Wachsmann, Nikolaus, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Siedler, München 2016. 984 S., Abb., Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Nationalsozialismus und Konzentrationslager bilden häufig eine assoziative Einheit. Wohl in keinem anderen Begriff ist die Vorstellung des der ordentlichen Rechtssphäre entrückten Terrors im nationalsozialistischen Staat so gegenwärtig wie in dem des heute meist als KZ, seinerzeit jedoch als KL abgekürzten Lagersystems. Für viele steht dann der Name von Auschwitz wiederum stellvertretend für die Konzentrationslager in ihrer Gesamtheit und darüber hinaus auch für das Phänomen des Holocaust schlechthin. Dies ist in Anbetracht der Größe des Lagers und der Publizität, die die dort vor allem an als Juden definierten Menschen begangenen Verbrechen nicht zuletzt auch aufgrund von großen Strafprozessen erlangten, sehr gut nachvollziehbar und verkürzt doch zugleich unzulässig den Blick auf die faktische Komplexität des historischen Geschehens. Denn selbstverständlich war Auschwitz ein Konzentrationslager eigener Prägung und entwickelte sich in dieser Eigenschaft zur zentralen Anlaufstelle der Judenvernichtung; aber als Lager stand es bereits in einer langen, mit dem Einsetzen der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 etablierten und einem dynamischen Wandel unterworfenen Tradition, so wie auch der Vollzug des Holocaust sich nicht auf diesen Ort beschränkt hat, sondern sich ebenso in den Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen und vor allem in Odilo Globocniks Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard(t)“ realisierte.

 

Es mag sich aus solcher ungenauen Wahrnehmung ergeben haben, dass trotz einer enormen Fülle an Literatur über einzelne Lager „mehr als 80 Jahre nach der Gründung Dachaus […] keine umfassende Geschichte, die die Entwicklung der Konzentrationslager und die sich verändernden Erfahrungen der Menschen in den Lagern nachzeichnet, (existiert)“; es fehle „eine Untersuchung, die die Komplexität der Lager berücksichtigt, ohne zu zerfasern, und sie in ihren breiteren politischen und kulturellen Kontext einfügt, ohne zu vereinfachen“. Um derlei zu bewältigen, nimmt Nikolaus Wachsmann Anleihen bei Saul Friedländers Konzept der „integrierten Geschichte“ mit einer anspruchsvollen Zielsetzung: „Im Fall der SS-Lager bedeutet das eine Geschichte, die die Internierten drinnen und die breitere Bevölkerung draußen untersucht; eine Geschichte, die eine Makroanalyse des NS-Terrors mit einer Mikrostudie individueller Aktionen und Reaktionen verknüpft; eine Geschichte, die die Synchronizität der Ereignisse und die Komplexität des SS-Systems zeigt, indem sie quer durch das NS-kontrollierte Europa einzelne Lager in ihrer inneren Entwicklung wie auch im Vergleich gegeneinander stellt“. Zu diesem Zweck müsse auch der Zugriff auf die Quellen möglichst breit ansetzen; er habe von der umfangreichen Forschungsliteratur auszugehen, zeitgenössische Zeugnisse und spätere Erinnerungen Gefangener zu berücksichtigen sowie die für die Täteranalyse unerlässlichen Prozessakten aus Nachkriegsverfahren auszuwerten. Das in der Verknüpfung dieser Stränge gewonnene Ergebnis, wie breit gefächert es auch sein möge, könne, dessen ist sich der Verfasser bewusst, bestenfalls „eine, nicht die Geschichte der KL“ sein (S. 24ff.).

 

Der 1971 in München geborene Nikolaus Wachsmann hat bereits mehrere Auszeichnungen erhalten und lehrt seit 2005 Neuere europäische Geschichte am Birkbeck College der University of London; auch das vorliegende Werk ist 2015 zunächst in London und in englischer Sprache unter dem Originaltitel „KL. A History of the Nazi Concentration Camps“ erschienen. Die sprachliche Gewandtheit lässt erkennen, dass der Autor die deutsche Fassung offensichtlich selbst besorgt und seine Arbeit keinem Übersetzer anvertraut haben dürfte. Seine Studie folgt einem chronologischen Gerüst und setzt mit den sogenannten frühen Konzentrationslagern ein, unter denen das bayrische Dachau, sich gegen die konkurrierenden preußischen Emslandlager durchsetzend, unter der Führung Theodor Eickes bald zum wegweisenden Musterlager für das sich entwickelnde SS-Lagersystem wurde. Der Hauptzweck der frühen Lager, in denen Juden noch eine Minderheit gewesen seien, habe im Brechen der politischen Opposition und im Begleichen persönlicher Rechnungen bestanden. Das dafür angewandte Rechtsinstitut der Schutzhaft sei als „Kidnapping mit bürokratischem Anstrich“ (S. 44) einzuschätzen. Die Verhafteten seien in Ermangelung geeigneter Hafträume an den verschiedensten provisorisch adaptierten Örtlichkeiten unter üblen Bedingungen festgehalten und nicht selten von ihren Bewachern aus den Reihen der SA und der SS gefoltert worden, aber „im Gegensatz zu dem Bild […], wie es noch Hannah Arendt zeichnete, überlebten die allermeisten Inhaftierten“ (S. 54). Der Umstand, dass sich Täter - wie der Fall des Eicke-Vorgängers Wäckerle veranschaulicht - damals noch nicht ganz sicher vor Strafverfolgung fühlen konnten, mag eine Rolle gespielt haben. Die erste offizielle Hinrichtung eines Konzentrationslagerinsassen sei erst am 4. Juni 1938 erfolgt, nachdem ein Häftling bei einem Fluchtversuch einen Wachmann ermordet hatte und dafür in Buchenwald gehängt wurde, ein Vorgang, der den Verfasser „an rituelle deutsche Hinrichtungen der Frühmoderne“ erinnert: „SS-Führer hatten eine Schmach – zwei entflohene Insassen und ein toter Wachmann – dreist in politisches Kapital verwandelt, indem sie sie als Beleg für das Barbarentum der Gefangenen und die fundamentale Bedeutung der Lager präsentierten“ (S. 164). In den späten Dreißigerjahren wurde „der Tod in den KL […] weitaus alltäglicher, und als asozial verhaftete Männer waren die Hauptleidtragenden“ (S. 180).

 

Das Jahr 1938 sei aber auch „ein entscheidendes Jahr für die Entwicklung der SS-Wirtschaft“ gewesen. „Die Arbeit in den Konzentrationslagern sollte zum wichtigsten Kapital der expandierenden SS-Ökonomie werden, und Oswald Pohl zu ihrem obersten Chef“ (S. 193). Zugleich „(eskalierte) der NS-Terror gegen Juden, die KL (begannen) eine wichtigere Rolle bei ihrer Verfolgung zu spielen“ (S. 209). 1939 geriet dann doch noch einmal „der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Lager im Vorfeld des Krieges ins Stocken“; es folgte, „ganz wie beim sowjetischen Gulag, auf Zeiten wachsenden Terrors stärkere Abschwächung“, vermutlich aus „strukturelle(n) Gründe(n) […]: Das Wetter war besser, die Häftlingsquartiere nicht so überfüllt und auch andere Elemente der Infrastruktur verbesserten sich. Außerdem hielt die SS auch mit einigen ihrer brutalsten Gewaltexzesse zurück“ (S. 222). Mit Kriegsbeginn aber sollte sich „die Fähigkeit des Konzentrationslagersystems, Veränderungen aufzunehmen und sich anzupassen, ohne seine Kernaufgabe aus dem Auge zu verlieren, […] als eine seiner erschreckendsten Stärken erweisen“ (S. 228). Für Nikolaus Wachsmann ist die Entwicklung der Lager somit kein von vornherein absehbarer, linear verlaufender Prozess, sondern ein Weg, der auch andere Optionen bereitgehalten hätte und dessen Realisierung von den spezifischen Bedürfnissen der Machthaber abhängig war. „Der allgemeine Ausbruch von NS-Gewalt im Krieg [,] Hitlers Völkermordrhetorik und die brutale Wirklichkeit der deutschen Kriegführung seit Herbst 1939 machten deutlich, dass eine neue Ära begonnen hatte, und die Wachen waren daran zwangsläufig beteiligt“. So „hatten die Mörder das Gefühl, die allgemeinen Wünsche ihrer Vorgesetzten zu erfüllen […]. Das Ergebnis war eine tödliche Dynamik mit Mordbefehlen von oben und örtlichen Aktionen von unten, eine wechselseitige Radikalisierung, die die KL in einen Sog der Vernichtung stürzte“ (S. 264f.).

 

Über die von diesem Sog betroffenen und erfassten Opfergruppen und die Täter wissen wir heute recht gut Bescheid. Zur systematischen Beseitigung geschwächter Lagerinsassen zog Himmler zunächst die Experten der „Euthanasie“-Aktion T4 heran: „Vielleicht sollten seine SS-Leute zunächst von den T4-Fachleuten lernen, ehe sie sich selbst an großangelegte Exekutionen machten. Oder er hatte Sorge, dass innerhalb der Lager selbst durchgeführter Massenmord Gefangenenrevolten auslösen könnte, wohingegen die Tötung Kranker in abgelegenen ‚Euthanasie‘-Zentren die verbliebenen Häftlinge möglicherweise über die mörderische Wende der SS-Politik täuschen werde“. Es sei das Jahr 1941 gewesen, „da die KL vom Massentod zur Massenvernichtung übergingen. Ab dem Frühherbst, als die Ermordung geschwächter Gefangener weiter auf Hochtouren lief, startete die Lager-SS ein noch radikaleres Programm: die Ermordung Zehntausender sowjetischer Kriegsgefangener. Die Konzentrationslager verwandelten sich in Schlachthöfe, und Vernichtung wurde für die Täter zu einer Lebensweise“ (S. 285ff.). Da die Getöteten nicht mehr als Arbeitskräfte zur Verfügung standen und mit Nachschub vorerst nicht zu rechnen war, „wurde spontan an der obersten Spitze des NS-Staates (die Entscheidung) getroffen, Juden als Ersatz für sowjetische Kriegsgefangene zu verwenden“; damit wurde 1942 „Auschwitz zum Hauptbestimmungsort für Judendeportationen aus West- und Mitteleuropa: wegen seiner größeren Nähe, besseren Transportanbindung und überlegenen Infrastruktur“ (S. 346f.). Der Verfasser beschreibt „fundamentale Unterschiede […] sowohl strukturell als auch organisatorisch“ zwischen „den Globocnik-Todeslagern (Belzec, Sobibor und Treblinka) und den beiden SS-Konzentrationslagern, die am stärksten am Holocaust beteiligt waren (Auschwitz und Majdanek)“; so waren etwa „Globocniks Todeslager nur für einen einzigen Zweck errichtet: die zügige Massenvernichtung deportierter Juden“, wohingegen etwa die Selektionen in Auschwitz dessen „hybride Natur“ als Reservoir für Sklavenarbeit und Tötungsanstalt offenbarten. Trotz des „genozidale(n) Wettbewerb(s) zwischen Höß und Globocnik“ gab es aber operative Verbindungen, sodass im Gesamten gesehen allen jeweiligen Spezifika zum Trotz „der Holocaust in den verschiedenen nationalsozialistischen Todeslagern Osteuropas ein Gemeinschaftsunternehmen der SS“ gewesen sei (S. 376ff.).

 

Einen grundlegenden Wandel erfuhr das Lagersystem noch einmal 1944, als Insassen massenhaft in die Rüstungswirtschaft gezwungen wurden und Europa von einem nahezu unüberschaubaren Geflecht von über 500 Außenlagern überzogen wurde. Aufgrund des damit verbundenen erhöhten Personalbedarfs für die Bewachung „veränderte sich das Gesicht der Lager-SS fast bis zur Unkenntlichkeit, als Zehntausende neuer Männer und Frauen in den KL-Dienst eintraten“. Dennoch hatte diese personelle Umstrukturierung „überraschend wenig Einfluss auf das Leben der Häftlinge“, es genügte in den Außenlagern „eine kleine Schar von Lager-SS-Veteranen, denen die Gewalt in Fleisch und Blut übergegangen war, um eine viel größere Gruppe von eher gewöhnlichen Männern und Frauen mitzuziehen. […] Der Terror bestand weiter, selbst als die Präsenz der SS abnahm“ (S. 538ff.). Was die berüchtigten Evakuierungsmärsche gegen Kriegsende angeht, kommt der Verfasser zum Schluss, ihr Hauptzweck sei „nicht der Mord an Juden oder anderen Häftlingen“ gewesen: „Obwohl Massentod durch Erschöpfung, Hunger, Krankheit und Gewehrkugeln eine zwangsläufige Folge war, war er nicht selbst das Ziel. Wenn es um Massenvernichtung ging, verfügte die SS noch immer über effektivere Mittel, was sie bei vereinzelten Massakern in letzter Minute mit verheerenden Auswirkungen demonstrierte“ (S. 674). Die Gesamtzahl der von den vorrückenden Alliierten schließlich auf Märschen angetroffenen Lagerhäftlinge „überschritt höchstwahrscheinlich einhunderttausend“, darüber hinaus wurden von ihnen „während der letzten fünf Wochen des Dritten Reiches […] 160000 Häftlinge in Hauptlagern“ und zudem „geschätzt über 90000 Häftlinge in über hundert Außenlagern“ befreit (S. 681).

 

Die strukturelle Bestandsaufnahme der Entwicklung des nationalsozialistischen Konzentrationslagersystems ist der Rahmen, den Nikolaus Wachsmann in Umsetzung seines Konzepts einer „integrierten Geschichte“, keinen relevanten Aspekt außer Acht lassend, laufend mit Informationen zum Lageralltag sowie zur internen und externen Wahrnehmung des Phänomens unterfüttert. Unter anderem werden von ihm die inhumanen Medizinversuche ebenso thematisiert wie Raub und Korruption, die Psychologie der Angehörigen der sogenannten Lager-SS oder der problematische Charakter der erzwungenen Lagergemeinschaft und der aus ihr rekrutierten Funktionsklasse der Kapos. Auch hier sei die Wahrheit komplexer gewesen, als es mancher Mythos nahelege; die oftmals von den politischen Häftlingen („Rote“) gerne pauschal als brutale Gewaltverbrecher denunzierten „Grünen“ waren etwa in der Masse „immer noch Kleinkriminelle, wenn sie überhaupt irgendeine Straftat begangen hatten. […] Der Fokus auf die ‚Grünen‘ hat eher die unbequeme Wahrheit verdeckt, dass Kapos aus allen Milieus mit der SS zusammenwirkten und grausame Ausschreitungen begingen“ (S. 602f.). Und auch dabei sei stets in Rechnung zu stellen, dass „selbst der schlimmste Kapo immer noch ein Gefangener (war), der von einem Tag auf den anderen hoffte, zu überleben“ (S. 598). Es ist diese Wahrnehmung der Nuancen, die die vorliegende integrative Studie wesentlich prägt und im Vergleich mit älteren Darstellungen zu den Konzentrationslagern ein differenzierteres, sachlicheres und damit auch glaubwürdigeres Bild der Lagerwelt anbietet, das dennoch an deren Schrecken niemals Zweifel aufkommen lässt. Die Frage, wie es möglich war, dass im entwickelten Europa ein solches System der Unterdrückung und schließlich der Massenvernichtung aufwachsen konnte, kann ihre vielschichtigen Antworten nur im Weg genauesten Sezierens des historischen Prozesses an sich finden. Wer künftig über die Konzentrationslager arbeitet, wird somit an Nikolaus Wachsmanns solidem, einen neuen Standard setzendem Werk nicht vorbeikommen.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic