Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hg. v. Hartmann, Christian/Vordermayer, Thomas/Plöckinger, Othmar/Töppel, Roman unter Mitarbeit von Trees, Pascal/Reizle, Angelika/Seewald-Mooser, Martina im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin. 2 Bände. Institut für Zeitgeschichte, München 2016. 1968 S., Abb., Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wer bislang in seiner Arbeit auf die Benützung der zeitgenössischen Massenausgaben von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ (MK) angewiesen war, ist zuallererst einmal beeindruckt von den Dimensionen jener großformatigen, insgesamt etwa fünfeinhalb Kilogramm Buch, die mit der lange erwarteten und heiß diskutierten, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) besorgten kritischen Edition der persönlichen und politischen Bekenntnisschrift des Diktators ins Haus kommen. Unübersehbar hat hier der Kommentar die Herrschaft über Hitlers Text übernommen, ihn, wie es die Herausgeber und Bearbeiter beabsichtigt haben, mit historischen Fakten nach der aktuellen Forschungslage eingehegt. Nicht zuletzt als einen „wissenschaftliche(n) und damit sehr spezifische(n) Dienst an der Würde der Opfer“ (S. 4) will IfZ-Direktor Andreas Wirsching dieses mit öffentlichen Mitteln geförderte Unterfangen verstanden wissen, das im Vorfeld zum Teil auf vehemente Kritik vor allem aus den Reihen von Opferorganisationen gestoßen war. Dort war man verständlicher Weise nicht im mindesten daran interessiert, dieser Schrift, in der das spätere Übel programmatisch gleichsam vorgedacht wird und die man daher in den Giftschrank der Geschichte verbannt wissen wollte, nun, nach siebzig Jahren, neuerlich öffentliche Aufmerksamkeit in einem hohen Ausmaß zuteilwerden zu lassen. Die Befürchtung, eine allgemeine Präsenz des Textes könnte womöglich den Antisemitismus neu befeuern, mag dabei keine geringe Rolle gespielt haben. Diese Stimmen sind auch heute noch nicht verstummt, und manche Buchhandlungen sollen sich geweigert haben, die kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“ anzubieten. Der britische Germanist Jeremy Adler hat im Januar 2016 in der Süddeutschen Zeitung gar behauptet, das absolut Böse lasse sich nicht edieren; der Widerspruch in Form der Wortmeldung Jürgen Kaubes in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung folgte auf dem Fuß: Gerade das absolut Böse könne nicht unkommentiert bleiben. Wem also Recht geben?

 

Die Haltung des Rezensenten ist in dieser Frage – bei aller Empathie für die Bedenken der Opferseite – eine klare. Für die Akzentuierung der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus und das Verständnis der durch sie hervorgerufenen Verwüstungen stellt Hitlers Buch ein zentrales Dokument dar. Eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die diese Schlüsselquelle aussparen würde, widerspräche somit allen Grundsätzen wissenschaftlichen Arbeitens. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, hat Ingeborg Bachmann 1959 in einem berühmten Diktum festgestellt, und sie muss vor allem den Bürgern einer reifen Demokratie zugemutet werden können. Wer fest auf ihrem Boden steht, den werden Hitlers aggressive, rassistische und gewaltverherrlichende, zudem einer anderen Zeit angehörende Ausführungen nicht bezaubern können. Doch sie bedürfen zweifelsohne der Kontextualisierung, kann doch beim durchschnittlichen Bürger wohl kaum eine profunde Kenntnis der mittlerweile nahezu uferlosen Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus vorausgesetzt werden. Es stellt sich also die Frage, ob mit der aktuellen kritischen Edition der interessierten Öffentlichkeit ein adäquates Werkzeug zur Verfügung gestellt werden konnte.

 

Geht man zunächst von der eingangs konstatierten Dimensionierung des Werks aus, muss man eher einer abschlägigen Antwort zuneigen. Die sperrigen und gewichtigen Bände fordern ihren Raum und eignen sich beileibe nicht als Reiselektüre. Doch darauf soll es nicht ankommen. Mit ihrem aktuellen Preis von 59 Euro ist die umfangreiche Publikation mehr als wohlfeil und somit für jeden Interessenten erschwinglich. Schlägt man die Bände auf, sieht man sich einem übersichtlichen und selbsterklärenden Layout gegenüber: Vom Betrachter aus gesehen jeweils auf die rechte Seite innen gesetzt Hitlers Text der Erstausgabe von „Mein Kampf“ 1925/1927, im Fettdruck und mit der Originalpaginierung versehen; auf derselben Seite, im breiten rechten Rand klein gedruckt, festgestellte Varianten in den berücksichtigten Ausgaben. Der etwa ebenso großzügig bemessene breite untere Rand der Seite und die gesamte linke Seite stehen gänzlich dem mit für jedes Kapitel gesondert gezählten Fußnoten markierten, ausführlichen Kommentar zur Verfügung. Ein umständliches Vorblättern und Zurückblättern ist daher nur bei den seltenen Binnenverweisen erforderlich. Jedem der beiden Bände von „Mein Kampf“ ist jeweils ein Band der Edition zugeordnet. Obwohl dieses Schema ohne weiteres auch für Laien durchschaubar ist, haben die Herausgeber nichts dem Zufall überlassen: Kategorien und Prinzipien der Kommentierung, die Editionsvorlage, den textkritischen Apparat, Typografie und visuelle Gestaltung sowie die Editionsrichtlinien erläutert der an die 80 Seiten umfassende Einleitungsteil ausführlich. Darin ist auch eine zweite Gruppe von kurzen Darstellungen untergebracht, die Forschungsergebnisse zur Entstehungsgeschichte sowie zu inhaltlichen und stilistischen Aspekten von „Mein Kampf“ präsentieren. Den Fragen der Selbstinszenierung und Selbstpositionierung Hitlers in seinem Werk wird dabei eine besondere Aufmerksamkeit zuteil.

 

Weitere Hilfsmittel stellt der deutlich über 200 Seiten starke Anhang zur Verfügung, von dem allein die nach Quelleneditionen und Dokumentensammlungen, Werkausgaben, Literatur bis 1932, Literatur 1933 bis 1945 und Literatur nach 1945 differenzierte Gesamtbibliographie mehr als 120 Seiten einnimmt. Zwölf zum Teil farbige Abbildungen illustrieren den seinerzeitigen Werdegang von Hitlers „Mein Kampf“, darunter auch vier Planzeichnungen (Grundriss des Zellentraktes der Festung Landsberg, in dem Hitler und seine Mitverschwörer einsaßen und wo der erste Band in die Schreibmaschine floss; historische Pläne von München 1929, Berchtesgaden 1930 und dem Obersalzberg 1930, jeweils mit Einzeichnung und Kurzbeschreibung der von den Nationalsozialisten genützten Örtlichkeiten). Eine spezielle Liste erfasst die Daten der Übersetzungen des Buches, die bis 1945 erfolgten (Land, Titel, Übersetzer, Verlag, Erscheinungsort und Erscheinungsjahr, Sprache, Umfang). Das Personenregister verzeichnet „sowohl die vielen Personen, die in den Anmerkungen vorkommen, als auch die wenigen, die Hitler selbst nennt“ (S. 1907); über die Biographien der letzteren von Victor Adler bis Woodrow Wilson informiert näher ein eigener, „Biogramme“ überschriebener Abschnitt des Anhanges. Während auch das Ortsregister sowohl auf Hitlers Buch als auch auf die Anmerkungen Bezug nimmt, erschließt das als „kombiniertes Schlag- und Stichwortregister“ konzipierte Sachregister „ausschließlich den Text der Kommentierung“ (S. 1927). Da sich der Anhang, wie allgemein üblich, am Ende des Gesamtwerkes – somit also am Ende des zweiten Bandes – befindet, muss dieser zweite Band ständig bereitgehalten werden, auch wenn man sich gerade ausschließlich mit dem ersten Band zu befassen haben sollte, wodurch an den Arbeitsplatz hinsichtlich der Verfügbarkeit von Ablageflächen erhebliche Ansprüche gestellt werden.

 

Da seit dem Erscheinen der Edition zu Jahresbeginn – zunächst war es wegen der massiven Überzeichnung kaum möglich, an ein Exemplar heranzukommen, mittlerweile liegt bereits die vierte Auflage vor – schon etwas Zeit ins Land gezogen ist, kann hier die bisherige Rezeption in gebotener Kürze kritisch resümiert werden. Dass die Resonanz in Anbetracht der vorgelegten Qualität weitgehend positiv ausgefallen ist, kann nicht wirklich überraschen. Das Projekt, dessen Sensibilität seinen Betreibern ein Höchstmaß an Sorgfalt abverlangt hat, wurde von den zweifellos besten Kennern der Materie realisiert. Kritik setzt nun kaum mehr am Grundsätzlichen, sondern weitgehend an der Frage einer mehr oder minder gelungenen Umsetzung der Konzeption an. So stößt sich Wolfgang Benz, Doyen der Antisemitismus-Forschung, an der Vielzahl der Querverweise, die seines Erachtens bisweilen mehr Verwirrung stiften denn Klarheit schaffen würden. Am Beispiel des bekannten Giftgas-Zitates exerziert er vor, wie dieses erst über einige Umwege im Register (und zwar unter dem Lemma „Juden“ als dort angeführte Unterkategorie „Giftgas“) zu erschließen ist. Grundsätzlich gebe die Edition in ihren Kommentaren den Forschungsstand wieder, fülle aber keine Forschungslücken, wie denn auch der Antisemitismus durch die Lektüre von Hitlers Buch nicht zu erklären sei. Beide Anliegen (Forschungslücken füllen, Antisemitismus erklären), so sei hier gesagt, waren aber keine primären Ziele der Herausgeber. Peter Longerich, der Biograph Himmlers, Goebbels‘ und zuletzt auch Hitlers, lobt vor allem die Verknüpfungen mit der Geschichte der NSDAP zwischen 1924 und 1926, hingegen erscheinen ihm die Vorgriffe auf die Zeit nach 1933 zu beliebig und nicht wirklich systematisch. Durchaus berechtigt spricht er zudem ein methodisches Grundproblem an: Eine Kommentierung in der erfolgten Art befinde sich zwangsläufig immer „im Schlepptau des Textes“ und sei daher nur begrenzt leistungsfähig. Insbesondere lasse sie keine systematischen Analysen zu. So zutreffend dies ist, so ist doch einzuwenden, dass eine kritische Textausgabe themenzentrierte Spezialstudien weder bieten will noch kann; diese sind eigenen selbständigen Publikationen vorbehalten und im Literaturverzeichnis in beeindruckender Zahl ausgewiesen. Andere Stimmen haben die Informationsdichte und die Problemorientierung des Kommentars, die eine ausschließliche Zentrierung auf die Person Hitlers vermeide, positiv hervorgehoben oder aber dessen Fokussierung auf die politische Geschichte kritisiert. Darüber, dass die Edition eine berechtigte Aufklärungsleistung erbringe, herrscht weitgehend Einhelligkeit.

 

So wird man sagen dürfen, dass das Team des Instituts für Zeitgeschichte im Rahmen seiner Zielsetzung inhaltlich wohl das Optimum des Machbaren umgesetzt hat, nämlich eine solide Textedition mit einer überaus üppigen und breiten Kontextualisierung anzubieten. Den geringsten Ertrag mag dabei der textkritische Apparat generieren, denn wie man nachlesen kann, gab es im Laufe der Zeit zwar eine große Zahl von Eingriffen in Hitlers Text, aber kaum je einen von substantieller Relevanz; bisweilen wurde bloß die Schreibung eines Begriffs vorübergehend geändert und in einer späteren Ausgabe wieder in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt. Wegen der kaum überschaubaren Zahl an Ausgaben mussten die Herausgeber überdies eine zwar wohlbegründete, dennoch aber letztlich willkürliche Auswahl treffen und zum Vergleich heranziehen. Hier könnte man überlegen, ob es nicht sinnvoller und vor allem ökonomischer gewesen wäre, ausschließlich die nachweisbaren, ganz wenigen inhaltlichen Eingriffe zu dokumentieren.

 

Nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Sperrigkeit des Formates – gab es dazu tatsächlich keine gangbare Alternative? – ist die Frage nach den potentiellen Nutzern der Edition abseits des Wissenschaftsbetriebes und der Bibliothekslandschaft zu stellen. Zu den befürchteten rechten Propagandazwecken ist das Werk in dieser Form völlig ungeeignet, da die Kommentierung unausgesetzt die Hermetik der Hitler‘schen Gedankenwelt aufbricht; in einem solchen Zusammenhang ist nun, nach Auslaufen des Urheberschutzes, eher nach der Rechtslage im Hinblick auf eine mögliche billige Massenauflage (beispielsweise als Paperback) unkommentierter oder einschlägig tendenziös begleiteter Textausgaben zu fragen. Auch Schulen, wie ursprünglich angedacht, dürften für das umfangreiche Spezialwerk nicht wirklich den idealen Raum darstellen, da dort nur im Ausnahmefall (langfristige Projektarbeit) die zeitlichen Ressourcen für die unumgänglich notwendige, vertiefte Auseinandersetzung mit dieser Quelle zur Verfügung stehen. Als Zielgruppe verbleibt somit der beachtliche Kreis lesewilliger, politisch und historisch interessierter Laien, die für wenig Geld nicht nur die Möglichkeit erwerben, einen intimen Blick in die Gedankenwelt und die Selbstinterpretation des nationalsozialistischen Diktators zu werfen, sondern zugleich auch erfahren, wieviel an gesichertem Wissen eine rührige Wissenschaft mittlerweile dazu anreichern konnte. Gemessen an diesen nicht zu bestreitenden Vorzügen kann man etwas Unhandlichkeit schon in Kauf nehmen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic