AugustinovicKershawhöllensturz20170213 Nr. 16269 ZIER 7 (2017) 60. IT

 

 

Kershaw, Ian, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, aus dem Englischen von Binder, Klaus/Leineweber, Bernd/Schröder, Britta. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016. 764 S., 30 Abb., 4 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Er zählt zweifellos zu den herausragenden Köpfen seines Metiers: Ob seiner wissenschaftlichen Verdienste in seiner britischen Heimat geadelt, hat der 1943 geborene Sir Ian Kershaw, der in Manchester, Bochum, Nottingham und zuletzt bis zu seiner Emeritierung 2008 in Sheffield gelehrt hat, die Zeitgeschichtsforschung zum Nationalsozialismus mit erhellenden Werken vorangetrieben, unter denen seine zweibändige Biographie Adolf Hitlers (1998/2000) besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Ihr Verfasser vermochte darin, basierend auf Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft, das Werden und Wirken des nationalsozialistischen Diktators überzeugend aus den Bedürfnissen der deutschen Gesellschaft erklären, deren Befriedigung sich im wechselseitigen Austausch zwischen beiden vollzogen habe. Nach Untersuchungen zu den entscheidenden Wendepunkten des Zweiten Weltkriegs (2008) und dem Phänomen des deutschen Durchhaltewillens in dessen Endphase (2011) hat sich Ian Kershaw nun an ein besonderes Unterfangen gewagt: Er will, wiederum verteilt auf zwei Bände, eine (europäische) Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählen. Die englische Originalausgabe des ersten Bandes, der nunmehr auch in der deutschen Übersetzung vorliegt, wurde 2015 unter dem vielsagenden Titel „To Hell and Back: Europe, 1914-1949“ der Öffentlichkeit präsentiert.

 

Die besonderen Herausforderungen der aktuellen Arbeit bestehen in der Aufgabe, für den ins Auge gefassten Zeitraum zunächst eines halben Jahrhunderts unter bestimmten Gesichtspunkten die wesentlichen und typischen Strömungen zu erfassen, sie in ihrer Interdependenz darzustellen, in der Auswahl des Materials argumentierbare Prioritäten zu setzen und im vorgegebenen beschränkten Rahmen eine ansprechende, flüssige Narration zu liefern. Dem Absturz in die „Hölle“, in Krieg und Völkermord, hätten vier Hauptursachen zugrunde gelegen: „1) die explosionsartige Ausbreitung eines ethnisch-rassistischen Nationalismus; 2) erbitterte und unversöhnliche territoriale Revisionsforderungen; 3) ein akuter Klassenkonflikt, der mit der bolschewistischen Revolution in Russland einen konkreten Schwerpunkt erhielt; und 4) eine langanhaltende Krise des Kapitalismus (die viele Beobachter für letal hielten)“ (S. 14). Sie geben die Landmarken vor, um welche die Fragen nach dem tatsächlichen Gang der historischen Ereignisse und nach dem Raum, der realistisch für alternative Entwicklungen zur Verfügung stand, kreisen. Ian Kershaw benennt auch das Zentrum des Verhängnisses: „Besonders in einem Land waren alle vier Komponenten in ihrer extremsten Ausprägung wirksam und verstärkten einander zu explosiver Wirkung – in Deutschland. Als es Adolf Hitler – der es meisterlich verstand, die allgemeine Krise auszunutzen, und der sie mit dem Einsatz von Gewalt überwinden wollte – gelang, seine diktatorische Herrschaft über den deutschen Staat zu zementieren, war es nicht mehr weit zu einer allgemeinen Katastrophe in Europa“ (S. 19). Interessant ist, dass die Folgen des Zweiten Weltkriegs, so groß seine Verwüstungen und moralischen Verwerfungen auch waren, sich von jenen des Ersten grundlegend unterschieden hätten: „Hatte der Erste Weltkrieg verschärfte ethnische Spannungen, Grenzkonflikte, Klassenkonflikte sowie eine tiefe, anhaltende Krise des Kapitalismus hinterlassen, so schwemmte der Zweite Weltkrieg diese Verkettung von Krisenfaktoren im Strudel der Zerstörung fort. […] Der Zweite Weltkrieg, und das ist entscheidend, zerbrach das System konkurrierender europäischer Großmächte ein für alle Mal […]. Im wiedergeborenen, wiewohl ideologisch und politisch zerrissenen Europa gab es nur[ ]mehr zwei Großmächte: die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion, die einander über den Eisernen Vorhang hinweg belauerten und darüber wachten, dass beim Wiederaufbau Europas Staaten und Gesellschaften nach ihrem eigenen Bilde entstanden“, was im Verein mit einer auf beiden Seiten präsenten klaren Vorstellung von den verheerenden Auswirkungen einer atomaren Konfrontation Europa schließlich eine ungeahnte „Ära des Friedens“ bescherte (S. 20f.).

 

Für seine Erzählung wählt der Verfasser die vertraute chronologische Ordnung (Wäre denn ein anderes Vorgehen überhaupt denkbar und der Materie angemessen?), den Gang der Ereignisse verteilt er auf zehn Kapitel, die – vergleichbar dem Buchtitel „Höllensturz“ – allegorische Assoziationen anregen. „Am Abgrund“ zeichnet die dramatischen Veränderungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die destruktiven Kräfte, die sie wachriefen, und die unglückselige Dynamik am Vorabend des Ersten Weltkriegs im europäischen Kontext, „Die große Katastrophe“ den Verlauf und den spezifischen Charakter dieses Krieges mit seinen Auswirkungen auf die Politik und die Zivilgesellschaften der kriegführenden Länder. Es folgte ein „Turbulenter Friede“, eine bis Ende 1923 andauernde Nachkriegskrise, in der sich die fragile Demokratie in Europa von links und rechts bedrängt sah und die multiethnischen Imperien von Nationalstaaten beerbt wurden, die ihrerseits ihre Minoritäten benachteiligten. Durch die Pariser Friedensverträge fühlten sich vor allem Deutschland und Italien „ausgebremst, als ‚Habenichts‘-Nationen“, ein „Fundament […] für künftige Konflikte war gelegt“. Für den Verfasser war der weitere Gang des historischen Geschehens damit zwar nicht determiniert, aber die Zeichen verhießen nichts Gutes: „Es gab keine durchgehende Nabelschnur, die einen zweiten großen Weltenbrand an den ersten gebunden hätte. Die Dinge hätten sich anders entwickeln können. Gleichwohl machte das Erbe des Ersten Weltkriegs einen weiteren großen Krieg in Europa eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich“ (S. 214). Daran habe auch die bis 1929 dauernde Phase relativer Konsolidierung nichts geändert, die in vielem einem „Tanz auf dem Vulkan“ gleiche, denn „die wirtschaftliche Erholung Mitte und Ende der 1920er Jahre führte nicht zu einer allgemeinen Stärkung der Demokratie in ganz Europa“ (S. 262). In Deutschland, das ob seiner zentralen Lage „für Europas Schicksal […] von entscheidender Bedeutung“ gewesen sei, hatte „(d)er Wirtschaftsaufschwung die wachsenden Probleme nur verdeckt“, die „kulturelle Zerrissenheit war akuter als irgendwo sonst“ (S. 278). „Dunkle Wolken am Horizont“ zogen 1929/1930 mit der sich rapide verschärfenden Weltwirtschaftskrise auf, die „für Europa nichts weniger als eine Katastrophe“ bedeutet habe, mit Ausnahme Nordwesteuropas habe sich politisch nun überall „die eine oder andere Form des Autoritarismus“ durchgesetzt (S. 279). Mit ihren expansionistischen Zielen stachen wiederum Italien und Deutschland hervor. Doch während die mit den italienischen Ambitionen im Mittelmeer verbundenen Gefahren nach Ansicht des Verfassers hätten „gebannt werden können“, verhielt es sich mit Hitlerdeutschland, „dem größeren, dynamischeren, brutaleren und ideologisch radikaleren Regime der beiden“, anders: Dessen Expansionsdrang „zielte auf das Herz Europas […,] durch eine drohende deutsche Hegemonie geriet das prekäre Machtgleichgewicht in tödliche Gefahr“ (S. 343f.).

 

Der Zerfall der internationalen Ordnung im ideologischen Konflikt zwischen Faschismus, Bolschewismus und liberaler Demokratie schuf jene „Gefahrenzone“, aus der Europa nicht mehr zu entkommen vermochte. „Der Hölle entgegen“ titelt das siebte Kapitel, das unter anderem zeigt, wie erst der Einzug Hitlers in Prag Franzosen und Briten endgültig alle Illusionen nahm; mit dem deutschen Einmarsch in Polen und den folgenden Kriegserklärungen war die im Anschluss von Ian Kershaw in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen skizzierte „Hölle auf Erden“ Realität geworden. Der deutschen Niederlage im Mai 1945 lässt der Band noch zwei inhaltliche Einheiten folgen. Die erste, „Lautlose Übergänge in dunklen Jahrzehnten“ genannte, unterbricht den Fluss der laufenden Chronologie und zeichnet strukturgeschichtliche Entwicklungen der Epoche nach, die Wirtschaft und Gesellschaft, die Positionen der christlichen Kirchen und der Intellektuellen sowie den Siegeszug der populären Unterhaltungsindustrie zum Gegenstand haben. Mit dem „Aufstieg aus der Asche“ wird der chronologische Faden wieder aufgenommen und bis in das Jahr 1949 geführt. Für den baldigen, zunächst nicht vorhersehbaren Wandel zu Stabilität und wirtschaftlichem Wachstum in Europa werden fünf zusammenwirkende Faktoren verantwortlich gemacht: „das Ende des deutschen Großmachtstrebens, die Auswirkungen der politischen Säuberung von Kriegsverbrechern und Kollaborateuren, die Verfestigung der Teilung Europas, das Wirtschaftswachstum, das Ende der 1940er Jahre mit Macht einsetzte, und schließlich die Gefahr einer atomaren (und bald thermonuklearen) Kriegführung“ (S. 697f.). Zu den genannten Säuberungen führt der Band detaillierte Zahlen für verschiedene europäische Länder an (vgl. S. 646ff.). Interessant ist ferner die mit Bezug auf die rechtlich nicht unumstrittenen Nürnberger Prozesse referierte Tatsache, dass „Meinungsumfragen aus dieser Zeit ergaben, dass die Fairness der Prozesse und auch die Urteile bei den Deutschen auf große Zustimmung stießen. Selbst die Verurteilung ganzer Organisationen wie SA, SS und Gestapo wurde mehrheitlich begrüßt. Etwa 70 Prozent der befragten Deutschen waren der Ansicht, weitaus mehr Menschen als die Angeklagten von Nürnberg trügen Schuld an Kriegsverbrechen; man solle weitere Parteimitglieder, auch niederrangige Führungskräfte anklagen“. Vorwiegend aus Kapazitätsgründen erwies sich dann allerdings „eine umfassende Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft als unmöglich“ (S. 651f.).

 

Bemerkenswert ist das Geschick, mit dem Ian Kershaw in seine Darstellung der „großen“ politischen Geschichte immer wieder die Perspektive der erlebenden Zeitgenossen einbringt, indem er ihre Stimmen und Urteile mittels der exemplarischen Wiedergabe charakteristischer Äußerungen transportiert. Selbst ganz persönliche Erinnerungen aus der eigenen Familie finden gelegentlich ihren Niederschlag in Form kleiner Fußnoten, so ein Fußballerlebnis des Großvaters (S. 238) oder die für Nylonstrümpfe Schlange stehende Tante (S. 664). Diese unscheinbaren Elemente erden das Erzählte und halten präsent, dass sich Geschichte in erster Linie in den individuellen Geschichten jener zahllosen Einzelwesen vollzieht, die sie erleben und erleiden. Obwohl Deutschland am umfangreichsten behandelt wird, was seiner herausragenden Rolle im Geschehen, aber auch der besonderen Expertise des Verfassers auf diesem Gebiet geschuldet sein dürfte, durchmisst sein kritischer Blick immer wieder die Reihe der europäischen Staaten und relevanten Akteure und registriert sorgfältig parallele wie abweichende Entwicklungen, ohne dass sich die Darstellung dabei allzu sehr in Details verliert oder gar zerfleddert. Kausalitäten werden sichtbar gemacht und Alternativen angedeutet, der historische Prozess als offen und von (abhängig vom jeweils angelegten Maßstab „richtigen“ oder „falschen“) Entscheidungen beeinflussbar wahrgenommen. Eine umfangreiche Auswahlbibliographie fungiert als Ersatz für den allgemein üblichen, hier aber vom Verlag nicht vorgesehenen Anmerkungsapparat. Bescheiden dankt der Verfasser pauschal allen Forschern, deren Ergebnisse er verwertet, und reklamiert Eigenständigkeit nur für „Aufbau und Interpretation – die Art und Weise, wie die Geschichte geschrieben ist, und die zugrunde liegende Argumentation“ (S. 8). Fachkundige werden in vielen Fällen auch ohne spezielle Nachweise erkennen können, aus welcher Quelle Kershaw jeweils schöpft, mit Sicherheit jedoch, dass sich seine Argumentation uneingeschränkt auf dem aktuellen Stand der Forschung bewegt. Vier Karten Europas (1914; NS-Herrschaft; Zweiter Weltkrieg; 1949) und ein kombiniertes Sach- und Personenregister unterstützen den laufenden Text, zwei Tafelteile auf Hochglanzpapier (Abbildungen 1 – 14 sowie 15 – 30) beherbergen das zum Teil farbige Bildmaterial.

 

Geschichtserzählungen, die einen größeren Zeitraum umfassen, werden aus gutem Grund als Königsdisziplin der Historiographie angesehen. Anders als Einzelstudien lassen sie nicht die Konzentration auf ein fest umrissenes Themengebiet und eine in aller Regel überschaubare Literatur zu, sondern verlangen stupendes Wissen in allen relevanten Feldern sowie eine außergewöhnliche Fähigkeit zur synthetischen Zusammenschau. Heinrich August Winklers vierbändige „Geschichte des Westens“ (2009 – 2015) ist ein prominentes Beispiel für die gelungene Umsetzung dieser Tugenden. Auch gemessen an solchen Kriterien wird man Ian Kershaws spannend zu lesender Darstellung der Katastrophe Europas kaum etwas vorhalten können. Es ist davon auszugehen, dass es ihm gelingen wird, im zweiten Teil die anschließende Erfolgsgeschichte in ebenso überzeugender Weise zu Papier zu bringen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic