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|0007 : [I]|
Syſtem
des
heutigen Römiſchen Rechts
von
Friedrich Carl von Savigny.
Achter Band.
Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.
Berlin.
Bei Veit und Comp.
1849.
|0008 : [II]|
|0009 : [III]|
Vorrede.
Der hier vorliegende achte Band erhält durch
ſeinen Inhalt eine eigenthümliche Beſchaffenheit, ſehr
verſchieden von allen früheren Bänden. Zunächſt
erſcheint darin der ſichtbare Einfluß des Römiſchen
Rechts weit geringer, als in den früher abgehan-
delten Lehren. Ferner iſt die hier dargeſtellte Lehre,
verglichen mit anderen, als erſt im Werden begriffen,
als unfertig, aufzufaſſen. Und zwar iſt dieſe Be-
hauptung nicht etwa zu verſtehen als ein ſubjectives
Bekenntniß des Schriftſtellers, der ſeine perſönlichen
Kräfte für unzureichend hält zur Bewältigung der
Schwierigkeit des Stoffes; ſie iſt vielmehr geſchöpft
aus der Betrachtung der eigenthümlichen Natur des
|0010 : IV|
Vorrede.
Gegenſtandes ſelbſt, worüber nunmehr genauere
Rechenſchaft gegeben werden ſoll.
In dieſer Lehre, und beſonders in der erſten
Hälfte derſelben (Kap. I.), gehen bis jetzt die
Meinungen der Schriftſteller, ſo wie die Urtheile
der Gerichte, ziemlich wild durch einander; Deutſche,
Franzoſen, Engländer und Amerikaner, ſtehen ſich
oft ſehr ſchroff gegenüber. Alle aber vereinigen ſich
in einem gemeinſamen lebhaften Intereſſe an den
hier einſchlagenden Fragen, in dem Beſtreben nach
Annäherung, Ausgleichung, Verſtändigung, ſo wie
es ſich in keiner anderen Rechtslehre findet. Man
kann ſagen, daß dieſe Lehre bereits ein Gemeingut
der gebildeten Nationen geworden iſt, nicht durch
einen ſchon erworbenen Beſitz feſter, allgemein aner-
kannter Grundſätze, wohl aber durch die Gemein-
ſchaft wiſſenſchaftlicher Unterſuchung, die zu einem
ſolchen Beſitz hinſtrebt. Ein anſchauliches Bild
dieſes unfertigen, aber hoffnungsreichen Zuſtandes
gewährt das treffliche Werk von Story, das zu-
gleich als reiche Materialienſammlung jedem Forſcher
in hohem Grade förderlich wird.
Es iſt aber nicht blos die Ausſicht auf Ent-
wicklung und Ausbau der juriſtiſchen Theorie, die
|0011 : V|
Vorrede.
uns in dieſer Lehre ſo anziehend und anregend er-
ſcheint, ſondern eben ſo, und noch mehr, die groß-
artige Ausſicht auf eine in das Allgemeine gehende
praktiſche Gemeinſchaft des Rechtsbewußtſeyns und
des Rechtslebens.
Betrachten wir noch insbeſondere die Stellung
dieſer Lehre zu den Beſtrebungen und Parteien der
neueſten Zeit.
Der nicht ſelten feindliche Gegenſatz zwiſchen
Germaniſten und Romaniſten kommt in dieſer Lehre
weniger, als anderwärts, in Betracht. In den
wichtigſten Fragen ſind die deutſchen Rechtslehrer
meiſt zu einer großen Einſtimmung gekommen, unge-
ſtört durch jenen, in anderen Lehren oft zum Nach-
theil der Wiſſenſchaft hervor tretenden, Gegenſatz.
Das Römiſche Recht erſcheint vergleichungsweiſe
weniger, als anderwärts, einwirkend durch unmittel-
bare poſitive Vorſchriften. Die genaueſte Kenntniß
deſſelben aber wird hier vorzüglich dadurch wichtig,
daß die Meinungen der Schriftſteller und der Ge-
richte großentheils durch wahre oder falſche Auf-
faſſung Römiſcher Begriffe und Regeln beſtimmt
worden ſind, oft ohne deutliches Bewußtſeyn derer,
die in der That ganz unter dieſem Einfluß ſtanden.
|0012 : VI|
Vorrede.
Wenn ferner ein abſchließendes Hervorheben
der Nationalität zu den vorherrſchenden Richtungen
neueſter Zeit gehört, ſo kann ſich gerade dieſe Rich-
tung in einer Lehre nicht geltend machen, die ihrer
Natur nach darauf ausgehen muß, die nationalen
Gegenſätze in einer anerkannten Gemeinſchaft der
verſchiedenen Nationen aufzulöſen.
So finden wir alſo hier von der einen Seite
die großartigſten Ausſichten in die Zukunft, von
der anderen Seite die Unmöglichkeit, die vorlie-
gende Aufgabe ſchon jetzt zu einem völligen Ab-
ſchluß zu führen, ſelbſt unabhängig von der per-
ſönlichen Fähigkeit des einzelnen Arbeiters. Jeder,
der ſich in ſolcher Stellung befindet, kann aus
dieſer Betrachtung eben ſo viel Muth, als Be-
ſcheidenheit ſchöpfen. Er muß es ſich zur Ehre
rechnen, wenn es ihm gelingt, den fortgehenden
geiſtigen Prozeß durch Zurückführung dieſer Lehre
auf eigentliche Grundſätze weiter fördern zu helfen,
ſelbſt wenn ſein Verſuch, bei fernerer Entwicklung,
nur noch als einzelner, vorbereitender Schritt im
Andenken bleiben ſollte.
Einen beſonderen Mangel in den bisherigen
Arbeiten glaubte der Verfaſſer dieſes Werks darin
|0013 : VII|
Vorrede.
zu finden, daß man ſtets die beiden Stücke,
die in dem vorliegenden Werke verbunden er-
ſcheinen, die örtlichen und die zeitlichen Gränzen
der Herrſchaft der Rechtsregeln, einzeln und abge-
ſondert behandelt hat. Er glaubte dieſem Mangel
dadurch abhelfen zu müſſen, daß er beide Stücke
in Verbindung brachte, nicht blos indem er ſie
äußerlich neben einander ſtellte, welches allein nicht
ausreicht, auch ſchon häufig in der kurzen Dar-
ſtellung der Lehrbücher ohne merklichen Erfolg ver-
ſucht worden iſt, ſondern indem er den inneren
Zuſammenhang der für beide Stücke geltenden
Grundſätze zu erforſchen und darzuſtellen ſuchte.
Mit dem gegenwärtigen Bande iſt der allge-
meine Theil des Syſtems, deſſen Bedeutung gleich
Anfangs dargelegt wurde (I. § 58), zu Ende ge-
führt. Die dem erſten Band vorangeſetzte Ueber-
ſicht des ganzen Werks ließ erwarten, daß unmittel-
bar auf die drei erſten Bücher, welche dieſen
allgemeinen Theil in ſich ſchließen, in einer fort-
aufenden Reihe von Bänden der beſondere Theil
|0014 : VIII|
Vorrede.
folgen würde, welchem vorläufig folgende Ueber-
ſchriften gegeben waren:
Viertes Buch. Sachenrecht.
Fünftes Buch. Obligationenrecht.
Sechstes Buch. Familienrecht.
Siebentes Buch. Erbrecht.
Eine durch zufällige Umſtände herbeigeführte,
längere Unterbrechung hat indeſſen die Vollendung
des Ganzen noch unwahrſcheinlicher gemacht, als ſie
vielleicht gleich Anfangs angenommen werden konnte,
und durch dieſe Betrachtung bin ich zu folgender
Veränderung in der äußerlichen Einrichtung des
Werks geführt worden, die alſo durchaus nicht aus
der Annahme einer veränderten Ueberzeugung über
die Zweckmäßigkeit des weſentlichen Planes deſſelben
erklärt werden darf.
Ich betrachte nunmehr die jetzt vorliegenden
acht Bände als ein für ſich beſtehendes abgeſchloſſenes
Werk, ſo daß der Titel jedes Bandes in Gedanken
zu ergänzen iſt durch die hinzugefügten Worte:
Allgemeiner Theil.
Der beſondere Theil des Syſtems ſoll nunmehr
nicht als Fortſetzung des allgemeinen, durch fort-
laufende Bändezahl, bezeichnet, ſondern vielmehr
|0015 : IX|
Vorrede.
in abgeſonderten Werken dargeſtellt werden, unter
welchen zunächſt das Obligationenrecht (nicht nach
der früheren Abſicht das Sachenrecht) an die Reihe
kommen ſoll. Dieſe abgeſonderten Werke werden
alſo äußerlich als Monographieen erſcheinen, in der
That aber nicht den weſentlichen Charakter von
ſolchen an ſich tragen (I. S. xxxix), ſondern
vielmehr gerade ſo beſchaffen ſeyn, wie wenn die
gegenwärtig angekündigte Veränderung des urſprüng-
lichen Planes nicht eingetreten wäre.
Geſchrieben im Julius 1849.
|0016 : [X]|
|0017 : XI|
Inhalt des achten Bandes.
Drittes Buch. Herrſchaft der Rechtsregeln über die
Rechtsverhältniſſe.
Seite.
§. 344. Einleitung 1
Erſtes Kapitel. Oertliche Gränzen der Herrſchaft der Rechts-
regeln über die Rechtsverhältniſſe.
§. 345. Ueberſicht 8
§. 346. Abſtammung und Landgebiet, als Grunde der An-
gehörigkeit der Perſon 14
§. 347. Widerſtreitende Territorialrechte in demſelben Staate 19
§. 348. Widerſtreitende Territorialrechte in verſchiedenen
Staaten 23
§. 349. Fortſetzung 32
§. 350. Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
Einleitung 39
|0018 : XII|
Inhalt des achten Bandes.
Seite.
§. 351. Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
I. Origo 44
§. 352. Fortſetzung 50
§. 353. Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
II. Domicilium 57
§. 354. Fortſetzung 63
§. 355. Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
Wirkung dieſer Verhältniſſe 67
§. 356. Fortſetzung 76
§. 357. Fortſetzung 86
§. 358. Origo und domicilium im heutigen Recht 89
§. 359. Fortſetzung 95
§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen 107
§. 361. Fortſetzung 118
§. 362. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und
Handlungsfähigkeit) 134
§. 363. Fortſetzung 141
§. 364. Fortſetzung 147
§. 365. Fortſetzung 159
§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln 169
§. 367. II. Sachenrecht. Eigenthum 181
§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re 189
§. 369. III. Obligationenrecht. Einleitung 200
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation 205
§. 371. Fortſetzung 233
§. 372. III. Obligationenrecht. Oertliches Recht 246
|0019 : XIII|
Inhalt des achten Bandes.
Seite.
§. 373. Fortſetzung 256
§. 374. III. Obligationenrecht. Oertliches Recht. Einzelne
Rechtsfragen 263
§. 375. IV. Erbrecht 295
§. 376. Fortſetzung 298
§. 377. IV. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen 311
§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht 316
§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe 324
§. 380. V. Familienrecht. B. Väterliche Gewalt. C. Vor-
mundſchaft 338
§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum) 348
§. 382. Fortſetzung 359
Zweites Kapitel. Zeitliche Gränzen der Herrſchaft der Rechts-
regeln über die Rechtsverhältniſſe.
§. 383. Einleitung 368
§. 384. Zweierlei Rechtsregeln 373
§. 385. A. Erwerb der Rechte. — Grundſatz 381
§. 386. Fortſetzung 392
§. 387. Fortſetzung 399
§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen des Grundſatzes 406
§. 389. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. I. Zuſtand
der Perſon an ſich 414
§. 390. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. II. Sachenrecht 420
§. 391. Fortſetzung 426
§. 392. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. III. Obli-
gationenrecht 435
|0020 : XIV|
Inhalt des achten Bandes.
Seite.
§. 393. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. IV. Erbrecht 447
§. 394. Fortſetzung 468
§. 395. Fortſetzung 482
§. 396. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. V. Familienrecht 493
§. 397. A. Erwerb der Rechte. — Ausnahmen 506
§. 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz 514
§. 399. B. Daſeyn der Rechte. — Anwendungen. Ausnahmen 522
§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit 532
|0021|
|0022|
|0023 : [1]|
Drittes Buch.
Herrſchaft der Rechtsregeln über die Rechtsver-
hältniſſe.
§. 344.
Einleitung.
Das erſte Buch des gegenwärtigen Rechtsſyſtems hatte
die Aufgabe, die Rechtsquellen, d. h. die Entſtehungsgründe
der Rechtsregeln, darzuſtellen; das zweite, die allgemeine
Natur der Rechtsverhältniſſe, die durch jene Regeln beherrſcht
werden ſollten. Es bleibt jetzt, für den allgemeinen Theil
des Syſtems, noch übrig, die Verbindung der Rechtsregeln
mit den Rechtsverhältniſſen feſtzuſtellen; dieſe Verbindung
erſcheint, von der einen Seite betrachtet, als Herrſchaft der
Regeln über die Verhältniſſe, von der andern Seite als
Unterwerfung der Verhältniſſe unter die Regeln.
Damit aber dieſer letzte, eben ſo wichtige als ſchwie-
rige Theil der Aufgabe gleich Anfangs richtig aufgefaßt
werde, iſt es nöthig, genau zu beſtimmen, in welchem
VIII. 1
|0024 : 2|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln.
Sinne hier jene Verbindung (Herrſchaft, Unterwerfung)
zu denken iſt (a).
Die Rechtsregeln ſollen herrſchen über die Rechtsver-
hältniſſe; welches iſt aber das Gebiet ihrer Herrſchaft?
Ueber welche Rechtsverhältniſſe ſollen ſie herrſchen? Dieſe
Frage erhält ihren beſtimmten Sinn zunächſt durch die
Natur des poſitiven Rechts, welches nicht etwa eines und
daſſelbe iſt für die Menſchheit im Ganzen, ſondern ein, je
nach Völkern und Staaten, beſonderes und verſchiedenes;
in jedem einzelnen Volke aber theils aus allgemein menſch-
lichen, theils aus eigenthümlichen rechtsbildenden Kräften
entſpringend. Dieſe Mannichfaltigkeit der poſitiven Rechte
iſt es, woraus das Bedürfniß und die Wichtigkeit hervor-
geht, für jedes poſitive Recht das Gebiet ſeiner Herrſchaft
zu beſtimmen, das heißt, die Gränzen zu ziehen zwiſchen den
verſchiedenen poſitiven Rechten gegen einander. Nur durch
dieſe Gränzbeſtimmung wird es möglich, über jede denkbare
Colliſion zu entſcheiden, die in der Beurtheilung eines ge-
gebenen Rechtsverhältniſſes zwiſchen verſchiedenen poſitiven
Rechten eintreten kann.
Um zu den hier aufgeworfenen Fragen und ihrer Be-
antwortung zu gelangen, kann man nun auch den umge-
kehrten Weg einſchlagen. Es liegt uns ein Rechtsverhält-
niß vor, als Gegenſtand unſrer Beurtheilung. Wir ſuchen
dafür eine Rechtsregel auf, unter deren Herrſchaft daſſelbe
(a) Die Grundlage der gegenwärtigen Unterſuchung, insbeſondere
der hier aufgeſtellten Begriffe, findet ſich oben B. 1 § 4—9 § 15.
|0025 : 3|
§. 344. Einleitung.
ſteht, nach welcher es zu beurtheilen iſt. Indem wir hier
unter mehreren Rechtsregeln zu wählen haben, welche ver-
ſchiedenen poſitiven Rechten angehören, kommen wir wie-
derum auf die ſchon erwähnten Gränzen der Herrſchaft
eines jeden poſitiven Rechts, und auf die von dieſen Grän-
zen abhängigen Colliſionen. Beide Arten, die Frage auf-
zufaſſen, ſind nur im Ausgangspunkte verſchieden. Die
Frage ſelbſt iſt hier und dort dieſelbe, und die Entſcheidung
kann in beiden Fällen nicht verſchieden ausfallen.
Die meiſten Schriftſteller über dieſen Gegenſtand gehen
aus von dem Begriff der Colliſionen, und behandeln die
Entſcheidung derſelben als ihre wahre und einzige Aufgabe;
gewiß zum Nachtheil eines befriedigenden Erfolgs. Die
natürliche Folge der Gedanken iſt vielmehr folgende. Für
die Rechtsregeln wird gefragt: Ueber welche Rechtsverhält-
niſſe ſollen ſie herrſchen? Für die Rechtsverhältniſſe: Welchen
Rechtsregeln ſind ſie unterworfen, oder angehörig? Die
Frage nach den Gränzen der Herrſchaft oder der Ange-
hörigkeit, und nach den an dieſen Gränzen eintretenden
Gränzſtreitigkeiten oder Colliſionen, ſind ihrer Natur
nach abgeleitete und untergeordnete Fragen (b).
Zu der bisher angedeuteten Frage nach den Gränzen,
in welchen die Regeln jedes poſitiven Rechts herrſchen,
(b) Wächter II. S. 34 macht
die gute Bemerkung, daß manche
Schriftſteller, indem ſie die Frage
nach der Anwendung der Geſetze
ganz abſondern von der Frage
nach der Colliſion, dahin geführt
werden, auf beide an ſich identiſche
Fragen widerſprechende Antworten
zu geben.
1*
|0026 : 4|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln.
tritt aber nun noch eine neue, von der bisher betrachteten
verſchiedene, obgleich damit verwandte, hinzu. Wir betrach-
teten bisher die Rechtsregeln als feſtſtehende, ohne Rückſicht
auf mögliche Veränderungen derſelben in der Zeit. Nun
gehört es aber zu dem Weſen des poſitiven Rechts, daß
daſſelbe nicht als ein ruhendes, ſondern als ein in ſteter
Fortbildung und Entwickelung begriffenes, aufgefaßt werde (c),
und damit wird ihm die Eigenſchaft der Wandelbarkeit in
der Zeit zugeſchrieben. Ferner hat jedes unſerer Beurthei-
lung vorliegende Rechtsverhältniß nothwendig ſeinen Ent-
ſtehungsgrund in juriſtiſchen Thatſachen (d), die ſtets in
einer, bald näher bald entfernter liegenden, Vergangenheit
gedacht werden müſſen. Da aber in der Zwiſchenzeit, von
der Entſtehung des Rechtsverhältniſſes bis zur Gegenwart,
Veränderungen im poſitiven Recht eingetreten ſein können,
ſo iſt noch zu beſtimmen, aus welchem Zeitpunkt wir die
das Rechtsverhältniß beherrſchende Regel zu entnehmen
haben.
Aus dieſer Betrachtung entſteht mithin eine neue Art
von Gränzen für die Herrſchaft der Rechtsregeln, und da-
mit eine neue Art möglicher Colliſionen, nicht minder wich-
tig und ſchwierig, als die vorher betrachteten Gränzen und
Colliſionen. In der früheren Betrachtung wurden die
Rechtsregeln gedacht als gleichzeitige, ruhende, feſtſtehende;
in dieſer ſpäteren werden ſie gedacht als ungleichzeitige,
(c) S. o. B. 1 § 7.
(d) S. o. B. 3 § 104.
|0027 : 5|
§. 344. Einleitung.
durch Fortbildung verſchiedene, ſucceſſive. Zum Zweck einer
kurzen und gleichförmigen Beziehung will ich folgende Aus-
drücke gebrauchen:
Örtliche Gränzen der Herrſchaft der Rechtsregeln.
Zeitliche Gränzen der Herrſchaft.
Der zweite dieſer Kunſtausdrücke iſt für ſich klar. Die
Rechtfertigung des erſten iſt nur im Laufe der folgenden
Unterſuchung möglich.
Das gegenwärtige Werk hat zum Gegenſtand das
Römiſche Recht. In welchem Verhältniß nun ſteht das
Römiſche Recht zu den hier aufgeworfenen Fragen? Wir
müſſen dafür ein zwiefaches, an ſich verſchiedenes, Ver-
hältniß anerkennen.
Zunächſt müſſen wir für die Anwendung des Römiſchen
Rechts auf beſtimmte Staaten und Völker, im Verhältniß
zu anderen poſitiven Rechten, auf jene Fragen eingehen,
wenn wir ihm irgend eine praktiſche Geltung ſichern wollen.
Dieſes Bedürfniß würde unabweislich ſein, ſelbſt wenn die
Römiſchen Juriſten an jene Fragen nie gedacht, ſich damit
niemals beſchäftigt hätten. — Zweitens aber haben die
Römer in der That dieſe Fragen behandelt, und wir müſ-
ſen daher ihre Ausſprüche über dieſelben aufſuchen und
feſtſtellen. Obgleich nun dieſe Ausſprüche zum Theil ein-
ſeitig und mangelhaft ſind, auch nicht überall auf unmit-
telbare Anwendung Anſpruch haben können, ſelbſt da, wo
wir die Geltung des Römiſchen Rechts im Allgemeinen
anzunehmen berechtigt ſind, ſo iſt dennoch die Feſtſtellung
|0028 : 6|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln.
derſelben von großer Wichtigkeit. Sie iſt es ſchon deshalb,
weil die Lehre der neueren Schriftſteller, und die damit zu-
ſammenhängende Praxis, großentheils auf den Ausſprüchen
der Römer, oft aber nach einer unrichtigen Auffaſſung der-
ſelben beruht, ſo daß ſowohl das rechte Verſtändniß der
neueren Lehre und Praxis, als die Reinigung derſelben,
nur durch eine gründliche Unterſuchung über die im Römi-
ſchen Recht niedergelegten Anſichten herbeigeführt werden
kann.
Die nunmehr folgende, hier eingeleitete, Unterſuchung
wird in zwei Kapiteln: I. die örtlichen Gränzen, II. die
zeitlichen Gränzen der Herrſchaft der Rechtsregeln über die
Rechtsverhältniſſe feſtzuſtellen haben.
Bei dieſen zweifachen Gränzen iſt aber noch voraus zu
bemerken, daß unter denſelben eine gewiſſe Wechſelwirkung
eintreten kann. Wenn überhaupt zwei Rechtsregeln mit
einander in zeitliche Colliſion kommen, ſo daß eine Gränz-
beſtimmung nöthig iſt, um die Herrſchaft der einen oder
der andern Regel zu entſcheiden, ſo wird dabei ſtets eine
eingetretene Veränderung vorausgeſetzt. Eine ſolche Verän-
derung nun kann auf zwei verſchiedenen Seiten liegen.
Sie kann erſtens liegen auf der Seite der Rechtsregel.
Der einfachſte Fall iſt der, wenn der Geſetzgeber durch Er-
laß eines neuen Geſetzes über das vorliegende Rechtsver-
hältniß, die bisher beſtehende Regel ändert, alſo neues ob-
jectives Recht ſchafft.
|0029 : 7|
§ 344. Einleitung.
Die Veränderung kann aber auch zweitens liegen auf
der Seite des Rechtsverhältniſſes, indem, bei unveränderter
Rechtsregel, die thatſächlichen Bedingungen des Rechtsver-
hältniſſes wechſeln. Als Beiſpiel zur Erläuterung kann
die Handlungsfähigkeit dienen, die nach dem Recht beur-
theilt wird, welches am Wohnſitz der Perſon gilt. Wenn
nun dieſe Perſon den Wohnſitz ändert, ſo kann dadurch das
Rechtsverhältniß unter eine neue Rechtsregel fortrücken, und
es kann die Frage entſtehen, ob die Handlungsfähigkeit von
jetzt an nach dem Geſetz des früheren, oder des ſpäteren
Wohnſitzes zu beurtheilen iſt.
Es iſt einleuchtend, daß die Veränderungen dieſer zwei-
ten Art zugleich in das Gebiet der örtlichen und der zeit-
lichen Colliſion einſchlagen. Jedoch iſt dabei das örtliche
Element vorherrſchend, und es iſt daher zweckmäßig und
räthlich, alle dahin einſchlagende Fragen in Verbindung
mit den örtlichen Gränzen der Herrſchaft abzuhandeln, alſo
in das erſte Kapitel mit aufzunehmen (e).
Sonach bleiben für die Unterſuchung über die zeitlichen
Gränzen der Herrſchaft (das zweite Kapitel) nur noch die
(e) Die Erörterung dieſer
Fragen kommt vor in den §§ 365
(Ende des §), § 366—368, § 370. n.
§ 372. N. III, § 379. N. 3. — In
andern Lehren kommt dieſe Frage
deswegen nicht vor, weil dabei der
Einfluß des an ſich veränderlichen
thatſächlichen Verhältniſſes auf
einen beſtimmten Zeitpunkt fixirt
iſt, wodurch die Möglichkeit jedes
Zweifels ausgeſchloſſen wird. So
bei dem Erbrecht (§ 374. 377), und
bei der Regel: locus regit actum
(§ 381).
|0030 : 8|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Veränderungen der erſten Art übrig, welche auf der Seite
der Rechtsregel liegen.
Erſtes Kapitel.
Oertliche Gränzen der Herrſchaft der Rechtsregeln
über die Rechtsverhältniſſe.
§. 345.
Ueberſicht.
Schriftſteller(a):
Bartolus in Codicem, L. 1 C. de summa trin. (1. 1)
Num. 13 — 51.
B. Argentraei Comment. ad patrias Britonum Leges
ed. oct. Antverp. 1664 f. — Der art. 218 der
Coutume de Bretagne beſtimmt, daß Jeder nur ein
Drittheil des unbeweglichen Vermögens ſeinen geſetz-
lichen Erben ſoll entziehen dürfen. Dabei entſtand die
Frage, ob auch auswärtige Grundſtücke in dieſes
Drittheil einzurechnen ſeien, und ſo kam d’Argentré
in der ſechsten Gloſſe zu dem angeführten Artikel auf
die ganze Lehre von der Colliſion der Geſetze, die er
hier S. 601 — 620 abhandelt. Der Verf. ſtarb 1590,
(a) Der Abkürzung wegen werde ich die hier zuſammengeſtellten
Schriftſteller künftig blos mit ihren Namen anführen.
|0031 : 9|
§. 345. Ueberſicht.
und das angeführte Werk iſt erſt nach ſeinem Tode
(1608) erſchienen.
Chr. Rodenburg de jure conjugum Traj. 1653 4.
Die praeliminaria S. 13—178 enthalten eine aus-
führliche Abhandlung über die Colliſion der Geſetze.
P. Voetius de statutis eorumque concursu. Leodii. 1700
4 (Zuerſt Amſt. 1661). Von der Colliſion der Sta-
tute handeln nur die Sect. 4. 9. 10. 11.
J. N. Hertius de collisione legum 1688, Comm. et
opuscul. Vol. 1 p. 118—154. Hierher gehört nur
Sect. 4 (§ 1—74).
Ulr. Huber de conflictu legum, in den praelect. ad
Pand. als Anhang zu Lib. 1 Tit. 3 de legibus
(§ 1—15).
J. Voetius de statutis. Steht in dem Commentar über
die Pandekten hinter Lib. 1 Tit. 4 de constitut. princ.
als Pars 2 de statutis (§ 1—22).
L. Boullenois traité de la personnalité et de la réalité
des loix etc. Paris 1766. 2 Vol. in 4. Franzöſiſche
Ueberſetzung des angeführten Werks von Rodenburg
mit ſehr weitſchweifigen Zuſätzen.
D. Meier de conflictu legum divers. Bremae 1810. 8.
G. v. Struve üb. das poſitive Rechtsgeſetz in ſeiner Be-
ziehung auf räumliche Verhältniſſe. Carlsruhe 1834 8.
Jos. Story comment. on the conflict of laws. Boston
1834, zweite ſehr vermehrte Originalausgabe Boston
1841. 8.
|0032 : 10|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
W. Burge Commentaries on colonial and foreign laws
generally and in their conflict with each other and
with the law of England. London 1838. 4 Voll.
W. Schäffner Entwickelung des internationalen Pri-
vatrechts. Frankf. 1841. 8.
v. Wächter über die Colliſion der Privatrechtsgeſetze,
Archiv f. civil. Praxis. B. 24 S. 230—311, B. 25
S. 1—60, S. 161—200, S. 361—419, im Ganzen
32 §§, 1841. 1842. Ich werde, um kürzer anführen
zu können, den im 24. B. enthaltenen Abſchnitt mit I.,
die im 25. B. enthaltenen mit II. bezeichnen.
Nic. Rocco dell’ uso e autorità delle leggi delle due
Sicilie considerate nelle relazioni con le persone e
col territorio degli Stranieri. Napoli 1842. 8.
Foelix du droit international privé, deuxième édition,
Paris 1847. 8. (Erſte Ausgabe 1843.)
Jedes Recht erſcheint zunächſt als eine der Perſon zu-
ſtehende Macht (b), mithin als Eigenſchaft dieſer Perſon,
und von dieſem erſten und nächſten Standpunkt aus haben
wir auch die Rechtsverhältniſſe als Attribute einer Perſon
zu betrachten. Hiernach würde die Frage, womit wir uns
beſchäftigen, ſo zu faſſen ſein: Auf welche Perſonen er-
ſtreckt jede gegebene Rechtsregel das Gebiet ihrer Herrſchaft?
(b) S. o. B. 1 § 4.
|0033 : 11|
§. 345. Ueberſicht.
Oder in umgekehrter Auffaſſung (§ 344): Welches ſind die
Rechtsregeln, denen eine gegebene Perſon unterworfen
oder angehörig iſt?
Folgende Betrachtung aber muß uns ſogleich überzeu-
gen, daß mit dieſer Stellung der Frage nicht auszureichen
iſt. In dem Gebiet der erworbenen Rechte (c) erweitert
ſich die Perſon nach den von ihr ſelbſt verſchiedenen Ge-
genſtänden dieſer erworbenen Rechte hin, und ſchon aus
dieſer Erweiterung an ſich entſteht wenigſtens die Möglich-
keit des Eintritts der Perſon in das Gebiet einer ihr ur-
ſprünglich fremden Rechtsregel. Dieſe bloße Möglichkeit
aber gewinnt noch eine ganz andere Geſtalt, wenn wir die
beſondere Beſchaffenheit jener Gegenſtände der erworbenen
Rechte in’s Auge faſſen. Unter dieſen Gegenſtänden finden
wir vor allen auch fremde Perſonen, deren jede auch
wieder einem eigenthümlichen Gebiet beherrſchender Rechts-
regeln angehört, und da es nun ganz zufällig iſt, ob zwei,
mit einander in einem Rechtsverhältniß ſtehende Perſonen
demſelben Rechtsgebiet angehören oder verſchiedenen Rechts-
gebieten, ſo ergiebt ſich daraus eine neue, und zwar ſehr
ausgedehnte, Quelle von Colliſionen zwiſchen den die Rechts-
verhältniſſe beherrſchenden Rechtsregeln.
Folgende Ueberſicht über die Gegenſtände der Rechts-
regeln wird es anſchaulich machen, in welcher mannich-
faltigen Weiſe die Colliſionen unter den Rechtsregeln
(c) B. 1 § 53.
|0034 : 12|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
verſchiedener Gebiete des poſitiven Rechts eintreten
können (d).
Die Rechtsregeln können zum Gegenſtand haben:
I. Die Perſonen an ſich ſelbſt, die Rechtsfähigkeit
und die Handlungsfähigkeit derſelben, oder die Be-
dingungen, unter welchen ſie Rechte haben und
Rechte erwerben können. Dieſe Klaſſe von
Rechtsregeln iſt es, von deren Betrachtung im
Anfang des gegenwärtigen Paragraphen ausgegan-
gen wurde.
II. Die Rechtsverhältniſſe.
1. Rechte an beſtimmten Sachen.
2. Obligationen.
3. Rechte an einem ganzen Vermögen, als einem
idealen Gegenſtande von unbeſtimmtem Umfang
(Erbrecht).
4. Familienrecht.
Aus dieſer Ueberſicht iſt es klar, daß allerdings der
nächſte und unmittelbare Gegenſtand, worüber die Rechts-
regel herrſcht, die Perſon iſt. Und zwar zunächſt die Per-
ſon in ihrem allgemeinen Daſein, als Träger aller Rechte;
dann aber auch die Perſon, inſofern ſie durch ihre freie
Handlungen in den meiſten und wichtigſten Fällen die
Rechtsverhältniſſe erzeugt oder erzeugen hilft.
Allein die Perſon breitet ſich aus zu künſtlichen Erwei-
(d) Dieſe Ueberſicht ſoll hier nur zu einem vorläufigen Anhalt
dienen. Sie wird unten (§ 361) genauer ausgeführt werden.
|0035 : 13|
§. 345. Ueberſicht.
terungen ihres Daſeins. — Sie will herrſchen über Sachen,
und begiebt ſich dadurch in den beſtimmten Raum, den
dieſe Sachen einnehmen, alſo in ein ihr ſelbſt möglicher-
weiſe fremdes Rechtsgebiet. Am unverkennbarſten geſchieht
Dieſes bei unbeweglichen Sachen, bei welchen der Raum,
den ſie erfüllen, nicht zufällig und veränderlich iſt; es iſt
aber, dem Weſen nach, nicht minder wahr auch bei beweg-
lichen Sachen. — Sie will durch Obligationen herrſchen
über fremde Handlungen, oder ihre eigene Handlungen
einem fremden Willen unterwerfen. — Sie geht in beſon-
dere Lebensformen ein durch die Familie, und tritt auch
dadurch, bald freiwillig, bald unfreiwillig, auf mancherlei
Weiſe aus ihrem urſprünglichen, rein perſönlichen, Rechts-
gebiet heraus.
Es ergiebt ſich aus dieſer Betrachtung, daß für jeden
gegebenen Fall die anzuwendende Rechtsregel beſtimmt und
begränzt wird zunächſt und hauptſächlich durch die Unter-
werfung der berechtigten Perſon unter ein beſtimmtes Rechts-
gebiet; daß aber daneben die mannichfaltigſten und wich-
tigſten Modificationen eintreten können durch das Verhält-
niß, in welchem theils beſtimmte Sachen, theils beſtimmte
Handlungen oder Lebensverhältniſſe zu anderen Rechtsge-
bieten ſtehen (e).
Die nächſte Aufgabe wird daher auf die Gründe ge-
(e) Hieran knüpft ſich die in früherer Zeit ſehr verbreitete Unter-
ſcheidung der Statuta personalia, realia, mixta, von welcher bald
noch weiter die Rede ſein wird (§ 361).
|0036 : 14|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
richtet ſein müſſen, aus welchen die allgemeine Angehörig-
keit einer Perſon an ein beſtimmtes Rechtsgebiet abzu-
leiten iſt.
§ 346.
Abſtammung und Landgebiet, als Gründe der Angehö-
rigkeit der Perſon an ein beſtimmtes Rechtsgebiet.
Um den Zuſammenhang zu erkennen, wodurch eine Per-
ſon mit einem beſtimmten poſitiven Recht durch die Ange-
hörigkeit an daſſelbe verknüpft wird, müſſen wir uns daran
erinnern, daß das poſitive Recht ſelbſt ſeinen Sitz in dem
Volk als einem großen Naturganzen, oder in einer volks-
mäßigen Abtheilung dieſes Ganzen hat. Es iſt aber nur
ein anderer Ausdruck derſelben Wahrheit, wenn wir ſagen,
das Recht habe ſeinen Sitz in dem Staat, oder in einem
einzelnen organiſchen Theile des Staates, da eben nur in
dem Staat das Volk wahre Realität hat, indem nur hier
der Wille der Einzelnen in einem Geſammtwillen wahr-
haft aufgeht (a). In Folge dieſer allgemeinen Angabe ha-
ben wir daher näher zu beſtimmen, wodurch dasjenige
Ganze gebildet, diejenige Einheit begränzt wird, worin die
Rechtsregeln, als Beſtandtheile des poſitiven Rechts, ihren
Sitz haben. Dadurch werden wir erkennen, durch welches
Band die einzelnen Perſonen zur Gemeinſchaft eines und
deſſelben poſitiven Rechts zuſammen gehalten werden.
(a) Vgl. oben B. 1. § 8. 9.
|0037 : 15|
§ 346. Abſtammung und Landgebiet.
Suchen wir nun auf geſchichtlichem Wege zur Löſung
dieſer Aufgabe zu gelangen, ſo finden wir zwei Gründe,
wodurch von jeher im Großen und Ganzen eine ſolche Ge-
meinſchaft des poſitiven Rechts unter den Einzelnen vor-
zugsweiſe beſtimmt und begränzt worden iſt: die Volks-
abſtammung, und das Landgebiet.
I. Die Volksabſtammung (Nationalität) als Grund
und Gränze der Rechtsgemeinſchaft hat zunächſt einen ganz
perſönlichen und unſichtbaren Charakter. Obgleich ſie,
ihrem Begriffe nach, den Einfluß der Willkür auszu-
ſchließen ſcheint, iſt ſie dennoch einer Erweiterung durch
die freie Aufnahme Einzelner empfänglich.
In großer Ausdehnung erſcheint die Nationalität als
Grund und Gränze der Rechtsgemeinſchaft bei wandernden
Völkern, für welche ein feſtes Landgebiet überhaupt nicht
vorhanden iſt, wie bei den Germanen zur Zeit der Völker-
wanderung. Bei dieſen hat ſich aber auch nach ihrer feſten
Niederlaſſung auf dem alten Boden des Römiſchen Reichs
derſelbe Grundſatz noch lange lebendig erhalten in dem
Syſtem der perſönlichen Geſetze, die hier in demſelben
Staate neben einander zur Anwendung kamen, und in deren
Reihe jetzt, neben den Rechten der Franken, Lombarden
u. ſ. w., auch das Römiſche Recht, als das fortdauernde
perſönliche Recht der urſprünglichen Einwohner dieſer durch
Eroberung neu gegründeten Staaten erſcheint (b).
(b) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 1 Kap. 3
§ 30—33.
|0038 : 16|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
In den neueren Jahrhunderten finden wir noch jetzt
im Türkiſchen Reich das vollſtändigſte Bild dieſer Art der
Rechtsgemeinſchaft. In den chriſtlichen Staaten von Eu-
ropa aber hat ſich ein Ueberreſt davon am längſten bei der
Jüdiſchen Nation erhalten, in welcher die Fortdauer des
nationalen Rechts, ſo wie die der abgeſonderten Natio-
nalität ſelbſt, mit der Religion in Verbindung ſtand. Aber
auch dieſer Ueberreſt verſchwindet immer mehr (c).
Verwandt, aber nicht gleichbedeutend mit dem eben dar-
geſtellten Grunde der Rechtsgemeinſchaft iſt derjenige, wel-
cher auf dem eigenthümlichen Bürgerverhältniß beſonderer
Klaſſen von Perſonen beruht. Ein ſolches erſcheint bei
den Römern ſehr ausgebildet, und lange dauernd, in den
Klaſſen der cives, latini, peregrini, welche wiederum mit
den Syſtemen des jus civile und jus gentium zuſammen-
hängen (d). Dennoch hat dieſe Unterſcheidung, obgleich in
anderer Hinſicht ſehr wichtig, in der Richtung, die uns hier
ausſchließend beſchäftigt, niemals einen Einfluß erlangt,
welcher dem Einfluß der Volksabſtammung oder des Land-
gebietes an die Seite geſtellt werden könnte.
II. Das Landgebiet (die Territorialität) erſcheint
als der zweite beſonders wichtige und verbreitete Grund,
die Gemeinſchaft des poſitiven Rechts unter den Einzelnen
(c) In Preußen z. B. iſt ſchon
im J. 1812 durch das Judenedict
§ 20. 21 für die Juden das ge-
meine Recht der übrigen Einwohner
als Regel aufgeſtellt, das beſon-
dere nationale Recht nur als Aus-
nahme beibehalten worden.
(d) Vgl. oben B. 1 § 22,
und: Geſchichte des R. R. im
Mittelalter B. 1 § 1.
|0039 : 17|
§. 346. Abſtammung und Landgebiet.
zu beſtimmen und zu begränzen. Dieſer Grund unterſchei-
det ſich von dem vorhergehenden (der Nationalität) durch
ſeine weniger perſönliche Natur. Er iſt an etwas äußer-
lich Erkennbares, die ſichtbare Landgränze, gebunden, und
der Einfluß menſchlicher Willkür in der Anwendung dieſes
Grundes iſt ausgedehnter und unmittelbarer, als bei der
Volksabſtammung, bei welcher dieſer Einfluß mehr die Na-
tur einer bloßen Ausnahme an ſich trägt.
Dieſer zweite Grund der Rechtsgemeinſchaft hat den
erſten (die Nationalität) im Laufe der Zeit, bei fortſchrei-
tender Ausbildung, mehr und mehr verdrängt. Darauf hat
vor Allem eingewirkt der vielſeitigere, lebendigere Verkehr
der Völker unter einander, durch welchen die ſchrofferen
Gegenſätze der Nationalitäten verändert werden mußten.
Beſonders aber darf nicht verkannt werden der Einfluß des
Chriſtenthums, welches als gemeinſames Band des geiſtigen
Lebens die verſchiedenſten Völker umſchlingend, die eigen-
thümlichen Unterſchiede derſelben mehr in den Hintergrund
treten ließ.
Gehen wir nun aus von dieſem zweiten Grunde der
Rechtsgemeinſchaft, ſo bezieht ſich die Colliſion, die uns
hier überall vor Augen ſtehen muß, auf die örtliche
Verſchiedenheit der Rechte, und unſere Aufgabe läßt ſich
für alle eintretende Colliſionsfälle nunmehr in folgende
Frage faſſen:
VIII. 2
|0040 : 18|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Welches Territorialrecht iſt in jedem gege-
benen Falle anzuwenden?
Hierin liegt denn auch der Grund, weshalb ſchon bis-
her die gleichzeitigen Gränzen der Rechtsregeln als ört-
liche Gränzen bezeichnet worden ſind (§ 244).
Suchen wir zunächſt durch Beiſpiele anſchaulich zu
machen, welche Bedeutung die hier in Frage geſtellte Colli-
ſion verſchiedener örtlicher oder territorialer Rechte haben
kann. An einem beſtimmten Orte iſt ein Rechtsſtreit zu
entſcheiden über die Erfüllung eines Vertrages oder über
das Eigenthum einer Sache. Der Vertrag aber iſt ge-
ſchloſſen an einem anderen Orte, als an dem des Gerichts;
die ſtreitige Sache befindet ſich an einem anderen Orte, als
dem des Gerichts; beide Orte haben verſchiedenes territo-
riales Recht. Daneben können beide ſtreitende Parteien,
ihrer Perſon nach, dem Orte des Gerichts angehören, oder
beide einem fremden Orte, oder auch beide Parteien ver-
ſchiedenen Orten. Welches unter den verſchiedenen ört-
lichen Rechten, mit denen das ſtreitige Rechtsverhältniß in
irgend einer Berührung ſteht, ſoll bei der Entſcheidung des
Streites zur Anwendung kommen? Das iſt der Sinn der
Colliſionsfrage in Anwendung auf Territorialrechte (e).
(e) Die Colliſion verſchiedener
Rechte kommt allerdings auch bei
der auf die Volksabſtammung ge-
gründeten Rechtsgemeinſchaft in
Frage, und bedarf hier, eben ſo
gut als neben dem Territorialrecht,
ihrer Löſung. Ein genaueres Ein-
gehen auf dieſe Geſtalt unſerer
Frage, die ja überhaupt nur
des geſchichtlichen Zuſammenhangs
wegen gegenwärtig berührt wurde,
und für das heutige Recht keine
|0041 : 19|
§. 347. Widerſtreit. Territsrialrechte in demſelben Staate.
§. 347.
Widerſtreitende Territorialrechte in demſelben Staate.
Die einander widerſtreitenden Territorialrechte, für deren
Colliſion wir nunmehr die Regeln feſtzuſtellen haben (§ 346),
können unter einander in einem zweifachen Verhältniß ſte-
hen, und wenngleich die Grundſätze der Beurtheilung ſtets
dieſelben bleiben, ſo hat doch dieſe Verſchiedenheit den
größten Einfluß auf die Art der Anwendung jener Grund-
ſätze.
Jene Territorialrechte können gelten entweder in ver-
ſchiedenen Gebietstheilen eines und deſſelben Staates,
oder in verſchiedenen, von einander unabhängigen
Staaten.
I. Verſchiedene Territorialrechte innerhalb eines und
deſſelben Staates ſind ſchon an einer früheren Stelle be-
merklich gemacht worden unter dem Namen von particu-
lären Rechten im Gegenſatz eines gemeinen Rechts eines
ſolchen Staates, und ſie können eben ſowohl in der Ge-
ſtalt von Geſetzen als von Gewohnheiten beſtehen (a).
Die geſchichtliche Veranlaſſung derſelben, ſo wie ihre
davon abhängende Begränzung, iſt höchſt mannichfaltig.
Der wichtigſte Fall der Anwendung während der Dauer
des deutſchen Reiches war begründet durch das Verhältniß
Bedeutung hat, würde hier nicht
am Orte ſein. Vgl. Savigny
Geſchichte des R. R. im Mittel-
alter B. 1 § 46.
(a) S. o. B. 1 § 8. 18. 21.
2*
|0042 : 20|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
der einzelnen deutſchen Staaten zu dem, ſie alle zuſammen
haltenden deutſchen Reiche (b). — Aehnliche Verhältniſſe
aber fanden ſich innerhalb der zum deutſchen Reiche gehö-
renden einzelnen Staaten, und finden ſich noch jetzt nach
der Auflöſung des Reiches.
Solche Particularrechte erſcheinen bald in ganzen Pro-
vinzen, bald in Abtheilungen von Provinzen, bald und vor-
züglich in einzelnen Gemeinden. Beſonders häufig erſchei-
nen ſie in Stadtgebieten, ja zuweilen ſelbſt in einzelnen
örtlichen Beſtandtheilen eines und deſſelben Stadtgebietes (c).
In größeren Landſtrichen (Provinzen oder Provinzab-
theilungen) ſind ſolche Particularrechte oft dadurch entſtan-
den, daß ein ſolcher Landſtrich früher als ſelbſtſtändiges
Staatsgebiet oder auch als Theil eines fremden Staates
beſtand, und erſt ſpäter dem Staate, dem er jetzt angehört,
einverleibt wurde.
(b) B. 1 § 2. — Ein ähnliches,
doch nicht völlig gleiches, Verhält-
niß finden wir unter den ſouveränen
kleinen Staaten, aus welchen die
vereinigten Niederlande beſtanden,
die nicht ſo, wie die deutſchen
Staaten, durch eine gemeinſame
höhere Staatsgewalt und Geſetz-
gebung verbunden waren. Durch
die daſelbſt ſehr häufig hervortre-
tenden Colliſionsfälle wurden be-
ſonders die Holländiſchen Juriſten
(Rodenburg, P. Voet, J. Voet,
Huber) veranlaßt, große Aufmerk-
ſamkeit auf den hier vorliegenden
Gegenſtand zu wenden. Aehnlich
iſt auch das Verhältniß der Nord-
amerikaniſchen Freiſtaaten.
(c) So z. B. beſtanden neben
einander in Breslau bis zum 1.
Jan. 1840 fünferlei partikuläre
Geſetze und Obſervanzen über Erb-
recht, eheliches Güterrecht u. ſ.
w., deren Anwendung durch Juris-
dictionsbezirke begränzt war. Nicht
ſelten war hier das Recht von
Haus zu Haus verſchieden, ja es
kam vor, daß Ein Haus auf der
Gränze verſchiedener Rechte lag,
denen es daher theilweiſe angehörte.
Vgl. das Geſetz vom 11. Mai 1839
(Geſetzſammlung 1839 S. 166).
|0043 : 21|
§. 347. Widerſtreit. Territorialrechte in demſelben Staate.
In Stadtgebieten ſind ſie oft für dieſe einzelne Stadt
erlaſſen, ſei es von dem Landesherrn, dem dieſe Stadt un-
terworfen war, oder auch von der ſtädtiſchen Obrigkeit, mit
Zulaſſung oder Genehmigung des Landesherrn.
Dieſe Entſtehung beſonderer Stadtrechte finden wir ſchon
im Römiſchen Reiche, deſſen einzelne Gemeinden nicht nur
vor ihrer Vereinigung mit dem großen Ganzen das Recht
eigener Geſetzgebung gehabt hatten, ſondern dieſes Recht
auch durch jene Vereinigung nicht ſchlechthin einbüßten,
wenngleich ſie den in Rom neu erlaſſenen Geſetzen ſtets
unterworfen waren (d). Sie ſind es, durch welche über-
haupt die Römiſchen Juriſten Veranlaſſung erhielten, auf
die hier vorliegende Unterſuchung einzugehen (e). Sie bil-
den hier, als Particularrechte, den Gegenſatz gegen das ge-
meine Römiſche Recht. — Noch weit ausgedehnter und
wichtiger aber waren die Stadtrechte, die ſich im Italieni-
ſchen Mittelalter faſt in jeder Stadt ausbildeten, und die
hier, als Particularrechte, nicht blos gegen das Römiſche
Recht, ſondern auch gegen das Lombardiſche, beide als ge-
meine Rechte gedacht, den Gegenſatz bildeten (f). Für ſie
wurde der Name Statuta als Kunſtausdruck geltend, der
dann auch auf andere Länder übertragen wurde, und an
welchen ſich die Lehre von den Statuta personalia, realia,
mixta anſchloß (§ 345 f.).
(d) Savigny Geſchichte des
R. R. im Mittelalter B. 1 Kap. 2.
(e) S. o. § 344.
(f) Geſchichte des R. R. im
Mittelalter B. 3 § 42. 189 B. 2
§ 76.
|0044 : 22|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Zu der Colliſion verſchiedener Territorialrechte inner-
halb deſſelben Staates könnte man verſuchen auch folgen-
den Fall zu ziehen, der jedoch in der That eine ganz an-
dere Natur hat, und gar nicht in das Gebiet der gegen-
wärtigen Unterſuchung gehört. — In jedem Staate können
Particularrechte in verſchiedener Abſtufung und Unterord-
nung vorkommen, von dem örtlich begränzteſten an in immer
weiteren Kreiſen der Anwendung geltend, bis zum gemeinen
Recht eines ſolchen Staates hinauf. Auch dabei kann man
von einer Colliſion reden, indem an beſtimmten Orten jedes
dieſer Particularrechte im Allgemeinen wirkliche Geltung
hat, und alſo in gegebenen einzelnen Fällen gefragt werden
kann, welches derſelben, wenn ſie einander widerſtreiten,
die Regel der Entſcheidung bilden ſolle. Hier aber hat
die Colliſionsfrage, wenn man dieſen Ausdruck dabei ge-
brauchen will, eine andere Bedeutung, als bei den neben
einander ſtehenden, Particularrechten deſſelben Staates, die
von einander unabhängig ſind, alſo nicht im Verhältniß
der Abhängigkeit und Unterordnung zu einander ſtehen.
Zwiſchen mehreren einander untergeordneten Rechten gilt
die einfache Regel, daß ſtets dasjenige Recht in der An-
wendung den Vorzug hat, welchem der beſchränkteſte Um-
fang der Geltung zuzuſchreiben iſt, nur mit Ausnahme des
beſonderen Falles, wenn das über ihm in weiterem Um-
fange ſtehende Recht einzelne Beſtimmungen von einem ab-
ſolut gebietenden Charakter enthält (g).
(g) S. o. B. 1 § 21. 45. Außer dieſem beſonderen Falle alſo
gilt die Regel: Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemein Recht.
|0045 : 23|
§. 347. Widerſtreit. Territorialrechte in demſelben Staate.
Mit einer ſo einfachen Regel iſt die Colliſion, die zwi-
ſchen mehreren von einander unabhängigen Particularrech-
ten eintritt, nicht zu beherrſchen. Für ſie iſt eine tiefer ein-
gehende Unterſuchung nöthig, die eben in der Folge des
gegenwärtigen Kapitels angeſtellt werden ſoll. Da übri-
gens in dem gegenwärtig allein vorausgeſetzten Fall Par-
ticularrechte eines und deſſelben Staates vorausgeſetzt wer-
den (h), ſo ließe ſich denken, daß die Colliſion dieſer
Rechte ſelbſt durch die allgemeine Geſetzgebung eben dieſes
Staates geregelt wäre. Gerade Dieſes aber findet ſich bis
jetzt wohl in keinem Lande auf irgend erſchöpfende Weiſe
durchgeführt, vielmehr ſind überall die meiſten und wichtig-
ſten hierher gehörenden Fragen der wiſſenſchaftlichen Feſt-
ſtellung überlaſſen geblieben.
§. 348.
Widerſtreitende Territorialrechte in verſchiedenen
Staaten.
II. Der zweite Fall einer möglichen Colliſion verſchie-
dener Territorialrechte ſetzt voraus, daß dieſe Rechte nicht
(h) Es ließe ſich Dieſes denken
ohne Unterſchied, ob über den
eigenthümlichen Particularrechten
ein und daſſelbe gemeine Recht
ſteht (ſo wie in Preußen das allge-
meine Landrecht über den Provin-
zialrechten von Brandenburg, Pom-
mern, Oſt- u. Weſtpreußen u. ſ. w.),
oder nicht, denn auch in dieſem
letzten Fall, welcher z. B. zwiſchen
der Preußiſchen Rheinprovinz und
den übrigen Provinzen eintritt,
ließe ſich doch denken, daß ein
Preußiſches Landesgeſetz die Colli-
ſion dieſer verſchiedenen Rechte
vollſtändig geregelt hätte.
|0046 : 24|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
in demſelben Staate, ſondern in mehreren von einander un-
abhängigen Staaten beſtehen (§ 347). Sehen wir dabei
zurück auf die ſchon oben zur Erläuterung der ganzen
Colliſionsfrage angegebenen Beiſpiele (§ 346), ſo nehmen
dieſe nunmehr folgende Geſtalt an. Ein Richter unſeres
Staates hat zu entſcheiden über ein ſtreitiges Rechtsver-
hältniß, das durch die Thatſachen, die ihm zum Grunde
liegen (z. B. den Ort, wo ein Vertrag abgeſchloſſen iſt,
oder wo ſich eine ſtreitige Sache befindet), mit dem von
unſrem poſitiven Rechte abweichenden Rechte eines fremden
Staates in Berührung ſteht. Daneben iſt es möglich, daß
beide Parteien Inländer, oder beide Ausländer ſind, oder
daß die eine dem Inlande, die andere dem Auslande per-
ſönlich angehört. Welches der verſchiedenen hier einſchla-
genden Territorialrechte hat der Richter zur Anwendung zu
bringen?
Ganz dieſelbe Frage könnte auch dem Richter jenes
fremden Staates zur Entſcheidung vorliegen, wenn zufällig
der Rechtsſtreit nicht in unſrem, ſondern in dem fremden
Staate entſtanden wäre.
Manche haben verſucht, dieſe Fragen lediglich durch
den Grundſatz der unabhängigen Staatsgewalt (Souverä-
nität) zu entſcheiden, indem ſie folgende zwei Regeln an die
Spitze ſtellen. 1. Jeder Staat kann fordern, daß inner-
halb ſeiner Gränzen lediglich ſein Geſetz gelte. 2. Kein
|0047 : 25|
§. 348. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten.
Staat kann die Geltung ſeines Geſetzes außer ſeinen
Gränzen fordern (a).
Ich will nicht nur die Wahrheit dieſer Sätze einräumen,
ſondern ſelbſt ihre Ausdehnung bis zu den äußerſten denk-
baren Gränzen anerkennen, glaube aber, daß ſie für die
Löſung unſrer Aufgabe wenig Hülfe gewähren.
Die weiteſte Ausdehnung der unabhängigen Staats-
gewalt in Beziehung auf Fremde könnte bis zur völligen
Rechtloſigkeit der Fremden führen. Eine ſolche Auffaſſung
iſt dem Römiſchen Völkerrecht nicht fremd (b), und auch
da, wo ſie von den Römern gegen das Ausland nicht
geltend gemacht wird, iſt wenigſtens ein großer Unterſchied
in der Rechtsfähigkeit zwiſchen Römern und Fremden ſtets
feſtgehalten worden (§ 346). — Das heutige Recht dagegen
hat allmälig zur Anerkennung vollſtändiger Rechtsgleichheit
zwiſchen Einheimiſchen und Fremden hingeführt (c).
Mit dieſer Rechtsgleichheit der Perſonen iſt jedoch
über die Frage wegen der Colliſion zwiſchen dem einhei-
miſchen und fremden Rechte noch gar nicht entſchieden.
Vor Allem müſſen wir anerkennen, daß, wenn einheimiſche
(a) Huber § 2, Story
§ 18—21.
(b) Das R. R. wendet dieſe
Rechtloſigkeit, und zwar mit gegen-
ſeitigen Folgen, nicht nur auf
hostes an, deren Begriff einen
erklärten Krieg vorausſetzt, ſondern
ſelbſt auf alle Bürger ſolcher
Staaten, mit welchen Rom weder
foedus noch amicitia gegründet
hat. L. 5 § 2 de capt. (49. 15)
(c) Wächter I. S. 253 II.
S. 33—34. 181. Puchta Pan-
dekten § 45. 112. Eichhorn
deutſches Recht § 75.
|0048 : 26|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Geſetze über die Behandlung der Colliſionsfälle Vorſchriften
geben, dieſe Vorſchriften von den Richtern unſres Staates
ſchlechthin angewendet werden müſſen (d). Nur finden ſich
ſolche Geſetze in erſchöpfender Weiſe nirgend, insbeſondere
nicht in den Staaten, für welche das gemeine deutſche
Recht gilt (e)
Allerdings könnte das ſtrenge Recht der höchſten Gewalt
unter Anderm dahin führen, daß allen Richtern des Landes
vorgeſchrieben würden, die ihnen vorkommenden Rechts-
verhältniſſe lediglich nach dem einheimiſchen Rechte zu ent-
ſcheiden, unbekümmert um die vielleicht abweichenden Be-
ſtimmungen irgend eines fremden Rechtes, mit deſſen Land-
gebiet etwa das ſtreitige Rechtsverhältniß in Berührung
gekommen ſein möchte. Eine ſolche Vorſchrift iſt aber in
der Geſetzgebung keines bekannten Staates zu finden, und
mußte auch ſchon durch folgende Betrachtung verhindert
werden.
Je mannichfaltiger und lebhafter der Verkehr unter den
verſchiedenen Völkern wird, deſto mehr wird man ſich über-
zeugen müſſen, daß es räthlich iſt, jenen ſtrengen Grundſatz
nicht feſtzuhalten, ſondern vielmehr mit einem entgegengeſetzten
Grundſatz zu vertauſchen. Dahin führt die wünſchenswerthe
Gegenſeitigkeit in der Behandlung der Rechtsverhältniſſe, und
(d) Wächter I. S. 237 fg.
Story § 23. — Seltſamerweiſe
widerſpricht Struve § 9. 37,
indem er die Geſetze für nichtig
erklärt, die nicht von richtigen
Grundſätzen über die Colliſion
ausgehen.
(e) Es tritt alſo hier derſelbe
Fall ein, wie bei der Colliſion der
Particularrechte (§ 347).
|0049 : 27|
§. 348. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten.
die daraus hervorgehende Gleichheit in der Beurtheilung
der Einheimiſchen und Fremden, die im Ganzen und Großen
durch den gemeinſamen Vortheil der Völker und der Ein-
zelnen geboten wird. Denn dieſe Gleichheit muß in voll-
ſtändiger Ausbildung dahin führen, daß nicht bloß in jedem
einzelnen Staate der Fremde gegen den Einheimiſchen nicht
zurückgeſetzt werde (worin die gleiche Behandlung der Per-
ſonen beſteht), ſondern daß auch die Rechtsverhältniſſe, in
Fällen einer Colliſion der Geſetze, dieſelbe Beurthei-
lung zu erwarten haben, ohne Unterſchied, ob in dieſem
oder jenem Staate das Urtheil geſprochen werde.
Der Standpunkt, auf den wir durch dieſe Erwägung
geführt werden, iſt der einer völkerrechtlichen Gemeinſchaft
der mit einander verkehrenden Nationen, und dieſer Stand-
punkt hat im Fortſchritt der Zeit immer allgemeinere An-
erkennung gefunden, unter dem Einfluß theils der gemein-
ſamen chriſtlichen Geſittung, theils des wahren Vortheils,
der daraus für alle Theile hervorgeht.
Auf dieſem Wege kommen wir dahin, die Colliſion der
Territorialrechte unabhängiger Staaten, von welcher gegen-
wärtig die Rede iſt, weſentlich nach denſelben Grundſätzen zu
behandeln, welche für die Colliſion verſchiedener Particular-
rechte deſſelben Staates gelten (§ 347), und dieſe Gleich-
ſtellung iſt für die geſammte folgende Unterſuchung maaß-
gebend.
Für beide Arten der Colliſion läßt ſich nunmehr die
gemeinſame Aufgabe dahin beſtimmen,
|0050 : 28|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
daß bei jedem Rechtsverhältniß dasjenige
Rechtsgebiet aufgeſucht werde, welchem
dieſes Rechtsverhältniß ſeiner eigen-
thümlichen Natur nach angehört oder
unterworfen iſt.
Man kann dieſe Gleichſtellung, im Gegenſatz des oben
erwähnten ſtrengen Rechts, als freundliche Zulaſſung unter
ſouveränen Staaten bezeichnen, nämlich als Zulaſſung ur-
ſprünglich fremder Geſetze unter die Quellen, aus welchen
die einheimiſchen Gerichte die Beurtheilung mancher Rechts-
verhältniſſe zu ſchöpfen haben (f).
Nur darf dieſe Zulaſſung nicht gedacht werden als
Ausfluß bloßer Großmuth oder Willkür, die zugleich als
zufällig wechſelnd und vorübergehend zu denken wäre.
Vielmehr iſt darin eine eigenthümliche und fortſchreitende
Rechtsentwickelung zu erkennen, gleichen Schritt haltend
mit der Behandlung der Colliſionen unter den Particular-
rechten deſſelben Staates (g).
(f) Huber de conflictu le-
gum § 2. „Rectores imperiorum
id comiter agunt, ut jura cujus-
que populi … teneant ubique
suam vim“. I. Voet. de statu-
tis § 1. 12. 17. „Dein quid
ex comitate gens genti …
liberaliter et officiose indul-
geat, permittat, patiatur, ultro
citroque“ … — Story con-
flict of laws § 24—38.
(g) Ich kann daher nicht über-
einſtimmen mit Wächter I. S. 240.
II. S. 12—15, wenn er hierin ſo
ſehr warnt gegen Verwechſelung
des richterlichen und legislativen
Standpunktes. Was er zu dem
legislativen Standpunkt rechnet,
fällt gewiß großentheils in den
richterlichen, bei einem Gegenſtand
den die Geſetzgebung ohnehin
der wiſſenſchaftlichen Entwickelung
|0051 : 29|
§. 348. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten.
Nur dadurch muß die eben behauptete Gleichſtellung
beider Arten der Colliſion beſchränkt werden, daß bei wi-
derſtreitenden Particularrechten (§ 347) die Colliſionsfrage
entſchieden werden kann durch ein über beiden Particular-
rechten ſtehendes gemeinſames Landesgeſetz. Eine ſolche
mögliche Auskunft kann bei widerſtreitenden Geſetzen ver-
ſchiedener unabhängiger Staaten allerdings nicht eintreten.
Dieſer Standpunkt einer völkerrechtlichen Gemeinſchaft
unter unabhängigen Staaten, aus welchem dann die An-
näherung zu einer gegenſeitigen Gleichſtellung in der Be-
handlung der Colliſion verſchiedener poſitiver Rechte hervor-
gegangen iſt, war den Römern fremd. Der Verkehr der
Völker mußte erſt den ungeheuren Schwung erhalten haben,
den wir in neueren Zeiten wahrnehmen, damit das Be-
dürfniß ſolche Grundſätze zur Anerkennung und Ausbildung
bringen konnte.
