Herbert, Ulrich, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Beck, München 2014. 1451 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Es ist ohne Zweifel richtig, wie der Verfasser selbst im Vorwort schreibt, dass man eine große Portion Mut braucht, um heute die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts zu schreiben und nicht weniger Mut, um diese als Nationalgeschichte anzulegen. Doch nur so scheint es ihm möglich, die Vielzahl von Themen und Aspekte der Entwicklung erkennbar zu machen. Herbert ist sich zwar darüber im Klaren, dass Europa eine wichtige Determinante der deutschen Geschichte ist, dennoch plädiert er dafür, dass sich die Geschichte des späten 19. und des gesamten 20. Jahrhunderts in Europa ohne nationalstaatliche Perspektive nicht entziffern lässt. Ein weiteres Anliegen ist es, die Zwangsläufigkeit der Entwicklung zu hinterfragen und auch nach den Alternativen und den nicht verwirklichten Möglichkeiten zu schauen.

 

Herbert versucht, die Stofffülle durch zwei, wie er es selbst nennt; „Argumentationsbögen“ in den Griff zu bekommen: Der erste besteht in der Kontrastierung der beiden Jahrhunderthälften. Dabei wird davon ausgegangen, dass die erste aus Kriegen und Katastrophen bestanden habe, die zweite hingegen aus Stabilität, Freiheit und Wohlstand. Der zweite Hauptstrang will den gesamten Zeitraum als europäische „Hochmoderne“ verstehen. Sie habe sich dadurch ausgezeichnet, dass in ihr darum gerungen worden sei, politische und gesellschaftliche Ordnungen der Industrialisierung anzupassen. Nicht geklärt wird, wie sich beide Ansätze zueinander verhalten. Ergänzt werden sollen die „Argumentationsbögen“ durch das Verfolgen von „Leitspuren“. Darunter werden einzelne Fragestellungen wie „Verhältnis von industrieller Gesellschaft und politischer Ordnung“, „Umgang mit der Kultur der Moderne und der Massengesellschaft“, „Dynamik der Gewalt und des Krieges“ u. ä. verstanden. Die widersprüchliche Vielfalt des 20. Jahrhunderts, so Herbert, komme nur durch den historischen Blick zum Vorschein. Aufgrund der Distanz und der Vielzahl der Perspektiven ergäben sich neue Zusammenhänge und würden langfristige Prozesse erkannt.

 

Diese in der Einleitung explizierten Ansätze werden im Folgenden mal mehr, meist aber weniger befolgt. Denn letztlich wird, von wenigen Querschnittsbetrachtungen unterbrochen, entlang der Chronologie politische Geschichte, Kultur- und Sozialgeschichte und schon deutlich weniger Wirtschaftsgeschichte ausgebreitet. Wo die Sache andere Schwerpunkte wie Finanzen, Verfassung, Recht oder Religion erfordert hätte, werden diese gar nicht oder unzulänglich behandelt.

 

Es ist überzeugend, dass Herbert seine deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs beginnt. Denn er kann nachweisen, dass bereits hier grundlegende Probleme des kommenden Jahrhunderts wie der Gegensatz von wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Gerechtigkeit und die Erscheinungen der Massenkultur wie des politischen Massenmarkts erkennbar sind. Ebenfalls hätten sich damals schon die wichtigen Triebkräfte der Zukunft formiert wie liberale Demokratie, linker Totalitarismus und völkischer bzw. nationaler Radikalismus, aber auch der immer mächtiger werdende Staatsapparat und der sich voll entfaltende Industriekapitalismus.

 

Als repräsentativen Typus jener Jahre macht er den Parvenü und Neureichen aus, der es zu Geld, Geltung und Prestige gebracht habe, dessen Selbstwertgefühl aber nicht mitgewachsen sei. Diese zeitgenössische Tendenz komme auch in den Bauten und der Kleidung zum Ausdruck. Vieles sei pomphaft, große Geste, die nur den Verlust des Haltes und der Sicherheit verbergen soll. Im Zentrum der Gesellschaft habe das Modell der bürgerlichen Familie gestanden. Die unbedingte Vorrangstellung des Ehemanns über Frau und Kinder sei gesellschaftlicher Konsens gewesen und durch die Gesetzgebung abgesichert. Es habe das Ideal der Einheit von Ehe, Liebe und Sexualität geherrscht.

 

Herbert sieht im damaligen Deutschland ein bewundertes „Laboratorium der Moderne“. In ihm hätten sich alle Probleme wie die politischen und geistigen Antworten darauf innerhalb eines kurzen Zeitraums gezeigt. Fast alles, was über das Kaiserreich gesagt wird, klingt wie eine Abgrenzung gegen Wehler und seine Schule.

 

Im Ersten Weltkrieg wird die Kluft zwischen den propagandistisch geschürten Erwartungen und den geringen Möglichkeiten, die Deutschland tatsächlich hatte, herausgestellt. Der Krieg wird wie auch sonst als eine Zeit des Ausbruchs einer bisher nicht gekannten Gewalt als Folge der Industrialisierung der Kriegsführung vorgeführt. Sein Ergebnis sei vor allem der Zusammenbruch der Strukturen und das Auflösen der Werte des 19. Jahrhunderts gewesen.

 

Herberts Geschichte der Weimarer Republik präsentiert wenig, das über das Altbekannte und Gängige hinausgeht. Chronologisch schreitet er die Phasen ab, von deren Entstehung aus der Revolution über den Bürgerkrieg, die Inflation und die prekäre Stabilisierung bis hin zum Legitimitätsverlust des Parlamentarismus. Auch die kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Ausführungen und die ideengeschichtliche Analyse der radikalen Strömungen, auf denen ein Schwergewicht liegt, kommen über das, was von der in dieser Hinsicht ja schon gut erforschten Republik bekannt ist, nirgends hinaus. Die Herausforderungen, die sich jedem Geschichtsschreiber dieser Epoche stellen, nämlich die wirtschaftlichen wie mentalen Folgen des Krieges, die Auswirkungen von Inflation und Aufwertung und besonders, das nach Innen und Außen hochkomplexe Problem der Reparationen, werden durch unverbindliche Formulierungen umschifft. Eine Außenpolitik hat es in der Weimarer Republik anscheinend überhaupt nicht gegeben.

 

Den Nationalsozialismus versteht Herbert nicht als „Abkehr von der ‚Moderne‘“, sondern als die „radikal andere Moderne“. Denn die grundlegenden „Trends der industriellen Moderne“ hätten sich fortgesetzt. Die Mehrheitsgesellschaft habe zumindest die ersten Jahre nach den extremen Erfahrungen in der Endphase der Weimarer Republik als ersehnte ‚Normalität‘ empfunden. Daraus sei ein beträchtlicher Teil der Zustimmung zum Regime entsprungen. Dafür seien auch noch die wirtschaftlichen Erfolge, die zu einseitig nur als Auswirkungen des Rüstungsbooms interpretiert werden, wie die sozialen Wohltaten verantwortlich gewesen. Ganz oben habe dabei die Beseitigung der Arbeitslosigkeit rangiert. Eigentlich wieder bezeichnend, dass die außenpolitischen Erfolge für die Akzeptanz des Regimes übersehen werden. Sie aber hatten ein besonderes Gewicht, da sie für die Annäherung gerade der Schichten, die dem Nationalsozialismus skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, einen besonderen Stellenwert hatten.

 

Schon allein durch den Umfang wird sichtbar, dass sich für Herbert der Nationalsozialismus am deutlichsten in der Zeit des Krieges erschließt, er folglich vor allem als eine Epoche der Gewalt, der Verfolgung und Vernichtung verstanden wird. Alles Felder der Forschung, zu denen er bereits gewichtige Studien vorgelegt hat. Die Wechselwirkung von Krieg und der Dynamik des Tötens wird deutlich. Überzeugend auch, dass herausgestrichen wird, dass der Politik der Vernichtung der Juden im deutschen Herrschaftsgebiet kein „fertiger Masterplan“ zugrunde gelegen habe, sondern dass sie das Ergebnis „mehrerer Phasen und Einzelschritte, in eskalierenden Aktionen und partiellen Rücknahmen“ gewesen sei. Viel zu selten geschieht, was in diesem Buch vermieden wird, nämlich auszubreiten, wie Verfolgung und Deportation, soweit sie bekannt wurden, durch die Lancierung vermeintlicher Sachargumente den Genossen der Volksgemeinschaft akzeptabel gemacht wurden. Geschickt vor allem im Blick auf die Leserschaft ist, dass durch die Schilderung eines Einzelschicksals beklemmend offenbar wird, was Deportation, Verfolgung und Ermordung für die Opfer und deren Angehörige bedeutete. So erscheint das Leid fassbar auf, das in den abstrakten Ausführungen wissenschaftlicher Abhandlungen oft kaum noch sichtbar wird.

 

Obwohl Herbert in der Einleitung das Jahr 1942 (Eskalation der Judenvernichtung) zum Scheidejahr der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert proklamiert, ist es in seiner Darstellung doch das Jahr 1945. Die ihn in der unmittelbaren Nachkriegszeit bewegende Frage ist, wie sich die Deutschen nach der Katastrophe des Nationalsozialismus so rasch zu soliden Demokraten wandeln konnten. Unter Verkennung des Gesinnungswandels und der Tatsache, dass nun die Politiker, die in der Weimarer Republik geprägt worden waren, wieder Verantwortung übernahmen, rechnet er dieses Verdienst vor allem den Westalliierten zu.

 

Nicht überraschend, zählt Herbert die Westintegration, das Wirtschaftswunder und die Sozialpolitik zu den drei Säulen der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte. Diese kondensiert sich für ihn in der schon zeitgenössisch so genannten „sozialen Marktwirtschaft“, die optimal die Entfaltung der Kräfte des Kapitalismus mit der Verteilung von dessen Früchten und dem Schutz der Schwachen verbunden habe. Der tiefe Umbruch in der Mitte der sechziger Jahre wird ambivalent beurteilt. Einerseits habe er Demokratisierung, Liberalisierung wie Individualisierung befördert, andererseits aber auch Gewaltanwendung und antidemokratische Ideologien hoffähig gemacht. Kritisch sieht der Verfasser auch die Reformpolitik der Großen Koalition wie der sozial-liberalen Koalitionen. Denn sie hätten die sozialen Wohltaten in kurzer Zeit im Wettbewerb der Parteien so ausgeweitet, dass sie sich zu einer bleibenden Hypothek verdichtet hätten.

 

Die wirklich große Krise der Bundesrepublik sei aber auf zusätzliche Faktoren zurückzuführen: auf das Energieproblem, den Zusammenbruch der internationalen Währungsordnung, das abflachende Wirtschaftswachstum und die dadurch ausgelöste schnell wachsende Arbeitslosigkeit zusammen mit der zunehmenden Staatsverschuldung. Innerhalb dieses Prozesses sei die klassische Industriegesellschaft von der Dienstleistungsgesellschaft mit ihren geringer werdenden nationalen Steuerungsmöglichkeiten abgelöst worden.

 

In positivem Licht wird das Agieren von Kanzler Kohl im weltpolitischen Umbruch der Jahre 1989/1990 gezeichnet. Die folgende Politik der Integration der Deutschen Demokratischen Republik bleibt aber hinsichtlich der erbrachten außerordentlichen Leistungen wie in manchen problematischen Aspekten unterbeleuchtet. Dafür wird ausführlich auf die wenig überzeugenden Konzepte dieser wie der folgenden Regierungen eingegangen, die angesichts der weltpolitischen Herausforderungen im Gefolge des Umbruchs verfolgt wurden. In Herberts Augen sind die Umweltprobleme und die Auswirkungen der neuen Rolle der Frau keinesfalls von geringerer Bedeutung als diese in ihrer Ereignishaftigkeit stärker auffallenden weltpolitischen Tendenzen.

 

Die Darstellung der deutschen Geschichte nach 1945 ist durchgehend wohlwollend-affirmativ; in ihr werden die CDU Kanzler Adenauer und Kohl in einem in der Forschung seltenen Umfang mit Lob bedacht.

 

Die DDR gehört immer noch zu den vernachlässigten Gegenständen der Zeitgeschichtsforschung. Das merkt man zwar auch Herberts Ausführungen über den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden an, doch ist es allein schon ein Verdienst, sich auf das Thema eingelassen zu haben und es in einer soliden und geschlossenen Darstellung abzuhandeln. Zumal sich mit Nachdruck die Frage stellt, wie die DDR in die Gesamtanlage des Buches überhaupt eingeordnet werden kann (Spannungsverhältnis der beiden Hälften des Jahrhunderts zueinander; Verwandlung einer nationalsozialistischen Gesellschaft in eine „westlich-liberale“). Noch mehr als sonst dominiert hier die politische Geschichte, die entlang der üblichen Stationen und historischen Daten erzählt wird. Auch die Begründungen für die einzelnen Entwicklungen, Wendungen und Krisen bieten kaum Neues. Zeitgenossen in Ost und West, welche die Politik der DDR aufmerksam verfolgt haben, müssen ihre Sicht nicht revidieren. Wie auch in den anderen Teilen wird die Bedeutung der Kirchen, hier besonders der evangelischen, nicht erkannt und die Deutschlandpolitik beider deutschen Staaten wie die Außenpolitik der DDR so wenig vertieft, dass es zu Fehlurteilen kommt wie dem, dass die DDR von 1949 bis 1972 außenpolitisch erfolgreich gewesen sei. Für die also nicht immer befriedigende Darstellung der DDR-Geschichte entschädigt etwas der gelungene Vergleich „Deutschland um 1965“ zu Gesellschaft und Kultur in beiden Staaten. Letztlich bleibt die Frage offen, wo die DDR in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verorten ist.

 

Man muss dem Freiburger Historiker Ulrich Herbert Respekt zollen, für den Mut, die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts zu schreiben und für die Art, wie ihm dies gelungen ist. Das Buch ist klar strukturiert und durchgehend gut lesbar. Es enthält treffende Formulierungen und intelligente Einsichten. Doch sind auch die Defizite nicht zu übersehen. Die eingangs formulierten Leitfragen und Begriffe formen es zu wenig. So wird es über weite Strecken zu einer konventionellen Politikgeschichte, die mit Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur unterfüttert wird.

 

Der Autor bevorzugt den essayistischen Zugriff, vermeidet gerne harte Daten und Fakten wie die Erklärung von komplizierten Zusammenhängen. Immer mal wieder wünscht man sich, dass er sich und seinen Lesern etwas mehr zugemutet hätte. Felder, die zum tieferen Verständnis der deutschen „Industriemoderne“ unverzichtbar sind wie Bildung, Recht, Verfassung und Finanzen bleiben unterbelichtet. Wenn man auch immer darüber streiten kann, was zu behandeln ist, so ergibt sich doch ein krasses Missverhältnis, wenn der Verfasser über alle Epochen hinweg, sich eingehend mit Sexualverhalten und Genderfragen beschäftigt, Kirchen und Religion hingegen nur gelegentlich einen Halbsatz widmet. Es geht nicht darum, dass diese Gegenstände auch noch hätten berücksichtigt werden müssen, sondern um ein Verkennen vom Einfluss der Kirchen und der Prägekraft der Religion auf Politik, Kultur und Mentalität in Deutschland bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts. Im gleichen Maße werden Interdependenzen und Wirkkräfte verkannt, wenn die Außenpolitik in einem solchen Ausmaß ausgeblendet wird wie hier. Dass selbst die Einbettung in die europäische Entwicklung zu kurz kommt, erstaunt angesichts des selbst gestellten Anspruchs dann doch. So liegen die Stärken des Buchs mehr in der Zusammenschau, weniger in der Vermittlung neuer Erkenntnisse. Das wird für das historisch interessierte Publikum genügen, der Forscher muss es nicht unbedingt heranziehen.

 

Eichstätt-Ingolstadt                                                  Karsten Ruppert