Snyder, Timothy, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, aus dem Englischen von Höber, Ulla/Siber, Karl Heinz/Wirthensohn, Andreas. Beck, München 2015. 488 S., 24 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als historisches Phänomen von einzigartiger Dimension beschäftigt der Holocaust bis heute nicht nur die Wissenschaft, die sich immer noch um die genaue Erforschung seiner Genese bemüht, sondern bestimmt auch maßgeblich die internationalen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland, die für die Verfehlungen der Vergangenheit Verantwortung übernommen hat und heute einen Staat repräsentiert, in dem die Achtung der Menschenrechte, garantiert durch das Grundgesetz, höchste Priorität genießt. Was mag es daher bedeuten, wenn ein Autor 2015 die mögliche Wiederholung des einstigen Mordgeschehens in den Raum stellt? Welche zukünftigen Entwicklungen hat er dabei vor Augen und was verbindet diese mit den nun bald ein dreiviertel Jahrhundert zurückliegenden, an den europäischen Juden vollzogenen Massentötungshandlungen der nationalsozialistischen Machthaber?

 

Dazu stellt der an der renommierten Yale University lehrende US-amerikanische Historiker Timothy Snyder folgende Thesen in den Raum: Der Urgrund des historischen Holocaust sei in Hitlers Weltsicht beheimatet gewesen, die anstelle einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Verwerfungen einer ersten Globalisierung ein planetarisches Welterklärungsmodell gesetzt habe, in dessen Rahmen den Juden die Rolle des universalen, Ideen einer schädlichen - weil den Rassenkampf in Frage stellenden - Humanität verkörpernden Störers in einer für vollkommen erachteten, vom ewigen Ringen der Rassen um ihren Erhalt gekennzeichneten Ordnung zugedacht war. Die Ausschaltung dieses Störers sei für Hitler der Ausmerzung eines ökologischen Mangels und der Wiederherstellung des natürlichen Zustandes gleichgekommen. Voraussetzung dafür sei die Zerstörung staatlicher Ordnungen gewesen, denn nur unter diesen Bedingungen sei der Massenmord praktisch durchführbar gewesen. Wer nach Snyder diesen Mechanismus nicht verstehe, verstehe den historischen Holocaust nicht und laufe zudem Gefahr, angesichts der gegenwärtigen, mit der zweiten Globalisierung verbundenen Herausforderungen der Versuchung zu erliegen, Katastrophenszenarien zu verabsolutieren und wiederum bestimmte Menschengruppen als globale Sündenböcke zu identifizieren, anstatt evolutionären wissenschaftlichen Lösungen zu vertrauen. Zum Opfer könnten abermals Juden, aber auch viele andere Ethnien werden, womit der Verfasser unter dem Begriff „Wiederholung des Holocaust“ allgemein drohende Genozide subsumiert, die unter den von ihm beschriebenen Voraussetzungen und Umständen zustande kommen könnten. Die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft charakterisiert er folgendermaßen: „Wir leben immer noch auf demselben Planeten wie Hitler, und wir haben zum Teil dieselben Sorgen; wir haben uns viel weniger verändert, als wir glauben. Wir lieben unseren Lebensraum, wir fantasieren davon, Regierungen zu zerstören, wir lästern über die Wissenschaft, wir träumen von der Katastrophe. Wenn wir glauben, wir seien Opfer irgendeiner globalen Verschwörung, dann kommen wir Hitler ziemlich nahe. Wenn wir glauben, der Holocaust sei die Folge der angeborenen Merkmale von Juden, Deutschen, Polen, Litauern, Ukrainern oder irgendjemandem sonst, dann befinden wir uns inmitten von Hitlers Welt“ (S. 365).

 

Im Hintergrund dieser Thesen stehen allgemein erwiesene individual- und sozialpsychologische Muster; zu ihnen gehören exklusive Prozesse der Gruppenintegration ebenso wie die mit einer gesteigert gefühlten Bedrohung sich verstärkende Neigung, irrationalen Versprechungen Glauben zu schenken, sowie die Erkenntnis, dass die Abwesenheit von Normen und Struktur (also etwa einer verbindlichen und jederzeit durchsetzbaren Rechtsordnung) situative, aber auch systematische Übergriffe begünstigt. Allerdings hat die Zerstörung von Staatlichkeit, wie sie Timothy Snyder ins Zentrum seiner Überlegungen rückt, tatsächlich nicht erst in den vom Deutschen Reich besetzten und verwalteten Gebieten stattgefunden, sondern mit Fokus auf die Eigenschaft der Rechtsstaatlichkeit bereits in diesem selbst: Mit der Dualität von Normen- und Maßnahmenstaat (Ernst Fraenkel) und der damit verbundenen Aushöhlung der Befugnisse rechtsstaatlicher Institutionen hatten die Nationalsozialisten eine Herrschaftsrealität geschaffen, die Maßnahmen jenseits der allgemein geltenden Gesetze erlaubte und bestimmten Räumen einen permanenten Ausnahmezustand zubilligte. Es ist also, einen anderen Verlauf der Ereignisse vorausgesetzt, durchwegs nicht auszuschließen (wenn auch nicht zu beweisen), dass die Nationalsozialisten den Holocaust in irgendeiner Form auch auf deutschem Boden hätten vollziehen können.

 

Getan haben sie dies allerdings unter tatkräftiger Mithilfe einheimischer Kollaborateure im Osten, vornehmlich auf den Böden der fruchtbaren „schwarzen Erde“ (Titel!) der Ukraine, deren Besitz als künftige Ernährungsbasis des deutschen Volkes Hitler so zentral erschien und die durch die Massenerschießungen zu „Bloodlands“ (so die Überschrift des 2011 erschienenen Bestsellers, in dem sich Timothy Snyder mit den tödlichen Folgen nationalsozialistischer und sowjetischer Politik in Osteuropa zwischen 1933 und 1945 beschäftigt) wurden. In Konsequenz seiner These der kollabierenden Staatlichkeit wagt der Verfasser (unter der bemerkenswerten Außerachtlassung des Umstandes, dass an diesem Ort vermutlich absolut eine größere Anzahl jüdischer Menschen der Vernichtung anheimfiel als an jedem einzelnen anderen) auch Kritik am Alleinstellungsmerkmal von Auschwitz als Symbol für den Holocaust: Auschwitz sei „auch deshalb zur geläufigen Kurzformel für den Holocaust geworden, weil der Massenmord an den Juden damit in gewisser Weise mythologisiert und reduziert und so von menschlichen Entscheidungen und Handlungen abgekoppelt wird. […] In der Geschichte des Holocaust war Auschwitz ein Ort, an dem die dritte Methode massenhaften Mordens entwickelt wurde, die dritte in chronologischer Hinsicht und die dritte in ihrer Bedeutung. […] Juden unter deutscher Kontrolle, die nach Auschwitz geschickt werden sollten, überlebten mit größerer Wahrscheinlichkeit als Juden unter deutscher Kontrolle, die nicht nach Auschwitz geschickt werden sollten. Das ist das Paradox von Auschwitz, und es lässt sich nur auflösen, indem man im Einzelnen betrachtet, inwiefern Staaten zerstört oder nicht zerstört wurden“ (S. 228ff.).

 

Beispielhaft wird anschließend Estland (99 % der dortigen Juden wurden getötet) zu Dänemark (99 % der dänischen Juden überlebten) in Bezug gesetzt: Im „aus rein militärischen Gründen besetzten“ Dänemark vollzog sich die deutsche Besatzung „ausdrücklich auf der Basis dänischer Souveränität“ (S. 235), die dänischen Behörden vermochten dänische Juden als Staatsbürger wirksam vor den Begehrlichkeiten der deutschen Judenverfolger zu bewahren. Im Baltikum hingegen hatten zuvor die sowjetische und dann die deutsche Macht eine „staatslose Zone“ geschaffen, „in der sich ein Holocaust vorstellen, beginnen und vollenden ließ“, einen „rechtliche(n) Abgrund, wo alles erlaubt war, wo koloniales Denken ganz natürlich war, weil internationales Recht im traditionellen europäischen Sinne nicht galt“. Für den Verfasser steht fest: „Am einen Extrem, der Staatszerstörung, vollzog sich der Holocaust; am anderen Extrem, der staatlichen Integrität, geschah das nicht. Die Fälle dazwischen, in denen die NS-Führung eine ‚Endlösung‘ versuchte, betreffen die Orte, die zur deutschen Machtsphäre gehörten, wo aber der Staat nicht zerstört wurde“ (S. 238f.). Der Band führt im Weiteren manchen konkreten Fall an, in dem Mitmenschen den schutzlosen Juden in unterschiedlicher Weise und aus ganz unterschiedlichen Motiven beistanden (hierzu wurde umfangreiches Quellenmaterial vor allem aus osteuropäischen Archiven ausgewertet), doch dürfe man sich deshalb keinen Illusionen hingeben, im Gegenteil. Denn: „Wer in den staatslosen Zonen Osteuropas, im besetzten Polen und in der besetzten Sowjetunion, Juden bei sich zuhause versteckte, riskierte das eigene Leben. […] Wenn man einen Juden auslieferte, entging man der Gefahr individueller und kollektiver Bestrafung. […] Man würde gerne glauben, dass Menschen, die dafür sorgten, dass Juden in den sicheren Tod gingen, sich irrational verhielten, aber in Wirklichkeit folgten sie der gängigen ökonomischen Rationalität. Die wenigen Aufrechten hingegen verhielten sich auf eine Weise, die gemäß einer Norm, welche auf ökonomischen Berechnungen des persönlichen Wohlergehens beruht, als irrational gelten würde“ (S. 338f.).

 

Den kühnen Bogen zu Gegenwart und Zukunft spannt Timothy Snyder erst im Abschlusskapitel. Schwindende Ressourcen und der Klimawandel könnten, wie bereits oben erwähnt, dazu führen, dass die eine oder andere Macht wie Hitler wiederum ihr Heil in der Vernichtung eines Widerparts suchen könnte, dem man die Verantwortung für globale Katastrophendrohungen zuschiebt. Deshalb müsse der Staat „die Voraussetzungen dafür schaffen, damit seine Bürger nicht das eigene Überleben als einziges Ziel im Auge haben müssen“, sondern Geschichtsbewusstsein und Zukunftsoptimismus entwickeln könnten, und in die Wissenschaft investieren, „damit in Ruhe über die Zukunft nachgedacht werden kann“ (S. 346f.). Ein Rundumblick auf die Welt offenbare die Notwendigkeit einer solchen Ausrichtung, denn „an Afrika zeigen sich die Gefahren lokaler Mangelsituationen, an China die Probleme einer Weltmacht und nationaler Ängste, und Russland belegt, wie Praktiken aus den 1930er Jahren zu positiven Beispielen mutieren können […,] im Nahen Osten sind die Staaten meist schwach, und der islamische Fundamentalismus hat schon seit langem Amerikaner, Juden und Europäer zu globalen Feinden erklärt“ (S. 355). Der irrige Glauben der Amerikaner, aus der Zerstörung staatlicher Autorität erwachse Freiheit, habe bereits im Irak zur „illegalen Invasion eines souveränen Staates“ (S. 359) mit all ihren katastrophalen Folgewirkungen geführt. Und in der Politik von Putins Russland, das – hier schließt sich der Kreis – im Ukrainekonflikt wieder nach der fruchtbaren schwarzen Erde des propagandistisch demontierten Nachbarlandes greife, zeigten sich Parallelen zu Stalins Kalkül, der einst sein Bündnis mit Hitler schloss, um „die radikalen Kräfte in Europa gegen Europa selbst zu wenden“, wie nun „die russische Unterstützung der radikalen Rechten in Europa die friedlichste und prosperierendste Staatenordnung des frühen 21. Jahrhunderts zerrütten und auflösen (soll) – die Europäische Union“ (S. 355).

 

Tatsächlich ist der Staat auch heute noch weltweit der primäre Rechts- und Ordnungsrahmen, und daran ändert auch nichts die Existenz der zahlreichen supranationalen Organisationen, die sich mittlerweile um die Lösung internationaler Probleme bemühen und doch letztendlich vom Wohlwollen staatlicher Einheiten abhängen. Und tatsächlich gehen die größten Gefahren für den Weltfrieden von jenen failed states aus, in denen Anarchie und Despotie an die Stelle von Rechtsstaatlichkeit getreten sind. Insofern sind Timothy Snyders Überlegungen zwar zutreffend, aber auch nicht außergewöhnlich innovativ. Mitten in Europa hat zuletzt in den 1990er-Jahren der Zerfall Jugoslawiens allen vor Augen geführt, welche fatalen destruktiven Kräfte durch das Auseinanderbrechen eines multiethnischen Staatswesens freigesetzt werden können und welche Zivilisationsbrüche in diesem Kontext möglich werden. Auf der anderen Seite muss auch ein starker Staat unbedingt den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit genügen, um nicht zur Gefahr für seine eigenen Staatsbürger und seine Nachbarn zu werden. Die Tatsache, dass der NS-Staat seine Verbrechen leichter in Regionen einer schwachen Staatlichkeit begehen konnte, ist nur logisch und sagt nichts über seine eigene Qualität als Staat aus. Das nationalsozialistische Deutschland als „allmächtige(r) Staat, der eine ganze Gruppe seiner Staatsbürger katalogisierte, unterdrückte und dann auslöschte“, existiert für den Verfasser nur als „weitverbreitete(s) Klischee“ (S. 360). In zahlreichen Studien konnte aber dessen faktische Macht empirisch belegt und gezeigt werden, wie die Bürokratien des NS-Staates beim Vollzug des Holocaust ineinandergriffen und Synergien nutzten. Dass die Morde im Osten vonstattengingen, erklärt sich nicht allein aus dessen schwachen staatlichen Strukturen, sondern auch aus der günstigen Gelegenheit für eine umfassende und unauffällige Vernichtung, welche die rasche Eroberung riesiger Räume durch die deutsche Wehrmacht schuf, sowie aus der zivilisatorischen (und rassischen) Minderwertigkeit, die man der dort ansässigen Bevölkerung bereits im Ersten Weltkrieg unterstellte. Dass die eingehend geschilderten, mit dem Anschluss Österreichs 1938 verbundenen, gravierenden Übergriffe auf die dortige jüdische Bevölkerung einem faktischen Zusammenbruch staatlicher Institutionen zuzuschreiben waren, ist ebenso nicht zu erkennen. Bestenfalls wurde hier von den lokalen Nationalsozialisten und ihren Sympathisanten wiederum eine kurzfristig bestehende Gelegenheit im Rahmen eines institutionellen und rechtlichen Transformationsprozesses weidlich ausgenützt, sodass die Feststellung, „diese erste Nacht der Gesetzlosigkeit in Österreich war für Juden weitaus gefährlicher als die vorangegangenen zwei Jahrzehnte österreichischer Staatlichkeit“ (S. 100), durchaus auch mit dieser Einschränkung volle Gültigkeit beanspruchen kann. Diese Einwände besagen selbstverständlich nicht, dass die Kernargumente des Verfassers unzutreffend wären, aber den Holocaust allein an schwachen Staaten festzumachen, griffe bei aller Plausibilität dieses Aspektes zu kurz. So verbleibt neben dem Wunsch nach einer exakteren Definition schwacher Staatlichkeit im gegebenen Kontext noch die Frage, ob man den Begriff des Holocaust für mögliche zukünftige Genozide bemühen sollte. Im Interesse terminologischer Eindeutigkeit sähe der Rezensent diese Bezeichnung lieber dem klar umrissenen historischen Phänomen der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ vorbehalten. Insgesamt hat der Verfasser aber ein inspirierendes Werk vorgelegt, das nicht nur die in Anbetracht der globalen Herausforderungen der Gegenwart ungebrochene Bedeutung staatlicher Autorität und Souveränität stärker ins Bewusstsein rückt, sondern auch mit illusionslosem Realismus psychologische Konstanten menschlichen Verhaltens benennt, die - wie in der Vergangenheit - im Umgang mit gegenwärtigen und zukünftigen Krisen zu fatalen Schlussfolgerungen verleiten könnten.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic