Österreich vor dem Europäischen Gerichtshof

 

Im Jahre 1986 wechselte ein C4-Professor aus Deutschland auf Grund eines Rufes nach Österreich, wo er zum ordentlichen Universitätsprofessor ernannt, ihm aber die besondere, gesetzlich auf 15jährige Tätigkeit als ordentlicher Professor in Österreich beschränkte besondere Dienstalterszulage nach § 50a GG (Gehaltsgesetz) verwehrt wurde. 1995 wurde Österreich Mitglied der Europäischen Gemeinschaft. Im Vertrauen auf die Geltung von Gemeinschaftsrecht in allen Mitgliedstaaten beantragte der ordentliche Universitätsprofessor 1996 die besondere Dienstalterszulage.

Die betroffene Universität lehnte die Gewährung unter Berufung auf das geltende, ausländische Dienstzeiten ausschließende und damit österreichische ordentliche Professoren ausländischer Herkunft benachteiligende, bei Eintritt Österreichs in die Europäische Gemeinschaft europarechtswidrig nicht europarechtlich angepasste Gesetz aus einer Mehrzahl von Gründen ab. Die Berufungsbehörde schloss sich dem an. Daraufhin erhob der Betroffene Klage vor dem Verwaltungsgerichtshof Österreichs als dem einzigen Verwaltungsgericht Österreichs.

Auf Anregung des Klägers richtete der Verwaltungsgerichtshof in diesem Rechtsstreit am 22. 10. 1997 ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof (C-382/1997). Dieser wies am 11. 3. 1998 den Verwaltungsgerichtshof auf die am 15. 1. 1998 ergangene Vorentscheidung Schöning-Kougebetopoulou (C-15/1996, Slg. 1998, I-47) hin und fragte den Verwaltungsgerichtshof, ob er im Hinblick auf diese Vorentscheidung seinen Antrag noch aufrecht erhalte. Der Verwaltungsgerichtshof teilte dem Kläger unter dem 15. 3. 1998 mit, dass er vorläufig davon ausgehe, dass die den Gegenstand des fraglichen Vorabentscheidungsverfahrens bildende Rechtsfrage zu Gunsten des Klägers gelöst worden sei.

Mit Beschluss vom 24. Juni 1998 nahm der Verwaltungsgerichtshof sein Vorabentscheidungsersuchen zurück. Befreit von der Vorabentscheidungsgewalt des Europäischen Gerichtshofs entschied er unter Aufgabe einer früheren Rechtsauffassung gleichzeitig zu Lasten des Klägers. In dem daraufhin vom Kläger vor dem zuständigen Zivilgericht gegen die Republik Österreich begonnenen Schadensersatzstreit regte der Kläger erneut ein Vorabentscheidungsverfahren an, in dem der Europäische Gerichtshof am 30. 9. 2003 (C-224/2001) den Rechtsanspruch des Klägers auf die besondere Dienstalterszulage bejahte, die europarechtliche Staatshaftung für gerichtliche Fehlentscheidungen begründete, die Fehlentscheidung des Verwaltungsgerichtshofs aber zunächst nicht als vorsätzlich einstufte, wenig später aber in einem anderen Verfahren die in dem Verfahren des Klägers gegenüber dem Kläger festgelegten Voraussetzungen für einen Staatshaftungsanspruch als zu hoch beurteilte (C-173/2003).

Die gesamten Vorgänge eröffnen die wissenschaftliche Frage nach der Stellung Österreichs vor dem Europäischen Gerichtshof, vor dem nach allgemein verfügbaren Unterlagen zwischen 1953 und 2006 insgesamt 14495 Rechtssachen anhängig wurden. Davon betrug die Zahl der Vorabentscheidungsverfahren 5765. Die Zahl der durch Urteil beendeten Verfahren belief sich mit insgesamt 7178 auf etwa die Hälfte aller anhängig gemachten Verfahren, während die andere Hälfte (wie etwa in C-382/1997) anderweitig erledigt wurde.

Vom Jahr 1997, in dem erstmals das neue Mitglied Österreich in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs begegnet, bis zum Jahr 2006 wurden 5025 Verfahren neu anhängig. Darunter befanden sich 2366 Vorabentscheidungsverfahren. 2913 Verfahren wurden durch Urteil beendet.

Österreich war zwischen 1997 (bzw. zwischen seinem Eintritt im Jahre 1995) und Spätsommer 2007 bei insgesamt 182 durch Urteil des Europäischen Gerichtshofs beendeten Verfahren beteiligt. Davon  waren 31 Verfahren Vertragsverletzungsverfahren und 148 Verfahren Vorabentscheidungsverfahren. Hinzu kamen 3 Nichtigkeitsklagen Österreichs gegen Entscheidungen europäischer Organe.

Die Gesamtzahl aller eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren betrug zwischen 2000 und 2006 insgesamt 1342 und damit jährlich 192. Davon betrafen Österreich 85. Das sind 6,33 Prozent und damit mehr als der vielleicht zu erwartende Anteil von 5,85 Prozent bei Berücksichtigung der Zahl der 15 bzw. 25 Mitgliedstaaten (und von etwa 2,10 Prozent bei Zugrundelegung der Bevölkerungszahlen).

Im Jahre 2006 wurde dabei Österreich in 10 Vertragsverletzungsverfahren verurteilt. Diese Zahl ist mit der Gesamtzahl von 103 Verurteilungen in Bezug zu setzen. Bei 25 Mitgliedstaaten ist eine Verurteilung Österreichs in fast 10 Prozent der Fälle erkennbar überdurchschnittlich hoch.

Die Gesamtzahl der Vorabentscheidungsverfahren betrug zwischen 1997 und 2006 genau 2366. Davon war Deutschland mit 22,1 Prozent beteiligt. Österreich erreichte bezogen auf seine Einwohnerzahl einen erkennbar verhältnismäßig größeren Anteil von 12,1 Prozent.

Bei den insgesamt 182 durch Datenbanksuche ermittelten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs mit unmittelbarer Beteiligung Österreichs lässt sich in 48 Fällen ohne vertiefte Nachforschungen erkennen, zu wessen Gunsten die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ausgegangen ist. Dies war in 32 Fällen der Kläger. Geht man deshalb davon aus, dass die Häufigkeit der wohl meist von den Parteien angeregten Vorabentscheidungsersuchen auch ein Indiz dafür ist, dass die Kläger sich ein günstigeres Ergebnis von einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs erhoffen als von der Entscheidung der mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeit, so eröffnet die verhältnismäßig hohe Zahl der Vorabentscheidungsersuchen aus Österreich die weitere Einsicht, dass in Österreich eine europafreundliche Entscheidung eher vom Europäischen Gerichtshof als von österreichischen Gerichten erwartet wird..

Auf Grund aller dieser statistisch gewonnenen Erkenntnisse gelangt der ermittelnde Bearbeiter zu dem Gesamtergebnis, dass sich Österreich in gewissen Bereichen schwer zu tun scheine, von nationalen Interessen zu Gunsten einer gemeineuropäischen Haltung abzuweichen. In diesem Sinne lassen sich österreichische Zwischenentscheidungen der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung bezüglich der Rechtsfrage des Ausgangsverfahrens gut verstehen. Vor dem Europäischen Gerichtshof haben sie sich gleichwohl in jeder der drei Hinsichten Legislative, Exekutive und Judikative als denkwürdiges Unrecht erwiesen.

 

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs bezüglich Österreichs von 1997-2007 (bearb. v. Dobler P.)

 

Nichtigkeitsklagen vor dem Europäischen Gerichtshofs bezüglich Österreichs von 1997-2007 (bearb. v. Dobler P.)

 

Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshofs bezüglich Österreichs von 1997-2007 (bearb. v. Dobler P.)

 

Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshofs bezüglich Österreichs von 1997-2007 (bearb. v. Dobler P.)