1 Ganz Germanien wird von den Galliern, Rätiern und Pannoniern durch die Flüsse Rhein und Donau, von den Sarmatiern und Dakiern wechselseitig durch Furcht oder durch Berge getrennt; das weitere Germanien umgibt das Weltmeer, das die breiten Buchten und die Inseln in unermesslicher Entfernung umfasst, einst waren gewisse Völker und Könige bekannt, die Kriege begannen. Der Rhein, der in dem unerforschten Gebirgskamm der Rätischen Alpen entspringt, mündet mit einer mäßigen Biegung nach Westen gewendet in die Nordsee. Die Donau, die vom sanft ansteigenden herausgehobenen Bergkamm des Schwarzwaldes herausströmt, fließt zu vielen Völkern und bricht schließlich in sechs Mündungsarmen ins Schwarze Meer heraus; die siebte Mündung erschöpft sich im Moor.
2 Ich glaube, dass diese Germanen Ureinwohner sind und keineswegs durch die Einwanderung und gastliche Aufnahme fremder Völker vermischt wurden, weil einst nicht über Land, sondern mit einer Flotte herbeikam, wer die Heimat wechseln wollte, und das auf der anderen Seite der Welt liegende Weltmeer wird selten von Schiffen aus unserem Umkreis befahren. Ferner, wer würde außer der Gefahr des scheußlichen und unbekannten Meeres, Asien, Afrika oder Italien zurücklassen und nach Germanien streben, nach dem Hässlichen in der Erde nach dem Rauen im Himmel, nach dem Traurigen in Lebensweise und Anblick, außer wenn es sein Vaterland wäre?
Sie feiern in alten Liedern, was bei ihnen eine Art der geschichtlichen Überlieferung und der Annalen ist, den aus der Erde geborenen Gott Tuisto. Diesem schreiben sie den Sohn Mannus, den Ursprung und Schöpfer der Völker, dem Mannus wiederum schreiben sie drei Söhne zu, aus deren Namen sich die Stämme am nächsten zum Weltmeer Ingävonen nennen, die mittleren Hermionen und die übrigen Istävonen. Aufgrund der Unsicherheit in der alten Überlieferung versichern einige, weitere Stämme seien von diesem Gott gekommen und es gäbe mehr Bezeichnungen für die Völker, Marser, Gambrivier, Sueben und Vandalen, und dies seien die wahren und alten Namen. Außerdem ist die Bezeichnung Germanien erst neulich hinzugefügt worden, weil ja die, die zuerst den Rhein überquerten und die Gallier vertrieben, nun Tungrer heißen, aber damals Germanen genannt wurden: so kam allmählich der Name des Stammes, nicht des Volkes, in Gebrauch, sodass sie zuerst vom Erfinder des Namens aus Furcht, bald auch von ihnen selbst Germanen genannt wurden.
3 Es gab einige bei ihnen, die sich an Herkules erinnern, und sie besangen den ersten der tapferen Männer, wenn sie in die Schlacht zogen. Hierfür sind auch diese Lieder, die sie Barditus nennen, durch deren Wiedergabe sie die Seelen in Erregung versetzen und durch den sie Glück in der kommenden Schlacht prophezeien; sie fürchten sich nämlich oder sie sind unschlüssig, je nachdem wie das Schwert erklang und es waren weniger Stimmen als vielmehr der Einklang ihrer Tapferkeit. Es wird besonders eine Rauheit in der Stimme erstrebt und ein abgehacktes Dröhnen, durch die zum Schutz vor den Mund gehaltenen Schilde schwillt die Stimme durch den Widerhall voller und stärker an. Außerdem glauben einige, dass auch Odysseus auf jener langen und sagenhaften Irrfahrt in dieses Weltmeer fort getragen wurde und die Länder Germaniens betreten hatte und dass Asciburg, das am Ufer des Rheines liegt und noch heute bewohnt wird, von jenem gegründet und benannt worden ist. Ja sogar der Tempel wurde von Odysseus geweiht und mit dem Namen des Vaters, Laertius, versehen, und es wurden Denkmäler und Grabhügel gefunden, die mit griechischen Buchstaben beschrieben waren und die im Grenzgebiet zwischen Germanien und Raetien noch immer vorhanden sind. Es ist weder beabsichtigt, dies mit Argumenten zu belegen, noch es zu widerlegen: ganz nach seiner Art soll jeder das Vertrauen entziehen oder schenken.
4 Ich selbst folge der Meinung derer, die glauben, dass die Völker Germaniens durch überhaupt keine Verbindungen mit anderen Stämmen verfälscht wurden und das Volk eigenständig und unverfälscht und nur ihnen selbst ähnlich hervorkam. Daher kommt das Aussehen auch der Körper, trotz der so großen Zahl bei allen gleich: die Augen trotzig und blau, die Haare röt-lich, die Körper groß, stark und sehr tauglich für den Kampf. Arbeit und Mühe ertragen sie nicht mit der selben Geduld, am wenigsten halten sie Durst und Hitze aus, sie haben sich an Kälte und Hunger, durch Klima oder Boden bedingt, gewöhnt.
5 Wenn sich auch das Land im Einzelnen beträchtlich unterscheidet, im allgemeinen ist es entweder durch die Wälder rau oder durch die Sümpfe scheußlich; wo es nach Gallien geht, ist das Land feuchter, windiger, wo es nach Noricum und Pannonien weist. Es ist fruchtbar auf den Saatfeldern, aber abweisend gegenüber Obstbäumen, fruchtbar auch an Kleinvieh, das allerdings meist kleinwüchsig ist. Nicht einmal das Großvieh besitzt seinen Schmuck und seine Stattlichkeit an der Stirn; sie erfreuen sich an der großen Anzahl der Rinder, sie sind ihr wertvollster Besitz. Gold und Silber sind ihnen versagt, ich zweifle, ob aus Gnade oder aus Zorn der Götter. Und dennoch würde ich nicht behaupten, dass in keiner Ader Germaniens Gold oder Silber liegen; wer hat es denn gesucht? Durch Besitz und Gebrauch werden sie nicht besonders versucht. Man kann bei ihnen silberne Gefäße sehen, die ihnen von Legaten und Kaisern zum Geschenk gemacht wurden, sie halten sie genauso in Geringschätzung wie die Dinge, die aus Ton gebrannt werden. Dennoch schätzen die benachbarten Stämme wegen des Handelsverkehrs Gold und Silber sehr, sie erkennen gewisse unserer Geldsorten an und bevorzugen es: die weiter im Landesinneren leben, bedienen sich eines älteren und einfache-ren Tauschhandels. Sie erkennen das alte und lange bekannte Geld an, die Serraten und Biga-ten. Sie streben auch mehr nach dem Silber als nach Gold, nicht aus Vorliebe, sondern weil der geringere Wert der Silberdenare eher zum Erwerb gewöhnlicher und preiswerter Waren von Nutzen ist.
6 Nicht einmal Eisen ist im Überfluss vorhanden, so kann man auch auf alle Waffen schließen. Selten verwenden sie Schwerter oder Speere mit längeren Eisenspitzen. Sie führen Krieg mit der Lanze, oder wie es in ihren Worten heißt, mit der Frame, die eine sehr kurze Eisenspitze hat, sie ist doch so stark und zum Kampf geeignet, dass sie mit dieser Waffe, je nachdem wie es die Situation erfordert, entweder im Nahkampf oder im Fernkampf streiten. Auch der Reiter begnügt sich mit Schild und Frame, die Fußsoldaten schleudern Geschosse, jeder mehrere, sie schleudern sie bis ins Unermessliche, mit nacktem Oberkörper oder einem leichten Umhang bekleidet. Es gibt keine Prahlerei mit prächtiger Aufmachung: sie bemalen ihre Schilde mit sehr lebendigen Farben. Für wenige gibt es Brustpanzer, kaum Helme oder Lederhauben für den einen oder anderen. Die Pferde sind weder durch Aussehen oder Geschwindigkeit auffallend. Auch werden sie nicht gelehrt, variierte Volten nach unserer Art zu reiten: sie reiten geradeaus oder nach rechts in einem geschlossenen Kreis, damit niemand zurückbleibt. Im Allgemeinen ist mehr Kraft bei den Fußsoldaten. Mit dieser Kraft kämpfen sie, mit angemessener und übereinstimmender Geschwindigkeit des Fußvolkes in die Schlacht zu den Reitern, die sie aus der gesamten Jugend ausgewählt und in den Kampf geschickt werden. Sie werden auch durch die Anzahl begrenzt: Es sind aus jedem Dorf immer hundert, und so werden sie auch untereinander genannt, und weil dies die Anzahl war, daher ist auch der Name eine Ehre. In die Schlacht ziehen sie zu einem Keil aufgestellt. Von der Stelle zu weichen, wenn nur der Gegner wieder bedrängt wird, halten sie eher für kluge Berechnung als für Furcht. Die Körper der Ihren bringen sie auch aus unentschiedener Schlacht zurück. Den Schild zurück zu lassen gilt als besondere Schande, und es ist dem Ehrlosen streng verboten, die Heiligtümer zu besuchen oder in eine Versammlung zu gehen, und viele Überlebende der Kriege haben die Schmach mit dem Strick beendet.
7 Die Könige wählen sie aus dem Adel, die Heerführer nach ihrer Tapferkeit aus. Es haben die Könige keine unbeschränkte oder unbegrenzte Macht, auch die Heerführer geben lieber ein gutes Beispiel als ihre Herrschaft auszuüben, wenn es weithin und für alle sichtbar ist, und wenn sie so vor der Schlacht handeln, führen sie aufgrund der Bewunderung. Keiner wird geschlagen oder bestraft, nicht einmal gefesselt, wenn es nicht vom Priester erlaubt wird, so geschieht es in der Schlacht nicht auf Befehl des Heerführers, sondern auf Geheiß des Gottes, von dem sie glauben, dass er ihnen in der Schlacht beisteht. Sie tragen auch einige Bilder und Symbole in den Kampf, die sie aus dem Wald holen; ein besonderer Ansporn für die Tapferkeit ist auch, dass die Reiterei und die Fußtruppen nicht vom Zufall oder von willkürlichen Zusammenrottungen gebildet werden, sondern durch die Familien und die Verwandten; und die Angehörigen stehen ihnen am nächsten, von dort hören sie das Heulen der Frauen und das Wimmern der Kinder. Sie sind für jeden die heiligsten Zeugen und die größten Lobredner: Bei den Müttern und Ehefrauen zeigen sie ihre Wunden; jene fürchten sich auch nicht, die Wunden zu zählen und zu untersuchen, sie bringen den Kämpfern sowohl Speisen als auch Aufmunterung.
8 In der Tradition ist überliefert, dass schon manche wankende Schlachtreihe von den Frauen wieder gesichert wurde, mit der gleich bleibenden Unterstützung, mit dem Entgegenhalten der entblößten Brust, und mit dem Hinweis auf die drohende Gefangenschaft, die ihnen seit langem mit Rücksicht auf ihre Frauen immer unerträglicher erscheint. Man kann sich den Stamm wirksamer verpflichten, wenn man als Geiseln junge Frauen und auch Adlige fordert. Ja, sie glauben sogar, dass in den Frauen etwas Heiliges und Seherisches ist, und sie verschmähen weder deren Ratschlag, noch vernachlässigen sie deren Antworten. Wir haben gesehen, dass die Veleda unter Kaiser Vespasian lange bei vielen als göttliches Wesen galt; aber einst wurden die Aurinia und viele andere verehrt, aber nicht aus Schmeichelei, noch weil sie angeblich zu Göttinnen gemacht wurden.
9 Von den Göttern verehren sie Merkur am meisten, für den sie nach göttlichem Gesetz an bestimmten Tagen Tiere und Menschen opfern. Herkules und Mars besänftigen sie mit den erlaubten Tieren. Ein Teil der Sueben opfert auch der Isis: Woher der fremde Kult seine Ursachen und seinen Ursprung hat, ist zu wenig bekannt, außer dass das Zeichen, das nach der Art der Liburnerschiffe gestaltet ist, über die Herkunft der Religion Auskunft gibt. Außerdem meinen sie, dass es der Größe der Himmel nicht würdig ist, die Götter in Wänden einzuschließen oder auch nur im entferntesten dem menschlichen Aussehen nachzubilden: Sie weihen die Lichtungen und heiligen Haine und sie rufen mit den Namen der Götter jenes Geheimnisvolle an, das sie in großer Verzückung betrachten.
10 Die Germanen beachten die Vorzeichen und Orakel von allen am meisten. Der Brauch der Losorakel ist einfach. Sie schneiden von einem fruchttragenden Baum genommene Zweige zu kleinen Stücken, mit Zeichen kenntlich gemacht, und zerstreuen diese planlos und zufällig auf einem weißen Tuch. Dann nimmt der Priester des Stammes, wenn es öffentlich beraten wird, wenn es privat geschieht, tut es der Familienvater, dreimal je einen Zweig weg, indem er bittend zu den Göttern aufschaut, und die erhobenen Zweige werden gemäß der vorher eingeritzten Zeichen gedeutet. Wenn sie ungünstig sind, gibt es am laufenden Tag keine weitere Befragung in dieser Sache mehr; wenn es aber günstig ist, muss das Vorzeichen durch weitere Befragungen bestätigt werden. Es ist gewiss auch bekannt, dass sie die Stimmen und den Flug der Vögel auslegen. Eine Eigentümlichkeit des Stammes sind die Weissagungen und Warnungen durch die Pferde. Sie werden in den heiligen Hainen ernährt, weiß und durch kein menschliches Werk entweiht; sie werden vor den heiligen Wagen gespannt und vom Priester und König oder Heerführer des Stammes begleitet, die das Wiehern und Schnauben beobachten. Durch kein Vorzeichen kann das Vertrauen noch größer werden, nicht nur beim Volk, sondern auch bei den Vornehmen und Priestern; denn sie halten sich für Diener der Götter und die Pferde für deren Vertraute. Es gibt auch eine andere Art, die Vorzeichen zu betrachten, mit der sie den Ausgang der schweren Kriege herausfinden. Sie lassen einen Gefangenen, den sie wie auch immer ergriffen haben, aus dem Stamm, mit dem Krieg herrscht, mit einem ausgesuchten Mann aus ihrem Stamm kämpfen; der Sieg des einen oder es anderen wird als Vorentscheidung angenommen.
11 Über die geringeren Dinge beraten die Fürsten, über die wichtigeren beraten alle; dennoch wird auch, was seine Zuständigkeit beim Volk hat, bei den Fürsten vorher beraten. Sie kommen, wenn nicht etwas Unvorbereitetes passiert, an bestimmten Tagen zusammen, an Neumond oder Vollmond; sie glauben nämlich, dass dies der günstigste Anfang für die anstehenden Dinge ist. Sie rechnen nicht wie wir die Zahl der Tage, sondern die Zahl der Nächte. So setzen sie den Termin fest und so treffen sie Vereinbarungen: die Nacht scheint dem Tage voranzugehen. Jener Fehler kommt von der Freiheit, weil sie weder gleichzeitig, noch auf Befehl zusammenkommen, und durch die Verspätung bei der Ankunft noch der zweite und dritte Tag vergeudet wird. Die Bewaffneten nehmen Platz, wie es der Menge beliebt. Die Stille wird von den Priestern geboten, die dann auch das Recht zu strafen haben. Bald hören sie dem König oder dem Heerführer zu, je nach Alter, Herkunft, Kriegsglück oder Redegabe, es kommt mehr auf die Redegabe als auf die Befehlsgewalt an. Wenn die Worte missfallen, werden sie mit Murren abgelehnt; wenn es aber gefiel, schlagen sie die Framen zusammen: für den Stamm ist es die ehrenwerteste Zustimmung, mit den Waffen zu loben.
12 Auch ist es erlaubt, beim Rat jemanden zu beschuldigen und eine Entscheidung auf Leben und Tod anzustreben. Die Entscheidung über die Strafen fällt entsprechend dem Vergehen: Verräter und Überläufer hängen sie an Bäumen auf, Feiglinge, Weichlinge und Unzüchtige versenken sie im Moor oder im Sumpf und bedecken sie mit Flechtwerk. Die Verschiedenheit der Strafen hat den Sinn, die Verbrechen zu zeigen, wie es sich gehört, während die Schandtaten verborgen werden. Aber auch für die leichteren Vergehen haben sie je nach Ausmaß Strafen: die Überführten werden nach der Zahl ihrer Pferde und ihres Viehs bestraft. Ein Teil dessen wird dem König oder der Bürgerschaft, ein Teil dem Geschädigten oder dessen Angehörigen erstattet. Sie werden von den selben Räten oder Anführern ausgesucht, die in den Bezirken und Dörfern Gericht halten. Immer hundert Leute aus dem Volk stehen ihm als Ratgeber und Bürgen zur Seite.
13 Sie tun allerdings nichts, weder in privaten, noch in öffentlichen Angelegenheiten, wenn sie nicht bewaffnet sind. Aber es ist niemandem erlaubt, Waffen zu tragen, bevor die Bürgerschaft den Grund nicht als ausreichend billigt. Dann schmückt in einer Versammlung entweder ein Fürst, der Vater oder ein Verwandter den jungen Mann mit Schild und Frame: dies ist bei ihnen, was bei uns die Toga ist, die erste Ehre für die Jugend; vorher scheinen sie ein Teil der Familie zu sein, dann sind sie Teil des Staates. Auch den ganz jungen Männern dienen die edle Abkunft und die Verdienste der Väter zur Würdigung durch einen Fürsten: sie werden den Kräftigsten und schon längst Erprobten zugeteilt, es ist auch keine Schande unter den Gefolgsleuten zu erscheinen. Das Gefolge selbst hat sogar eine Rangfolge, die der Anführer beschließt. Es gibt einen heftigen Wettstreit unter den Gefährten, wer die erste Stelle vom Fürsten bekommt, und unter den Fürsten, wer mehr und bessere Gefolgsleute hat. Dies ist Würde, die Würde sind die Männer; immer von einer großen Schar erlesener junger Männer umgeben zu sein, ist im Frieden eine Zier, im Krieg ein Schutz. Der Name soll nicht nur beim eigenen Stamm, sondern auch bei den Nachbarn eine Ehre sein, wenn das Gefolge durch Zahl und Tapferkeit herausragen soll; sie werden nämlich von den Gesandten umworben und wegen ihrer Leistungen geehrt und sie verhüten schon durch ihren sehr großen Ruhm Kriege.
14 Wenn die Schlacht begonnen hat, ist es für den Fürsten schändlich, von anderen in Tapferkeit übertroffen zu werden, für das Gefolge ist es schändlich, der Tapferkeit des Fürsten nicht gleich zu kommen. Ganz besonders schändlich für den Rest des Lebens ist es aber, seinen Fürsten in der Schlacht zurückzulassen. Sie betrachten es als ihre heiligste Pflicht, jenen zu beschützen und auch ihre eigenen ruhmreichen Taten seiner Ehre hinzuzufügen. Die Fürsten kämpfen um den Sieg, die Gefolgsleute für ihren Fürsten. Wenn die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, durch langen Frieden und Muße gelähmt wird, streben viele junge Adlige zu den Völkern, die irgendeinen Krieg führen, weil die Ruhe dem Volk unangenehm ist und sie leichter in der Gefahr berühmt werden, außerdem wird man eine große Gefolgschaft durch nichts als durch Krieg und Macht zusammenhalten; sie fordern für sich wegen der Freigiebigkeit des Fürsten ihr Schlachtross, ihre blutige und siegreiche Frame; denn die Speisen, obwohl sie einfach sind, und die freigiebigen Gelage gelten als Entlohnung. Das Material für diese Freigiebigkeit kommt von Kriegen und Raubzügen. Man wird den Germanen nicht so einfach dazu bringen, den Acker zu pflügen und die Ernte abzuwarten, als den Feind zu rufen und Wunden zu erhalten; es gilt als faul und geradezu träge, sich im Schweiß zu erwerben, was man auch durch das Blut erhalten kann.
15 Sooft sie nicht im Krieg sind, verbringen sie mehr Zeit mit der Muße als mit der Jagd, sie sind mehr dem Schlaf und dem Essen ergeben: keiner der starken und kriegerischen Männer arbeitet etwas, sie haben die Besorgungen für Haus, Hof und Acker auf die Frauen, Alten und Schwachen übertragen: jene sind träge, durch einen auffallenden Widerspruch ihrer Natur, da sie die Trägheit ebenso sehr lieben, wie sie die Ruhe hassen. Es ist im Stamm eine Sitte, freiwillig und jeder für sich, dem Fürsten entweder Vieh oder Feldfrüchte zusammenzubrin-gen, was als Ehrengabe angenommen wird und den notwendigen Bedürfnissen zugute kommt. Sie freuen sich besonders über die Geschenke der Nachbarstämme, die nicht nur vom Einzelnen, sondern öffentlich überreicht werden, ausgesuchte Pferde, große Waffen, Orden und Halsketten; wir haben sie gelehrt, auch Geld anzunehmen.
16 Es ist hinreichend bekannt, dass die germanischen Völker keine Städte bewohnen, sie dulden nicht einmal untereinander verbundene Wohnsitze. Sie wohnen einzeln und voneinander getrennt, wie sie eine Quelle, ein Feld, einen heiligen Hain fanden. Sie legen den Hof nicht wie nach unseren Sitten in aneinanderstoßenden Gebäuden an: jeder umgibt sein Haus mit einem weiten Zwischenraum, entweder um Feuer zu verhindern oder aus Unkenntnis der Baukunst. Nicht einmal behauene Steine oder Ziegel sind bei ihnen in Gebrauch. Das Bauholz verwenden sie zu allen Zwecken nur unförmig und ohne schönes Aussehen oder Genuss. Gewisse Stellen bestreichen sie sorgfältig mit reiner und glänzender Erdfarbe, um Bilder und farbige Linien nachzuahmen. Sie pflegen unterirdische Höhlen anzulegen und beladen sie oben auf mit Dung, als Zufluchtsort im Winter und als Aufbewahrungsort für Früchte, weil solche Orte die Härte der Kälte mindern, und wenn die Feinde kommen, verwüsten sie die sichtbaren Dinge, aber die versteckten oder vergrabenen Dinge bleiben unerkannt und es entgeht den Feinden, weil sie erst danach suchen müssten.
17 Die Bekleidung aller ist ein Umhang, der von einer Fibel oder, wenn es keine gibt, von einem Dorn zusammen gehalten wird: sonst verbringen sie den ganzen Tag nackt beim Herd oder dem Feuer. Die Reichsten unterscheiden sich durch die Unterkleidung, die nicht wie bei den Sarmatern und Parthern wallt, sondern eng anliegt und jedes Körperteil hervortreten lässt. Sie tragen auch das Fell wilder Tiere; an den Flüssen sind sie nicht anspruchsvoll, aber weiter entfernt sind sie wählerisch, weil es dort für sie keinen Luxus durch Handel gibt. Sie wählen wilde Tiere aus und besetzen die abgezogene Hülle mit Fellflecken von Untieren, die das äußere Weltmeer und unbekannte Meere hervorbringen. Die Kleidung der Frauen und der Männer ist nicht unterschiedlich, außer dass die Frauen sich öfter mit einem Umhang aus Leinen bekleiden und ihn mit roter Farbe bunt machen, und sie ziehen die Kleider nicht über die Ärmel, die Unter- und die Oberarme sind nackt; sie lassen auch den vorderen Teil der Brust offen stehen.
18 Obwohl die Ehen dort streng sind, wird man doch keinen Teil ihrer Sitten mehr loben können. Sie sind beinahe die einzigen Barbaren, die sich mit einzelnen Frauen begnügen, mit Ausnahme einiger weniger, die nicht aus Liebe, sondern wegen ihres Adels von vielen mit Heiratsanträgen angegangen werden. Die Mitgift bietet nicht die Frau dem Ehemann, sondern der Mann der Ehefrau. Die Eltern und die Verwandten sind dabei und begutachten die Geschenke, die Gaben werden nicht zum Vergnügen der Frau verlangt, noch wird die Braut damit geschmückt, sondern es sind Rinder, ein aufgezäumtes Pferd und ein Schild mit Frame und Schwert. Mit diesen Gaben wird die Frau angenommen und im Gegenzug gibt sie selbst eine Waffe an den Mann: dies ist das stärkste Band, die heilige Weihe, dies wird von den Schutzgöttern der Ehe überwacht. Die Frau soll nicht denken, sie stehe außerhalb der Suche nach Heldentaten und außerhalb des Schlachtenglückes: gleich zu Beginn der Ehe wird sie daran erinnert, dass sie als seine Genossin ihm in Arbeit und Gefahren beisteht, und bereit ist, in Krieg und Frieden gleiches zu wagen und zu ertagen. Dies bedeuten die verbundenen Rinder, dies ist das kampfbereite Pferd, dies ist das Schenken von Waffen. So sollte sie leben und so sollte sie sterben; ihr wurde etwas anvertraut, das sie unentweiht und würdig an ihre Kinder weitergeben sollte, das die Schwiegertochter empfangen und an die Enkel weitergeben sollte.
19 Also leben sie in wohl behüteter Keuschheit, sie sind von keinen Verlockungen des Schauspiels oder der Festmähler verdorben. Geheime Liebesbriefe sind dem Mann wie der Frau ganz unbekannt. Trotz der großen Zahl des Volkes kommt Ehebruch nur selten vor, der dann augenblicklich vom Ehemann bestraft wird. Nachdem er ihr die Haare abgeschnitten hat, treibt der Mann die entblößte Frau vor den Augen der Verwandten aus dem Haus und schlägt sie durch alle Dörfer mit der Rute; preisgegebene Schande bringt nämlich nie wieder Vergebung: weder durch ihr Aussehen, noch durch ihr Alter, noch durch gute Werke wird man ihr verzeihen. Denn hier lacht niemand über das Laster und der Zeitgeist verlangt nicht nach Verführung. Es ist bei den Gesellschaften gewiss besser, wo viele Jungfrauen heiraten und es mit der Hoffnung und dem Gelübde der Ehefrau ein für allemal vorüber ist. So nehmen sie einen Ehemann, wie sie auch nur einen Körper und ein Leben haben, damit nicht die Überlegung über die Ehe hinaus geht, damit die Begierde nicht weiter reicht, damit sie nicht so sehr den Mann als vielmehr die Ehe lieben. Die Zahl der Kinder zu begrenzen oder einen nachgeborenen Sohn zu töten bringt Schande und hier sind gute Sitten mehr wert als anderswo die guten Gesetze.
20 Die Kinder wachsen im Haus nackt und schmutzig zu dem Körperbau heran, den wir bewundern. Die Mutter gibt jedem Kind selbst die Brust, sie überlässt das keiner Amme und keiner Magd. Den Herrn und den Sklaven erziehen sie gleich und ohne Verzärtelung: sie leben in der selben Herde und auf dem selben Boden und nur das Alter unterschiedet sie, das ihnen Tugend und Anerkennung verschafft. Spät erst kommen die jungen Männer zum Liebesgenuss, daher ist ihre Zeugungskraft unverbraucht. Man beeilt sich auch bei den Mädchen nicht, daher hat die Jugend den gleichen hohen Wuchs: sie heiraten im gleichen Alter und im gleichen Wuchs wie die Männer und die Kinder erhalten die Stärke der Eltern. Die Söhne der Schwestern haben beim Onkel die selbe Geltung wie beim Vater. Einige Stämme betrachten diese Blutsbande als heiliger und enger und sie geben ihnen den Vorzug, wenn sie Geiseln empfangen, als ob man sich verpflichten würde, die Gesinnung zu festigen und die Sippe zu vergrößern. Dennoch sind für jeden die Erben und Rechtsnachfolger alle Kinder, es gibt kein Testament. Wenn es keine Kinder gibt, sind die nächsten bei der Besitzergreifung die Brüder, dann die Onkel, zunächst auf der väterlichen Seite. Je mehr Blutsverwandte es gibt und je größer die Zahl der Verschwägerten ist, desto größer ist das Ansehen der alten Männer; für die Kinderlosigkeit gibt es keinen Lohn.
21 Es ist nötig, die Feindschaften und die Freundschaften des Vaters und der Verwandten auf sich zu nehmen. Die Fehden bestehen aber nicht fort: denn auch Totschlag wird mit einer gewissen Zahl von Vieh gesühnt und die ganze Sippe erhält Genugtuung; das ist für das Allgemeinwohl nützlich, denn die Fehden sind für die Freiheit gefährlicher. Der Geselligkeit und Gastfreundschaft widmen sich die Germanen ausgedehnter als alle anderen Völker. Irgendeinen Menschen von seinem Haus fernzuhalten gilt als Unsitte; jeder nimmt es je nach Vermögen auf sich, Speisen zu bereiten. Wenn das Mahl verzehrt ist, wird der, der eben noch Gastgeber gewesen war, für den Gast zum Wegweiser und Führer; sie gehen uneingeladen zum nächsten Haus weiter. Doch das macht nichts: aus Freundlichkeit werden sie gleich aufgenommen. Niemand trennt, was das Gastrecht betrifft, Bekannte und Unbekannte. Den Fortziehenden gewährt man, was sie sich erbitten, sie folgen den Sitten und sie fordern von den anderen im Wechsel die gleiche Unbefangenheit. Sie freuen sich über die Geschenke, aber sie rechnen weder das Gegebene an, noch sind sie dem Angenommenen verpflichtet. Das Leben ist unter Gästen gemeinschaftlich.
22 Sofort nach dem Schlaf, den sie oft lange in den Tag hinein ziehen, waschen sie sich, oft mit warmen Wasser, da bei ihnen die meiste Zeit Winter ist. Sauber nehmen sie die Speisen ein: für jeden gibt es einen Stuhl und jeder hat seinen eigenen Tisch. Dann gehen sie in Waffen zu ihren Aufgaben über, nicht selten auch zu Gelagen. Es ist keine Schande, die ganze Nacht und den ganzen Tag durchzuzechen. Wiederholte Streitereien enden selten unter den Betrunkenen mit Schimpfwörtern, öfter mit Tod und Wunden. Doch auch über die Aussöhnung mit Feinden, den Abschluss von Heiraten und die Wahl der Stammeshäupter, über Krieg und Frieden beraten sie sich vielfach bei Gelagen, als sei der Mensch zu keiner Zeit aufgeschlossener für unverstellte oder stärker entbrannt für erhabene Gedanken. Das Volk scheint weder verschlagen noch schlau bei den geheimen Gedanken oder der Ausgelassenheit eines Scherzes. Die Gedanken aller sind also nackt und aufgedeckt. Am nächsten Tag wird noch einmal beraten und es gibt gute Gründe für beide Zeiten. Sie beraten, während sie sich nicht verstellen können, sie legen sich fest, wenn sie sich nicht irren können.
23 Als Getränk dient eine Flüssigkeit aus Gerste oder Weizen, die in einer gewissen Ähnlichkeit mit dem Wein gegoren wird; an den nahen Flüssen verkaufen sie auch Wein. Die Mahlzeiten sind einfach, aus wildem Obst, kräftigem Wildbret oder geronnener Milch: ohne Zubereitung und ohne Gewürze vertreiben sie den Hunger. Beim Durst verfahren sie nicht mit der gleichen Selbstbeherrschung. Wenn man, ihrer Trunksucht entsprechend, ihnen die Menge geben wollte, die sie so heftig begehren, könnte man sie kaum schwerer durch die Laster als durch die Waffen besiegen.
24 Das Volk kennt nur eine Art von Schauspiel und es ist bei jeder festlichen Zusammenkunft die gleiche: nackte, junge Männer, für die dies ein Vergnügen ist, werfen sich zwischen Schwerter und drohend erhobene Framen. Die Übung bringt Geschick, das Geschick Anmut, aber nicht zum Erwerb oder zum Lohn; die Lust der Zuschauer ist der einzige Lohn für das verwegene Spiel. Das Würfelspiel, was jeden verwundern muss, üben sie nüchtern und wie ein ernsthaftes Geschäft aus; mit solcher Unbesonnenheit gewinnen oder verlieren sie, dass sie, wenn alles Vermögen verspielt ist, mit dem letzten und entscheidenden Wurf über die Freiheit und das Leben entschieden. Der Besiegte nimmt die freiwillige Knechtschaft auf sich: egal wie jung oder wie stark er ist, er erträgt, dass er gebunden und verkauft wird. Dies ist in der Sache eine falsche Beharrlichkeit: sie selbst reden von Treue. Sie verkaufen Sklaven im Handel weiter, die sie unter diesen Bedingungen gewonnen haben, um sich aus der Schande des Sieges zu erlösen.
25 Daneben nutzen sie die Sklaven nicht nach unserer Sitte, dass die Dienerschaft zugeteilte Arbeiten hätte: jeder hat sein Heim und seinen Herd. Der Herr erlegt dem Pächter eine Abgabe von Getreide, Vieh oder Kleidung auf und nur so weit muss sich der Sklave fügen; weitere Hausarbeiten führen die Ehefrau und die Kinder aus. Den Sklaven zu schlagen, zu fesseln oder ihm Zwangsarbeiten zu geben, kommt selten vor: dann aber schlägt man ihn mit vollem Jähzorn tot, nicht aus strenger Zucht, sondern so wie gegen den Feind, die Sklaventötung ist aber straffrei. Die Freigelassenen stehen nicht viel über den Sklaven, selten haben sie im Hause eine Bedeutung, niemals in der Öffentlichkeit, mit Ausnahme der Völker, die von einem König regiert werden. Denn dort schwingen sie sich über die Freigeborenen und über die Adligen auf: bei vielen Stämmen ist die untergeordnete Stellung der Freigelassenen ein Beweis für die Freiheit.
26 Geldgeschäfte zu betreiben und Zinsen zu nehmen, ist unbekannt: daher ist man besser geschützt, als wenn es verboten wäre. Die Äcker werden von allen je nach Zahl der Bebauer gemeinsam in Besitz genommen, die sie untereinander weiter aufteilen; sie sorgen dafür, dass die Aufteilung des weiten Ackerlandes leicht vonstatten geht. Ihr Arbeitsaufwand wetteifert nicht mit der Fruchtbarkeit und der Größe ihres Bodens oder mit ihrer Arbeit, sie legen keine Obstgärten an, zäunen Wiesen ein oder bewässern Gärten: allein die Saatkörner soll die Erde hervorbringen. Daher teilen sie auch das Jahr selbst nicht in ebenso viele Abschnitte ein wie wir: für Winter, Sommer und Frühling haben sie Namen und Verständnis, den Herbst aber kennen sie ebenso wenig mit Namen, wie sie seine Gaben kennen.
27 Das Begräbnis verläuft ohne Prunksucht: man achtet nur darauf, dass die Körper der bedeutenden Männer mit bestimmten Hölzern verbrannt werden. Sie überhäufen die Schichtung des Scheiterhaufens weder mit Tuchen noch mit Räucherwerk. Jedem werden seine eigenen Waffen, manchen auch das Pferd ins Feuer mitgegeben. Über dem Grab erhebt sich ein Rasenhü-gel: sie verschmähen die Ehrung durch hoch aufragende und kunstvolle Grabmäler, denn es sei eine Last für den Verstorbenen. Klagen und Tränen legen sie schnell, Schmerz und Trauer erst langsam ab. Für Frauen ziemt sich das Klagen, für Männer das stille Gedenken. Dies nehmen wir im Allgemeinen von Ursprung und Sitten aller Germanen an: Nun werde ich die Einrichtungen und Gebräuche, insoweit sie sich unterscheiden, von den einzelnen Stämmen darlegen, die aus Germanien nach Gallien eingewandert sind.
28 Der große Berichterstatter Julius Caesar überliefert uns, dass einst die Gallier stärker waren als die Germanen; daher ist es glaubwürdig, dass Gallier nach Germanien gezogen sind. Wie wenig steht ihnen nämlich der Fluss entgegen, wenn ein Stamm erstarkt und die herrenlosen Sitze besetzt und bewohnt, bevor sie von einer königlichen Gewalt aufgeteilt waren. Zwischen dem herkynischen Wald und den Flüssen Rhein und Main leben die Helvetier, weiter östlich die Bojer, beides gallische Stämme. Bis heute überlebt der Name Böhmen und bezeugt die alte Vorgeschichte des Ortes, auch wenn es hier verschiedene Siedler gab. Aber ob etwa die Aravisker in Pannonien von dem germanischen Stamm der Oser oder die Oser von den Araviskern fort nach Germanien zogen, ist nicht bekannt – beide Völker haben noch heute die selbe Sprache, die selben Einrichtungen und Gebräuche – denn einst bot das Land an den Flussufern der Donau aus Mangel und Freiheit die gleichen Vor- und Nachteile. Die Treverer und Nervier sind hinsichtlich ihres Anspruches auf germanische Herkunft sehr ehrgeizig, als unterschieden sie sich dadurch von der Schlaffheit und Trägheit der Gallier. Dieses Rheinufer bewohnen zweifellos germanische Völker, die Vangionen, Triboker und Nemeter. Auch die Ubier schämen sich nicht ihrer Herkunft, obwohl sie durch ihre Verdienste den Rang einer Kolonie erhalten haben und sie sich lieber als Aggripinenser nach ihrer Gründerin bezeichnen. Sie haben einst den Rhein überschritten und wurden dank ihrer Treue direkt am Ufer angesiedelt, um die germanischen Stämme zu bewachen, nicht um selbst bewacht zu werden.
29 Von allen germanischen Stämmen sind die Bataver am tapfersten, sie bewohnen eine Insel im Fluss Rhein und einen Streifen am Ufer. Sie waren ein Teil der Chatten und zogen dann wegen eines inneren Aufstandes zu ihren heutigen Wohnsitzen, wohin sich das Römische Reich ausbreiten sollte. Die Ehre und die Zeichen alter Genossenschaft bestehen bis heute fort; denn sie werden weder von den Abgaben erniedrigt, noch durch die Steuereintreiber ruiniert; befreit von den Lasten und Abgaben, einzig Kampfzwecken vorbehalten, werden sie wie Waffen und Schilde für Kriege aufgespart. Die Mattiaker leben in gleicher Gehorsamkeit; die Größe des Römischen Reiches dehnte nämlich die Achtung über den Rhein und die alten Grenzen des Reiches aus. So haben sie ihre Wohnsitze und Grenzen auf ihrem Rheinufer, in Herz und Gesinnung halten sie zu uns; im Übrigen sind sie wie die Bataver, außer dass Boden und Klima ihres Landes ihnen lebhafteres Temperament gegeben haben. Ich zähle diejenigen nicht zu den Germanen, obwohl sie sich jenseits von Rhein und Donau niedergelassen haben, die als Zehntpflichtige den Acker bebauen: die abenteuerlustigsten Gallier haben, durch den Mangel mutig geworden, Land von unklarem Besitz besetzt; nachdem bald der Grenzwall angelegt war und die Posten vorgeschoben wurden, wurde das Land Teil der Provinz und Außenposten des Reiches.
30 Jenseits von diesen Völkern vom herkynischen Wald an haben die Chatten ihre Sitze, die nicht so verstreut und versumpft sind wie die Sitze anderer Stämme in Germanien; die Berge dauern nämlich an, wachsen allmählich und der herkynische Wald folgt seinen Chatten und endet mit ihnen. Dieses Volk hat härtere Körper, sehnige Glieder, drohende Mienen und eine größere geistige Lebenskraft. Gemessen an den übrigen Germanen ist ihre Vernunft und Geschicklichkeit groß; sie stellen gewählte Männer an die Spitze, hören auf die Vorgesetzen, nutzen geordnete Heeresformationen, nehmen günstige Gelegenheiten wahr, zerstreuen feindliche Angriffe, haben einen geregelten Tagesablauf, verschanzen sich in der Nacht, rechnen das Glück zum Zweifelhaften, die Tapferkeit zum Gesicherten, und, was sehr selten ist und nur der römischen Disziplin zugestanden wird, man verlässt sich mehr auf die Anführer als auf das Heer. Ihre ganze Kraft liegt beim Fußvolk, das außer Waffen mit Eisenzeug und Proviant beladen wird: man kann andere in die Schlacht ziehen sehen, die Chatten ziehen in den Krieg. Streifzüge und nicht geplanter Kampf sind selten. Schließlich können sie mit den eigenen berittenen Streitkräften rasch siegen oder sich rasch zurückziehen: dem Fußvolk gilt Schnelligkeit aber als Furcht, Zögern gilt eher als Standhaftigkeit.
31 Ein auch bei anderen Germanen geübter Brauch, der sonst selten ist und als Beweis des Mutes Einzelner gilt, ist bei den Chatten allgemein üblich, dass die Heranwachsenden zuerst Haupt- und Barthaar wachsen lassen und erst, wenn der Feind erschlagen ist, legt man das der Tugend geweihte und verpflichtete Erscheinungsbild ab. Über Blut und Rüstungen enthüllen sie das Haupt, denn wenn sie dann die Schuld ihres Heranwachsens bezahlt haben, glauben sie, ihrem Vaterland und ihren Eltern würdig zu sein; den Schlaffen und Friedlichen bleibt das wüste Aussehen. Die stärksten tragen obendrein einen eisernen Ring (was für dieses Volk als Schande gilt) wie eine Fessel, bis sie sich durch den Tod des Feindes davon befreien. Den meisten Chatten gefällt dieses Aussehen und wenn sie schon grau sind, behalten sie das Kennzeichen, von den Feinden und den Ihren gleichermaßen beachtet. Sie sind die ersten im Kampf, in der Schlacht sind sie ungewöhnlich anzusehen: nicht einmal im Frieden wirken sie nämlich mit einem milderen Gesichtsausdruck freundlicher. Sie haben kein Haus, kein Feld oder sonstige Aufgaben; je nachdem, zu wem sie hinkommen, werden sie passend ernährt, sie verschwenden fremdes Eigentum und verachten das Eigene, bis sie blutleer und alt geworden sind, dann werden sie der Dauer der Anforderungen nicht mehr gerecht.
32 In der Nähe der Chatten wohnen die Tenkterer und die Usiper am Rhein, der hier im sicheren Bett fließt und als Grenze ausreicht. Die Tenkterer überragen das gewöhnliche Maß der Krieger mit ihrer vorzüglichen Reitkunst. Bei den Chatten ist das Lob für die Fußsoldaten nicht größer als bei den Tenkterern für die Reiterei. So haben es die Vorfahren eingeführt, so führen es die Nachkommen weiter. Dies sind die Spiele der Kinder, so ist der Wetteifer der jungen Männer, so üben es die Alten weiter. Zugleich mit den Bediensteten, dem Haus und Hof und dem Recht auf Erbfolge werden die Pferde weitergegeben: Der Sohn empfängt dieses Erbe nicht, wie bei den anderen Stämmen wegen seines Alters, sondern je nachdem wie kampflustig und stark er im Kampf ist.
33 Einst lebten die Brukterer in der Nähe der Tenkterer; nun wird erzählt, dass die Chamaver und Angrivarier dort eingewandert seien; die Brukterer wurden vertrieben und von allen benachbarten Stämmen gemeinsam völlig ausgerottet, entweder aus Abscheu über den Hochmut, aus Lust an der Beute oder wegen der uns wohl gesonnenen Götter; denn sie gewährten uns sogar das Schauspiel einer Schlacht. Über 60.000 sind gefallen, nicht durch römische Waffen, sondern, was noch wunderbarer ist, ganz zur Freude unserer Augen. Es mögen bitte bei den Völkern, wenn es schon keine Liebe für uns gibt, so doch der Hass unter den Germanen selbst bleiben und andauern, denn wenn uns das Schicksal des Reiches treibt, kann uns nichts mehr Glück gewähren als die Zwietracht der Feine untereinander.
34 An die Angrivarier und die Chamaver schließen sich die Dulgubner und Chasuvarier, daneben andere Völker, über die nichts besonderes zu berichten ist, von Südwesten an, im Norden folgen die Friesen. Es gibt je nach Volkszahl die Groß- und Kleinfriesen. Jeder dieser Stämme wohnt am Weltmeer, dem Rhein vorgelagert und um unermessliche Seen herum, die auch schon von römischen Schiffen befahren wurden. Ja, wir haben uns sogar auf das Weltmeer hinausgewagt. Es verbreitet sich auch das Gerücht, dort seien die Säulen des Herkules, sei es, dass Herkules dort hingekommen ist, oder dass wir übereinstimmend alles, was großartig ist, auf die Berühmtheit des Helden zurückführen. Es fehlte dem Drusus Germanicus nicht an Mut, aber das Weltmeer widersetzte sich dem Versuch, sich über die Säulen und Herkules Gewissheit zu verschaffen. Bald versuchte es niemand mehr, es gilt als heiliger und ehrfürchtiger, an die Taten der Götter zu glauben, als um sie zu wissen.
35 Soweit haben wir über Germanien im Westen gelernt, das sich im Norden in einer großen Biegung erstreckt. Zunächst kommt das Volk der Chauken, das sich, obwohl es bei den Friesen beginnt und einen Teil der Küste besitzt, an der Seite aller Stämme liegt und sich bogenförmig zu den Chatten hin erstreckt. So unermessliche Gebiete beherrschen die Chauken nicht, sondern sie füllen sie auch aus, sie sind das edelste Volk unter den Germanen und sie wollen lieber ihre eigene Größe durch Gerechtigkeit zu bewahren. Ohne Gier und ohne Herrschsucht provozieren sie still und ruhig keine Kriege, sie verwüsten nicht mit Raubzügen oder Räubereien. Es ist ein besonderer Beweis für die Tapferkeit der Männer, dass sie dies nicht durch Unrecht erreichen, um überlegen zu sein. Dennoch liegen für alle die Waffen bereit und, wenn es die Situation erfordert, steht ein Heer bereit, zahlreich an Männern und Pferden; auch im Frieden ist ihr Ruf der gleiche.
36 An der Seite der Chauken und der Chatten gaben sich die unangefochtenen Cherusker dem schlaff machenden Frieden hin; dies brachte ihnen mehr Behagen als Sicherheit, denn unter den Unbeherrschten und Mächtigen ist es verfehlt, die trügerische Ruhe zu genießen: wo die Faust herrscht, da sind die Worte Bescheidenheit und Redlichkeit nur dem Stärkeren zugestanden. So werden die einst guten und wohlgesinnten Cherusker nun träge und dumm genannt; den siegreichen Chatten rechnet man das Glück als Klugheit an. Vom Sturz der Cherusker wurden die Foser, ein Nachbarstamm, mitgerissen, der bei feindlichen Angriffen ein gleichberechtigter Partner ist, aber in glücklichen Zeiten geringer gestellt wird.
37 In dem Landvorsprung Germaniens direkt am Meer wohnen die Kimbern, ein kleines Volk, aber unglaublich groß an Ruhm. Ihr alter Ruf und ihre alten Spuren sind geblieben, die geräumigen Lagerplätze an beiden Seiten des Rheins, deren Umfang immer noch die Menge und Leistung des Volks und die Glaubwürdigkeit des großen Auszugs ermessen hilft. Unsere Stadt feierte ihren 640. Jahrestag unter den Konsuln Caecilius Metellus und Papirius Carbo, als die Waffen der Kimbern zum ersten Mal gehört wurden. Danach folgten bis zum zweiten Konsulat Trajans nahezu 210 Jahre: solange wird Germanien bereits besiegt. Während dieser langen Zeit gab es viel Schaden auf beiden Seiten. Weder die Samniter, noch die Karthager, nicht die Spanier oder Gallier, gewiss auch nicht die Parther haben sich öfter in Erinnerung gebracht. Die Freiheit der Germanen ist allerdings stärker als das Reich der Arsakiden. Denn was kann uns der Osten anderes vorhalten als den Tod des Crassus, dafür verlor er seinerseits Pacorus und musste sich dem Ventidius geschlagen geben. Die Germanen aber haben Carbo, Cassius, Scaurus Aurelius, Servilius Caepio und Maximus Mallius besiegt oder gefangen genommen und damit fünf Heere der Konsuln und des römischen Volkes besiegt, dem Augustus wurde Varus und mit ihm seine drei Legionen entrissen, nicht ohne Gefahr haben Gaius Marius in Italien, Cäsar in Gallien, Drusus, Tiberius und Germanicus sie in ihrem eigenen Land niedergeworfen; bald wandelten sich die unglaublichen Drohungen Caligulas in Spott. Seither herrscht Ruhe, bis sie durch die Gelegenheit unserer Zwietracht und des Bürgerkriegs die Winterlager der Legionen einnahmen und Gallien gewinnen wollten. Seither triumphiert man mehr über sie als dass sie besiegt werden.
38 Nun muss von den Sueben gesprochen werden, die anders als die Chatten oder Tenkterer nicht ein einheitlicher Stamm sind; sie bewohnen einen größeren Teil Germaniens, sie sind durch Namen und nach Stämmen von den benachbarten Völkern getrennt, obwohl sie allgemein Sueben genannt werden. Das Kennzeichen dieses Volkes ist es, das Haar schräg nach hinten zu kämmen und es in einem Knoten hochzubinden: so unterscheiden sich die Sueben von den übrigen Germanen, so unterscheiden sich die Freigeborenen der Sueben von den Sklaven. Bei den anderen Stämmen wird das selbe erlernt, entweder durch Verwandtschaft mit den Sueben oder, was öfter vorkommt, durch Nachahmung. Nicht selten wird dies während der Jugendzeit angewendet, bei den Sueben reicht der Brauch bis ins Greisenalter, das emporstarrende Haar zurückzudrehen und oft selbst zum Scheitel aufzubinden. Die Fürsten tragen das Haar noch kunstvoller: dies ist Eitelkeit, aber eine harmlose; und sie schmücken sich nicht wie sie es lieben oder es geliebt wird, sondern um größer und furchtbarer zu wirken, wenn sie in den Krieg ziehen, sie schmücken sich gleichsam für die Augen der Feinde.
39 Als die ältesten und edelsten der Sueben betrachtet man die Semnonen; die Glaubwürdigkeit ihres hohen Alters wird durch einen Kult bekräftigt. Zu einer festgesetzten Zeit kommen alle des selben Namens und des selben Blutes in einem durch die von den Vorvätern beachteten Vorzeichen und durch die uralte Scheu geheiligten Wald zusammen, wo die Barbaren mit einem öffentlichen Menschenopfer die ehrwürdigen Anfänge feiern. Im heiligen Hain findet eine weitere Verehrung statt: niemand geht hinein, es sei denn mit Fesseln gebunden, als ob der Geringere die Macht der Gottheit zur Schau trüge. Wenn er zufällig stolpert, ist es nicht erlaubt, ihn aufstehen zu lassen oder ihm aufzuhelfen: sie wälzen sich dann auf dem Boden heraus. Dieser merkwürdige Kult geht darauf zurück, dass sie glauben, dort seit der Ursprung des Volkes, dort sei der alles beherrschende Gott, der alles andere unterworfen und den Stamm begründet habe. Dies steigert den Reichtum der Semnonen: sie bewohnen einhundert Dörfer und bilden eine so große Volksgruppe, dass sie sich für den Hauptstamm der Sueben halten.
40 Dagegen macht die Langobarden ihre geringe Zahl berühmt: umgeben von zahlreichen sehr starken Völkern sind sie doch nicht durch Gehorsam, sondern durch Kämpfe und Wagnisse sicher. Von den Reudignern, Avionen, Anghern, Varinern, Eudosen, Suardonen und Nuitonen sind sie durch Flüsse und Wälder getrennt. Im Einzelnen ist von ihnen nichts bemerkenswertes, außer dass sie gemeinsam die Nerthus, die Mutter Erde, verehren und glauben, dass sie sich um die Angelegenheiten der Menschen kümmert, und sie meinen, dass sie zum Volk auf einem Wagen daher gefahren kommt. Auf einer Insel im Weltmeer ist ein heiliger Hain und auf diesem ein Wagen, der mit einem Tuch überdeckt ist; nur einem Priester ist es erlaubt, ihn zu berühren. Dieser erkennt, wenn die Göttin im Inneren ist, und begleitet sie, deren Wagen von Kühen gezogen wird, mit großer Ehrfurcht. Dann sind frohe Tage, alle Stätten sind festlicht geschmückt, die die Göttin mit ihrer Ankunft und ihrer Einkehr würdigt. Sie fangen keinen Krieg an und greifen nicht zu den Waffen; alles Eisen wird weggeschlossen; Ruhe und Frieden sind dann bekannt und beliebt, bis schließlich der selbe Priester die vom Umgang mit den Sterblichen müde Göttin dem Tempel zurück gibt. Bald werden der Wagen, das Tuch und, man möge es glauben, die Göttin selbst in einem entlegenen See gebadet. Dabei sind Sklaven behilflich, die dann der selbe See verschlingt. Ein geheimnisvoller Schrecken und heilige Unwissenheit herrschen, was dies für ein Wesen sei, das nur die Todgeweihten sehen dürfen.
41 Auch dieser Teil der Sueben reicht gewiss in entlegenere Teile Germaniens: als nächstes kommen, wenn ich der Donau folge, so wie ich bis eben dem Rhein gefolgt bin, die Bürgerschaft der Hermundurer, die den Römern treu ist. Deshalb wird ihnen als einzigen der Germanen erlaubt, nicht nur an den Donauufern Handel zu treiben, sondern tief ins Landesinnere und in der glänzendsten Städte der Provinz Rätien zu kommen. Überall kommen sie ohne Wächter hin. Den anderen Stämmen zeigen wir nur unsere Waffen und Festungen, diesen, die dies nicht begehren, öffnen wir unsere Häuser. Bei den Hermundurern entspringt die Elbe. Der Fluss war einst berühmt und bekannt, man kennt ihn heute allerdings nur noch von Hörensagen.
42 Östlich von den Hermunduren leben die Narister, dann die Markomannen und Quaden. Die außerordentliche Ehre und die Männer der Markomannen sind bekannt, und auch ihre Wohn´sitze, aus denen sie einst die Bojer vertrieben, sind ein Zeichen ihrer Tapferkeit. Und weder Narister noch Quaden schlagen aus der Art. Diese bilden sozusagen die Stirn der Germanen, wo sie von der Donau gebildet wird. Die Markomannen und Quaden hatten bis in unsere Zeit Könige aus eigenem Stamm, aus dem adligen Geschlecht des Marbod und Tuder, aber sie nehmen inzwischen auch fremde Könige an. Arm und Macht verdanken die Könige der römischen Herrschaft. Wir unterstützen sie selten mit Waffen, öfter mit Geld, aber sie sind doch nicht weniger wert.
43 Nach Norden und Osten schließen sich die Marsigner, Kotiner, Oster und Buren an die Rückseite der Markomannen und Quaden an. Von diesen erweisen sich die Marsigner und Buren durch ihre Sprache und Riten als Sueben: Die gallische Sprache bei den Kotinern und die pannonische Sprache bei den Osern zeigt, dass sie keine Germanen sind, außerdem erdulden sie Abgaben. Die Sarmaten und die Quaden erlegen es ihnen als landfremden Stämmen auf. Die Kottiner bauen, wofür sie sich noch mehr schämen müssten, auch Eisen ab. All diese Völker bewohnen wenig flaches Land, eher Wälder, Berggipfel und Bergkämme, jenseits derer viele Stämme leben, von denen die Lugier den größten Einfluss haben, sie sind in viele Bürgerschaften zerstreut. Es soll genügen, die sehr mächtigen Harier, Helvekonen, Manimer, Helisier und Nahanarvalen zu nennen. Bei den Nahanarvalen wird ein Hain, eine alte Kultstätte, gezeigt. Vorsteher ist ein Priester in weiblicher Kleidung, die Gottheiten heißen in römischer Auslegung Kastor und Pollux. Deren Geltung besitzen sie, sie heißen Alken. Es gibt keine Bildnisse, keine Spuren für eine fremde Herkunft des Kultes. Man verehrt sie als Brüder, als junge Männer. Außerdem werden die Lugier noch über ihre vorhandene Kraft, in der sie die eben aufgezählten Völker übertreffen, hinaus begünstigt durch Geschick bei der Ausnutzung der Zeit und durch ihre innewohnende Wildheit in der Dunkelheit: Sie haben schwarze Schilde und bemalte Körper; in schwarzen Nächten sammeln sie sich zu den Schlachten und schon durch die grauenerregende Finsternis bringt das Totenheer den Schrecken, kein Feind widersteht diesem neuen und gleichsam teuflischen Anblick; denn in allen Schlachten werden zunächst die Augen besiegt.
44 Jenseits der Lugier werden die Goten von einem König beherrscht, schon ein wenig strenger als die übrigen Völker Germaniens, aber doch nicht jenseits jeder Freiheit. Unmittelbar anschließend am Weltmeer leben die Rugier und Lemovier; alle diese Völker haben auffallende runde Schilde, kurze Schwerter und Gehorsam gegenüber Königen. Die Suinonen folgen hierauf im selben Weltmeer, die neben den Männern und den Waffen durch ihre Schiffe stark werden. Das Aussehen der Schiffe unterscheidet sich darin, dass sie zwei Stirnseiten haben und immer eine Seite zum Landen bereit ist. Weder werden Segel verwendet, noch werden die Ruder reihenweise an die Seiten angefügt. Lose, wie bei gewissen Flussschiffen, und frei beweglich, wie es die Sache erfordert, liegt das Ruderwerk hier und dort. Es gibt bei jenen die Ehre aufgrund von Werken und daher herrscht ein einzelner über sie, ohne Einschränkungen, aber doch durch unwiderrufliches Recht. Waffen stehen nicht allen zur Verfügung, wie bei den anderen Germanen. Aber sie sind weggeschlossen und bewacht, sogar von einem Sklaven, denn das Weltmeer verbietet plötzliche Überfälle von Feinden, und die Hände der Bewaffneten richten ferner Unheil an. Allerdings ist es gewiss zum Nutzen der Könige, dass die Adligen, Freien und Freigelassenen keine Waffen tragen.
45 Nördlich von den Suionen kommt ein weiteres Meer, träge und fast unbewegt, von dem der Erdkreis abgerundet wird, was dadurch glaubhaft wird, dass am äußeren Rand schon der Glanz des fallenden Sonnenlichtes bis zum Aufgang andauert und so hell ist, dass es die Sterne überstrahlt. Die Einbildung bewirkt, dass der Klang der aufgehenden Sonne gehört werden kann und das Aussehen der Pferde und die Strahlen des Hauptes wahrgenommen werden. Nur bis dorthin, und dieses Gerücht ist wahr, reicht die Welt. Nun werden schon zur Rechten der Suionen die Aesten am Ufer der Ostsee vom Meer umspült, deren Kulte und Erscheinungsbild den Sueben, deren Sprache den Briten näher sind. Sie verehren die Muttergöttin. Als Kennzeichen des Kultes haben sie Eberfiguren; diese stellen sie vor die Feinde auf anstelle von Waffen und mit ihnen genießen die Verehrer der Göttin selbst unter Feinden Schutz. Selten werden Einzelwaffen, öfter Knüppel verwendet. Sie geben sich sehr ausdauernd Mühe mit Getreide und weiteren Früchten, gemessen an der Trägheit der übrigen Germanen. Aber sie durchsuchen auch das Meer und sie sammeln in den flachen Stellen und an der selben Küste allen Bernstein, den sie selbst Glas nennen. Was er ist oder woher er kommt, haben sie nach Barbarenart nicht erforscht oder verstanden. Ja, lange lag er sogar unter den anderen Auswürfen des Meeres, bis ihn unsere Verschwendungssucht wichtig machte. Bei ihnen ist er nicht in Gebrauch, sie sammeln ihn roh, bringen ihn unbearbeitet weiter und nehmen staunend den Preis an. Man versteht, dass es Saft von Bäumen ist, denn oft schimmern Kriechtiere und Insekten hindurch, die sich in der Feuchtigkeit verfangen haben und eingeschlossen werden, wenn der Stoff hart wird. Die Haine und Wälder sind fruchtbarer, so wie an den entlegenen Orten des Ostens, wo Weihrauch und Balsam von den Bäumen ausgeschwitzt werden, so ist es auf den Inseln und den Ländern des Westens mit dem Bernstein, wie ich glaube. Die auftreffenden Sonnenstrahlen trocknen die Bäume aus, die Flüssigkeit fließt ins Meer und wird durch die Kraft der Stürme an Land gespült. Wenn man den Bernstein dem Feuer nähert, entzündet er sich wie Kiefernholz und brennt mit öliger und stinkender Flamme; bald wird es zäh wie Pech oder Harz. Auf die Suionen folgen die Sitonen. Im Allgemeinen sind sie sich ähnlich, nur werden die Sitonen von einer Frau beherrscht. So sehr sind sie entartet, dass sie unter die Freiheit in die Knechtschaft hinab gesunken sind. Hier endet das Gebiet der Sueben.
46 Ich zweifle, ob ich die Stämme der Penkiner, Venether und Finnen den Germanen oder den Sarmaten zuschreiben soll. Obwohl die Penkiner, die sich auch Bastarnen nennen, in Sprache, Riten, Sitzen und Stätten den Germanen ähnlich sind; durch Mischehen erhalten sie aber das hässliche Aussehen der Sarmaten. Die Venether übernahmen viele Sitten der Sarmaten; den was auch immer bei den Penkinern und Finnen an Wäldern oder Bergen errichtet wurde, durchziehen sie in Raubzügen. Diese werden dennoch zusätzlich zu den Germanen gerechnet, weil sie feste Häuser errichten, Schilde tragen und sich oft und schnell zu Fuß bewegen: alle Sarmaten leben im Wagen und mit dem Pferd. Bei den Finnen ist die Wildheit auffallend, die Armut aber scheußlich: sie haben keine Waffen, keine Pferde, kein Heim; ihre Nahrung sind Gräser, sie tragen Felle als Kleidung, ihr Lager ist der Erdboden. Allein die Pfeile sind ihre Hoffnung, die sie aus Mangel an Eisen mit Knochen scharf machen. Von der Jagd ernähren sich die Frauen ebenso wie die Männer. Überall ziehen sie zusammen hin und sie beanspruchen einen Teil der Beute. Sie suchen vor wilden Tieren und Regen Zuflucht in irgendeinem Geflecht aus Zweigen. Hierher kehren die jungen Leute zurück, hier ist der Unterschlupf der Alten. Aber sie halten dies für glücklicher, als sich auf den Äckern abzuarbeiten, sich mit dem Hausbau zu mühen oder mit dem eigenen oder fremden Vermögen in Hoffnung und Furcht zu handeln. Sie haben das Schwierigste erreicht, ohne sich um die Menschen oder Götter zu kümmern, sie sind wunschlos glücklich. Alles weitere ist schon zur Sage gehörig: Die Helusier und Oxionen tragen Gesichter und Mienen von Menschen, aber Körper und Glieder wilder Tiere. Dies lasse ich als unerforscht auf sich beruhen.
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