Ruf, Christian, Die bayerische Verfassung vom 14. August 1919 (= Schriften zum Landesverfassungsrecht 4). Nomos, Baden-Baden 2015. 978 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Unter den Landesverfassungen der Weimarer Zeit kam der bayerischen Verfassung vom 14. 8. 1919 eine besondere Bedeutung zu, da diese Verfassung als erste die Regelungen der Weimarer Reichsverfassung berücksichtigt hat und eine Reihe von Besonderheiten gegenüber anderen Landesverfassungen aufweist. Nach der Darstellung der Entstehung der bayerischen Verfassung von 1919 durch Wolfgang Ehberger (Bayerns Weg zur parlamentarischen Republik. Die Entstehung der „Bamberger Verfassung“ vom 14. 8. 1919, Baden-Baden 2013) folgt mit dem Werk Christian Rufs eine systematische Erschließung dieser Verfassung anhand einer „umfassenden Auswertung des zeitgenössischen verfassungsrechtlichen Schrifttums“, aus dem die umfangreiche Darstellung Hans Nawiaskys: „Bayerisches Verfassungsrecht (1923) herausragt. Das „Zusammenspiel einzelner Verfassungsorgane und die Aufarbeitung akademischer Streitfragen“ waren ebenso von Interesse wie die politischen Rahmenbedingungen (S. 33). Reichsrechtliche Bezüge vor allem zur Reichsverfassung mit „deutlich unitaristisch geprägten Leitlinien“ werden fortlaufend berücksichtigt: „Jede Norm (wird) stets unter reichs- und vor allem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten gewürdigt, soweit diese im Raum standen“ (S. 34). Im Abschnitt über die „Historische Entwicklung“ (S. 41-99) geht Ruf zunächst ein auf die Konstitution von 1808, die Verfassung von 1818, die Novemberrevolution und die vorläufigen Staatsgrundgesetze von 1919 sowie auf den „formalen Gang“ der Entstehung der Verfassung vom August 1919, die vom Landtag in Bamberg verabschiedet wurde. Die inhaltliche Darstellung (S. 101-661) beginnt mit den Bestimmungen über den Landtag (S. 101-213) und umfasst die Wahl des Landtags, seine Arbeitsweise, seine Aufgaben und Rechte sowie die Stellung der Abgeordneten und der Ausschüsse. Der Landtag hatte eine „überaus starke Stellung“ (S. 120, vgl. auch S. 212), dem zahlreiche Überwachungskompetenzen zustanden. Die Minister wurden im „Einverständnisse“ mit dem Landtag besetzt (§ 58 Abs. 1 S. 5 der Verfassung). Durch eine Verfassungsänderung von 1925 wurde die Rechtsstellung der Mitglieder des ständigen Ausschusses und des Zwischenausschusses gestärkt (S. 887). Durch eine weitere Änderung ebenfalls von 1925 wurde einem Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags das Recht eingeräumt, gegen einen Abgeordneten Klage vor dem Staatsgerichtshof zu erheben (S. 707ff., 888). Im nächsten Abschnitt wird ausführlich behandelt die Stellung des Ministerpräsidenten und des Gesamtministeriums (S. 213-322), bei der von einer Gewaltenteilung „im Sinne eines ausgewogenen Verhältnisses der einzelnen Staatsorgane“ nach Ruf keine Rede sein konnte (S. 823). Gleichwohl wird man kaum von einem „Parlamentsabsolutismus“ (S. 823) sprechen können.

 

Die weiteren Abschnitte des Werks befassen sich mit dem Staatsdienst, dem Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden und Gemeindeverbände, der Rechtspflege, der Staatsbürgerschaft, den Grundrechten, dem Staatskirchenrecht, dem Kultuswesen sowie mit weiteren, nur knapp behandelten Regelungsbereichen wie Verkehrswesen und Staatsgebiet. Im Abschnitt über die Rechtspflege (S. 354-426) stellt Ruf ausführlich die Befugnisse des Staatsgerichtshofs heraus, der u. a. über Ministeranklagen und Verfassungsbeschwerden zu entscheiden hatte. Letztere konnte von jedem bayerischen Staatsangehörigen und jeder juristischen Person, die in Bayern ihren Sitz hatte ausgehen, „wenn sie glauben, durch die Tätigkeit einer Behörde in ihrem Recht unter Verletzung dieser Verfassung geschädigt zu sein“ (§ 93 Abs. 1 S. 1 der Verfassung). Eine derartige Verfassungsbeschwerde war weder in den anderen Landesverfassungen noch der Reichsverfassung vorgesehen (S. 394 f.). Insgesamt wurden bis 1930 95 Verfassungsbeschwerden erhoben, von denen vier Erfolg hatten (S. 412 Fn. 298). – Eine besondere Stellung hatte im Vergleich zu den anderen zeitgenössischen deutschen Verfassungen die „Staatsbürgerschaft“ (§§ 6ff.). Nach § 6 gab es eine besondere bayerische Staatsangehörigkeit (S. 427 ff.). Der bayerische Staatsbürger konnte sein Bürgerrecht außer durch Abstimmung und bei Wahlen auch bei „Volksbegehren“ und „Volksentscheidungen“ (§ 7) wahrnehmen. Zulässig waren Volksbegehren auf Abänderung der Verfassung, auf Erlass, Abänderung und Aufhebung von Gesetzen und auf Einberufung oder Auflösung des Landtags. Sie waren grundsätzlich an den Landtag zu richten. Volksbegehren gegen Gesetze, die der Landtag beschlossen hatte, konnten – mit Ausnahmen – auch das Gesamtministerium durchsetzen (§ 77 Abs. 2). Mit der Möglichkeit einer Beteiligung der „Staatsbürgerschaft“ am Staatsleben wurde das Volk – so Ruf – „zum Staatsorgan erhoben, das bisweilen neben (bei Initiativen, denen sich der Landtag anschloss), bisweilen über (bei Volksentscheidungen nach Verfassungs- und Gesetzesinitiative, Referendum, Landtagseinberufung oder Landtagsauflösung) dem Landtag stand“ (S. 481). Von Interesse wäre es gewesen, inwieweit von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde. – Ausführlich geht Ruf im Abschnitt über das Staatskirchenrecht (S. 513-608), insbesondere auf das Konkordat von 1925 mit der katholischen Kirche ein. Behandelt werden auch die Religionsmündigkeit ab 16 Jahren (§ 17 Abs. 2) und das Recht des Austritts aus Religionsgesellschaften, der durch eine schriftliche, öffentlich beglaubigte Erklärung erfolgen konnte (§ 17 Abs. 3). In nicht wenigen Bereichen ergaben sich Kollisionen mit dem Reichsrecht, dessen Rahmen der bayerische Verfassungsgeber voll ausnutzte: „Vieles war schlichte Wiederholung und damit ohne eigenen Gehalt; in einigen Punkten ging man über die Regelungen der Reichsverfassung hinaus, so dass sich schließlich doch ein eigener Anwendungsbereich ergab“ (S. 830). Dies galt auch für den eigenen Grundrechtskatalog (§§ 13ff.; S. 492ff.), womit ein zusätzlicher Schutz über die Verfassungsbeschwerde möglich wurde. S. 603-733 geht Ruf ein auf Änderungen und Änderungsversuche hinsichtlich der Bamberger Verfassung. Von der Möglichkeit, eine zweite Kammer zu schaffen und einen Staatspräsidenten vorzusehen, machte der bayerische Verfassungsgeber keinen Gebrauch.

 

Nach der inhaltlichen Darstellung untersucht Ruf zunächst das „Absterben“ der Verfassung insbesondere durch die Notverordnungspolitik der nationalsozialistischen Regierung in Berlin (S. 735-776). Spätestens mit dem Gesetz vom 30. 4. 1934 war Bayern eine „bloße ‚Reichsprovinz‘“ geworden (S. 831). In einem weiteren Abschnitt untersucht Ruf die Einflüsse der Bamberger Verfassung auf die bayerische Verfassung vom 2. 12. 1946 (S. 777-817). Jene diente zusammen mit der Weimarer Verfassung in großem Ausmaße als Vorbild (S. 815f.). Den Abschluss bildet eine prägnante Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung (S. 819-833). Im Quellenanhang werden abgedruckt: Das Staatsgrundgesetz vom Januar 1919, das vorläufige Staatsgrundgesetz vom März 1919, die Bamberger Verfassung, die im Landtag eingebrachten Abänderungsvorlagen, die tatsächlich erfolgten Verfassungsänderungen (S. 885ff.) sowie das Konkordat und die Kirchenverträge. Wie das über 50 Seiten umfassende Literaturverzeichnis zeigt (S. 911-967), wurde die Bamberger Verfassung und deren Probleme sehr breit erörtert. Schon allein dies rechtfertigt eine rechtshistorisch orientierte systematische Erschließung der Verfassung von 1919. Obwohl die Untersuchungen die Regelungsbereiche der Verfassung im Zusammenhang erschließen, wären im Hinblick auf den Handbuchcharakter des Werks ein Sachregister und vielleicht auch noch ein Paragraphenregister erforderlich gewesen. Von Interesse wären auch detailliertere Hinweise auf die Praxis des bayerischen Verfassungsrechts gewesen. Insgesamt liegt mit den Untersuchungen Rufs ein wichtiges Grundlagenwerk zur deutschen Verfassungsrechtsgeschichte vor, von dem weitere Darstellungen profitieren werden.

 

Kiel

Werner Schubert