um keine unkritische Kompilation älterer Publikationen, sondern um den weitgehend eigenständigen Versuch, auf dem aktuellen Stand verlässliches Wissen von mehr oder minder gut begründeten Vermutungen zu scheiden und in leichtfasslicher Weise zu präsentieren. Zu begrüßen ist insbesondere die Berücksichtigung einiger allgemein noch wenig bekannter archäologischer Befunde aus erst in jüngerer Zeit erschlossenen Grabungsstätten, wie Illerup Ådal (2009, 2012/13), wo im Moor Knochenreste von etwa 1000 möglicherweise als Kriegsbeute geopferten Menschen gesichert werden konnten, oder Uppåkra (2001), Ausgrabungsort eines wegen der Beifunde höchstwahrscheinlich kultisch zu interpretierenden größeren Holzbaus, der architekturgeschichtlich womöglich als Vorform der späteren typischen Stabkirchen zu deuten sein könnte. Zu den – trotz längerer Tradition – ebenfalls noch nicht allgemein rezipierten Erkenntnissen zählen auch die überraschenden kombinatorischen Verknüpfungen, die der Germanist Karl Hauck zwischen dem Zweiten Merseburger Zauberspruch und der Ikonographie der Goldbrakteaten herzustellen vermochte (vgl. S. 68ff.). Eine Absage erteilt der Verfasser hingegen der populären, in Bezug auf Einzelfunde von Moorleichen bereits 1922 ventilierten Strafopferthese des Rechtshistorikers Karl von Amira, für ihn ein „Irrweg der Forschung“ (S. 38), da weder hinreichende Belege in den Quellen dafür vorlägen, noch davon auszugehen sei, dass es sich bei der Mehrzahl dieser Toten überhaupt um (juristische oder kultische) Hinrichtungsopfer handle.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic