Fried, Johannes, Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs. Beck, München 2016. 352 S., 26 Abb., 19 Farbtaf. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

„Dies irae, dies illa“ – dieser Thomas von Celano, einem Weggefährten des Franz von Assisi, zugeschriebene lateinische Hymnus sei seit dem Konzil von Trient 1545 bis zur Liturgiereform 1970 im Totenoffizium der katholischen Kirche gesungen worden, um die Gläubigen an das Jüngste Gericht und den Weltenbrand zu mahnen. „Über 2000 Vertonungen – darunter von Wolfgang Amadeus Mozart, Hector Berlioz, Giuseppe Verdi oder Krzysztof Penderecki – liegen vor; auch in die Filmmusik fand der Hymnus Eingang, von Heavy oder Death Metal ganz zu schweigen. Bis zur Gegenwart bewahrt er das Muster des Weltuntergangs und der Hoffnung auf ewiges Heil“ (S. 108f.). Für den Verfasser, den Mediävisten und Biographen Karls des Großen, Johannes Fried, stellt er damit einen besonders langlebigen Beweis seiner These dar, der zufolge sich im westlich-abendländischen Kulturkreis eine spezifische Tradition des Untergangs Bahn gebrochen habe, deren Fundament auf zwei Jahrtausenden christlicher Eschatologie und Apokalyptik basiere.

 

Wohl sei auch anderen Religionen und Kulturen das Motiv der Bedrohung der bestehenden Welt nicht fremd gewesen, doch habe dieses in den meisten Fällen in Verbindung mit zyklischen Modellen gestanden und nicht in die apokalyptische Vision eines endgültigen Unterganges gemündet. Die Entwicklung dieser Vorstellung sei dem frühen Christentum vorbehalten gewesen und dort seit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 nachzuweisen, einem Ereignis, das „zum Urbild eines endzeitlichen Untergangs im Feuer“ werden sollte. Das Christentum sei in der Folge „eine auf das Ende, auf Gericht und Untergang hinführende und mit dessen Verzögerung beschäftigte Religion“ geworden, seine Anhänger „erwarteten Christi triumphale Wiederkehr zum Jüngsten Gericht, seinen kaisergleichen ‚Einzug‘ in sein Reich. Auf ihn lebten sie freudig zu. Dann trennten sich endgültig Gut und Böse, dann mochte diese Welt vergehen“ (S. 63f.).

 

Doch die erwartete, oft angekündigte Wiederkehr Christi, die sogenannte Parusie, blieb aus und überließ die Gläubigen fortan und bis in unsere Gegenwart einer quälenden Ungewissheit. In dieser Not versuchte man zunächst, das Auftreten des als Vorboten und Gegenfigur zum Pantokrator angekündigten Antichristen durch Rechenoperationen (Komputistik) zu präzisieren sowie Vorzeichen zu identifizieren und zu deuten. Im Jahr 800 erneuerte Kaiser Karl das Römische Reich, da dessen Fortbestand als Katechon, als Verzögerer des Untergangs, betrachtet wurde. Auch Carl Schmitt, „dieser bedeutende, zeitweise der NS-Ideologie verfallene Jurist, bis zum Tod ein erklärter Antisemit, doch gläubiger Katholik, reflektierte immer wieder explizit und implizit über den Antichrist, nämlich die Modernität und Technisierung der Welt, beschwor mitten im Krieg die Gegenmacht des ‚Katechon‘, etwa das ‚Reich‘ als ‚Aufhalter‘ des Antichrist. […] Aber […] über den realen Untergang seines Reiches, zu dem er an seinem Platz mit beigetragen hatte, schwieg er. Seine Eschatologie zeigte sich der eigenen Gegenwart nicht mehr gewachsen“ (S. 255f.). Der Schöpfer des „Sachsenspiegel“, Eike von Repgow, orientierte sich einst an Isidor von Sevilla und gewährte der Welt von der Schöpfung bis zum Untergang statt der augustinischen sechs „Welttage“ nun sieben; der sechste endete mit Christus, der siebte war der gegenwärtige und „von unbestimmbar langer Dauer“. So setzte Eike „explizit diese zeitliche Offenheit zu Rechtsprinzipien seiner Gegenwart in Analogie. Zwischen Weltordnung und Rechtsordnung bestand eine geheime Korrespondenz“ (S. 282). Andere sehnten eine angeblich vom Gottessohn und den Aposteln verkündete, „1000-jährige Glücks- und Friedenszeit ohne Not“ herbei: „Immer wieder […] traten selbsternannte Propheten und Messiasgestalten auf und verkündeten das bevorstehende Ende der Zeiten. Manche glaubten, mit der Reformation sei das Millennium bereits angebrochen, andere, der Antichrist müsste zuvor gewütet haben und von Christus ‚mit dem Hauch seines Mundes‘ geschlagen worden sein, bevor diese Glückszeit einträte, noch andere erwarteten die Bekehrung der Juden“. Ähnliche Überzeugungen seien „noch gegenwärtig verbreitet“ (S. 133). Die Untergangsbotschaft habe auch die Ethik geformt, die rasant wachsende Schriftkultur begünstigte die Ausbreitung sozialer und antihierarchischer Unruhen sowie von Reformforderungen. Martin Luther, der „an ein baldiges Ende (glaubte)“, trat als Kämpfer gegen den als Antichrist gebrandmarkten Papst auf: „Der Umsturz der Kirche wurde unaufhaltsam. Das Papsttum, die kirchliche Hierarchie, Priestertum und Zölibat, das Mönchtum, teilweise die Sakramentenlehre, das Kirchenrecht, die Absolutionsgewalt und anderes – durchweg wirksamste Ordnungsmomente der Kirche – wurden durch diese Reformation in Frage gestellt und beseitigt; konfessionell bestimmte Kriege ließen nicht lange auf sich warten“ (S. 121f.).

 

Der Aufklärung mit ihrer Wissenschaftlichkeit und ihrem säkularen Weltverständnis sei es nicht gelungen, die Traditionslinien wirklich zu knicken: „Das Wissen, die Rede, die Reflexion über den Untergang blieben auch ohne den Glauben lebendig. […] Erkenntnisse in der Altersbestimmung von Erde und Kosmos desavouierten zwar Zug um Zug alle apokalyptischen Rechenkünste; denn mit dem Anfang verlor sich das Ende. Doch heutige Umfrageergebnisse verdeutlichen […], daß sich die Aufklärung mit ihrer Destruktion eschatologischer Erwartungen keineswegs allgemein durchgesetzt hat. Sie bleibt – wie im Mittelalter – die Weltanschauung kleiner […] einflußreicher Eliten. Irrationalität und intellektuelle Unmündigkeit triumphieren nach wie vor, auch ohne einen virulenten Glauben an das Jüngste Gericht […]. In Hessen sollte noch unlängst der biblische Kreationismus reanimiert und in den Biologieunterricht der Schulen gleichsam als biologische Theorie eingeführt werden. […] In der Tat, im Unterbewußtsein, in den kulturellen Prägungen der ‚westlichen‘ Zeitgenossen von heute nisten die alten Drohungen und Deutungsmuster“, die Angst blieb und manifestiere sich „mitunter noch immer in apokalyptischem Entsetzen, nährt aber auch eine heimliche Lust am Untergang“ (S. 211). Horrorszenarien erwüchsen nun beispielsweise aus dem Klimawandel, einem Atomkrieg, aus Pandemien, einem ökologischen oder ökonomischen globalen Kollaps, dem Ausbruch eines Supervulkans oder dem Zusammenstoß der Erde mit einem großen Asteroiden, aus Biochemie, Nanotechnologie, künstlicher Intelligenz und vielem mehr. Die Wissenschaft sei gleichsam als neuer Katechon in die Pflicht genommen, sich diesen Drohungen entgegenzustemmen. Die Bestandsaufnahme des Historikers könne dagegen „keinen künftigen Sinn der Geschichte“ lehren, wohl aber möge sie „als Herausforderung verstanden werden und zu künftigen Sinnstrukturen weisen“ (S. 290).

 

Johannes Frieds Streifzug durch 2000 Jahre christlicher Heilsgeschichte unter dem Blickwinkel eschatologischer Rezeption überzeugt durch Sorgfalt und ein profundes Fachwissen nicht nur auf historischem, sondern vor allem auch auf dem Feld der Theologie. Passende Schwarzweißbilder begleiten den Text, die Abbildungen des prächtigen zentralen Tafelteils sind polychrom gedruckt. Sie bieten apokalyptische Motivik vom zehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart, von der illustrierten mittelalterlichen Handschrift bis zu Werken der bildenden Kunst, unter anderem von Hieronymus Bosch, Sandro Botticelli, William Turner, Max Beckmann und Wassili Kandinsky, aber auch Aufnahmen des rauchenden World Trade Centers nach dem Anschlag vom 11. September 2001 („9/11“), der letzten Reste einer kosmischen Supernova-Explosion, die sich im Jahr 1054 ereignete, der Imagination eines Meteoritenimpacts sowie die Grafik eines geologischen Schnittes, der die gewaltigen Magmamassen eines künftigen Supervulkans unter dem Yellowstone-Nationalpark veranschaulicht. Solche aus der Natur und aus dem menschlichen Handeln oder Unterlassen herrührende Drohungen werden die apokalyptische Tradition weiterhin nähren, zumal erfolgversprechende Handlungsoptionen zur Abwehr vulkanischer oder kosmischer Gefahren (noch) nicht in Sicht sind.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic