Seliger, Hubert, Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse. Nomos, Baden-Baden 2016. 621 S. Zugleich Diss. phil. Univ. Augsburg 2014. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.

 

Einem bislang weitgehend übersehenen Aspekt der Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen widmet sich die Arbeit, die 2014 als geschichtswissenschaftliche Dissertation angenommen worden ist. Die Arbeit untersucht den persönlichen Hintergrund zahlreicher Rechtsanwälte, die im Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher und bei einzelnen der Nachfolgeverfahren als Verteidiger tätig waren. Daneben werden Rechtsanwälte behandelt, die später in nationalsozialistischen Gerichtserfahren verteidigt haben. Für die unter alliiertem Vorsitz geführten Verfahren ist es beachtenswert, welche Freiheiten die Gerichte und die Anklagevertreter den Angeklagten bei der Wahl ihrer Verteidiger einräumten. Bezeichnend ist hierfür, dass der Rechtsanwalt Otto Kranzbühler in einer geringfügig veränderten Marineuniform vor Gericht auftreten konnte. Wenn das internationale Militärtribunal sich zwar eine Bestätigung der Verteidiger vorbehielt, ermöglichte es dennoch, dass im Hintergrund zahlreiche Juristen, die früher in Ministerien oder Parteiorganisationen der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei leitend tätig waren, die Verteidigung unterstützen konnten. Es ist hierbei erstaunlich, in welchem Maße die so Tätigen die Nürnberger Verfahren damals und später als „Siegerjustiz“ schmähen konnten. Der Verfasser konnte sich bei seiner Arbeit auf eine Vielzahl von Akten stützen, die in zahlreichen Archiven verwahrt werden. Diese Archivalien sind jedoch meist erst verfügbar, wenn die Betroffenen verstorben sind. Hinweise zur NSDAP oder SS-Tätigkeit sind erst seit den frühen 1990er Jahren in dem vom Verfasser genutzten Umfang frei verfügbar. Gleiches gilt für Personalakten von Rechtsanwaltskammern u. ä. Damit war es dem Verfasser möglich, viele Einzelheiten zu den Handelnden und zu ihren Beweggründen herauszufinden. Das Bild, das er auf diesem Wege gewinnen konnte, ist überzeugend dargelegt und in erfreulich emotionsfreier Diktion beschrieben.

 

Das gute Recht jedes Autors ist es, die Versäumnisse früherer Jahre darzustellen, um die Bedeutung der eigenen Arbeit betonen zu können. Leider liefert der Verfasser hierfür Beispiele bei der Nennung der von ihm benutzten Literatur. Herbert Jägers maßgebliche Habilitationsschrift zu den NSG-Verfahren aus dem Jahre 1966 benutzt er in einer späteren Auflage (1982). Wolfgang Schefflers maßgebliche Arbeiten zur Judenverfolgung (ab 1961) zieht er nicht heran, sondern erwähnt lediglich Anmerkungen zu einem Leserbrief (1982). Gerade diese beiden Wissenschaftler haben sich lange vor Ernst Klee mit den Problemen befasst, jedoch waren sie mit einigen wenigen anderen einsame Rufer in der Wüste, deren Stimmen die maßgeblichen Wortführer in der Geschichte und der Rechtswissenschaft ungern zur Kenntnis nahmen. Die beeindruckende Phalanx der Verteidiger mit guten Verbindungen in Parlamente, Gerichte und Öffentlichkeit beschreibt der Verfasser, so dass man sich nur wundern muß, dass es dank der Ludwigsburger Arbeit zwischen 1959 und 1975 überhaupt zu einer nennenswerten Zahl von Verfahren kam. Die derzeit noch gelegentlich betriebenen Verfahren und die jüngst ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Falle Göhring zeigen nur, welche Anzahl an Verfahren hätten geführt werden müssen und können, wenn ein Verfolgungswille in dem Umfange vorhanden gewesen wäre, wie es der Verteidigungsumfang belegt hat.

 

Die Arbeit sucht in Kapitel 1 die Biographien nach den Einflüssen zu gliedern, denen die Rechtsanwälte unterlagen. Gekünstelt wirkt der Ansatz, eine Mitgliedschaft bei der NSDAP und das Wissen um Verbrechen feststellen zu können. Unterschätzt wird bei derartigen Vermutungen immer der Grad und der Umfang um die Kenntnis der Verbrechen. Zahllose Personen, die zwischen 1941 und 1943 in Polen oder Russland waren, waren dort bei Einzelerlebnissen Zeugen von Verbrechen. Es war nicht nötig, das genaue Ausmaß zu kennen, dies hatten in der Tat nur wenige, jedoch wussten viel mehr Personen, auch Nichtmitglieder bei NSDAP und SA/SS, von den Verbrechen als sie es nach 1945 angaben. In Kapitel 2 ordnet der Verfasser die Rechtsanwälte nach den Gruppen der Angeklagten, um möglicherweise zu sehen, welche Angeklagten welchen Hintergrund ihrer Rechtsanwälte bevorzugten. Die Vielzahl der Zufälle bei der Auswahl der Verteidiger kann hier nur zu zufälligen Aussagen und zu einer Systematik führen. In Kapitel 3 bildet der Verfasser Kleingruppen von Rechtsanwälten mit einem gleichartigen Ansatz der Verteidigungsstrategie. Dieses Kapitel hat seinen Wert in der Schilderung von Details. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Sammlung von Befehlen durch Verteidiger, die damit Druck zur Nichtverfolgung von Offizieren der Bundeswehr erreichten. Im Kapitel 4 wendet sich der Verfasser der Frage zu, wie die Rechtsanwälte in späteren Verfahren tätig waren bzw. wie sie Verteidiger in späteren Verfahren unterstützten. Der ‚Heidelberger Juristenkreis‘, der für eine Amnestie warb, und eine ‚braunes Anwaltsnetzwerk‘ sind vom Ansatz her unterschiedlich zu werten. Der Juristenkreis ist eine Lobby gewesen, die in der Art der Meinungsbildung ihrer Zeit voraus war. Geht man von der Aufgabe eines Strafverteidigers zur bestmöglichen Verteidigung seines Mandanten unter Nutzung der gesetzlich möglichen Regelungen aus, so ist ein Netzwerk, das Informationen austauscht, durchaus legitim. Es hat per se nichts Anstößiges an sich. Anklagevertreter eines Spezialgebietes treffen sich auch auf Dienstbesprechungen und ähnlichen Tagungen. Wenn der Verfasser bei Nennung des Namens Werner Bests überaus häufig den Zusatz ‚Nebenkanzlei‘ erwähnt, so ist für Bests Tätigkeit nur erstaunlich, wie lange Best ungestört von der Strafverfolgung seinen Informationsdienst führen konnte. Ebenfalls ist die ‚Stille Hilfe‘ in so vielen Strafverfahren, etwa bei Gnadengesuchen, aufgetreten, dass es bei einem sachlich gebotenen Zusammenwirken der Strafverfolgungsbehörden schon spätestens zu Ende der 1960er Jahre möglich gewesen wäre, den Verein vereinsrechtlich zu überprüfen. Gerade seine Sitzverlegung von Essen nach Wolfratshausen wäre ein Anlass zu einer Prüfung gewesen. In gleicher Weise ist zu fragen, warum strafprozessuale Änderungen erst bei den Verfahren gegen die Rote Armee-Fraktion getroffen wurden, obwohl dies bereits bei den nationalsozialistischen Gerichtsverfahren geboten gewesen wäre.

 

In seiner wichtigen Zusammenstellung von Biographien einzelner Handelnder gibt der Verfasser einen wertvollen Abschluss, der jedoch ein paar Ergänzungen verdient. Der Strafrechtler in München war Reinhart Maurach (S. 546). Der 1992 in Göttingen verstorbene H. G. Seraphim hat zwar viele Gutachten mit seiner These des Putativnotstands erstattet, jedoch ist es bereits Wikipedia, ohne Kenntnis des verschlossenen Nachlasses, bekannt, dass bereits Helga Grabitz darauf hinwies, seit dem Düsseldorfer Einsatzgruppenprozess (1973) sei diese Argumentation nicht mehr anerkannt worden.

 

Neu-Ulm                                                                                                       Ulrich-Dieter Oppitz