Fried, Johannes, Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift. Akademie Verlag, Berlin 2012. 181 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Wissen ist gespeicherte Erfahrung, so dass auch geschichtliches Wissen gespeicherte Erfahrung über vergangenes Geschehen ist. Je mehr Menschen im langen Lauf der Geschichte von der Richtigkeit des Wissens überzeugt sind, desto schwieriger wird einerseits eine Widerlegung und umso glanzvoller ist der Ruhm bei unerwartetem Gelingen. Der gordischen Knoten und das Ei des Kolumbus sind vielleicht die allgemein bekanntesten Beispiele dafür.

 

Da auch der Gang nach Canossa im deutschen Denken sprichwörtlich geworden ist, lässt sich der besondere Reiz einer völlig neuen Sicht des bekannten und wichtigen Vorgangs für jeden bedeutenden mediävistischen Historiker leicht verstehen. Johannes Fried hat sich ihm nach vielen Jahren eindringlichen, vielfältige neue Erkenntnisse zu Tage fördernden Forschungslebens nicht entzogen. Als Ergebnis seiner Aufmerksamkeit versprechenden Entlarvung einer Legende stellt er in wenigen Worten fest, dass mit Canossa der Papst die Ehre des Königs und der König die Ehre des Papstes förderte und dieser wechselseitige Schutz der Ehre den Frieden förderte.

 

Der Weg dorthin erfolgt über die Notwendigkeit des kritischen Umgangs mit Erinnerung, die Kritik der erinnerungsunkritischen, Legenden fortschreibenden Kritik, der Prüfung der Vertrauenswürdigkeit der Geschichtsschreiber Lampert von Hersfeld, Bruno und Berthold. Auf dieser Grundlage zeichnet der Verfasser nach Betrachtungen über deformierte Erinnerungen im kollektiven Forschungsgedächtnis, Irritationen der Forschung durch stets und überall mögliche tendenziöse Geschichtsschreibung und den schweigenden König eine eigenständige Rekonstruktion mit einem Pakt von Canossa mit dem umfassenden Ziel der Ehre im Mittelpunkt. Nur die Zukunft kann weisen, ob sich der interessante, auch durch eine hilfreiche tabellarische Übersicht gestützte, ausdrücklich als Streitschrift bezeichnete, dem Leser aber ebenso ausdrücklich ein Urteil darüber überlassende Gang gegen die Deformationsmacht der Erinnerung und die bisher vorherrschende Ansicht in der mediävistischen Geschichtswissenschaft zum weiteren Ruhme durchsetzen können wird.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler