Cymes, Michel, Hippokrates in der Hölle. Die Verbrechen der KZ-Ärzte. In Zusammenarbeit mit de Chantal, Laure. Theiss/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016. 198 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Medizinverbrechen im Dritten Reich sind mittlerweile durch eine ansehnliche Literatur erschlossen und dokumentiert. Was, so fragt man sich, kann eine Schrift, die allgemein die „Verbrechen der KZ-Ärzte“ in ihrem Titel trägt, Neues zum Kenntnisstand beitragen? Wurden womöglich Quellen erschlossen, die unser Wissen erweitern oder maßgeblich korrigieren?

 

Nichts von alledem trifft auf den gegenständlichen Band zu. Sein Verfasser ist kein Historiker, sondern jemand, den zuallererst Empathie für das Schicksal der wehrlosen Opfer jener Unmenschlichkeiten bewegt. Der französische Arzt, Medizinjournalist und Fernsehmoderator Michel Cymes will „berichten, wie es war“, und gesteht ein: „Das haben vor mir schon andere auf andere Weise und besser getan, aber ich glaube, dass es in diesem Bereich nie zu viel des Guten geben kann“. Sein Buch sei deshalb sein „bescheidener Baustein für das brüchige Gebäude der Erinnerung an alle diejenigen, die den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Opfer gefallen sind“ (S. 10). Wie persönlich diese Botschaft ist, geht aus dem Klappentext hervor, der zu berichten weiß, dass beide Großväter des Verfassers in Auschwitz umkamen.

 

In Anbetracht dieser Sachlage überrascht es wenig, dass der Leser auf keine objektiv-distanzierte, sondern auf eine in der Diktion stark subjektiv gefärbte Darstellung stößt, die an ihrem Urteil über die Protagonisten dieser Schrift und deren Missbrauch ihrer ärztlichen Verantwortung keine Zweifel offen lässt. Diese Ärzte, die ihren hippokratischen Eid in so ungeheuerlicher Weise verletzten, quälten und massakrierten Menschen aus unterschiedlichen Motiven, die vom wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Interesse über rassenideologische Überzeugungen bis hin zu Profilierungssucht oder gemeinen Sadismus reichen. Im Hintergrund hatten Reichsführer-SS Heinrich Himmler und der Reichsgeschäftsführer des SS-„Ahnenerbes“, Wolfram Sievers, ihre Hände im Spiel, die Namen der Täter, die Orte und die Art ihrer Übergriffe sind weithin bekannt: Der Luftwaffenarzt Sigmund Rascher und seine Höhenlagenversuche und Unterkühlungsversuche in Dachau; die dortigen Meerwasser-Experimente Wilhelm Beiglböcks; „Doktor Tod“ Aribert Heim, der in Mauthausen Häftlingen bei Bewusstsein Organe entnommen habe; der Straßburger Professor August Hirt, der Insassen des Lagers Natzweiler-Struthof mit Senfgas traktierte und zur Anlage seiner „Schädelsammlung jüdisch-bolschewistischer Kommissare“ vergasen ließ; Josef Mengele und seine Experimente an Zwillingen und Kleinwüchsigen in Auschwitz; ebendort Professor Carl Clauberg und seine Zwangssterilisierungen; die Mitwirkung Herta Oberheusers an den Ravensbrücker Sulfonamidversuchen; das vorsätzliche Infizieren gesunder Menschen mit Fleckfieber zur Testung von Impfstoffen unter Erwin Ding-Schuler in Buchenwald, unterstützt von Waldemar Hoven und dem Kapo Arthur Dietzsch. Deren Werdegang, Charakter, Untaten, weiterer Lebensweg und vor allem das Leiden der ihnen ausgelieferten Opfer sind jeweils Gegenstand der einzelnen Kapitel.

 

Ein ungeschminkter, auch sarkastischer Ton durchzieht Michel Cymes‘ Bericht und lässt an Direktheit nichts zu wünschen übrig. Legt man aber die strengen Maßstäbe des akademischen Fachhistorikers an, so empfindet man doch ein gewisses Befremden angesichts dieser stark emotionalisierten Diktion, die bisweilen mit sachlichen Ungenauigkeiten und dem Referieren historisch umstrittener, makabrer Sensationseffekte einhergeht. Das ist deshalb bedauerlich, weil die präsentierten Fakten an sich so grauenvoll sind, dass ein solches Vorgehen eher kontraproduktive Wirkungen zeitigt. Einige Beispiele: Über Sigmund Rascher schreibt der Verfasser: „Willenlos und ohne jedes Mitgefühl fletscht Rascher die Zähne, ist zu allem bereit, um Herrchen Himmler und Frauchen Diehls einen Knochen zu schenken. […] Rascher hat das Herz eines Hundes, vor allem aber das eines Schoßhündchens“ (S. 29). Darüber, dass Raschers Frau Karoline Diehls „höchstwahrscheinlich Himmlers Ex-Geliebte“ (S. 28) gewesen sein soll, weiß jedenfalls die umfangreiche Himmler-Standardbiographie Peter Longerichs nichts zu berichten. Der sich selbst als Mussolini-Befreier gerierende Otto Skorzeny war mit Sicherheit kein „kunstfertige(r) deutsche(r) Segelflieger“ (S. 56), und Reinhard Heydrich nicht nur salopp „ein( ) arisch blonde(r), talentierte(r) junge(r) Mann, den Hitler vergöttert“ (S. 147), sondern in erster Linie wohl der mächtige Chef des Reichssicherheitshauptamtes und in dieser Funktion nach heutigem Wissensstand einer der maßgeblichen Architekten der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“. Wenn über die Person des Mediziners Carl Clauberg geschrieben wird, „mit seinem Mondgesicht, dem knubbeligen Schädel, dem dünnen, spärlichen Haar, den schmalen Lippen und dem Doppelkinn sieht er wie ein vorgealterter Säugling aus“ (S. 129), mag das, folgt man der Abbildung im zentralen Bildteil, zutreffend beobachtet sein, schrammt aber bedenklich am Denunziatorischen vorbei. Es darf auch gefragt werden, ob der Hinweis auf die historisch umstrittenen Buchenwalder Lampenschirme aus Menschenhaut (S. 168) die Seriosität der Publikation wirklich befördert.

 

Schließt man aus dem Gesamten auf die Gefühlslage des Verfassers, so darf man eine Mischung aus Empörung und Verstörung vermuten. Empörung einmal über die Verbrechen, zu denen sich diese Ärzte bereitfanden, über die Art und Weise, wie sie diese später zu rechtfertigen suchten, und über das unzureichende Strafmaß, das überdies nur wenige von ihnen zu verbüßen hatten. Verstörung wiederum darüber, dass „diese Ärzte des Grauens […] nicht alle inkompetent waren“ (S. 10) und dennoch den Missbrauch wehrloser Menschen bedenkenlos und ohne Gnade praktizierten, dass „ihre Komplizen in den renommierten medizinischen Fakultäten und in den Labors der Pharmaindustrie (saßen)“, dass „bei den allermeisten Versuchen jedenfalls nicht das Geringste heraus(kam)“ (S. 185f.) und sich die Siegermächte trotzdem nicht scheuten, die Vertreter dieser fragwürdigen Expertise ohne moralische Skrupel in ihren Dienst zu stellen. Michel Cymes‘ Fazit ist ob dieser Unempfindlichkeiten auch hinsichtlich Gegenwart und Zukunft skeptisch; er imaginiert die Schreie der Opfer und schließt seinen Essay mit der prophetischen Frage: „Wer kann sicher sein, dass wir sie nie wieder hören werden?“ (S. 186). Es sind, neben der stets spürbaren, glaubhaften Betroffenheit des Verfassers und der neuerlichen Erinnerung an diese Opfergruppe, diese aus wohlbekannten Fakten - vieles, was hier berichtet wird, konnte bereits 1946, noch vor Eröffnung des Nürnberger Ärzteprozesses, in der zahlreich wiederaufgelegten (aber hier erstaunlicher Weise gar nicht zitierten) Standardschrift „Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager“ des Soziologen und ehemaligen Buchenwalder Häftlingsschreibers Eugen Kogon nachgelesen werden - abgeleiteten Denkanstöße, die der Publikation Gewicht verleihen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic