Haarmann, Harald, Auf den Spuren der Indoeuropäer. Von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen. Beck, München 2016. 368 S., 26 Kart., 24 Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Seit mehr als 3000 Jahren werden, so legt der (Verlag für den) Verfasser auf dem rückwärtigen Einband, in der Titelei und im Begleitpapier dar, von Indien über Persien bis nach Europa indoeuropäische Sprachen gesprochen. Wo liegen die Ursprünge dieser Sprachfamilie? Wie und wann sind die unterschiedlichen Sprachzweige entstanden?

 

Dieser Tatbestand und die damit verbundenen Fragen bewegen seit mehr als 200 Jahren weltweit viele Sprachhistoriker. Der 1946 geborene, nach dem Studium der allgemeinen Sprachwissenschaft, verschiedener philologischer Einzeldisziplinen und der Vorgeschichte in Hamburg, Bonn, Coimbra und Bangor in Bonn 1970 promovierte, in Trier 1979 habilitierte, an verschiedenen deutschen und japanischen Universitäten lehrende und forschende, seit 2003 als Vizepräsident des Institute of Archaeomythology mit Hauptsitz in Sebastopol in Kalifornien sowie als Direktor des European Branch mit Sitz in Finnland tätige Verfasser hat sich seit seiner Dissertation über den lateinischen Lehnwortschatz im Kymrischen und seit seiner Schrift des Jahres 1979 über den lateinischen Einfluss in den Interferenzzonen am Rande der Romania in zahlreichen Werken mit diesen Fragen befasst. In einem Buchtitel erscheinen dabei die Indogermanen bzw. ihre Sprachen nicht nur in der Sache anscheinend bereits 1979.

 

Seitdem hat die Indoeuropäistik zahlreiche neue Erkenntnisse gewonnen. Der Verfasser hat sie in ihren vielfältigen interessanten Werken über frühe Sprachen und Schriften intensiv aufgenommen und verarbeitet. Dabei ist er im Ergebnis davon ausgegangen, dass zwei Drittel der Weltbevölkerung in der Gegenwart indoeuropäische Sprachen als Primärsprachen, Zweitsprachen, Verkehrssprachen, Bildungssprachen oder Staatssprachen sprechen, wobei das Spektrum der rund 440 Einzelsprachen von Großsprachen mit rund 550 Millionen Sprechern (430 Millionen Primärsprachlern) bis zu Kleinsprachen mit weniger als 300 Sprechern reicht.

 

Nach seiner Einschätzung haben sich die  inzwischen gewonnenen Erkenntnisse dergestalt verdichtet, dass für die Frage der Urheimat dieser Indoeuropäer nur noch  Europa zwischen Wolga und Don in der Zone der südlichen Steppe und Waldsteppe als einleuchtende Antwort bleibt. Zeitlich beginnt allerdings die Geschichte der Indoeuropäer nicht erst mit dem frühen Migrationen von Viehnomaden aus der eurasischen (oder europäischen, zwischen Wolga und Don gelegenen?) Steppe nach Südosteuropa um 4500 v. Chr., sondern hatten sich deren proto-indoeuropäische Kultur und Sprache bereits vor dieser Zeit in ihrer Urheimat in einem langwierigen Prozess voll ausgebildet(, für den freilich unmittelbare Belege zu fehlen scheinen). Nach dem Verfasser sind die die Lebenswelt der frühen Indoeuropäer und ihre Sprache entscheidend prägenden sozioökonomischen Bedingungen nicht in einer Zeit zu suchen, als anderswo bereits Ackerbau betrieben wurde, sondern ist die Entstehung von Pastoralismus (Viehnomadismus bzw. Hirtennomadentum) in der eurasischen Steppe als ein Prozess zu verstehen, der im Wesentlichen unabhängig von der Verbreitung des Ackerbaus ablief.

 

Aus globaler Perspektive ist bei der Ablösung des Stadiums der Jäger und Sammler nach dem Verfasser von zwei sozioökonomischen Basismodellen auszugehen. Der Ackerbau entstand im Nahen Osten und breitete sich (wegen der unmittelbar einleuchtenden Vorteile wohl ohne Notwendigkeit von Wanderungen von Menschen) von dort nach Europa aus. Der Hirtennomadismus oder Viehnomadismus entstand nach den Worten des Verfassers in Europa (in der Steppe Südrusslands) und breitete sich (vielleicht wegen der unmittelbar einleuchtenden Vorteile ebenfalls ohne Notwendigkeit von Wanderungen von Menschen?) wegen des Abschmelzens von Eis von Europa (bzw. den Steppe Südrusslands) nach Zentralasien und in andere Regionen aus.

 

Nach dem Verfasser weisen die Datierungen zum Viehnomadentum der Steppenbewohner in Osteuropa (bzw. Südrussland?) auf Ursprünge, die zeitgleich mit der Verbreitung des Ackerbaus in Westeuropa liegen. Diese beiden Vorgänge, die zunächst unabhängig voneinander abliefen, sind für das 7. und 6. vorchristliche Jahrtausend anzusetzen. In Südosteuropa nahmen die einheimischen (alteuropäischen) Jäger und Sammler im Laufe des 7. Jahrtausends v. Chr. die Impulse zur Pflanzenkultivation von einigen (genetisch nachzuweisenden?) Pioniergruppen aus Anatolien an, die sich in Thessalien niederließen. Mit der weiteren Verbreitung des Ackerbaus in Europa haben aber die Indoeuropäer „gar nichts zu tun, und es gab auch keine Migration von anatolischen Ackerbauern nach Westeuropa und Mitteleuropa“.

 

Damit ist für den Verfasser eine wesentliche Aussage zur Urheimat der Indoeuropäer getroffen. Sie liegt auf der westlichen Seite des vom Ural in das Kaspische Meer fließenden Uralflusses, während die kasachischen Steppen östlich des Uralgebirges vom Viehnomadismus ausgeschlossen bleiben. Erst nach Domestizierung des Pferdes als Lasttier und als Reittier in dem 4. Jahrtausend vor Christus  wurde die Verbindung zwischen europäischer Steppe und asiatischer Steppe hergestellt.

 

Nun hat, wie der Verfasser überzeugend hervorhebt, die Humangenetik seit etwa 1990 erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist nach dem Verfasser geklärt, dass die Strukturen und Kombinationsmuster der Gene der modernen Europäer im Wesentlichen autochthon sind, das heißt, „in unseren Adern fließt sozusagen das Blut einer ununterbrochenen Kette von Vorfahren, deren Anfänge bis in die Zeit der paläolithischen Jägerkulturen zurückgehen“. Genetische Beimischungen gibt es wenige, und diese sind regional begrenzt, weshalb der Verfasser ältere Vorstellungen von bevölkerungsstarken Migrationen von Anatolien nach Europa aus dieser Sicht als überholt ansieht.

 

Dementsprechend wurde das Agrarpaket nicht von anatolischen Migranten in Europa verbreitet, sondern über Akkulturationsprozesse vermittelt, die im Wesentlichen unabhängig von wandernden Menschengruppen verliefen, wobei die Akkulruration sich allerdings auf Wirtschaftsform und Lebensweise  beschränkte, weil die Jäger ihre alteuropäischen vorindogermanischen Sprachen beibehielten. Für die Ausbreitung der indogermanischen Sprachen ergeben sich auf dieser Grundlage spannende Fragen, die der Verfasser unter Verwertung umfangreichen jüngsten Schrifttums spannend in 15 Kapiteln über proto-indoeuropäische Sprache und Kultur (ab dem 7. Jahrtausend v. Chr.), frühe Steppennomaden (ab dem 7. Jahrtausend v. Chr.), Kontakte mit Ackerbauern im Westen (ab dem 5. Jahrtausend v. Chr.), erste Migration der Steppennomaden (ab Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr.), die Auflösung des Proto-Indoeuropäischen (ab 4000 v. Chr.), die Entstehung der hellenischen Kultur (ab dem 3. Jahrtausend v. Chr.), die Dominanz des Lateinischen (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.), den Balkan zwischen römischer und griechischer Zivilisation (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.), Kelten und Germanen in Mittel- und Westeuropa (ab dem 2. Jahrtausend c. Chr. mit Teilung des fränkischen Reiches 814), Slawen und Balten in Osteuropa (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.), anatolische Sprachen und Kulturen in Kleinasien (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.), Zentralasien und iranisches Hochland (ab dem zweiten Jahrtausende v. Chr.), Draviden und Arier in Indien (2. Jahrtausend v. Chr.) und indoeuropäische Außenlieger in Westchina (2. Jahrtausend v. Chr.) und ein beschließendes Kapitel über Experimente mit der Schrift von Linear B bis Ogham (1700 v. Chr.-500 n. Chr.) behandelt.

 

Meist migrieren nur wenige indogermanisch sprechende Reiter?. Sie heiraten aber vor Ort einheimische fremde Frauen? Frewiwillig übernehmen, obwohl in der Gegenwart noch der letzte Mohikaner (in Tausenden von Sprachen) bis zu seinem Tode an seiner sprachlichen Identität festzuhalten scheint, bei autochthonen Genen in der Folge zahllose Völker die ihnen fremde indoeuropäische Sprache und bilden so die größte Sprachfamilie der Welt? – ein mehr als spannender Vorgang von globaler Tragweite.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler