Baumann, Anette, Die Gutachten der Richter. Ungedruckte Quellen zum Entscheidungsprozess am Reichskammergericht (1524-1627) (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammerforschung Heft 43). Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Wetzlar 2015. 24 S. 1 CD-ROM. Besprochen von Bernd Schildt.

 

Im Zentrum der Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich standen in der Vergangenheit die in großer Zahl vorhandenen, und was das Reichskammergericht angeht, dezentral überlieferten und mittlerweile insgesamt gesehen auch gut erschlossenen Prozessakten. Auch das Projekt zur Neuverzeichnung eines wesentlichen Teils der in Wien lagernden reichshofrätlichen Prozeßakten ("Alte Prager Akten", "Antiqua") kommt gut voran (erschienen sind bis zum Jahr 2015 sieben Bde).

 

So erfreulich sich auf dieser Grundlage die Reichskammergerichtsforschung aufs Ganze gesehen in den letzten Dezennien auch entwickelt hat, so wissen wir doch nach wie vor sehr wenig über die juristischen Überlegungen und Argumente die für die Assessoren bei der Entscheidungsfindung im Einzelfall maßgeblich gewesen waren. Dieses Forschungsdesiderat resultiert aus dem allgemein bekannten Umstand, dass die separate Überlieferung der den internen Beratungen am Reichskammergericht zugrundeliegenden Relationen und Voten für die Speyerer Zeit vollständig vernichtet worden ist und für die Wetzlarer Zeit erst 1712 einsetzt. Der Forschung war insoweit keine konkrete Überlieferung von Relationen und Voten für die Speyerer und frühe Wetzlarer Zeit bekannt. Anette Baumann hat bereits 2004 unter Rückgriff auf die Kameralliteratur (vgl. Gedruckte Relationen und Voten des Reichskammergerichts vom 16. – 18. Jahrhundert. Ein Findbuch. QFHG Bd. 48). durch die Auswertung von 21 einschlägigen Titeln insgesamt 1.346 Entscheidungen Relationen und/oder Voten nachweisen können.

 

Nunmehr hat die Verfasserin die Erschließung der archivalischen Überlieferung von Relationen und Voten im so genannten Untrennbaren Bestand, der seit 2010 im Bundesarchiv Berlin Lichterfelde lagert, vorgenommen. Dabei handelt es sich ganz überwiegend um die Bestände Heiliges Römisches Reich und Deutscher Bund einschließlich Provisorischer Zentralgewalt (1495-1866): Reichskammergericht, Miscellanea (38) und Reichskammergericht, Vota Miscellanea (2). Hinzu kommen einzelne Bestände aus der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (1), der Niedersächsischen Landesbibliothek, Hannover (2), dem Haus-, Hof-, und Staatsarchiv, Wien (1), der Forschungsstelle, Wetzlar (1), dem Bayerischen Staatsarchiv, Nürnberg (4) und der Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel (3); wobei offen bleibt, ob diese "Ergänzungen" von außerhalb des " Untrennbaren Bestandes" im Ergebnis systematischer Recherchen, also planmäßig ermittelt worden sind oder ob es sich um "Zufallsfunde" handelt.

 

Als Resultat aus der Durchsicht von ca. 30.000 Seiten paleographisch schwierigen Aktenmaterials in deutscher und (überwiegend) lateinischer Sprache konnte Baumann für den Zeitraum von 1505-1631 fast 3.100 archivalische Nachweise für Voten mit exakter Fundstelle dokumentieren und ca. 540 davon bereits verzeichneten Prozessakten zuordnen. Parallelüberlieferungen zu den Voten finden sich eher selten (ca. 120 Belege). Mit lediglich 206 Belegen für den Zeitraum von 1530-1621 fällt die Zahl der Nachweise für Relationen deutlich geringer aus. Zu über 60 Prozent davon werden dabei auch Informationen zu Voten mitgeteilt; eine Zuordnung zu konkreten Prozessakten erfolgt jedoch leider nicht.

 

Durch diese Erschließungsarbeit Anette Baumanns wird der Zugang zu einer inhaltlichen Analyse dieses sperrigen Materials ganz wesentlich erleichtert. Von besonderem Interesse dürften die Voten sein, die sich den Prozessakten zuordnen lassen, da nunmehr beide Quellengruppen im Kontext beurteilt werden können. Die bereits vorliegenden Querverweise (in DB Schildt) werden nicht näher erläutert, sind aber mindestens in Teilen fehlerhaft. Deren Zahl ließe sich durch eine aktualisierte Abgleichung mit der Datenbank zur Höchstgerichtsbarkeit[1] nicht unerheblich erhöhen. Bedeutsam sind auch die Informationen zu den Prokuratoren und vor allem die Assessoren, da Zeiträume erfasst werden für die es an Überlieferungsmaterial zum Personal des Reichskammergerichts mangelt. Sollte es auch noch gelingen, die Relationen den Prozessakten zuzuordnen, würde dies die Möglichkeit eröffnen, die juristische Argumentation der Prokuratoren mit der der Assessoren zu vergleichen.

 

Leider geht die im Begleitheft offerierte Suche nach der Datenbank im Netz ins Leere, hier sollte rasch nachgebessert. Die Darbietung der einzelnen Datensätze als PDF-Dateien an Stelle eines umfänglichen Druckes ist angesichts der großen Zahl grundsätzlich zu begrüßen. Auch lassen sich durch Nutzung der Zoom-Funktion die im Begleitheft – das im übrigen vieles nur unzureichend erklärt – viel zu stark verkleinerten Graphiken immerhin lesbar machen. Problematisch an der Gestaltung der umfangreichen PDF-Datei ist das Fehlen eines Inhaltsverzeichnisses und die Tatsache, dass für die rund 3.100 nachgewiesenen Voten jeder Datensatz auf zwei Seiten dargestellt wird, obwohl es vom Platzvolumen her problemlos möglich gewesen wäre, jeden Datensatz übersichtlich auf einer Seite zu plazieren.

 

Schließlich werden die datenbanktechnischen Möglichkeiten, die Access bietet, leider bei weitem nicht genutzt – hier wäre wohl die Hilfe eines mit diesem Programm vertrauten Fachmannes gefragt gewesen. So kann beispielsweise der Streitgegenstand nur grob abgefragt werden, obwohl vertiefte und mehrstufig gegliederte Informationen dazu durchaus vorliegen. Vor allem aber sind keine kombinierten Abfragen von Zeiträumen und/oder Streitgegenständen und/oder Assessoren und/oder Prokuratoren und/oder Parteinamen möglich. Es fehlt schlicht an den entsprechenden abfragetechnischen Verknüpfungen der vorhandenen Datensätze. Die als Abfragen konzipierten Berichte sind schwer handhabbar; so wird die Benutzung durch die Verwendung von sich nicht immer ohne weiteres selbst erklärenden Abkürzungen und der Verzicht auf Angaben zur Gesamtzahl der Treffer erheblich erschwert.

 

Das Gesamtbild vorliegender Publikation ist ambivalent. Einerseits handelt es sich, abgesehen von kleineren formalen Fehlern, wie sie bei der Erfassung von Massendaten wohl nicht gänzlich zu vermeiden sind, um eine wichtige Quellenerschließungsarbeit; andererseits wird deren Handhabbarkeit unnötigerweise durch formale Mängel, das unzureichende Begleitheft und vor allem durch eine nicht überzeugende datenbanktechnische Präsentation erschwert. Verbesserungswürdig erscheinen vor allem die Recherchemöglichkeiten. Immerhin erlaubt die digitale Version Nachbesserungen, vielleicht sogar die Zusammenführung mit dem bereits 2004 von Baumann vorgelegten und wohl grundsätzlich kompatiblen Findbuch zu den gedruckten Relationen und Voten des Reichskammergerichts.

 

Jatznick                                                                                                  Bernd Schildt



[1]Vgl. http://www.jura.uni-wuerzburg.de/en/lehrstuehle/amend_traut/forschungsprojekt_datenbank_hoechstgerichtsbarkeit/