Gerwarth, Robert, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, aus dem Englischen von Weber, Alexander. Siedler, München 2017. 479 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Manche Historiker bedienen sich heute des Begriffskonstrukts vom zweiten Dreißigjährigen Krieg in Europa, um den engen Kausalzusammenhang zwischen den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu veranschaulichen. Vertreter der „Brutalisierungsthese“ wie George Kennan, der das allgegenwärtige Diktum von der „Urkatastrophe“ geprägt hat, verweisen auf eine allgemeine Verrohung der Gesellschaft als Folge der Gewalterfahrungen des Ersten Weltkriegs und als Voraussetzung der noch schlimmeren Grenzüberschreitungen des folgenden. Doch was auf den ersten Blick schlüssig erscheint, entpuppe sich nach Robert Gerwarth bei näherem Hinsehen als korrekturbedürftig. Denn das allen Kombattantenstaaten gemeinsame Kriegserlebnis zeitigte mitnichten überall die gleichen Folgen; das in den „Verliererstaaten“ nachweisbare Ansteigen innerer politischer Gewalt fehlt bei den „Siegermächten“ weitestgehend, und auch unter den Verlierern zog die Masse der Veteranen ein ziviles Leben weiteren Kampfhandlungen vor. Damit stelle sich erneut die Frage, wo die tieferen Ursachen für jene Verwerfungen liegen, die den Kontinent nahezu ein halbes Jahrhundert nicht zur Ruhe kommen ließen. Von einem „blutige(n) Erbe“ ist im deutschen Untertitel des vorliegenden Buches die Rede – so schauerlich wie wenig aussagekräftig. Präziser ist hier wie so oft der englische Originaltitel „The Vanquished. Why the First World War Failed to End, 1917-1923“ (2016), weil er zum Ausdruck bringt, worum es dem Verfasser primär geht, nämlich zu erklären, weshalb der Erste Weltkrieg zwischen 1917 und 1923 de facto kein Ende fand und finden konnte. Seine Kernthese lautet: „Der Schlüssel zum Verständnis des weiteren gewaltsamen Verlaufs der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert […] ist […] nicht zwingend in den Kriegserfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 zu finden, sondern in der Art und Weise, wie dieser Krieg für die europäischen Verliererstaaten zu Ende ging: mit Niederlagen, dem Zusammenbruch ihrer Großreiche und Revolutionswirren“ (S. 27).

 

Einer „Die Illusion vom Frieden“ überschriebenen Einleitung folgen drei größere inhaltliche Abschnitte und zuletzt ein zusammenfassender „Ausblick“. Teil I („Niederlage“) setzt ein mit dem berühmten Transfer Lenins aus der Schweiz über Deutschland nach Russland und dessen Agieren im Rahmen der bolschewistischen Machtübernahme, die, „(v)erglichen mit den Gewaltexzessen des Bürgerkriegs, der noch folgen sollte, […] eine beinahe friedliche Revolution“ (S. 51) gewesen sei. Der Pragmatiker Lenin akzeptierte die drakonischen Bedingungen des Abkommens von Brest-Litowsk im Dezember 1917, um den Krieg zu beenden und in dieser Weise die bolschewistische Herrschaft zu konsolidieren. Die dadurch bei den Mittelmächten erneut aufflammende Siegeszuversicht sollte sich bald als trügerische Hoffnung erweisen; der Verfasser berichtet nicht nur über die gut bekannten Entwicklungen an der deutschen Westfront und der österreichischen Italienfront, sondern ausführlich auch über die sonst weniger im Fokus stehenden Vorgänge in Bulgarien und im Osmanischen Reich bis zum militärischen Zusammenbruch der Mittelmächte. Doch mit dem Ende der offiziellen Kriegshandlungen sei, wie Teil II („Revolution und Konterrevolution“) darlegt, kein Ende der Gewalt eingetreten, diese sei im Gegenteil vielerorts eskaliert: im Baltikum bei den Kämpfen deutscher Freikorps gegen die Bolschewiki; in den blutigen Auseinandersetzungen zwischen „Roten“ und „Weißen“ im Rahmen der russischen Bürgerkriege und vergleichbarer Vorkommisse in Finnland, die im Westen die Angst vor einer Ausbreitung des Bolschewismus ähnlich „einer ansteckenden Krankheit, die es dringend einzudämmen gelte“, verstärkt schürten (S. 133); beim Berliner „Spartakusaufstand“ und bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik, beim Sturz des ungarischen Revolutionsregimes Béla Kuns oder im Zuge der inneren Wirren in Bulgarien. In Italien „profitierte (Mussolini) von der weit verbreiteten Bolschewismusfurcht letztlich ebenso wie von der Schwäche der italienischen Zentralregierung“ (S. 210), dessen „Marsch auf Rom“ Hitler 1923 in München, wo sich „die Angst vor einem neuerlichen linken Umsturz wie dem von 1919 besonders hartnäckig (hielt), weshalb die Stadt zu einem Magneten für Nationalisten aus ganz Deutschland und zu einer Brutstätte rechtsgerichteter Radikaler wurde“ (S. 217), zunächst erfolglos zu kopieren trachtete.

 

Teil III der Studie („Imperialer Zerfall“) fügt mit dem Auseinanderbrechen der Großreiche und den ungenügenden Antworten, welche die Pariser Friedenskonferenz darauf fand, ein weiteres die Instabilität und damit auch die Gewalt förderndes Element ein. Der Verfasser spricht von einem „Konstruktionsfehler der Friedenskonferenz […] darin, dass sie den selbstbestimmten postimperialen Nationalstaat zur einzig legitimen Staatsform erhob, was alle zu respektieren hatten – mit Ausnahme der Sieger, deren imperialer Machteinfluss sogar noch ausgeweitet wurde“ (S. 227). Was die etwa 25 bis 30 Millionen Menschen umfassenden ethnischen Minderheiten in den neu entstandenen Nationalstaaten anging, „existierte keinerlei Rechtsrahmen, um deren Rechte zu schützen. Die Lösung waren sogenannte Minderheitenverträge – eine Reihe bilateraler Abkommen, die jeder der neuen Staaten als Voraussetzung für seine internationale Anerkennung als eigenständiges Mitglied des Völkerbunds unterzeichnen musste. […] Verstöße […] konnten vor den Völkerbundrat und den Internationalen Gerichtshof gebracht werden. […] (A)uch außerhalb der Landesgrenzen ansässige Parteien (hatten) das Recht, im Namen unterdrückter Minoritäten Einspruch zu erheben. […] Diese Verträge stellten eine der größten Errungenschaften der Friedensverträge dar, da sie einen Rechtsrahmen schufen, der es diskriminierten Minderheiten tatsächlich erlaubte, auf Schadenersatz zu klagen (was diese dann auch taten)“. Nichtsdestotrotz hätten sich diese Verträge zur Wahrung der Minderheitenrechte in der Praxis „(i)m Großen und Ganzen […] als wirkungslos“ erwiesen (S. 279f.). Über die Lage in Südosteuropa und Osteuropa und die Großmachtbestrebungen Italiens wandert der Blick abschließend zum griechisch-türkischen Krieg und den mit ihm verbundenen Gräueltaten. Hitler habe die Entwicklungen in Anatolien zwischen 1918 und 1923 aufmerksam verfolgt und an Kemal bewundert, wie dieser „gegen den Druck der Alliierten […] aus den Trümmern der Niederlage einen radikal säkularen, nationalistischen und ethnisch homogenen Nationalstaat schuf. […] Die ethnischen Säuberungen aus der Gründungszeit der kemalistischen Türkei wurden zur Inspirationsquelle für Hitlers Ambitionen auf ein wiedererstarktes, ethnisch bereinigtes Deutsches Reich in den Jahren bis zum deutschen Angriff auf Polen im September 1939“ (S. 315). Vom Lausanner Abkommen 1923, das die massiven beiderseitigen Vertreibungsaktionen des griechisch-türkischen Krieges „im Nachhinein legitimiert(e)“, indem es als „international sanktioniertes Abkommen […] zwei Staatsregierungen das Recht zugebilligt hatte, große Teile seiner Bewohner allein aufgrund ihrer ‚Andersartigkeit‘ auszuweisen“, ging „das verheerende Signal aus, dass die vom Westen bekundeten und in den Minderheitenverträgen festgeschriebenen Erklärungen zum Schutz bedrohter ethnischer Minoritäten im Prinzip null und nichtig waren“ (S. 313f.). Errichtet mit dem ursprünglichen Ziel, Gewalt zwischen unterschiedlichen religiösen Gruppen zu verhindern, erwies sich das Lausanner Vertragswerk „in der Anwendung auf Osteuropa als desaströs, denn in den multi-ethnischen Gebieten der besiegten mitteleuropäischen Großreiche ließ sich die Utopie einer mono-ethnischen oder mono-religiösen Gemeinschaft nur durch massive Gewaltanwendung verwirklichen“ (S. 313f.), wie die folgenden zweieinhalb Jahrzehnte dann auch vor Augen geführt haben.

 

In seinem finalen „Ausblick“ streicht der Verfasser noch einmal die Bedeutung der Jahre 1917 bis 1923 für die weitere Entwicklung des Gewaltgeschehens in Europa und der Welt hervor, indem er strukturelle und personelle Kontinuitäten zu identifizieren sucht. Er konstatiert im Ergebnis das bemerkenswerte Faktum, „dass es am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in Europa noch weniger Demokratien gab als vor Ausbruch des Ersten“. Während des Ersten Weltkriegs sei das staatliche Gewaltmonopol überall weitgehend erhalten geblieben, doch die Revolutionen in Russland 1917, die Niederlage und der Zerfall der Vorkriegsordnung hätten mit neuen Akteuren auch eine rücksichtslose „neue Gewaltlogik“ hervorgebracht, „die in innen- und außenpolitischen Konflikten üblich wurde und im deutschen Vorgehen an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreichte“ (S. 324f.). Das sei eben „auch deshalb wenig überraschend, weil es sich bei den Akteuren der späten 1930er und frühen 1940er Jahre oft um dieselben handelte, die schon für die entfesselte Gewalt zwischen 1917 und 1923 maßgeblich verantwortlich gewesen waren“ (S. 329), so etwa die aus Österreich stammenden, späteren hochrangigen SS-Funktionäre Hanns Albin Rauter und Ernst Kaltenbrunner. Ein weiteres verhängnisvolles Vermächtnis der Nachkriegszeit sei der hinlänglich bekannte, maßgeblich von Deutschland, Italien und Japan vorangetriebene Vertragsrevisionismus gewesen. Und selbst nach 1945 wirkte und wirke weiterhin gewaltträchtig, was der Erste Weltkrieg und seine Nachwehen initiiert hatten: in der Dekolonisierung der maritimen Imperien, den Kriegen des zerfallenden Jugoslawien bis hin zur „Kernforderung des ‚Islamischen Staates‘, das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 zu revidieren“, das seinerzeit die britischen und französischen Interessenssphären im Nahen Osten absteckte.

 

Die Thesen Robert Gerwarths sind nicht neu und fügen sich durchaus in das Bild, das die Forschung bislang von der Genese der Gewalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewinnen konnte; schon 1987 betonte Ernst Nolte in seiner Schrift „Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus“ die maßgebliche Bedeutung der Ereignisse im revolutionären Russland für die Ausprägung faschistischer Bewegungen. Wenn der als Professor für Moderne Geschichte am University College im irischen Dublin lehrende Verfasser sein besonderes Augenmerk auf die revolutionären Umbrüche und konterrevolutionären Aktivitäten in der Endphase und in den Folgejahren des Ersten Weltkriegs legt, ist er auch im Einklang mit den Forschungsergebnissen zur Biographie Adolf Hitlers, dessen Radikalisierung genau in diese Jahre fällt, und zum Aufstieg des Nationalsozialismus, dem es gelungen ist, sich als attraktive Alternative zur drohenden Bolschewisierung zu positionieren und nach und nach die alten Eliten an sich zu ziehen. Diese Erkenntnisse stehen aber nicht zwingend in einem logischen Widerspruch zur prägenden Qualität der Gewalterfahrungen des Ersten Weltkriegs, die viele Veteranen in die Freikorps einbrachten und im Zuge der Kampfhandlungen wohl an ihre jüngeren, mangelnde Kriegserfahrung durch besondere Radikalität kompensierenden Kameraden weitervermittelten. Ian Kershaw („Höllensturz. Europa 1914-1949“, 2016, S. 154) spricht durchaus überzeugend von Männern, denen hinsichtlich ihrer oft im Osten erlebten Gemetzel das, „(w)as die meisten Europäer entsetzt hatte, […] eine berauschende Erfahrung gewesen“ sei und die „das Kämpfen (heroisierten) und das Morden (rühmten)“. Gerade dieses jüngste Werk Kershaws – vor allem dessen drittes Kapitel „Turbulenter Friede“, das den hier betrachteten Zeitraum behandelt – scheint den Verfasser ansonsten durchaus inspiriert zu haben, denn nicht wenige seiner Darlegungen finden sich bereits dort in vergleichbarer Diktion angedacht. Der Gewinn der vorliegenden Studie ist somit vor allem darin zu sehen, dass sie ihren Blick nicht isoliert auf das revolutionäre Geschehen in Russland und Deutschland konzentriert, sondern auch die Entwicklungen in den gerne vernachlässigten europäischen Räumen an der Peripherie in den Fokus rückt, von denen bisweilen folgenschwere Impulse ausgegangen sind. Es bleibt abzuwarten, ob das aktuelle Buch an den großen Erfolg von Gerwarths „Bismarck-Mythos“ (2007) oder seiner Heydrich-Biographie (2011) anschließen wird können.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic