Seggern, Harm von, Quellenkunde als Methode – Zum Aussagewert der Lübecker Niederstadtbücher des 15. Jahrhunderts (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte 72). Böhlau, Wien 2016. 328 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

In Lübeck an der Trave, das in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts erstmals erwähnt und danach von Herzog Heinrich dem Löwen verlegt und bedeutend gefördert wird, wird um 1225 das Stadtrecht lateinisch und nach dem Aufstieg zur Reichsstadt um 1240 mittelniederdeutsch aufgezeichnet. Zu den in der Folge entstehenden wichtigen Rechtsquellen zählt insbesondere das Niederstadtbuch, das nach der Zählung des Verfassers vom frühen 14. Jahrhundert bis zum frühen 19. Jahrhundert in dem Findbuch des Stadtarchivs 348 Bände umfasst (Oberstadtbuch 74 Bände). Dabei stehen Urschriftbände neben Reinschriftbänden.

 

Mit der Urschrift 1478 corporis Christi – 1481 (274 Folia), der Reinschrift 1481-1488 (600 Folia) und der Reinschrift 1489-1495 (583 Folia), die insgesamt 7570 Rechtsgeschäfte enthalten (etwa 6 je Blatt), hat sich der in Trier 1999 mit einer Dissertation über „Herrschermedien im Spätmittelalter. Studien zur Informationsübermittlung im burgundischen Staat unter Karl dem Kühnen 1467-1477“ promovierte, als außerplanmäßiger Professor für mittlere und neuere Geschichte am Historischen Seminar in Kiel und wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem Forschungsprojekt Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800) tätige Verfasser in dem ersten Teil seiner von Gerhard Fouquet betreuten an der Universität Kiel angenommenen Habilitationsschrift, der die Begründung des quellenkundlichen Vorgehens der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und die Quellenkunde des Lübecker Niederstadtbuchs des späten 15. Jahrhunderts im Besonderen zum Inhalt hat, beschäftigt. Gegliedert ist er nach einer Einleitung über Quellenkunde allgemein und über die Niederstadtbücher in fünf Sachabschnitte. Sie betreffen die gesellschaftlich-politische Verfasstheit Lübecks im Spätmittelalter, die Methodik einschließlich der Sprache, der Länge, der Datierungen, der Abkürzungen, der Personennamen, der Währungsangaben und des Zustandekommens, die formale Analyse, die inhaltliche Analyse (Haushaltsgüter und Nachlasssachen, Strafsachen, statistischer Überblick, Verhältnis zum Notariat) und Personen im Niederstadtbuch (Worthalter, Vorsprecher und Prokuratoren).

 

Im Ergebnis gelangt der Verfasser zu der Erkenntnis, dass die Geschichtswissenschaft eine philologische Methode hat, aber keine Philologie ist, weshalb man auf und durch die Texte schauen sollte, um eine Aussage über die hinter ihnen liegende Welt machen zu können. Für die Wirtschaftsgeschichte, für die das Niederstadtbuch erschlossen wurde, besteht das Hauptergebnis in der Einsicht, dass es in erster Linie Problemfälle enthält, aus denen nur mit Vorsicht auf die Geschichte des Handels geschlossen werden kann. Für die Geschichtswissenschaft folgt daraus, dass die Einträge in dem der Friedenswahrung dienenden  Niederstadtbuch im Hinblick auf die hinter dem Text versteckte Problemlage zu lesen sind.

 

Nach den Worten des Verfassers ändert die Vielzahl seiner vorgetragenen Überlegungen nichts an dem Umstand, dass die Quellen gegeben sind. Die selbst gestellte Frage ist, was man aus ihnen macht. Dementsprechend muss die Geschichte (z. B. in der Form einer gründlichen formalen und materialen Analyse der „neben Schuldgeschäften vor allem Vorgänge des Lübecker Rechtes verzeichnenden und dadurch weite Einblicke in die Lebenswelt des Spätmittelalters gewährenden“ Niederstadtbücher) (vielleicht) auch in Zukunft immer wieder neu geschrieben werden.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler