Pironti, Pierluigi, Kriegsopfer und Staat – Sozialpolitik für Invaliden, Witwen und Waisen des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Italien (1914-1924). Böhlau, Köln 2015. 556 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Im vorliegenden Band untersucht Pironti „erstmals die Maßnahmen für die Kriegsopfer des Ersten Weltkriegs in ihrem politischen und gesellschaftlichen Kontext in Italien und Deutschland“ (Klappentext). Der Begriff des „Kriegsopfers“, unter den Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene fallen, ist als „Produkt des Ersten Weltkriegs“ anzusehen (S. 11). Der Zusammenhang „zwischen den Sozialmaßnahmen für die Kriegsopfer der Weltkriege und den sozialen Gesetzgebungen der Nachkriegszeit“ ist erst wenig erforscht (S. 23). Die Arbeit erschließt sowohl die Entwicklungen in Deutschland als auch in Italien zunächst in getrennten Abschnitten, deren Ergebnisse am Ende des Bandes in einem „vergleichenden Fazit“ zusammengefasst werden. Als Quellen der Untersuchungen dient das umfangreiche Schrifttum, nicht auch noch die archivalische Überlieferung, deren Erschließung wohl nur in weniger umfassenden Darstellungen möglich gewesen wäre. Nach der Einleitung befasst sich Pironti mit dem „Versorgungssystem und sozialen Maßnahmen zugunsten der Soldaten und ihrer Familien vor 1914“ (S. 38ff.). Für Deutschland war zunächst das von einem französischen Gesetz von 1831 beeinflusste Militärpensionsgesetz von 1871 maßgebend, das durch ein Offiziersversorgungsgesetz und ein Mannschaftsversorgungsgesetz von 1906 abgelöst wurde. Neu geordnet wurde 1907 auch die Versorgung der Witwen und Waisen der Militärpersonen. Diese Gesetze bezogen sich auf die Berufssoldaten, während den Reserveoffizieren und den einberufenen Soldaten nur eine „zeitlich befristete Kriegsunterstützung“ gewährt wurde (S. 43). Ein Mangel der Gesetze von 1906/1907 ist darin zu sehen, dass sie nicht auf die Folgen eines langen Krieges zugeschnitten waren (S. 68). In Italien führte erst der Libyen-Krieg von 1911/1912 zur Einführung spezieller Kriegsrenten für Militärpersonen und deren Witwen und Waisen (S. 76ff.).

 

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs erhielten die Familien der Einberufenen nach einem Gesetz vom 4. 8. 1914 eine Unterstützung, die sich bald als unzureichend erwies (S. 102ff.). Die Kriegsbeschädigtenfürsorge war nicht Sache des Reiches, sondern der Bundesstaaten, der Gemeinden und der freien Wohlfahrtspflege. Ein Reichstagsausschuss forderte 1916 das Recht der Invaliden auf kostenlose medizinische Behandlung, ein Recht der Rückkehrer in die vor dem Krieg ausgeübte Arbeit und die Abschaffung des Dienstgrades bei der Rentenberechnung (S. 133f.). Der Mitte 1915 begründete Reichsausschuss für Kriegsbeschädigtenfürsorge (RAKBF) versuchte als Beratungsorgan die Fürsorgemaßnahmen zu harmonisieren. Die Fürsorge erstrebte in erster Linie, die Invaliden in feste Beschäftigungen zu bringen oder sie anzusiedeln, wozu 1916 ein Kapitalabfindungsgesetz erging (S. 152), das allerdings nur geringen Erfolg hatte. Insgesamt führte der „Fehler, Rentenversorgung und soziale Fürsorge als zwei voneinander getrennte Bereiche anzusehen“ dazu, dass jeweils unterschiedliche Maßnahmen ins Leben gerufen wurden und „damit jeder Versuch im Keim“ erstickt wurde, das „Fürsorgewesen der veränderten sozialen Lage der Kriegszeit anzupassen“ (S. 186).

 

In Italien wurde der ONIG (Nationalwerk zum Schutz und Fürsorge der Kriegsinvaliden – Heilfürsorge, Prothetik, Physiotherapie, Arbeitsvermittlung) die Kriegsbeschädigtenfürsorge als einziger Behörde übertragen (S. 255ff., 506f.). Im November 1917 wurde ein Ministerium für die Militärfürsorge und Kriegsrenten eingesetzt, so dass die Versorgung der Kriegsopfer – wenn auch unzureichend – zentral wahrgenommen wurde. Besonderen Schutz genossen die Kriegswaisen, über welche der Staat eine „Patenschaft“ übernahm (S. 240ff.). Mit einem Erlass vom Mai 1917 erfolgte eine Neuordnung der Kriegsrenten, welche aber die Unterscheidung zwischen den Offizieren und der Mannschaft beibehielt.

 

Im Abschnitt über die Kriegsopferfrage in der Weimarer Zeit gibt Pironti zunächst einen detaillierten Überblick über den Ursprung und die Entwicklung der deutschen Kriegsbeschädigtenverbände in den Jahren 1917/1918 (S. 275-323), die eine Reform des anachronistischen Rentensystems und der „paternalistischen und ineffektiven sozialen Fürsorge zum Ziel hatten“. 1919 bestanden sieben reichsweite Kriegsopferverbände (S. 314), die vom Reichsarbeitsministerium anerkannt wurden (S. 313). Der RAKBF, bisher Beratungsorgan, wurde innerhalb des Reichsarbeitsministeriums zu einem Amt, das für die Kriegsopferfürsorge zuständig war (S. 328f.). Das Reichsversorgungsgesetz vom 12. 5. 1920 brachte die kostenlose Heilbehandlung der Kriegsbeschädigten und regelte die soziale Fürsorge der Invaliden sowie die Kriegsbeschädigten- und Hinterbliebenenrente. Wichtig war, dass das Reichsversorgungsgesetz eine gleichmäßige Regelung für Mannschaften und Offiziere „ohne Unterscheidung nach Dienstgrad und Rang“ brachte (S. 350) und die Militärversorgungsgerichte durch vollständig entmilitarisierte Reichsmilitärversorgungsgerichte ersetzte. Die Unanfechtbarkeit der Entscheidungen der Militärgerichte war bereits durch eine Verordnung vom 1. 2. 1919 beseitigt worden (S. 327). Die Gesetzgebung zum Einstellungszwang begann mit einer Notverordnung vom 9. 1. 1919, die eine Einstellung mit Schwerbeschädigten mit mindestens 50% Erwerbsunfähigkeit statuierte; spätere Verordnungen erweiterten den Einstellungszwang und betrafen auch den öffentlichen Dienst (S. 335ff.). Im Hinblick auf die Entwertung der Leistungen durch die Inflation setzte bald eine scharfe Polemik gegen das Reichsversorgungsgesetz ein, dessen Reformen von 1923/1924 die Anzahl der Leistungsempfänger verringerte, jedoch die Leistungen an die Schwerbeschädigten und Witwen verbesserte. Dagegen fielen die Renten für eine Erwerbsunfähigkeit unter 30% weg. Der bürokratische Apparat wurde reduziert und die Verwaltung und Finanzierung der Fürsorge den Ländern und den Gemeinden übertragen. Die Einführung der Rentenmark führte zu einer „Minderung des tatsächlichen Wertes der Rentenbeträge“, der „niedriger als die 1920 vom RVG vorgesehenen Beträge war“ oder „sogar noch unterhalb der Gesetzgebung von 1906/1907 blieb (S. 379). In der Folgezeit verloren die Verbände zwei Drittel ihrer Mitglieder, die sich bis auf den republikfreundlichen Reichsverband deutscher Kriegsbeschädigter, Kriegshinterbliebenen und Kriegsteilnehmer radikalisierten (S. 381ff.).

 

In Italien war die ANMIG (Nationaler Verband der Kriegsbeschädigten und –invaliden) der größte Kriegsopferverband, gegen den die sozialistische Lega Proletaria auf Dauer kein Gegengewicht bilden konnte. Zu den Zielen der Verbände gehörte eine Reform des Militärrentenrechts, die erst unter dem faschistischen Regime 1923 zustande kam (S. 384). Das Ende 1917 begründete Kriegsopferministerium, das sich gegenüber den Provinzbehörden nicht durchsetzen konnte (S. 455), wurde im November 1919 aufgelöst und dessen Aufgaben dem Schatzministerium unterstellt. Ein Einstellungszwangsgesetz führte nur zu einer geringen Einstellungsquote von 3,4% (S. 480ff.). Insgesamt stellten die faschistischen Gesetze einen „Rückschritt gegenüber den zaghaften Neuerungen der Vergangenheit“ dar. Die Verbände wurden 1923 wie in Deutschland 1933 zu einem Nationalverband der Familien der im Krieg Gefallenen.

 

Die Untersuchungen werden abgeschlossen mit einer Zusammenfassung und einem „vergleichenden Fazit“ (S. 505-525). Ein Sach- und Personenregister wäre hilfreich gewesen. Das Werk Pirontis erweist, dass das Militärversorgungsrecht einen wichtigen und unverzichtbaren Teil des modernen Sozialrechts darstellt. Der umfassende Ansatz, den Pironti für seine Untersuchungen gewählt hat, zeigt zugleich die Grenzen seiner Darstellung. Denn es ist im Rahmen einer Gesamtdarstellung auf einer ländervergleichenden Perspektive kaum möglich, allen wichtigen Facetten der Kriegsopferfrage gerecht zu werden. Mit Recht hat Pironti auf die Verbandspolitik großes Gewicht gelegt. Nicht in gleicher Weise ausführlich konnten dagegen die Entstehung der Kriegsopfergesetze und deren Praxis behandelt werden. Für den Leser wäre es zudem hilfreich gewesen, wenn Pironti das italienische Gesetzgebungsverfahren für den deutschen Leser etwas detaillierter umrissen hätte. Zu bedauern ist, dass das Werk keinen Ausblick auf die Entwicklung der Kriegsopferfrage bis zum nationalsozialistischen Deutschland enthält. Dann wäre auf dieser Basis auch ein Vergleich der Kriegsopferversorgung der totalitären Regime des Nationalsozialismus und des Faschismus möglich gewesen. Dies alles mindert das Verdienst des Pionierwerks von Pironti in keiner Weise, das auch der Rechtsgeschichte eine wichtige, bisher von ihr wenig beachtete Thematik erschließt und insbesondere die Beachtung des Sozialrechtshistorikers verdient.

 

Kiel

Werner Schubert