Wenn dieſer Standpunkt bei neueren Schriftſtellern
nicht geradezu wörtliche Anerkennung gefunden hat, ſo liegt
er doch, dem Weſen nach, zum Grunde bei dem in dieſer
Unterſuchung häufig geltend gemachten allgemeinen Gewohn-
heitsrecht (h). Zwar wird dieſes Gewohnheitsrecht vor-
zugsweiſe behauptet für das Gebiet des gemeinen deutſchen
größtentheils überlaſſen hat. Auch
liegt eine Annäherung an die hier
aufgeſtellte Anſicht in einer anderen
Stelle von Wächter (I. 265),
worin er den Richter auf Richtung,
Sinn und Geiſt ſeiner Landesge-
ſetze verweiſt.
(h) Wächter I. S. 255—261.
II. S. 175—177. S. 195. S. 371.
— Schäffner § 21.
|0052 : 30|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Rechts. Allein die Ableitung deſſelben aus der (ſtets fort-
ſchreitenden) Uebereinſtimmung der Schriftſteller und der
Richterſprüche führt gerade hier unwiderſtehlich über dieſe
Gränze hinaus. Auch daß ſehr gewöhnlich über den In-
halt und die Gränzen jenes Gewohnheitsrechts geſtritten
wird, kann hierin Nichts ändern. Die gemeinſame An-
nahme des Daſeyns deſſelben, und das gemeinſame Suchen
nach deſſen Inhalt, iſt entſcheidend für die hier aufgeſtellte
Behauptung. Schwankende und durch einander gehende
Meinungen aber können am wenigſten befremden in einer
Rechtslehre, die, ſo wie die hier vorliegende, noch erſt im
Werden begriffen iſt (i).
Die hier aufgeſtellten Grundſätze über die mögliche,
wünſchenswerthe, zu erwartende völkerrechtliche Gemein-
ſchaft in der Behandlung der Colliſionen örtlicher Rechte
können eine beſondere Förderung erhalten, wenn über dieſen
Gegenſtand unter verſchiedenen, beſonders unter benach-
barten Staaten, bei welchen die Colliſionsfälle am häufigſten
eintreten, Staatsverträge geſchloſſen werden. Solche
Staatsverträge ſind nicht blos von Rechtslehrern lebhaft
gewünſcht und empfohlen worden, ſondern auch in der
That ſchon vorlängſt zu Stande gekommen (k). Es würde
(i) Vgl. hierüber die Vorrede zum gegenwärtigen Bande.
(k) I. Voet. § 1. 12. 17.
|0053 : 31|
§. 348. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten.
unrichtig ſein, ſolche Verträge, wo ſie ſich finden, ſo aufzu-
faſſen, als werde darin etwas ganz Neues poſitiv feſtge-
ſtellt, ſo daß, abgeſehen von denſelben, und vor ihrer Zeit,
etwa gerade das Gegentheil gegolten haben müßte. Viel-
mehr ſind ſie faſt immer als der Ausdruck der oben dar-
gelegten allgemeinen Rechtsgemeinſchaft anzuſehen, mithin
als Verſuche, dieſe Rechtsgemeinſchaft ſtets vollſtändiger zur
Anerkennung zu bringen.
Kein Staat hat in neuerer Zeit ſo zahlreiche Verträge
dieſer Art mit anderen Staaten geſchloſſen, als der Preußi-
ſche, und in dieſen Verträgen beſonders iſt der eben aufge-
ſtellte Geſichtspunkt ganz unverkennbar vorherrſchend geweſen.
Ich will hier eine Ueberſicht dieſer Preußiſchen Staatsver-
träge mit Nachbarſtaaten geben, um in der Folge dieſer
Unterſuchung leichter darauf zurückweiſen zu können.
Vertrag mit Sachſen-Weimar 1824, Geſetz-Sammlung
1824. S. 149.
‒ ‒ Sachſen-Altenburg 1832, ‒
1832. S. 105.
‒ ‒ Sachſen-Coburg-Gotha 1833, ‒
1834. S. 9.
‒ ‒ Reuß-Gera 1834, ‒
1834. S. 124.
‒ ‒ Königreich Sachſen 1839, ‒
1839. S. 353.
‒ ‒ Schwarzburg-Rudolſtadt 1840, ‒
1840. S. 239.
|0054 : 32|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Vertrag mit Anhalt-Bernburg 1840, Geſetz-Sammlung
1840. S. 250.
‒ ‒ Braunſchweig 1841, ‒
1842. S. 1.
§. 349.
Widerſtreitende Territorialrechte in verſchiedenen
Staaten. (Fortſetzung.)
Unſere Unterſuchung hat bisher dahin geführt, daß auch
bei der Entſcheidung über ſolche Rechtsverhältniſſe, welche
mit verſchiedenen unabhängigen Staaten in Berührung
kommen, der Richter dasjenige örtliche Recht anzuwenden
hat, dem das ſtreitige Rechtsverhältniß angehört, ohne Un-
terſchied, ob dieſes örtliche Recht das einheimiſche Recht
dieſes Richters, oder das Recht eines fremden Staates
ſein mag (§ 348.).
Dieſer Grundſatz aber muß nunmehr beſchränkt werden
mit Rückſicht auf manche Arten von Geſetzen, deren beſon-
dere Natur einer ſo freien Behandlung der Rechtsgemein-
ſchaft unter verſchiedenen Staaten widerſtrebt. Bei ſolchen
Geſetzen wird der Richter das einheimiſche Recht aus-
ſchließender anzuwenden haben, als es jener Grundſatz ge-
ſtattet, das fremde Recht dagegen unangewendet laſſen
müſſen, auch wo jener Grundſatz die Anwendung rechtfer-
tigen würde. Daraus entſteht eine Reihe von Ausnahme-
fällen wichtiger Art, deren Gränzen feſtzuſtellen vielleicht
die ſchwierigſte Aufgabe in dieſer ganzen Lehre ſein mag.
|0055 : 33|
§. 349. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten. (Fortſ.)
Die oft unbewußte Rückſicht unſerer Schriftſteller auf dieſe
Ausnahmefälle hat nicht wenig dazu beigetragen, die über-
einſtimmende Anerkennung der Regeln zu verhindern, die
durch dieſelben beſchränkt werden. Sollte es gelingen, jene
Ausnahmen als ſolche, und zugleich die wahren Gränzen
derſelben, auf überzeugende Weiſe feſtzuſtellen, ſo dürfte da-
durch vielleicht mancher Widerſtreit über die Regeln ſelbſt
beſeitigt, und ſo die gegenſeitige Annäherung der ſtreitenden
Parteien gefördert werden.
Ich will es verſuchen, die angedeuteten Ausnahmen
auf zwei Klaſſen zurückzuführen:
A. Geſetze von ſtreng poſitiver, zwingender
Natur, die eben wegen dieſer Natur zu
jener freien Behandlung, unabhängig von
den Gränzen verſchiedener Staaten, nicht
geeignet ſind.
B. Rechtsinſtitute eines fremden Staates, de-
ren Daſein in dem unſrigen überhaupt
nicht anerkannt iſt, die alſo deswegen auf
Rechtsſchutz in unſerm Staate keinen An-
ſpruch haben.
A. Geſetze von ſtreng poſitiver, zwingender Natur.
Schon oben ſind verſchiedene Gegenſätze in der Natur
und Herkunft der Rechtsregeln hervor gehoben worden (a).
An dieſe müſſen wir hier anknüpfen, wir reichen damit
(a) S. o. B. 1 § 15. 16. 22.
VIII. 3
|0056 : 34|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
aber für den gegenwärtigen Zweck nicht aus, müſſen viel-
mehr die verſchiedene Natur der Rechtsregeln noch genauer
betrachten.
Zwar könnte man glauben, hier auszureichen mit der
Unterſcheidung abſoluter und vermittelnder Rechtsregeln
(§ 16), allein auch darin würde man ſich täuſchen. Zwar
iſt dieſe Unterſcheidung inſofern von einigem Einfluß auf
unſre Frage, als niemals eine blos vermittelnde Rechts-
regel in die Reihe jener Ausnahmefälle gehören wird (b).
Dagegen würde es umgekehrt ganz irrig ſein, allen abſo-
luten Geſetzen eine ſo poſitive, zwingende Natur zuzuſchrei-
ben, daß ſie unter die Ausnahmefälle gerechnet werden
müßten. So z. B. gehört jedes Geſetz über den Anfang
der Volljährigkeit unter die abſoluten Geſetze, weil es nicht
blos in Ermangelung einer anders beſtimmenden Privat-
willkür wirken ſoll; dennoch ſind Alle darüber einig, daß
gerade dieſes Geſetz auch außer den Gränzen des Staates,
worin es gegeben iſt, unbedenklich wirken kann (§ 362).
Ob nun irgend ein Geſetz unter die Ausnahmefälle zu
rechnen iſt, das hängt vor Allem von der Abſicht des Ge-
ſetzgebers ab. Hat dieſer ſich darüber ausdrücklich erklärt,
(b) Jedes Geſetz über die In-
teſtaterbfolge iſt ein vermittelndes,
weil es nur wirkt in Ermangelung
eines letzten Willens. Daher iſt
es auch allgemein anerkannt, daß
ſolche Geſetze außer dem Ge-
biete, wofür ſie gegeben ſind,
wirken können; denn die häufigen
abweichenden Meinungen betreffen
nicht dieſe Geſetze an ſich, ſondern
nur ihre Anwendung auf das
Grundeigenthum, wovon unten
ausführlich die Rede ſein wird
(§. 376).
|0057 : 35|
§. 346. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten. (Fortſ.)
ſo muß dieſe Erklärung gelten, da dieſelbe dann die Na-
tur eines Geſetzes über die Colliſion hat, welches
ſtets unbedingt befolgt werden muß (§ 348 d.). Allein an
einer ſolchen ausdrücklichen Erklärung wird es meiſt fehlen,
und dann bleibt Nichts übrig, als auf die verſchiedene Na-
tur der abſoluten Geſetze zurück zu gehen, die uns auf fol-
gende Unterſcheidung führen muß.
Eine Klaſſe der abſoluten Geſetze hat keinen anderen
Grund und Zweck, als die Handhabung des Rechts durch
feſte Regeln zu ſichern, ſo daß ſie erlaſſen werden lediglich
um der Perſonen Willen, welche die Träger der Rechte
ſind. Dahin gehören die Geſetze über die Einſchränkung
der Handlungsfähigkeit wegen des Alters, des Geſchlechts
u. ſ. w. Ferner die Geſetze über die Formen der Ueber-
tragung des Eigenthums (durch bloßen Vertrag oder durch
Uebergabe). — Bei allen Geſetzen ſolcher Art iſt kein Grund
vorhanden, ſie unter die Ausnahmefälle zu rechnen, die da-
bei eintretende Colliſionen können vielmehr nach dem Grund-
ſatz der freieſten Rechtsgemeinſchaft geſchlichtet werden, da
jeder Staat unbedenklich auch innerhalb ſeiner Gränzen
dem fremden Geſetze ſolcher Art eine Einwirkung geſtat-
ten kann.
Eine andere Klaſſe der abſoluten Geſetze dagegen
hat ihren Grund und Zweck außer dem reinen, in ſeinem
abſtracten Daſein aufgefaßten, Rechtsgebiet (c), ſo daß ſie
(c) „contra rationem juris“, ſ. o. B. 1 § 16 Note p.
3*
|0058 : 36|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
erlaſſen werden nicht lediglich um der Perſonen Willen,
welche die Träger der Rechte ſind. — Die Geſetze dieſer
Klaſſe können beruhen auf ſittlichen Gründen. Dahin
gehört jedes Ehegeſetz, welches die Polygamie ausſchließt.
— Sie können auch beruhen auf Gründen des öffent-
lichen Wohls (publica utilitas), mögen dieſe nun mehr
einen politiſchen, einen polizeilichen, oder einen volkswirth-
ſchaftlichen Charakter an ſich tragen. Dahin gehören
manche Geſetze, welche den Erwerb des Grundeigenthums
von Seiten der Juden einſchränken.
Alle Geſetze ſolcher Art gehören zu den oben erwähn-
ten Ausnahmefällen, ſo daß in Beziehung auf ihre Anwen-
dung jeder Staat für ſich als völlig abgeſchloſſen erſcheint.
— Schließt alſo das Geſetz unſers Staates die Polygamie
aus, ſo muß unſer Richter auch der polygamiſchen Ehe
ſolcher Ausländer, deren Landesgeſetz ſie zuläßt, den Rechts-
ſchutz verſagen. — Unterſagt unſer Geſetz den Juden die
Erwerbung des Grundeigenthums, ſo muß unſer Richter
nicht nur den einheimiſchen Juden den Erwerb unterſagen,
ſondern auch den auswärtigen, in deren Staat ein ſolches
Verbot nicht beſteht, wenngleich nach den allgemeinen Re-
geln über die Colliſion die perſönliche Rechtsfähigkeit und
Handlungsfähigkeit nach den Geſetzen des Wohnſitzes der
Perſon beurtheilt werden müßte. Ebenſo aber umgekehrt
wird der fremde Staat, deſſen Geſetz eine ſolche Beſchrän-
kung der Juden nicht kennt, auch die unſerm Staate ange-
|0059 : 37|
§. 349. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten. (Fortſ.)
hörenden Juden zum Grundbeſitz zulaſſen, ohne Rückſicht
auf das beſchränkende Geſetz ihres perſönlichen Wohnſitzes.
B. Rechtsinſtitute eines fremden Staates, deren Daſein
in dem unſrigen überhaupt nicht anerkannt iſt.
Der Richter eines Staates, dem der bürgerliche Tod
der Franzöſiſchen oder Ruſſiſchen Geſetzgebung unbekannt
iſt, wird auf Perſonen, die in dieſen Ländern dem bürger-
lichen Tode unterworfen worden ſind, die damit verbundene
Rechtsunfähigkeit nicht anzuwenden haben, wenngleich, nach
allgemeinen Regeln über die Colliſion, der perſönliche Zu-
ſtand beurtheilt werden müßte nach dem am Wohnſitz gel-
tenden Recht (d). — Eben ſo wird in einem Staate, der
die Sklaverei nicht kennt, ein Negerſklave, der ſich daſelbſt
aufhält, nicht als Eigenthum ſeines Herrn, und nicht als
rechtsunfähig, behandelt werden können (e). In dieſem
letzten Fall werden ſogar beide hier aufgeſtellte Geſichts-
punkte zuſammen treffen, und zu einem und demſelben Ziele
führen. Die Sklaverei iſt als Rechtsinſtitut unſerm Staate
fremd, in ihm nicht anerkannt; und zugleich iſt es von
unſerm Standpunkte aus etwas durchaus Unſittliches, einen
Menſchen als Sache zu behandeln. Bei dem vorher ange-
führten Fall des bürgerlichen Todes würde nur der erſte
Grund geltend gemacht werden können, nicht der zweite, da
(d) Vgl. oben B. 2 § 75. —
Anderer Meinung iſt in dieſem
Punkte Schäffner § 35, außer
wenn man etwa die auswärtige
Wirkſamkeit des Straferkennt-
niſſes verneinen möchte.
(e) Wächter II. S. 172.
Schäffner § 34.
|0060 : 38|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
der bürgerliche Tod nicht unſittlicher iſt, als jede andere
ſehr harte Strafe.
Die hier zuſammen geſtellten Klaſſen abſoluter Geſetze,
ſo verſchieden von einander ſie außerdem ſein mögen, kom-
men darin überein, daß ſie ſich der für die Colliſion des
örtlichen Rechts im Allgemeinen geforderten Rechtsgemein-
ſchaft aller Staaten entziehen, daß ſie alſo in dieſer Hin-
ſicht eine anomale Natur haben. Es iſt aber zu erwarten,
daß dieſe Ausnahmefälle, in Folge der natürlichen Rechts-
entwickelung der Völker, ſich fortwährend vermindern
werden (f).
Die in dem gegenwärtigen Paragraphen abgehandelten
Ausnahmen von den ſonſt geltenden Regeln der Colliſion
beziehen ſich zunächſt auf die widerſtreitenden Territorial-
rechte verſchiedener Staaten. Bei den Particularrechten
eines und deſſelben Staates (§ 347) werden ähnliche Ver-
hältniſſe weit ſeltener vorkommen, da die oben charakteri-
ſirten Geſetze von ſtreng poſitiver, zwingender Natur meiſt-
für den ganzen Umfang eines Staates erlaſſen werden, alſo
ohne Rückſicht auf die Gränzen particulärer Rechte. Doch
kommen auch innerhalb deſſelben Staates ſolche anomale
(f) Die wichtigſten und mannich-
faltigſten Anwendungen der hier
aufgeſtellten Regeln werden unten
in der Lehre von der Rechtsfähig-
keit und Handlungsfähigkeit vor-
kommen (§ 365). Was nun hier
vielleicht in einer zu abſtracten
Geſtalt erſcheint, wird dort mehr
Anſchaulichkeit gewinnen, und
durch dieſe geeigneter ſein, Ueber-
zeugung zu bewirken.
|0061 : 39|
§. 349. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten. (Fortſ.)
Verhältniſſe vor, wenn nämlich die Verſchiedenheit örtlicher
Rechte aus einer Zeit herrührt, in welcher manche gegen-
wärtige Beſtandtheile des Staates noch nicht zu ihm ge-
hört haben. Dieſes gilt namentlich von dem Recht der
Preußiſchen Rheinprovinz im Verhältniß zu dem in den
übrigen Preußiſchen Provinzen geltenden Recht. Dann
werden die in dem gegenwärtigen Paragraphen aufgeſtell-
ten beſonderen Regeln auch innerhalb der Gränzen deſſelben
Staates zur Anwendung kommen können.
§. 350.
Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
Einleitung.
Unſere Unterſuchung hat bis jetzt dahin geführt, daß
die Colliſion verſchiedener poſitiver Rechte in der Beur-
theilung eines Rechtsverhältniſſes zunächſt und hauptſächlich
zu entſcheiden iſt nach dem Rechtszuſtand der Perſon,
welche in dieſem Rechtsverhältniß ſteht, und daß ſelbſt die
zahlreichen und wichtigen Abweichungen von dieſem Grund-
ſatz nur im Zuſammenhang mit denſelben und als Modifi-
cationen deſſelben richtig verſtanden werden können (§ 345).
Es wurde ferner gezeigt, daß der Rechtszuſtand der Perſon,
nach der ſeit langer Zeit allgemein anerkannten Regel, durch
das Landgebiet (nicht durch die Abſtammung) beſtimmt
werde (§ 346—348).
Allein auch dieſe gewonnene Einſicht hat nur erſt eine
formelle Bedeutung. Denn es bleibt noch die Frage übrig:
|0062 : 40|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Wodurch wird die einzelne Perſon mit ihrem Rechtszuſtand
an das Land gebunden? Welches iſt alſo der Grund, der
zwiſchen der Perſon und dem Territorialrecht den Zuſammen-
hang vermittelt? Unſere nächſte Aufgabe muß auf die Be-
antwortung dieſer Frage gerichtet ſein.
Hier treten uns nun zwei thatſächliche Verhältniſſe als
ſolche Vermittelungsgründe entgegen: Origo und domicilium,
Herkunft und Wohnſitz. Wir haben uns die Bedeutung
derſelben, den juriſtiſchen Einfluß, das Verhältniß beider
zu einander klar zu machen.
Daran nun zweifelt Niemand, daß uns ſowohl dieſe
Ausdrücke, als die mit denſelben bezeichneten Rechtsbegriffe,
durch das Römiſche Recht zugekommen ſind: Alle, die davon
Anwendung machen, gehen auf die Quellen des Römiſchen
Rechts zurück. Wir müſſen alſo vor Allem genau feſtzu-
ſtellen ſuchen, was ſich die Römiſchen Juriſten unter jenen
Ausdrücken denken, und welchen Einfluß ſie den dadurch
bezeichneten Rechtsbegriffen beilegen. Damit iſt aber keines-
weges geſagt, daß die Römiſche Auffaſſung derſelben auch
für uns maaßgebend ſein müſſe. Vielmehr wird ſich im
Fortgang der Unterſuchung zeigen, daß eben hierin unſer
Rechtszuſtand die größten Abweichungen von dem Römiſchen
darbietet. Es ſoll zunächſt nur gegen die auf bloßen Miß-
verſtändniſſen beruhende Anwendung vermeintlicher Römiſcher
Kunſtausdrücke und Rechtsbegriffe ein ſicherer Schutz ge-
währt werden.
Hierin nun hat es mit einem der angeführten Aus-
|0063 : 41|
§. 350. Origo und domicilium. Einleitung.
drücke, dem domicilium, wenig Gefahr, indem ſich hierin
der Rechtszuſtand weſentlich nicht verändert hat, dabei alſo
ſchon die tägliche Anwendung hinreicht, die richtige Auf-
faſſung feſtzuhalten. Anders verhält es ſich mit der origo
(Herkunft); und zwar auch hier nicht etwa deshalb, weil
die Ausſprüche des Römiſchen Rechts über dieſen Gegen-
ſtand dunkel oder zweideutig wären, ſondern weil hierin
unſer Rechtszuſtand von dem Römiſchen durchaus verſchie-
den iſt, die Lebenserfahrung alſo nicht ſchon als Schutz gegen
eine unrichtige Auffaſſung der Begriffe dienen kann. Da
nun der eben erwähnte Ausdruck an ſich leicht dahin führt,
ihn von dem Geburtsort zu verſtehen, ſo hat ſich dieſer
letzte Begriff bei den neueren Rechtslehrern häufig Geltung
verſchafft, auch bei denen, die daneben die wahre Bedeutung
der origo aus den Quellen des Römiſchen Rechts an-
geben (a). Der bloße Geburtsort an ſich aber iſt ein höchſt
zufälliger Umſtand, ohne allen juriſtiſchen Einfluß.
Bevor nun der wahre Sinn jener Kunſtausdrücke feſt-
geſtellt werden kann, muß bemerklich gemacht werden, daß
die praktiſche Bedeutung derſelben keinesweges auf die Ent-
(a) Voet. ad Pand. V. 1.
§. 91. „Est autem originis lo-
cus, in quo quis natus est, aut
nasci debuit, licet forte re
ipsa alibi natus esset, matre in
peregrinatione parturiente.“
Durch den Zuſatz wird allerdings
den nachtheiligen Folgen des fal-
ſchen Grundbegriffs entgegen ge-
arbeitet; die folgenden Allegate
aber erwähnen, daß hierin die
Meinungen ſchwankend ſeien. Eben
ſo iſt Glück B. 6 § 511 ſchwan-
kend und verworren, indem mitten
in die richtigen Angaben immer
wieder der Geburtsort hinein
ſpielt.
|0064 : 42|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſcheidung unſrer Colliſionsfrage, als auf eine vereinzelte
Folge, eingeſchränkt werden darf, ſondern daß vielmehr
dieſe Entſcheidung ſelbſt nur als einzelnes Stück eines
größeren Zuſammenhanges aufgefaßt werden darf.
Jeder Einzelne nämlich iſt in den Verhältniſſen des
öffentlichen Rechts in einer zweifachen Abhängigkeit oder
Verpflichtung zu denken. Erſtlich zu dem Staate im
Ganzen, dem er als Bürger und Unterthan angehört.
Zweitens zu irgend einem engeren, örtlichen Kreiſe (nach
Römiſcher Verfaſſung einer Stadtgemeinde), der ein orga-
niſches Glied jenes größeren Ganzen bildet. Die Abhängig-
keit von dieſem engeren Kreiſe, der Zuſammenhang mit
demſelben, erſcheint in mannichfaltigen wichtigen Folgen;
nach Römiſchem Recht bald in der Verpflichtung zu ſtädti-
ſchen Laſten (munera); bald in dem Gehorſam gegen ſtäd-
tiſche Obrigkeiten; bald in dem ſtädtiſchen poſitiven Recht,
welches als das perſönliche Recht dieſes Einzelnen anzu-
ſehen iſt.
Der Gehorſam gegen die örtlichen Obrigkeiten zeigt ſich
in dem Gerichtsſtand, dem jeder Einzelne regelmäßig unter-
worfen iſt, dem forum originis und forum domicilii.
Das örtliche poſitive Recht endlich, als das perſönliche
Recht jedes Einzelnen, war die Veranlaſſung, dieſen Ge-
genſtand ſchon an dieſer Stelle vorläufig zur Sprache zu
bringen; es ſollte namentlich ſchon im Eingang auf den
Zuſammenhang zwiſchen dem Gerichtsſtand und dem per-
|0065 : 43|
§. 350. Origo und domicilium. Einleitung.
ſönlichen Recht (forum und lex originis, forum und lex
domicilii) aufmerkſam gemacht werden (b).
Nach dieſer Vorbemerkung ſoll nunmehr ſowohl die
wahre Bedeutung von origo und domicilium im Römiſchen
Recht, als das praktiſche Verhältniß dieſer beiden Begriffe
zu einander, feſtgeſtellt werden. Es verhält ſich nämlich
damit alſo, daß für jeden Einzelnen durch origo und
domicilium beſtimmt wird:
1. Die Verpflichtung zur Theilnahme an ſtädtiſchen Laſten
(munera).
2. Der Gehorſam gegen die ſtädtiſchen Obrigkeiten, ins-
beſondere der davon abhängende perſönliche Gerichts-
ſtand.
3. Das auf ihn anwendbare eigenthümliche Recht einer
Stadt als Eigenſchaft ſeiner Perſon.
Und zwar werden dieſe Wirkungen hervorgebracht bald
von den beiden oben bezeichneten Verhältniſſen (origo und
domicilium) neben einander, ſo daß ſie an zwei verſchie-
denen Orten zugleich eintreten können, bald von einem der-
ſelben allein. Alles Dieſes ſoll nunmehr näher beſtimmt
werden.
(b) Es darf nicht anſtößig
gefunden werden, daß hier von
dieſen Dingen in ſo allgemeinen,
abſtracten Ausdrücken geſprochen
wird. Die genauere Beſtimmung
und Bezeichnung iſt erſt im Fort-
gang der Unterſuchung möglich,
und zwar ſowohl für das Römi-
ſche Recht, als für das heutige.
|0066 : 44|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
§. 351.
Die Römiſche Lehre von origo und domicilium
I. Origo.
Gemeinſame Quellen für origo und domicilium.
Dig. L. 1. (ad municipalem et de incolis), und L. 4. (de
muneribus et honoribus).
Cod. X. 38. (de municipibus et originariis), und X. 39.
(de incolis, et ubi quis domicilium habere videtur,
et de his, qui studiorum causa in alia civitate degunt).
Zur Zeit der ausgebildeten Römiſchen Verfaſſung gegen
das Ende der Republik und in den erſten Jahrhunderten
der Kaiſerregierung, war der Zuſtand der einzelnen Beſtand-
theile des Römiſchen Reichs folgender (a).
Ganz Italien, außer der Stadt Rom, beſtand aus einer
großen Zahl von Stadtgemeinden, meiſt Municipien und
Colonieen, nebſt einigen untergeordneten Klaſſen von Ge-
meinden. Jede derſelben hatte eine mehr oder weniger
ſelbſtſtändige Verfaſſung, mit eigenen Obrigkeiten, mit Ge-
richtsbarkeit, und ſelbſt mit beſonderer Geſetzgebung (§ 347 d.).
Der ganze Boden von Italien alſo, mit Ausnahme der
Stadt Rom und ihres beſonderen Gebietes, war in den
Gebieten dieſer Städte enthalten, und alle einzelne Ein-
(a) Vgl. Savigny Geſchichte des Römiſchen Rechts im Mittel-
alter. B. 1. Kap. 2.
|0067 : 45|
§. 351. Origo und domicilium I. Origo.
wohner von Italien waren Angehörige entweder der Stadt
Rom, oder irgend einer dieſer ſtädtiſchen Gemeinden.
Die Provinzen dagegen hatten urſprünglich ſehr ver-
ſchiedene Verfaſſungen. Indeſſen wurden ſie allmälig immer
mehr der Städteverfaſſung von Italien angenähert, wenn
gleich dieſe nicht ſo vollſtändig und eingreifend in ihnen
durchgeführt wurde. Zur Zeit der großen Juriſten, im
zweiten und dritten Jahrhundert unſrer Zeitrechnung, konnte
man den ſo eben für Italien aufgeſtellten Grundſatz faſt
auf das ganze Reich anwenden: der Boden des Reichs
war faſt ganz in beſtimmten Stadtgebieten enthalten, und
die Einwohner des Reichs waren nunmehr Angehörige ent-
weder der Stadt Rom, oder irgend einer anderen ſtädtiſchen
Gemeinde (b).
Die Stadtgemeinden führen den gemeinſamen Namen
civitates oder respublicae (c). Das Gebiet jeder Stadt
heißt territorium, auch wohl regio (d). Jedes ſtädtiſche
Gebiet, und die demſelben angehörende Gemeinde, umfaßte
(b) In wiefern ſie auch beides
zugleich ſeyn konnten, ſpäterhin
ſogar ſein mußten, wird weiter
unten feſtgeſtellt werden.
(c) S. o. B. 2 § 87. Auch
municipes, als collectiver Aus-
druck, wird häufig gebraucht, um
die Gemeinde ſelbſt, als juriſtiſche
Perſon, zu bezeichnen; der Aus-
druck ſteht dann für municipium,
welches letzte aber gerade in dieſer
abſtracten Bedeutung (für Städte
jeder Art) nicht üblich iſt (§ 352.
f. g).
(d) Territorium. L. 239 § 8
de V. S. (50. 16), L. 20 de jurisd.
(2. 1), L. 20 de jud. (5. 1),
L 53 C. de decur. (10. 31). —
Regio. Siculus Flaccus de
condicionibus agrorum, gleich
im Anfang der Schrift, p. 135 der
Gromatici veteres ed. Lach-
mann Berol. 1848.
|0068 : 46|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
zugleich die in deſſen Gränzen befindlichen vici (e), ſo wie
die darin einzeln liegenden Höfe, in welchen zu allen Zeiten
ein ſo großer Theil der Bevölkerung von Italien enthalten
war. Aus dieſem Grunde eben läßt ſich behaupten, daß
faſt der geſammte Boden des Reichs in einer großen Zahl
von Stadtgebieten aufging.
Es iſt nunmehr zu beſtimmen, wie jeder Einzelne An-
gehöriger einer Stadtgemeinde wird, alſo zu ihr in ein
beſtimmtes Verhältniß der Abhängigkeit tritt. Dieſes ge-
ſchieht auf zweierlei Weiſe: erſtlich durch das Bürger-
recht der Gemeinde (origo), zweitens durch den Wohn-
ſitz in dem Stadtgebiet (domicilium).
I. Bürgerrecht.
Das Bürgerrecht wird erworben durch folgende That-
ſachen: Geburt, Adoption, Freilaſſung, Auf-
nahme (f).
1. Geburt (origo, nativitas) (Note f.).
Dieſe Entſtehungsart iſt völlig unabhängig von
dem freien Willen Desjenigen, der dadurch der Stadt
angehört.
Sie iſt die regelmäßige und häufigſte, und daher
wird ganz gewöhnlich der Name derſelben gebraucht,
(e) L. 30 ad mun. (50. 1).
In der älteren Zeit gab es auch
vici, die eine eigene res publica
hatten. Festus v. vici.
(f) L. 1 pr. ad mun. (50. 1).
„Municipem aut nativitas facit,
aut munumissio, aut adoptio“.
L. 7 C. de incolis (10. 39) „Cives
quidem origo, manumissio, allec-
tio, vel adoptio, incolas vero ..
domicilium facit“.
|0069 : 47|
§. 351. Origo und domicilium. I. Origo.
um das Bürgerverhältniß ſelbſt, das dadurch ent-
ſteht, zu bezeichnen (g).
Es iſt damit gemeint die Erzeugung in einer
rechtsgültigen Ehe, wenn der Vater ſelbſt das Bür-
gerrecht hat (h). Die Vaterſtadt der Mutter iſt
dabei in der Regel ohne Einfluß, jedoch hatten einige
Städte das beſondere Privilegium, daß auch das
Bürgerrecht der ihnen angehörenden Frauen auf die
ehelichen Kinder derſelben übergehen ſollte (i). —
Uneheliche Kinder ſollten durch origo das Bürger-
recht in der Vaterſtadt der Mutter erwerben (k).
2. Adoption (Note f.).
Dadurch wird das angeborne Bürgerrecht nicht auf-
gehoben, ſondern der Adoptivſohn hat nunmehr ein
zweifaches Bürgerverhältniß, welches auch auf deſſen
Kinder forterbt (l). — Die Emancipation des Adop-
tivkindes aber zerſtört jede Wirkung der Adoption,
und ſo auch dieſe dem öffentlichen Rechte angehö-
rende Wirkung (m).
(g) L. 6 pr. § 1. 3. L. 9
ad mun. (50. 1). L. 15 § 3 eod.
(jus originis). — Andere, aller-
dings genauer redende, Stellen
nennen das Rechtsverhältntß (deſſen
Entſtehung nur die origo iſt, und
zwar nicht immer) patria oder
civitas. L. 27 pr. L. 30 eod.
(h) L. 1 § 2. L. 6 § 1 ad
mun. (50. 1). L. 3 C. de munic.
(10. 38).
(i) L. 1 § 2 ad mun. (50. 1).
Es iſt nicht klar, ob nun das Kind
nur in der Vaterſtadt der Mutter
Bürger ſein ſollte, oder in beiden
Städten. Das Letzte iſt wohl an
ſich wahrſcheinlicher.
(k) L. 1 § 2. L. 9 ad mun.
(50. 1).
(l) L. 15 § 3. L. 17 § 9
ad mun. (50. 1).
(m) L. 16 ad mun. (50. 1).
|0070 : 48|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
3. Freilaſſung (Note f).
Der freigelaſſene Sklave konnte kein angebornes
Recht haben. Dagegen erwarb er durch die Frei-
laſſung das Bürgerrecht in der Vaterſtadt des Pa-
trons, welches dann wiederum auf ſeine Kinder fort-
erbte. Hatte der Patron ein mehrfaches Bürger-
recht, oder wurde ein gemeinſchaftlicher Sklave meh-
rerer Herren von dieſen freigelaſſen, ſo konnte auch
durch die Freilaſſung ein mehrfaches Bürgerrecht
entſtehen (n).
4. Aufnahme (allectio) (o).
Darunter iſt zu verſtehen die freiwillige Gewährung
des Bürgerrechts von Seiten der ſtädtiſchen Behörde,
an deren Zuläſſigkeit ohnehin nicht zu zweifeln ſein
würde, auch wenn ſie nicht ausdrücklich bezeugt
wäre.
(n) L. 6 § 3. L. 7. L. 22
pr. L. 27 pr. L. 37 § 1 ad
mun. (50. 1), L. 3 § 8 de mun.
(50. 4.), L. 2 C. de municip.
(10. 38). — Ueber den Text und
den Sinn der L. 22 pr. ad mun.
vgl. Zeitſchrift für geſchichtliche
Rechtswiſſenſchaft B. 9 S. 91 —
98. — Der Erwerb des Stadt-
bürgerrechts durch Freilaſſung konnte
aber nur behauptet werden von
einer vollgültigen Freilaſſung. Die
dediticii wurden nicht Bürger in
der Stadt ihres Patrons (§ 356),
und eben ſo wohl auch die Latini
Juniani.
(o) L. 7 C. de incolis (10. 39)
„allectio vel adoptio“. Daß
in einigen Hſſ. vel fehlt, in an-
deren dafür atque ſteht, hat keinen
Einfluß auf den Sinn. Wichtiger
iſt die Variante: allectio id est
adoptio, welche Cujacius aus
Hſſ. anführt, ohne ſie zu billigen
(in III. libros, opp. II. 737).
Dadurch würde die Aufnahme als
eine beſondere Erwerbungsart ganz
beſeitigt, welche zu bezweifeln jedoch
gar kein Grund vorhanden iſt.
|0071 : 49|
§. 351. Origo und domicilium. I. Origo.
Aufgehoben wurde das Bürgerrecht mit ſeinen Folgen
nicht durch den einſeitigen Willen der Perſonen, die durch
irgend eine der hier angegebenen Thatſachen in daſſelbe ein-
getreten waren (p). — Durch rechtsgültige Ehe in einer
fremden Stadt trat die Ehefrau zwar nicht eigentlich aus
dem angebornen Bürgerverhältniß aus; allein ſie war, wäh-
rend der Dauer der Ehe, von den damit verbundenen per-
ſönlichen Laſten (munera) befreit (q). — Eine ähnliche Be-
freiung von perſönlichen Laſten, ohne gänzliche Zerſtörung
des angebornen Bürgerrechts, galt für den Stadtbürger,
der zur Würde eines Senators des Römiſchen Reichs er-
hoben wurde, ſo wie für deſſen Nachkommenſchaft (r); des-
gleichen für jeden Soldaten, ſo lange ſein Dienſtverhältniß
dauerte (s).
Aus den hier aufgeſtellten Regeln folgt der wichtige
Satz, daß nicht ſelten eine und dieſelbe Perſon zu mehreren
Städten des Römiſchen Reichs gleichzeitig in einem wahren
Bürgerverhältniß ſtehen konnte, alſo die Rechte einer jeden
dieſer Städte vereinigte, und die Laſten einer jeden zu tra-
gen hatte (t). So konnte zu dem angeborenen Bürgerrecht
(p) L. 6 pr. ad mun. (50. 1),
L. 4. 5 C. de municip. (10. 38). —
Eine Entlaſſung durch die Stadt-
behörde mußte eben ſo gut eintreten
können, als die Aufnahme durch
dieſelbe.
(q) L. 37 § 2. L. 38 § 3 ad
mun. (50. 1). L. 1 C. de muner.
(10. 62).
(r) L. 23 pr. L. 22 § 4. 5 ad
mun. (50. 1).
(s) L. 3 § 1. L. 4 § 3 de
muner. (50 4).
(t) Dieſer Satz ſcheint im Wi-
derſpruch zu ſtehen mit Cicero
pro Balbo Cap. II. „Duarum
civitatum civis esse nostro jure
VIII. 4
|0072 : 50|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ein ſpäteres durch Adoption oder Aufnahme treten, welche
beide neben einander beſtanden (Note l). Und eben ſo konnte
der freigelaſſene Sklave gleich Anfangs in ein mehrfaches
Bürgerverhältniß durch die Freilaſſung gebracht werden
(Note n).
Auf der anderen Seite aber war es denkbar, daß Je-
mand in keiner Stadt ein Bürgerverhältniß hatte, obgleich
dieſer Fall gewiß nicht häufig vorkam. Er mußte eintre-
ten, wenn ein Ausländer als Einwohner in das Römiſche
Reich aufgenommen wurde, ohne durch Aufnahme Bürger
irgend einer einzelnen Stadt zu werden (Note o); eben ſo,
wenn der Bürger irgend einer Stadt aus dem ſtädtiſchen
Verband derſelben entlaſſen wurde (Note p), ohne in eine
andere Bürgergemeinde aufgenommen zu werden; endlich
auch bei den Freigelaſſenen der unterſten Klaſſe, welche
dedititiorum numero waren, und keiner Gemeinde ange-
hörten (u).
§. 352.
Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
I. Origo. (Fortſetzung.)
Die urſprüngliche große Verſchiedenheit der Städte-
verfaſſung in Italien und den Provinzen könnte leicht zu
civili nemo potest.“ Allein in
dieſer Stelle iſt die Rede von
Städten außer dem Römiſchen
Staate, die als ſouveräne Staaten
neben demſelben ſtanden. Wir
ſprechen von den Städten inner-
halb des Römiſchen Reichs.
(u) Ulpian. XX. § 14.
|0073 : 51|
§. 352. Origo und domicilium. I. Origo. (Fortſ.)
der Annahme verleiten, daß die hier vorgetragenen Regeln
über die Stadtgebiete und das Stadtbürgerrecht nur in
Italien, nicht in den Provinzen, Geltung gehabt hätten.
In der That aber war hierin faſt gar kein Unterſchied.
Die Stadtgebiete (territoria) waren in faſt allen Pro-
vinzen (a) eben ſo abgegränzt, wie in Italien. Dieſe
Gränzen, ſo wie der Einfluß derſelben auf die Verpflich-
tung zu ſtädtiſchen Laſten, namentlich in den zu den Städten
gehörenden Dörfern, gaben auch in den Provinzen nicht
ſelten Anlaß zu Prozeſſen. Nur darin wird ein Unterſchied
bemerkt, daß in manchen Provinzen, namentlich in Afrika,
die Stadtgebiete nicht den ganzen Boden des Landes er-
ſchöpfen, indem hier im Beſitz mancher Privatperſonen, auch
des Kaiſers, ſehr ausgedehnte, zur Weide benutzte, Land-
ſtrecken (saltus) waren, die ganz für ſich beſtanden, und
zu keinem Stadtgebiete gehörten (b).
Die oben vorgetragene Lehre von dem Stadtbürgerrecht,
welches durch Geburt, Freilaſſung u. ſ. w. entſtand, wird
von den alten Juriſten in Anwendung auf Provinzialſtädte,
(a) Es muß nämlich Aegypten
ausgenommen werden, welches in
jeder Hinſicht eine durch große Be-
ſchränkungen ausgezeichnete Ver-
faſſung hatte. So war daſelbſt
kein Proconſul oder Proprätor,
ſondern nur ein praefectus Au-
gustalis von geringerem Rang.
(Dio Cass. 51. 17, 53. 13,
Tacitus hist. 1.11, Digest. 1. 17).
Eben ſo aber gab es daſelbſt nur
Diſtricte (Nomen), keine Stadt-
gemeinden, und nur in Alexandrien
fand ſich ein Bürgerrecht (Plinius
epist. X. 5. 22. 23).
(b) Agennius Urbicus de
controversiis agrorum p. 84. 85
der Gromatici veteres ed. Lach-
mann Berol. 1848.
4*
|0074 : 52|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ganz ohne Unterſchied von den Italieniſchen Städten, vor-
getragen (c). Eben ſo auch die Anwendung dieſes Rechts
auf die ſtädtiſchen Laſten, ſo wie auf die einzelnen Befrei-
ungen von dieſen Laſten (vacatio und immunitas) (d).
So vielfachen und unzweideutigen Zeugniſſen gegen-
über würde mit Unrecht eine Stelle des Ulpian gel-
tend gemacht werden, zum Beweiſe, daß in den Provinzen
überhaupt kein jus originis, ſondern nur allein das domi-
cilium, beachtet worden wäre (e).
Hieran ſchließt ſich folgende, zum Verſtändniß unſerer
Rechtsquellen nicht unwichtige, Bemerkung über den Sprach-
gebrauch, welche die Bedeutung der Ausdrücke municipium
und municeps zum Gegenſtand hat. — Die urſprüng-
liche Bedeutung dieſer Ausdrücke iſt nicht blos in neueren
(c) L. 1 § 2. L. 37 pr. ad
mun. (50. 1) (Ilium, Delphi,
Pontus). L. 2 C. de municip.
(10. 38) (Aquitaniſche Städte).
L. 7 § 10 de interd. et releg.
(48. 22).
(d) L. 8 pr. L. 10 § 1 de
vacat. (50. 5), L. 5 § 1 de j.
immunitatis (50. 6).
(e) L. 190 de V. S. (50. 16)
„Provinciales eos accipere de.
bemus, qui in provincia domi-
cilium habent, non eos, qui in
provincia oriundi sunt.“ Dieſe
Stelle, wie ſo viele andere deſſelben
Titels, hat nur in den Digeſten
einen falſchen Schein von Allge-
meinheit, anſtatt daß ſie urſprüng-
lich nur von einer ganz einzelnen
Anwendung verſtanden werden ſollte,
die nur jetzt nicht mit Sicherheit
zu ermitteln iſt. Vgl. über dieſe
Stelle: Gundlingiana St. 31
N. 2 S. 34—43. Conradi par-
erga p. 488—506. Hollweg
Verſuche S. 6. — Bei dem Ehe-
verbot zwiſchen den Römiſchen
Provinzialbeamten und den Pro-
vinzialinnen heißt es in L. 38 pr.
de ritu nupt. (23. 2) gerade um-
gekehrt: „inde oriundam, vel
ibi domicilium habentem uxo-
rem ducere non potest“, wobei
es ganz willkürlich iſt, wenn
Manche das vel durch id est
erklären wollen.
|0075 : 53|
§. 352. Origo und domicilium. I. Origo. (Fortſ.)
Zeiten beſtritten und zweifelhaft, ſie war es auch ſchon bei
den Römern ſelbſt. Die Zweifel ſind dabei theils ſprach-
licher, theils ſachlicher, alſo geſchichtlicher Art (f). Wir
können aber für unſern Zweck dieſe ſchwierige Unterſuchung
auf ſich beruhen laſſen, da ſich ſpäterhin der Sprachgebrauch
in folgender Weiſe unzweifelhaft feſtgeſtellt hat. — Seit
der Lex Julia über das allgemeine Bürgerrecht von Italien
war municipium die regelmäßige Bezeichnung der Einen
Hauptklaſſe Italiſcher Städte, der Städte nämlich, die nicht
von Rom aus als Gemeinden zuerſt begründet worden
waren, im Gegenſatz der anderen Hauptklaſſe, der colo-
niae (g). Der Name municipium, der allerdings auch in
den Provinzen nicht ſelten iſt, wurde aber auf die Pro-
vinzen keinesweges allgemein übertragen, zu der Zeit, als
die Civität dem ganzen Reiche, alſo allen Städten, mitge-
theilt wurde. Sollte nun eine Stadtgemeinde überhaupt
bezeichnet werden, ohne Unterſchied zwiſchen Municipien
und Colonieen, zwiſchen Italien und den Provinzen, ſo
wurden dafür regelmäßig die Ausdrücke respublica und
civitas gebraucht. — Municeps aber erſcheint bei den alten
(f) Vgl. beſonders Niebuhr
Römiſche Geſchichte B. 2 S. 56—
88. der dritten Ausgabe. Außer-
dem iſt zu benutzen ein Programm
von Rudorff, welches als Vor-
rede zum lateiniſchen Lections-
Katalog der Berliner Univerſität,
Winterſemeſter 1848, abgedruckt iſt.
(g) In der Lex Julia munici-
palis (tabula Heracleensis) iſt
die regelmäßige, ſtets wiederkehrende,
Aufzählung der Stadtgemeinden
in Italien folgende: municipium,
colonia, praefectura, forum,
conciliabulum (Haubold mo-
numenta legalia N. XVI); faſt
eben ſo in der Lex Rubria (ibid.
N. XXI).
|0076 : 54|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Juriſten als die gemeinſame Bezeichnung eines jeden Stadt-
bürgers, ohne Rückſicht auf die eben erwähnten Unterſchiede,
alſo eben ſo allgemein, wie die für das Ganze gebrauchten
Ausdrücke respublica und civitas (h). Für dieſe ver-
ſchiedenartige Ausdehnung beider an ſich verwandter Aus-
drücke läßt ſich auch ein befriedigender Grund angeben.
Wollte man etwa nur die Stadtbürger in den eigentlichen
Municipien municipes nennen, ſo wäre für die Stadtbür-
ger überhaupt kaum ein anderer Name übrig geblieben, als
civis (i), analog mit civitas, worunter wirklich jede Stadt-
(h) L. 1 § 1 ad mun. (50. 1)
„Et proprie quidem municipes
appellantur muneris participes,
recepti in civitatem, ut munera
nobiscum facerent; sed nunc
abusive municipes dicimus suae
cujusque civitatis cives, utputa
Campanos, Puteolanos. (Im
§ 2 wird derſelbe Sprachgebrauch
angewendet auf Ilium und Delphi).
Eben ſo in L. 23 pr. eod. —
Das abusive hat hier eine doppelte
Bedeutung. Erſtlich (wovon Ul-
pian zunächſt ſpricht) im Gegen-
ſatz der oben im Text erwähnten
urſprünglichen, alterthümlichen Be-
deutung, die in den vorhergehenden
Worten des Ulpian angedeutet iſt.
Zweitens aber auch in der anderen
Bedeutung, daß Municeps nicht
blos auf Municipien angewendet
wurde, ſondern auch auf Colonieen
und Provinzialſtädte. Dieſe letzten
kommen im § 2 vor; Puteoli aber
war ſeit Nero durchaus Colonie.
Tacitus ann. XIV. 27. — In
der erſten Beziehung findet ſich der
abuſive Sprachgebrauch (muni-
ceps für civis überhaupt) ſchon
bei Cicero ad fam. XIII. 11
„meos municipes Arpinates“ pro
Cluentio 16 „municipum suorum
dissimillimus“ und de legibus
II. 2. Sehr genau unterſcheidet
noch die Lex Julia municipalis
lin. 145 (Haubold pag. 129):
municipes, coloni und qui ejus
praefecturae erant (vgl. lin.
159—163). Und dennoch mag
gerade dieſes Geſetz die ſpätere
allgemeine Bedeutung des Aus-
drucks municipes vorzugsweiſe be-
fördert haben, da daſſelbe die Ita-
liſchen Stadtbürger aller Klaſſen
gemeinſchaftlich umfaßte, und zu-
gleich den Namen Lex Julia mu-
nicipalis führte.
(i) So kommt dieſer Ausdruck
in der That vor in L. 7 C. de
incolis (10. 39).
|0077 : 55|
§. 352. Origo und domicilium. I. Origo. (Fortſ.)
gemeinde ohne Unterſchied verſtanden wurde. Allein der
Ausdruck civis war hier weniger brauchbar, weil er in der
Klaſſifikation der cives, latini, peregrini, eine für die alten
Juriſten allzu wichtige und unentbehrliche Stellung hatte,
um noch für einen andern Zweck verwendet zu werden,
welches zu mancher Zweideutigkeit geführt haben würde.
So iſt alſo municeps der allgemeine Ausdruck gewor-
den, für jeden Inhaber irgend eines Stadtbürgerrechts
außer Rom, alſo für alle diejenigen Perſonen, deren gemein-
ſame Angehörigkeit an eine Stadtgemeinde außerdem ſehr
gewöhnlich mit origo oder auch patria bezeichnet wird.
Eine ſehr eigenthümliche Ausdehnung erhielt die auf
das Bürgerrecht gegründete Angehörigkeit an eine Stadtge-
meinde, ſeitdem die Römiſche Civität durch die Lex Julia
an ganz Italien, durch eine Verordnung von Caracalla
auch an alle Provinzen, gegeben worden war. Denn da
die Römiſche Civität, ihrem Urbegriff nach, das Bürger-
recht der Stadt Rom war, ſo hatten nunmehr faſt alle
Stadtbürger in Italien und in den Provinzen, die ohnehin
ſchon ein mehrfaches Bürgerrecht zufällig haben konnten
(§ 351), mindeſtens ein zweifaches Bürgerrecht: das ihrer
eigenen Stadt, und das der Stadt Rom. Dieſe doppelte
patria wird dann auch in ganz verſchiedenen Zeiten aus-
|0078 : 56|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
drücklich anerkannt (k). — Indeſſen war dieſes Verhält-
niß von minderer Wichtigkeit, als man ihm auf den erſten
Blick zuſchreiben möchte. Bei dem Stadtbürgerrecht von
Rom kamen die in andern Städten wichtigen ſtädtiſchen
Laſten und Verpflichtungen (munera) wenig in Betracht, da
für dieſe Zwecke in Rom meiſt auf andere Weiſe geſorgt
war. — Der auf das Stadtbürgerrecht gegründete Ge-
richtsſtand (forum originis) vor den Gerichten der Stadt
Rom war allerdings auch für die Bürger anderer Städte
vorhanden, jedoch nur unter großen Einſchränkungen. Er
galt nur, wenn dieſe Bürger ſich zufällig in Rom aufhiel-
ten, und auch dann nur unter dem Vorbehalt zahlreicher
Ausnahmen, die unter dem gemeinſamen Namen des jus
revocandi domum begriffen werden (l). — Was endlich
die Anwendung des örtlichen Rechts der Stadt Rom auf
die Perſonen der Bürger anderer Städte betrifft (alſo das
eigentliche Ziel unſrer ganzen gegenwärtigen Unterſuchung),
ſo kann davon erſt weiter unten (§ 357) in einem größeren
Zuſammenhang geredet werden.
Es würde jedoch unrichtig ſein, der hier erwähnten
neuen Combination den Sinn beizulegen, als ob nun in
(k) Cicero de legibus II. 2
„omnibus municipibus duas
esse censeo patrias, unam
naturae, alteram civitatis …
habuit alteram loci patriam,
alteram juris.“ — L. 33 ad mun.
(50. 1) (Modestinus): „Roma
communis nostra patria est“.
Cicero ſpricht nur von Stadt-
bürgern aus Italien (municipes),
Modeſtin ſpricht ganz allgemein,
(nostra); jeder nach dem Rechte
ſeiner Zeit.
(l) L. 28 § 4 ex quib. caus.
(4. 6), L. 2 § 3—6 de jud.
(5. 1), L. 24—28 eod.
|0079 : 57|
§ 352. Origo und domicilium. I. Origo. (Fortſ.)
der That alle freie Einwohner des Römiſchen Reichs min-
deſtens das Stadtbürgerrecht von Rom (als cives Romani)
hätten haben müſſen. Denn es gab auch nach der Ver-
ordnung des K. Caracalla über die Civität noch immer
eine nicht geringe Zahl von Perſonen, die in niedere Klaſ-
ſen neu eintraten, und durch welche alſo dieſe Klaſſen ſtets
erhalten wurden: theils indem durch unvollſtändige Frei-
laſſung neue Latini und peregrini entſtanden (m), theils
durch Einwanderung von Ausländern in das Römiſche
Reich, welchen nicht gerade auch die Civität neben ihrer
Aufnahme als Unterthanen ertheilt wurde.
So bleibt alſo für alle Zeiten der oben (§ 351) auf-
geſtellte Satz wahr, daß freie Einwohner des Römiſchen
Reichs ohne alles Bürgerverhältniß zu irgend einer Stadt
ſein konnten, wenngleich freilich die Anwendung dieſes
Satzes im Laufe der Zeit ſeltener und unbedeutender wurde.
§ 353.
Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
II. Domicilium.
Quellen (ſ. o. § 350).
Schriftſteller:
Lauterbach de domicilio 1663 (Diss. Vol. 2. N. 72.).
(m) Erſt Juſtinian hob dieſe
unvollſtändigen Freilaſſungen auf
(Cod. VII. 5. 6), deren Wirkungen
alſo bis auf ihn fortgedauert hatten,
und zwar ſowohl in den auf ſolche
Weiſe freigelaſſenen Sklaven ſelbſt,
als in den Nachkommen derſelben.
|0080 : 58|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Thomasius de vagabundo (Diss. Vol. 1. N. 3.).
Glück B. 6. § 512—515.
Kierulff B. 1. S. 122—128.
Der zweite Grund, wodurch der Einzelne Angehöriger
einer Stadtgemeinde werden konnte, war, der Wohnſitz
(domicilium) (a).
Als Wohnſitz eines Menſchen iſt derjenige Ort zu be-
trachten, welchen derſelbe zum bleibenden Aufenthalt, und
dadurch zugleich zum Mittelpunkt ſeiner Rechtsverhältniſſe
und Geſchäfte frei gewählt hat (b). — Der bleibende
Aufenthalt ſchließt aber weder eine vorübergehende Abwe-
(a) Wohnſitz halte ich für
bezeichnender und darum beſſer
als Wohnort; eine verſchiedene
Bedeutung beider Ausdrücke aber
(Linde § 88 Note l) kann ich
nicht einräumen. Die Verſchieden-
heit vom bloßen Aufenthalt wird
ſogleich erwähnt und näher be-
ſtimmt werden. — Die Lehre vom
domicilium wird hier, eben ſo
wie die von der origo, allerdings
zunächſt in ihrem Zuſammenhang
mit dem R. R. feſtgeſtellt. Da
ſich aber unten zeigen wird, daß
im heutigen Recht das domicilium
in den Hauptpunkten dieſelbe
Stellung wie im R. R. einnimmt,
ſo ſchien es zweckmäßig, dabei
gleich hier auch den heutigen Rechts-
zuſtand mit zu berückſichtigen.
(b) L. 7 C. de incolis (10. 39)
(ſ. o. § 350. f) „. , incolas
vero . . domicilium facit. Et
in eo loco singulos habere
domicilium non ambigitur, ubi
quis larem rerumque ac fortu-
narum suarum summam con-
stituit, unde rursus non sit
discessurus, si nihil avocet,
unde quum profectus est, pere-
grinari videtur, quo si rediit,
peregrinari jam destitit.“ —
L. 203 de V. S. (50. 16) „…
Sed de ea re constitutum esse,
eam domum unicuique nostrum
debere existimari, ubi quisque
sedes et tabulas haberet, sua-
rumque rerum constitutionem
fecisset“.
|0081 : 59|
§. 353. Origo und domicilium. II. Domicilium.
ſenheit aus, noch eine künftige Abänderung, deren Vorbe-
halt vielmehr von ſelbſt verſtanden wird; es iſt damit nur
gemeint, daß nicht ſchon jetzt die Abſicht auf vorüberge-
hende Dauer vorhanden ſein darf.
Das domicilium, wie die origo, begründete die Ange-
hörigkeit an eine beſtimmte Stadtgemeinde, bezog ſich alſo
ſtets auf ein beſtimmtes Stadtgebiet (c), und umfaßte da-
her nicht nur die Bewohner der eigentlichen Stadt ſelbſt,
ſondern auch die Bewohner der zu dieſem Gebiete gehören-
den Dörfer und einzelnen Höfe (coloniae) (d).
Für die Perſonen, die auf dieſem Wege Angehörige
einer Stadtgemeine geworden waren, iſt die regelmäßige
Bezeichnung: Incola (e). — Die zwei verſchiedene Gründe
aber, wodurch eine ſolche Angehörigkeit begründet werden
konnte (Bürgerrecht und Wohnſitz), werden durch folgende
gegenſätzliche Ausdrücke unterſchieden:
(c) L. 3. 5. 6 C. de incolis
(10. 39).
(d) L. 239 § 2 de V. S. (50. 16)
„. . Nec tantem hi, qui in
oppido morantur, incolae sunt,
sed etiam qui alicujus oppidi
finibus ita agrum habent, ut in
eum se, quasi in aliquam sedem,
recipiant.“ Scheinbar wider-
ſprechen L 27 § 1 L. 35 ad mun.
(50. 1), welche dem Bewohner
einer colonia nur dann das do-
micilium der Stadt zuſchreiben
wollen, wenn er durch überwie-
genden Aufenthalt in der Stadt
auch die Vortheile und Annehm-
lichkeiten derſelben genieße. Dieſe
Einſchränkung beruht aber ohne
Zweifel nur auf einem ungenauen
Ausdruck, und geht eigentlich nicht
auf das domicilium an ſich,
ſondern nur auf eine einzelne
Wirkung deſſelben, die Theilnahme
an gewiſſen Arten von ſtädtiſchen
Laſten. Denn daß die Bewohner
der coloniae ihren Gerichtsſtand
vor den ſtädtiſchen Obrigkeiten
hatten (forum domicilii), wurde
gewiß von Niemand bezweifelt.
Vgl. unten § 355. m.
(e) L. 5. 20 ad mun. (50. 1),
L. 239 § 2 de V. S. (50. 16)
|0082 : 60|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Municipes und incolae (f).
Origo und domicilium (g).
Jus originis und jus incolatus (h).
Patria und domus (i).
Aus dem ſo eben beſtimmten Begriff des Wohnſitzes
ergiebt ſich die weſentliche Verſchiedenheit deſſelben vom
bloßen Aufenthalt, ſo wie vom Grundbeſitz. — Der Auf-
enthalt, welcher nicht verbunden iſt mit der gegen-
wärtigen Abſicht, daß er ein bleibender, immerwährender
ſein ſoll, begründet nicht den Wohnſitz, ſelbſt dann nicht,
wenn er zufällig längere Zeit dauert, alſo nicht blos ſchnell
vorübergehend iſt. Dahin gehört z. B. der Aufenthalt der
Studierenden an einer Bildungsanſtalt; erſt wenn dieſer
mindeſtens zehen Jahre dauerte, ſollte derſelbe nach einer
Verordnung von Hadrian als bleibend, folglich als Wohn-
ſitz angeſehen werden (k). — Der Grundbeſitz aber, den
Jemand in einem Stadtgebiet hat, iſt zum Wohnſitz nicht
(Note d), L. 7 C. de incolis
(10. 39) (Note b).
(f) L. 6 § 5 de mun. (50. 4).
Ueber den Ausdruck municipes ſ. o.
§ 352 g., über incolae Note e. —
Ungenau iſt der Ausdruck des
Paulus in L. 22 § 2 ad mun.
(50. 1), der auch bloße Einwohner
municipes nennt (anſtatt incolae),
und damit nur ſagen will, daß
auch ſie die ſtädtiſchen munera zu
tragen haben.
(g) L. 7 § 10 de interd. et
releg. (48. 22), L. 6 § 3 L. 22
§ 2 ad mun. (50. 1).
(h) L. 15 § 3 ad mun. (50. 1),
L. 5 C. de incolis (10. 39)
(i) L. 203 de V. S. (50. 16).
(k) L. 5 §. 5 de injur. (47. 10),
L. 2. 3 C. de incolis (10. 39).
Allerdings ſind die zehen Jahre
nur eine Präſumtion der auf immer-
währenden Aufenthalt gerichteten
Abſicht. Lauterbach de domi-
cilio § 27.
|0083 : 61|
§. 353. Origo und domicilium. II. Domicilium.
erforderlich, für ſich allein aber dazu auch nicht hinrei-
chend (l).
Die Begründung des Wohnſitzes mit ſeinen rechtli-
chen Wirkungen geſchieht durch den freien Willen und die
mit demſelben übereinſtimmende That, alſo nicht durch bloße
Willenserklärung ohne That (m). — Der Wille aber wird
dabei ſo ſehr als frei gedacht, daß dieſe Freiheit nicht ein-
mal ſoll beſchränkt werden dürfen durch privatrechtliche
Beſtimmungen, z. B. durch die einem Legat hinzugefügte
Bedingung eines beſtimmten Aufenthalts, welche Bedingung
in der Regel als nicht geſchrieben anzuſehen iſt (n). —
Dagegen kann durch das öffentliche Recht dieſe Freiheit
auf mancherlei Weiſe beſchränkt werden. So hat jeder
Staatsdiener, z. B. jeder Soldat, einen nothwendigen
Wohnſitz am Orte des Dienſtes (o); der Verbannte am
Orte der Verbannung (p). Umgekehrt kann durch Strafe
ein beſtimmter Aufenthalt unterſagt werden (q).
(l) L. 17 § 13. L. 22 § 7
ad mun. (50. 1), L. 4 C. de
incolis (10. 39). — Manche Städte
hatten das Privilegium, daß der
bloße Grundbeſitz, ohne Wohnſitz, zur
Uebernahme perſönlicher munera
verpflichten ſollte. L. 17 § 5 ad
mun. (50. 1).
(m) L. 20 ad mun. (50. 1)
„Domicilium re et facto trans
fertur, non nuda contestatione;
sicut in his exigitur, qui negant
se posse ad munera, ut incolas,
vocari“.
(n) L. 31 ad mun. (50. 1),
L. 71 § 2 de cond. (35. 1). S.
o. B. 3 S. 184.
(o) L. 23 § 1 ad mun. (50. 1).
(p) L. 22 § 3 ad mun. (50. 1).
(q) L. 31 ad mun. (50. 1),
L. 7 § 10 de interd. et releg.
(48. 22). — Wenn in L. 27 § 3
ad mun. (50. 1) geſagt wird, daß
der Relegirte ſeinen vorigen Wohn-
ſitz behalte, ſo hat das wohl den
Sinn, daß er durch die Strafe
nicht frei werden ſoll von der Theil-
nahme an den bisherigen Laſten.
|0084 : 62|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Außerdem aber konnte in folgenden Fällen der Wohnſitz
begründet werden durch die Beziehung, in welcher eine
Perſon zu einer anderen Perſon und deren Wohnſitz ſtand,
welches man einen relativen Wohnſitz nennen könnte:
1. Ehefrauen haben ihren Wohnſitz allgemein und
nothwendig gemeinſchaftlich mit dem des Eheman-
nes (r). Dieſer Wohnſitz dauert fort auch für die
Wittwe, ſo lange ſie nicht eine neue Ehe eingeht,
oder auf andere Weiſe ihren Wohnſitz willkürlich
ändert (s).
2. Eheliche Kinder haben von ihrer Geburt an un-
zweifelhaft denſelben Wohnſitz wie der Vater. Sie
können aber ſpäterhin einen anderen Wohnſitz frei
erwählen, wodurch jener urſprüngliche aufhört (t).
Bei unehelichen Kindern muß eben ſo behauptet
werden, daß der Wohnſitz der Mutter als Wohnſitz
dieſer Kinder zu betrachten iſt.
3. Auf ähnliche Weiſe verhielt es ſich mit den Frei-
gelaſſenen. Ihr Wohnſitz war urſprünglich der des
(r) L. 5 de ritu nupt. (23. 2),
L. 65 de jud. (5. 1), L. 38 § 3
ad mun. (50. 1), L. 9 C. de
incolis (10. 38), L. 13 C. de
dignit. (12. 1). Dieſer Wohnſitz
heißt das domicilium matrimonii.
Eine ungültige Ehe begründet ihn
nicht, eben ſo der bloße Brautſtand.
L. 37 § 2, L. 32 ad mun. (50. 1).
(s) L. 22 § 1 ad mun. (50. 1).
(t) L. 3. L. 4. L. 6 § 1. L. 17
§ 11 ad mun. (50. 1). — Eben
ſo folgen ſie unzweifelhaft dem
Vater, wenn dieſer nach ihrer Ge-
burt einen neuen Wohnſitz be-
gründet, ſo lange als ſie ſelbſt
noch zu ſeinem Hausſtande gehören.
|0085 : 63|
§ 353. Origo und domicilium. II. Domicilium.
Patrons (u); ſie konnten ihn aber ſpäter frei ver-
ändern (v).
4. Eben Daſſelbe gilt nach unſern heutigen Verhält-
niſſen von den Dienſtboten (w); imgleichen von den
auf einem beſtimmten Landgute bleibend arbeiten-
den Tagelöhnern, und von den bei einem beſtimm-
ten Handwerksmeiſter arbeitenden Geſellen.
Die Aufhebung eines bisher vorhandenen Wohnſitzes
erfolgt, eben ſo wie die Begründung, durch die freie Will-
kür des bisherigen Einwohners. Gewöhnlich, wenngleich
nicht allgemein und nothwendig, wird dieſe Aufhebung zu-
ſammen fallen mit der Begründung eines neuen Wohn-
ſitzes, und daher wird in unſern Rechtsquellen die Aufhe-
bung als Uebertragung bezeichnet (x).
§. 354.
Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
II. Domicilium. (Fortſetzung.)
Der Wohnſitz, als ſelbſtändiger Grund der Angehörig-
keit an eine beſtimmte Stadtgemeinde, kann auch gleichzeitig
in Beziehung auf mehrere Städte vorhanden ſein, wenn
(u) L. 6 § 3. L. 22 pr. ad
mun (50. 1). Ueber dieſe letzte
Stelle iſt zu vergleichen die ſchon
oben § 351 n. angeführte Ab-
handlung.
(v) L. 22 § 2. L. 27 pr.
L. 37 § 1 ad mun. (50. 1).
(w) Vgl. die Preußiſche Allg.
Gerichtsordnung I. 2 § 13.
(x) L. 20 ad mun. (ſ. o.
Note m.), L. 1 C. de incolis
(10. 39). Dieſe Veränderlichkeit
wird bezeichnet durch den Ausdruck
domicilii ratio temporaria.
L. 17 § 11 ad mun. (50. 1).
|0086 : 64|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Jemand mehrere Orte gleichmäßig als Hauptpunkte ſeiner
Verhältniſſe und Geſchäfte behandelt, und unter ſie, je
nach Bedürfniß, ſeinen wirklichen Aufenthalt vertheilt.
Manche unter den Römiſchen Juriſten bezweifelten dieſe
Möglichkeit, zuletzt aber wurde ſie dennoch anerkannt, ob-
gleich dabei nicht verkannt wurde, daß ein ſolcher Fall nur
ſelten als vorhanden anzunehmen ſein werde (a).
Umgekehrt kann Jemand ganz ohne Wohnſitz ſein in
dem oben beſtimmten Sinn des Wortes, wiewohl auch die-
ſer Fall zu den ſeltneren gehören wird (b). Er iſt na-
mentlich anzunehmen unter folgenden, an ſich ſehr verſchie-
denen, Vorausſetzungen:
1. Wenn ein bisheriger Wohnſitz aufgegeben iſt, und
ein neuer erſt aufgeſucht wird, ſo lange bis dieſer
gewählt und wirklich begründet ſein wird (c). Die-
ſer Fall iſt wenig wichtig wegen der meiſt beſchränk-
ten Dauer einer ſolchen Zwiſchenzeit.
2. Wenn Jemand eine lange Zeit hindurch das Reiſen
zu ſeinem Lebensberuf macht, ohne daneben eine Hei-
math als bleibenden Mittelpunkt ſeiner Geſchäfte,
in welchen er regelmäßig zurückzukehren pflegt, zu
(a) L. 5, L. 6 § 2, L. 27
§ 2 ad mun. (50. 1), C. 2 pr.
de sepult. in VI. (3. 12).
(b) L. 27 § 2 ad mun. (50. 1).
(c) L. 27 § 2 ad mun. (50. 1).
— Dahin gehört ſehr häufig der
Fall eines, den Dienſt oder die
Arbeit wechſelnden Dienſtboten,
Tagelöhners oder Handwerksge-
ſellen, wenn nämlich ein ſolcher
Wechſel zugleich mit einer Ver-
änderung des Aufenthaltsorts ver-
bunden iſt (§ 353 Num. 4).
|0087 : 65|
§. 354. Origo u. domicilium. II. Domicilium. (Fortſ.)
behandeln. Auch dieſer Fall iſt wenig wichtig, weil
er nur ſelten vorkommt.
3. Bei Landſtreichern oder Vagabunden, die ohne
einen feſten Lebenslauf in unbeſtimmter Weiſe um-
her ziehen, den Unterhalt des Lebens meiſt in ab-
wechſelnder und für die öffentliche Wohlfahrt und
Sicherheit bedenklicher Weiſe ſuchend. Dieſe Klaſſe
iſt zahlreich und wichtig, und gehört unter die
großen Uebel unſrer Zeit (d).
Der oben aufgeſtellte Begriff des Wohnſitzes (§ 353)
bezieht ſich auf die Lebensverhältniſſe des natürlichen Men-
ſchen, iſt alſo, ſeiner Natur nach, nicht anwendbar auf ju-
riſtiſche Perſonen (e). Dennoch kann auch bei dieſen das
Bedürfniß vorkommen, etwas, dem Wohnſitz der natürlichen
Perſonen Entſprechendes oder Aehnliches, gleichſam einen
künſtlichen Wohuſitz, anzunehmen, vorzüglich wohl um den
(d) Es iſt auffallend, daß von
dieſer Klaſſe in den Quellen des
Römiſchen Rechts eigentlich nicht
die Rede iſt. Selbſt die öfter er-
wähnten flüchtigen Sklaven (er-
rones, fugitivi. L. 225 de V. S.
(50. 16) können dahin nicht ge-
rechnet werden, da dieſe im juri-
ſtiſchen Sinn einen feſten Wohn-
ſitz haben, nämlich den ihrer
Herren. Der Erklärungsgrund
jener auffallenden Erſcheinung liegt
nun eben in dem Umſtand, daß
die Perſonen, welche bei uns als
Vagabunden erſcheinen (eben ſo,
wie der größte Theil unſerer Pro-
letarier), bei den Roͤmern in dem
Sklavenſtand enthalten waren. —
Thomasius de vagabundo § 79.
91. 112 nennt vagabundus Jeden,
der kein domicilium hat, und
unterſcheidet ihn von dem verächt-
lichen Landſtreicher, ganz gegen
den herrſchenden Sprachgebrauch,
der dieſe beiden Ausdrücke als
gleichbedeutend anſieht. Niemand
wird den Kaufmann, der ſeinen
Wohnſitz aufgegeben hat, um
einen neuen zu ſuchen, oder den
ehrenhaften Reiſenden von Pro-
feſſion, einen Vagabunden nennen.
(e) S. o. B 2 § 85 fg.
VIII. 5
|0088 : 66|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Gerichtsſtand darauf zu begründen (f). In den meiſten
Fällen nun wird hierüber kein Zweifel ſeyn wegen des na-
türlichen Zuſammenhanges, in welchem die juriſtiſche Per-
ſon zu dem Grund und Boden ſteht; ſo bei Städten und
Dörfern, bei Kirchen, Schulen, Krankenhäuſern u. ſ. w.
Zweifelhaft kann es ſein beſonders bei gewerblichen Geſell-
ſchaften, wenn deren Thätigkeit entweder an gar keine Ört-
lichkeit gebunden iſt, oder auf größere Räume ſich erſtreckt,
wie z. B. die der Geſellſchaften für Eiſenbahnen, oder
Dampfſchiffahrt, oder für den Brückenbau über große
Ströme, deren beide Ufer oft verſchiedenen Gerichten, ver-
ſchiedener Geſetzgebung, ja ſelbſt verſchiedenen Staaten, un-
terworfen ſind. Hier iſt es räthlich, gleich bei der Grün-
dung einer ſolchen juriſtiſchen Perſon einen künſtlichen
Wohnſitz feſtzuſtellen (g); wird dieſes verſäumt, ſo muß
der Richter den Mittelpunkt der Geſchäfte künſtlich zu er-
mitteln ſuchen.
Wenn wir die beiden, von einander unabhängigen,
Gründe der Angehörigkeit an eine beſtimmte Stadtgemeinde,
(f) Vgl. Linde Lehrbuch § 88
Note 14.
(g) Beiſpiele: Statut der Ber-
lin-Sächſiſchen (Anhaltiſchen) Ei-
ſenbahn-Geſellſchaft § 1: „Berlin
iſt ihr Domizil und der Sitz ihrer
Verwaltung und das Königliche
Stadtgericht zu Berlin ihr Ge-
richtsſtand“. — Statut der Berlin-
Stettiner Eiſenbahn-Geſellſchaft
§ 3: „Stettin iſt das Domizil der
Geſellſchaft“ u. ſ. w. (Geſetzſamml.
für die Preußiſchen Staaten 1839
S. 178, 1840 S. 306).
|0089 : 67|
§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.
Bürgerrecht und Wohnſitz, zuſammenhalten, ſo ergeben ſich
aus den für beide hier aufgeſtellten Grundſätzen (§ 351—
354) folgende mögliche Combinationen.
Eine einzelne Perſon konnte im Bürgerverhältniß ſte-
hen zu Einer Stadt, zu mehreren Städten, zu keiner
Stadt (§ 351).
Daneben konnte dieſelbe Perſon im Verhältniß des
Wohnſitzes ſtehen zu Einer Stadt, zu mehreren Städten,
zu keiner Stadt (§ 354).
Der regelmäßige und häufigſte Zuſtand aber war es
gewiß, daß das Bürgerverhältniß einer Perſon nur für
Eine Stadt begründet war, und daß dieſe Perſon in der-
ſelben Stadt zugleich auch ihren Wohnſitz hatte.
§. 355.
Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
Wirkung dieſer Verhältniſſe.
Nachdem die beiden Gründe der Angehörigkeit an eine
beſtimmte Stadtgemeinde dargeſtellt worden ſind, iſt nun
die praktiſche Seite dieſer Lehre, oder die juriſtiſche Wir-
kung der aus ihnen entſpringenden Angehörigkeit, zu un-
terſuchen.
Man möchte dabei ein gleiches Maaß von Rechten und
Pflichten als Wirkung erwarten, und es muß zunächſt auf-
fallen, daß in unſern Rechtsquellen faſt nur von Pflichten,
nicht von Rechten, die Rede iſt. Dieſe Erſcheinung iſt auf
folgende Weiſe zu erklären. — Das Bürgerverhältniß
5*
|0090 : 68|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
(die origo) führte allerdings Rechte mit ſich, die urſprüng-
lich großen Werth hatten; beſonders das ausſchließende
Recht der Theilnahme an der Stadtverwaltung durch den
Eintritt in die Stadtſenate und in die obrigkeitlichen Aem-
ter. Allein die Theilnahme an den Stadtſenaten war in
der ſpäteren Kaiſerzeit aus einem Ehrenrecht in Druck und
Laſt verwandelt worden (a), von den Obrigkeiten der
Städte aber geben uns unſre Rechtsquellen überhaupt nur
ſehr dürftige Nachrichten, welches aus ihrer ausſchließenden
Beſtimmung zum Gebrauch im Reich von Juſtinian (d.
h. im Orient) zu erklären iſt (b). Dagegen waren die an
das Bürgerverhältniß urſprünglich geknüpften Verpflichtungen
auch im Laufe der Zeit unverändert geblieben, ſo daß ſie
auch in unſern Rechtsquellen in ihrem vollſtändigen Zu-
ſammenhang dargeſtellt werden konnten und mußten. —
Was aber den Wohnſitz, als den zweiten Grund der An-
gehörigkeit betrifft, ſo war bei demſelben überhaupt nicht
von eigentlichen Rechten die Rede, da er ſelbſt aus reiner
Willkür des Einzelnen begründet werden konnte (§ 353),
wozu ja der Erwerb eigentlicher Rechte wenig gepaßt ha-
ben würde. Auch werden in der That als praktiſche Fol-
gen des Wohnſitzes, da wo man etwa die Angabe beſtimm-
ter Rechte erwarten möchte, vielmehr bloße thatſächliche
Vortheile und Genüſſe aufgezählt (c).
(a) Savigny Geſchichte des
R. R. im Mittelalter B. 1 §. 8.
(b) a. a. O. § 22.
(c) L. 27 § 1 ad mun. (50. 1)
„Si quis … in illo (munici-
pio) vendit, emit, contrahit,
|0091 : 69|
§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.
Es bleiben alſo nur noch die Verpflichtungen aus der
Angehörigkeit zur näheren Betrachtung übrig. Dieſe ſind
ſchon oben in einer allgemeinen Ueberſicht dahin angedeutet
worden: Städtiſche Laſten, Gerichtsſtand, das örtliche Recht
(§ 350), und dieſe drei Stücke ſollen nunmehr theils ge-
nauer entwickelt, theils in unſern Rechtsquellen nachgewie-
ſen werden.
I. Städtiſche Laſten (Munera).
Unter dem Ausdruck munera werden im Allgemeinen
Laſten jeder Art verſtanden; hier aber kommen nur diejeni-
gen Laſten in Betracht, die aus dem öffentlichen Recht ent-
ſpringen, alſo nur publica, nicht privata (d), und zwar
insbeſondere aus der perſönlichen Angehörigkeit an eine
Stadtgemeinde, weshalb ſie auch civilia munera genannt
werden (e). Damit iſt jedoch nicht geſagt, daß dieſe La-
ſten gerade für ſtädtiſche Zwecke und Vortheile getragen
werden mußten; vielmehr war ein großer Theil der ört-
lichen Staatsverwaltung den Städten aufgebürdet worden,
und manche der drückendſten Bürgerlaſten dienten nur zu
in eo foro, balneo, spectaculis
utitur, ibi festos dies celebrat,
omnibus denique municipii
commodis .. fruitur, ibi magis
habere domicilium“ … Vgl.
über dieſe Stelle oben § 353 d.
(d) L. 239 § 3 de V. S.
(50. 16), L. 18 § 28 de mun.
(50. 4). — Wenn alſo anderwärts
die munera eingetheilt werden
in publica und privata (L. 14
§ 1 de mun.), ſo iſt das nicht
eine Eintheilung der ſtädtiſchen
Laſten (die ſtets publica ſind),
ſondern der Laſten überhaupt, die
ja auch aus privatrechtlichen Ver-
hältniſſen herrühren können.
(e) L. 18 §. 28 de mun. (50. 4).
|0092 : 70|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Zwecken des Staates, nicht der Städte ſelbſt, von deren
Angehörigen ſie getragen wurden (f).
Die Römiſchen Juriſten unterſcheiden munus und honor
dadurch, daß jenes nicht, ſo wie dieſes, mit einer perſön-
lichen Würde (dignitas) verbunden war (g). Es würde
jedoch irrig ſein, dieſer Unterſcheidung den Sinn beizulegen,
als ob der honor blos als Ehre und Recht, ohne Zwang
und Verpflichtung, betrachtet worden wäre. Für den honor
galt dieſelbe Verpflichtung der Uebernahme, wie für das
munus (h), beide wurden gleichmäßig als ſtädtiſche Laſten
betrachtet, und jene Unterſcheidung betraf alſo blos den
Namen.
Sie unterſcheiden ferner Laſten der Perſon und des
Vermögens (munera personalia und patrimonii), je nach-
dem dabei allein oder doch überwiegend die Mühe und Ar-
beit in Betracht kam, oder vielmehr die auf dem Vermögen
ruhende Ausgabe oder Gefahr (i). Dieſe Unterſcheidung
war jedoch ſchwankend und von unbeſtimmter Gränze (k),
auch ohne Erheblichkeit, da beiderlei Laſten gleichmäßig die
(f) Vgl. z. B. L. 18 § 3. 4.
8. 16 de mun. (50. 4).
(g) L. 14 pr. § 1 L. 6 § 3
de mun. (50. 4). — Der Ausdruck
honor wurde aber nicht blos auf
die Obrigkeiten, ſondern auch auf
die Decurionen angewendet. L. 5
de vac. (50. 5).
(h) L. 3 § 2. 3. 15. 17 de
mun. (50. 4).
(i) L. 1 § 1. 2. 3. 4 de mun.
(50. 4), L. 6 § 3. 4. 5 eod., L. 18
pr. § 1—17 eod. — Unter die
perſönlichen Laſten gehörte die Ver-
waltung des Richtergeſchäfts, ſo
wie die der Bormundſchaft. L. 1
§. 4, L. 18 § 14 eod., L 8 § 4,
L. 13 pr. § 2. 3 de vac. (50. 5).
(k) Daher nahmen Manche
noch eine Mittelklaſſe an, mixta
munera. L. 18 pr. § 18—27
de mun. (50. 4).
|0093 : 71|
§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.
Angehörigen jeder Stadt, und nur dieſe, betrafen. Dage-
gen iſt es wichtig, davon ſtreng zu unterſcheiden diejenigen
Laſten, die blos auf dem Grundbeſitz hafteten (wie die
Grundſteuern), ganz ohne Rückſicht darauf, ob der Beſitzer
perſönlich der Stadt angehörte (durch origo oder domicilium),
oder nicht (l).
Die hier dargeſtellte Verpflichtung zur Uebernahme
ſtädtiſcher Laſten betraf in der Regel alle Angehörige einer
Stadt, ohne Unterſchied, ob ſie in dieſes Verhältniß durch
Bürgerrecht oder durch Wohnſitz eingetreten waren (m).
Wer alſo in mehreren Städten zugleich das Bürgerrecht,
vielleicht auch in mehreren den Wohnſitz hatte (§ 351, 354),
war in jeder dieſer Städte zur vollſtändigen Theilnahme
an dieſen Laſten verpflichtet, und konnte dadurch in ein ſehr
nachtheiliges Verhältniß kommen.
Obgleich aber dieſe allgemeine und gleichmäßige Ver-
pflichtung aller Angehörigen die Regel bildete, ſo gab es
doch daneben ausnahmsweiſe vielfache Befreiungen aus
ſehr verſchiedenen Gründen, und unter verſchiedenen Benen-
(l) L. 6 § 5 de mun. (50. 4),
L. 14 § 2, L. 18 § 21—25, L. 29.
30 eod., L. 10 pr. de vac. (50. 5),
L. 11 eod. — Etwas abweichend
iſt der Sprachgebrauch einer Stelle,
worin dieſe reine Grundlaſten
patrimonii munera genannt
werden. L. un. C. de mulier.
(10. 62).
(m) L. 22 § 2, L. 29 ad
mun. (50. 1), L. 6 § 5, L. 18
§ 22 de mun. (50. 4), L. 1 C. de
municip. (10. 38), L. 4. 6 C. de
incolis (10. 39). — Die ſchwan-
kende Erklärung mancher Stellen
über das domicilium von Bauer-
höfen im Stadtgebiet (§ 353 d.),
mag daher rühren, daß vielleicht
für manche Arten der Laſten ein
verſchiedener Vertheilungsmaaßſtab,
etwa nach örtlichen Gränzen, an-
genommen wurde.
|0094 : 72|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
nungen (vacatio, excusatio, immunitas); theils immerwäh-
rende, theils vorübergehende (n).
II. Gerichtsſtand (forum originis, domicilii).
Dabei liegt zum Grunde die allgemeine Regel, daß jeder
Rechtsſtreit zu führen iſt im Gerichtsſtand des Beklagten,
nicht des Klägers (o). Fragt man nun, wo der Beklagte
ſeinen regelmäßigen Gerichtsſtand hat, ſo beſtimmt dieſen
das Römiſche Recht dahin: In jeder Stadt, gegen deren
Obrigkeit er zum Gehorſam verpflichtet iſt, weil er dieſer
Stadt angehört. Angehörig einer Stadt aber wird der
Einzelne ſowohl durch Bürgerrecht, als durch Wohnſitz;
und dadurch verwandelt ſich nunmehr jene Beſtimmung in
die praktiſche Regel: Jeder muß ſich als Beklagter belangen
laſſen in jeder Stadt, worin ihm das Bürgerrecht zuſteht;
außerdem aber auch in jeder Stadt, worin er den Wohn-
ſitz hat. So wird dieſe Regel geradezu ausgeſprochen, und
zugleich auf ihren eben angegebenen höheren Grund zurück
geführt in folgender Stelle des Gajus (p):
Incola et his magistratibus parere debet, apud quos
incola est, et illis, apud quos civis erit; nec tan-
tum municipali jurisdictioni in utroque municipio
(n) Dig. L. 5 und L. 6, Cod. X.
44—64. Die genauere Unter-
ſuchung dieſer Befreiungen kann
hier auf ſich beruhen, da ſie für
unſren gegenwärtigen Zweck gleich-
gültig iſt.
(o) Vat. fragm. 325. 326, L. 2.
C. de jurisd. (3. 13), L. 3 C.
ubi in rem. (3. 19), L. 3. 4 C.
ubi causa status (3. 22).
(p) L. 29 ad mun. (50. 1).
|0095 : 73|
§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.
subjectus est, verum etiam omnibus publicis mu-
neribus fungi debet.
In dieſer wichtigen Stelle wird zugleich anerkannt, daß
hierin durchaus daſſelbe Verhältniß eintrete für den Ge-
richtsſtand, wie für die ſtädtiſchen Laſten. Hieraus folgt
alſo, daß auch der Gerichtsſtand für dieſelbe Perſon ſo-
gar in mehr als zwei Städten zugleich begründet ſein konnte,
wenn etwa dieſe Perſon in mehreren Städten das Bürger-
recht, und zugleich in mehreren anderen Städten den Wohn-
ſitz, gehabt haben ſollte. Dann mußte es in der freien
Wahl des Klägers ſtehen, in welcher dieſer mehreren Städte
er einen Rechtsſtreit anhängig machen wollte, und der Be-
klagte war in jeder dazu gewählten Stadt zur Einlaſſung
verpflichtet.
Bei dieſem unzweideutigen Ausſpruch ſowohl der Regel
ſelbſt, als ihres höheren Grundes, und ihres Zuſammen-
hanges mit den ſtädtiſchen Laſten, muß es auffallen, daß
anderwärts von dem auf das bloße Bürgerrecht (verſchieden
von dem Wohnſitz) gegründeten Gerichtsſtand (forum ori-
ginis) ſo wenig die Rede iſt. In vielen Stellen, worin
der perſönliche Gerichtsſtand nur für einzelne Fälle und
nur beiläufig erwähnt wird, iſt lediglich von dem forum
domicilii, nicht von dem forum originis, die Rede (q).
(q) L. 19 § 4 de jud. (5. 1),
L. 29 § 4 de inoff. test. (5. 2),
L. 1. 2 de reb. auct. jud (42. 5),
Vat. fragm. 326, L. 2 C. de jurisd.
(3. 10), L. 1 C. ubi res her.
(3. 20), L. 4 C. ubi causa status
(3. 22). — Dagegen wird in
mehreren Stellen das Wahlrecht
|0096 : 74|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Dennoch darf uns dieſe Erſcheinung an der Richtigkeit der
Regel ſelbſt nicht zweifelhaft machen; ſie iſt vielmehr aus
folgenden Gründen zu erklären. Erſtlich fand jene Regel
ihre vollſtändige Anwendung nur in Italien, nicht in den
Provinzen, in welchen Stadobrigkeiten mit Gerichtsbarkeit
gar nicht vorkamen (r); daher konnte hier das Stadtbür-
gerrecht keinen Gerichtsſtand begründen, anſtatt daß der
abſtracte Begriff des Wohnſitzes auf das Gebiet einer Pro-
vinz, alſo auf die Gerichtsbarkeit des Kaiſerlichen Statt-
halters derſelben, eben ſo anwendbar war, wie auf das
Gebiet einer einzelnen Stadt. Mehrere der angeführten
Stellen aber ſprechen ausdrücklich nur von den Provin-
zen (s), und andere derſelben mögen auch davon geſprochen
haben, ohne daß es an ihrer gegenwärtigen Geſtalt ſichtbar
iſt. — Zweitens war vielleicht ſtets für den, welcher in
zwei verſchiedenen Städten das Bürgerrecht und den Wohn-
ſitz hatte, die Anwendung des forum originis auf den Fall
beſchränkt, wenn er ſich zufällig in der Stadt aufhielt, wo-
rin ihm das Bürgerrecht zuſtand (t). Selbſt aber wenn
des Klägers zwiſchen dem forum
domicilii und dem forum con-
tractus erwähnt. L. 19 § 4 de
jud. (5. 1), L. 1. 2. 3 de reb.
auct. jud. (42. 5).
(r) Erſt ſpät erhielten hier die
Defenſoren eine Art von Gerichts-
barkeit, die lange Zeit ſehr be-
ſchränkt blieb, und erſt von Ju-
ſtinian zu etwas mehr Bedeutung
erhoben wurde. Savigny Ge-
ſchichte des R. R. im Mittelalter
B. 2 § 23.
(s) So z. B., unter den in der
Note q. angeführten Stellen:
L. 19 § 4 de jud. (5. 1), L. 29
§ 4 de inoff. (5. 2), Vat. fragm.
326.
(t) So war es mit dem forum
originis in der Stadt Rom (§ 352. k.),
und es iſt vielleicht nur zufällig,
daß von einer gleichartigen Vor-
|0097 : 75|
§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.
eine ſolche beſchränkende Rechtsregel nicht vorhanden war,
mußte doch meiſt der Kläger ſeines eigenen Vortheils we-
gen das forum domicilii vorziehen, weil der Beklagte am
Ort ſeines Wohnſitzes leichter und bequemer zu errei-
chen war.
Zum Schluß aber muß nun noch bemerkt werden, daß
die hier aufgeſtellten Regeln, ſo wie ſie größtentheils durch
die in den Digeſten niedergelegten Zeugniſſe der alten Ju-
riſten begründet worden ſind, auch nur von der Zeit an
ſichere und allgemeine Geltung in Anſpruch nehmen können,
in welcher die befeſtigte und ausgebildete Kaiſerregierung
einen hohen Grad der Gleichförmigkeit in die einzelnen
Theile des Reichs gebracht hatte. Damit iſt es alſo ſehr
wohl vereinbar, daß manche Provinz in früherer Zeit, bald
nach ihrer Unterwerfung unter das Römiſche Reich, eigen-
thümliche Vorrechte in der Gerichtsverfaſſung genoß, wo-
von in unſeren Rechtsquellen keine Spur mehr zu fin-
den iſt (u).
ſchrift für andere Städte keine Er-
wähnung gefunden wird.
(u) Dieſes gilt namentlich von
Sicilien. Cicero in Verrem
act. 2 lib. 2 C. 13. 24. 25. 37.
|0098 : 76|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
§. 356.
Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
Wirkung dieſer Verhältniſſe. (Fortſetzung.)
III. Das eigenthümliche Recht einer Stadt als Eigenſchaft
der ihr angehörenden Perſonen (lex originis, domicilii).
Es ſind oben, in allgemeiner Ueberſicht, drei Wirkungen
der Angehörigkeit einer Perſon an eine Stadtgemeinde ange-
geben worden (§ 350): Städtiſche Laſten, Gerichtsſtand,
endlich das Recht dieſer Stadt als Eigenſchaft der Perſon.
Die zwei erſten Wirkungen ſind bereits im Einzelnen
dargeſtellt (§ 355), und es bleibt nunmehr die dritte
zu unterſuchen übrig, die allein unſerer gegenwärtigen Auf-
gabe angehört, und um deren Willen die ganze bisher ge-
führte Erörterung unternommen wurde, indem nur auf
dieſem Wege die Unterordnung der Perſon unter das ört-
liche Recht einer beſtimmten Stadt in ihrem wahren Zu-
ſammenhang erkannt werden kann.
Dieſe Unterſuchung knüpft ſich an die oben aufgeſtellten
Sätze, nach welchen jede Perſon einem beſtimmten Rechts-
gebiet angehört (§ 345), dieſes Rechtsgebiet aber vorzugs-
weiſe als ein örtliches oder territoriales Gebiet anzuſehen
iſt (§ 350), und zwar nach Römiſcher Verfaſſung insbe-
ſondere als ein Stadtgebiet (§ 351). Da nun jede einzelne
Perſon überhaupt einem Stadtgebiet auf zweierlei Weiſe
angehören konnte, durch Bürgerrecht oder durch Wohnſitz
(§ 351), ſo konnte auf dieſen beiden Wegen auch die Unter-
|0099 : 77|
§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)
ordnung der Perſon unter das territoriale Recht einer Stadt
begründet werden.
Es wird alſo hier ein innerer Zuſammenhang behauptet
zwiſchen den drei verſchiedenen Wirkungen der Angehörig-
keit an eine Stadtgemeinde, und dieſer Zuſammenhang iſt
beſonders zu bemerken zwiſchen den zwei letzten Wirkungen
(dem Gerichtsſtand und dem territorialen Recht), da beide
nur als verſchiedene Seiten des geſammten örtlichen Rechts-
zuſtandes anzuſehen ſind. Die Anerkennung aber dieſes
inneren Zuſammenhanges iſt für unſere ganze Aufgabe von
Wichtigkeit, und reicht ſelbſt über die eigenthümliche Rö-
miſche Verfaſſung hinaus, ſo daß auch bei der Feſtſtellung
des heutigen Rechtszuſtandes davon Gebrauch zu machen
ſeyn wird.
Die Richtigkeit der hier aufgeſtellten Behauptung, ſo
wie die beſtimmtere Ausführung derſelben, will ich nun-
mehr in den Quellen des Römiſchen Rechts nachzuweiſen
verſuchen. Allerdings ſind die Ausſprüche der Römiſchen
Juriſten über dieſe Frage ſehr ſpärlich, um ſo mehr, als
wir bei einem kritiſchen Verfahren genöthigt ſind, gar
manche ſcheinbare Aeußerungen über dieſelbe als nicht da-
hin gehörend zurück zu weiſen. Auch dürften jene wenige
Ausſprüche kaum hinreichen, die Anſicht der Römer voll-
ſtändig zu erkennen.
1. Der älteſte hierher gehörende Fall bezieht ſich auf
die Colliſion eines poſitiven Römiſchen Geſetzes mit dem
|0100 : 78|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Recht anderer ſouveräner (jedoch mit den Römern verbün-
deter) Staaten (§ 348) (a).
Im Jahre der Stadt 561 (L. Cornelio Merula, Q. Mi-
nucio Thermo Coss.) fand ſich in Rom eine große Noth
der durch Wucher bedrückten Schuldner. Zwar beſtanden
ſchützende Wuchergeſetze, allein dieſe wurden dadurch um-
gangen, daß die Wucherer ihre Forderungen zum Schein
auf den Namen von Einwohnern benachbarter Staaten
(Socii und Latini) ſchreiben ließen. Denn da dieſe durch
das poſitive Wuchergeſetz nicht gebunden waren, ſo hatten
gegen ſie die Schuldner keinen Schutz (b). Zur Entkräftung
dieſes unredlichen Verfahrens wurde ein beſonderes Geſetz
erlaſſen mit der Vorſchrift, daß die Römiſchen Geſetze über
das Gelddarlehen (die Wuchergeſetze) auch für die Socii
und Latini als Glaubiger Römiſcher Bürger bindend ſeyn
ſollten (c).
2. Eine ähnliche Natur hat die in einem Senatsſchluß
aus der Zeit des Hadrian anerkannte Rechtsregel, daß
das Kind aus einer secundum leges moresque peregrinorum
geſchloſſenen Ehe ſelbſt dann als Peregrine geboren werden
(alſo ſeinem Vater angehören) ſolle, wenn zur Zeit der
(a) Livius XXXV. 7.
(b) Welches Wuchergeſetz, nach
dem angegebenen Jahre, hier ge-
meint iſt, läßt ſich bei der ſehr
unſicheren Geſchichte dieſer Geſetze
nicht beſtimmen. Es kann ſeyn
das über unciarium foenus, aber
auch das über semunciarium. Für
unſern gegenwärtigen Zweck iſt
dieſe Frage gleichgültig.
(c) Livius l. c. „plebesque
scivit, ut cum sociis ac nomine
Latino pecuniae creditae jus
idem, quod cum civibus Ro-
manis esset“.
|0101 : 79|
§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)
Geburt blos die Mutter (und nicht zugleich der Vater) die
Civität erlangt hatte. Es wurde alſo hier der für das
Römiſche Recht geltende Grundſatz, daß der status der
legitime concepti nach der Zeit der Erzeugung beurtheilt
werden ſollte, mit völliger Reciprocität auch auf die Bürger
fremder Staaten angewendet (d).
Die folgenden Fälle beziehen ſich auf die Colliſion der
für Italien gegebenen poſitiven Geſetze mit dem Recht der
Provinzen, alſo auf eine Colliſion von Rechten innerhalb
der Gränzen des Römiſchen Staates.
3. Die Verpflichtung eines fidepromissor ging in der
Regel nicht ſo, wie die eines fidejussor, auf die Erben
über; ausnahmsweiſe aber trat dennoch dieſer Uebergang
ein, wenn der fidepromissor ein Peregrine war, und zwar
einer ſolchen Provinzialſtadt angehörte, deren poſitives Recht
hierin von dem Römiſchen abwich (e).
4. Eine Lex Furia hatte verordnet, daß die Ver-
pflichtung der sponsores und fidepromissores durch den
Ablauf von zwei Jahren getilgt ſein ſolle, ſo wie daß
mehrere neben einander eintretende Bürgen ſolcher Art nur
theilweiſe haften ſollten, nicht für die ganze Schuld. Dieſes
(d) Gajus I. §. 92, verglichen
mit § 89.
(e) Gajus III. § 120 „Prae-
terea sponsoris et fidepromis-
soris heres non tenetur, nisi
si de peregrino fidepromissore
quaeramus, et alio jure civitas
ejus utatur“. Es könnte auf-
fallen, daß in der Aufſtellung der
Regel außer dem fidepromissor
auch der sponsor genannt wird,
der nachher in der Ausnahme nicht
wieder erwähnt iſt. Dieſer Um-
ſtand erklärt ſich daraus, daß Pe-
regrinen überhaupt nicht sponsores
ſein konnten. Gajus III. § 93.
|0102 : 80|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Geſetz aber war nur für Italien gültig, nicht für die Pro-
vinzen (f), das heißt, es galt nur für die Bürger der Städte
in Italien, nicht für die Bürger der Provinzialſtädte, auch
wenn dieſe die Römiſche Civität hatten (g).
5. Es gab eine Klaſſe der Freigelaſſenen, die durch
die Freilaſſung weder cives noch latini, ſondern nur pere-
grini, und zwar mit ganz beſonderen Zurückſetzungen, wur-
den (dedititiorum numero). Von dieſen nun wird geſagt,
ſie könnten keine Teſtamente machen, und zwar weder als
Römiſche Bürger, weil ſie nicht unter dieſe gehörten, noch
als Peregrinen, weil ſie nicht irgend einer beſtimmten Stadt
als Bürger angehörten, um nach deren Stadtrecht teſtiren
zu können (h). — Dabei liegt augenſcheinlich folgende Vor-
ausſetzung zum Grunde. Wäre dieſer Peregrine der Bürger
(f) Gajus III. § 121. 122.
(g) Die sponsores, die als
Provinzialen in den § 121. 122
vorausgeſetzt werden, mußten noth-
wendig die Römiſche Civität haben,
ſ. o. Note e. — Rudorff ſucht
der Lex Furia eine engere Be-
ſchränkung anzuweiſen (Zeitſchrift
XIV. S. 441), nach welcher der
Fall derſelben nicht mehr in dieſen
Zuſammenhang gehören würde.
Die genauere Unterſuchung würde
hier zu weit abführen.
(h) Ulpian. XX § 14 „La-
tinus Junianus, item is qui
dedititiorum numero est, testa-
mentum facere non potest …
qui dedititiorum numero est,
quoniam nec quasi civis Ro-
manus testari potest, cum sit
peregrinus, nec quasi peregri-
nus, quoniam nullius certae
civitatis civis est, ut adversus
leges civitatis suae testetur“.
Anſtatt des offenbar richtigen civis
est, lieſt die Handſchrift sciens,
welches Manche gezwungen und
unbefriedigend zu vertheidigen ge-
ſucht haben. — Adversus heißt
hier nicht: entgegen, im Wider-
ſpruch mit, ſondern: in Beziehung
auf, in Gemäßheit dieſer Geſetze.
Ganz wie in L. 5 de usurp. (41. 3).
Andere wollen emendiren: secun-
dum. S. o. Lachmann Zeit-
ſchrift IX. S. 203.
|0103 : 81|
§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)
einer ſolchen Provinzialſtadt, welche das Recht der Teſta-
mente anerkennt, und dafür gewiſſe Regeln vorſchreibt, ſo
könnte er mit Beobachtung dieſer Regeln ein gültiges Teſta-
ment machen, und zwar ſowohl in Rom, als in ſeiner Va-
terſtadt. Nun aber kann er es nicht, weil er überhaupt
keiner Stadt als Bürger angehört (§ 351. n).
6. Endlich kann hier noch die bekannte Thatſache er-
wähnt werden, daß das eigenthümliche Eherecht der Latini-
ſchen Städte unterging, als dieſe Städte das Römiſche
Bürgerrecht erhielten (i).
Es würde ſehr gewagt ſein, aus dieſen wenigen, ver-
einzelten Ausſprüchen erſchöpfende Regeln über die Be-
handlung der Colliſion verſchiedener Territorialrechte ablei-
ten zu wollen. Doch laſſen ſich darin folgende leitende
Geſichtspunkte nicht verkennen.
A. In einem Vertragsverhältniß zwiſchen zwei Bür-
gern verſchiedener Staaten kann keiner Partei das
rein poſitive Geſetz des ihr fremden Staates ent-
gegengeſetzt werden; ſie ſind vielmehr nach dem
jus gentium zu beurtheilen (k). Doch kann davon
in einzelnen Fällen, aus politiſchen Gründen, das
Gegentheil vorgeſchrieben werden (Nr. 1).
B. Das Bürgerrecht einer beſtimmten Stadt beſtimmt
in der Regel für jeden Einzelnen dasjenige poſi-
tive Recht, dem er perſönlich untergeordnet iſt, nach
(i) Gellius Lib. 4 C. 4.
(k) Vergl. oben § 348. c.
VIII. 6
|0104 : 82|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
welchem alſo er beurtheilt werden muß (Nr. 3.
4. und 5).
Außerdem kommen noch zweierlei andere Aeußerungen
der Römiſchen Juriſten vor, die leicht als Regeln über die
Beobachtung des örtlichen Rechts angeſehen werden können,
in der That aber nicht als ſolche zu betrachten ſind, ſo daß
noch beſonders gegen die Anwendung derſelben auf die hier
vorliegende Unterſuchung gewarnt werden muß.
Erſtlich gehören dahin einige vereinzelte Stellen, welche
bei der Auslegung und Anwendung von Rechtsgeſchäften
auf örtliche Gewohnheiten verweiſen, die man aber
fälſchlich von örtlichen Rechtsregeln verſtehen würde.
— So ſoll bei der Auslegung eines unbeſtimmten Vertrags
als die wahrſcheinliche Abſicht der Parteien unter Anderen
Das angenommen werden, welches in dieſer Gegend vor-
zugsweiſe üblich iſt (l). Dieſes iſt nun offenbar nicht
eine Rechtsregel dieſer Gegend, ſondern vielmehr das,
woran man dort thatſächlich gewöhnt iſt, welches man
häufig zu thun pflegt. Eine einzelne wichtige Anwen-
dung dieſer allgemeinen Auslegungsregel findet ſich bei den
Cautionen, die der Verkäufer werthvoller Sachen zu leiſten
hat; auch dieſe ſollen ſich nach der Sitte der Gegend rich-
(l) L. 34 de R. J. (50. 17).
„.. id sequamur, quod in re-
gione in qua actum est fre-
quentatur“.
|0105 : 83|
§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)
ten, d. h. nach den Cautionen, die dort am häufigſten frei-
willig geleiſtet zu werden pflegen (m). — Ferner ſoll die
Höhe der Verzugszinſen nach dem Zinsfuß beſtimmt wer-
den, der in dieſer Gegend gerade jetzt üblich iſt (n). Ganz
eben ſo die Höhe der Zinſen, die ein Geſchäftsführer von
ſeinem ausgelegten baaren Gelde berechnen darf (o). In
beiden Stellen iſt gar nicht von einer örtlichen Rechtsregel
die Rede, wodurch der Zinsfuß dort beſtimmt geweſen wäre,
ſondern von dem Zinsfuß, wie er augenblicklich an dem
dortigen Geldmarkte vorgefunden wurde. Der Grund die-
ſer Beſtimmung aber lag darin, daß jene Zinſen dem Glau-
biger eine wahre Entſchädigung für die entbehrte Geld-
nutzung gewähren ſollten, welche Entſchädigung nur nach
den Zinſen abgemeſſen werden konnte, die der Glaubiger
aus dem wirklichen Geldbeſitz anderwärts hätte gewinnen
können.
(m) L. 6 de evict. (21. 2). —
Aus demſelben Grunde war eine
ſolche Caution, die duplae stipu-
latio, bei wichtigen Sachen ſogar
allgemein in die Verpflichtungen
des Verkäufers übergegangen. L. 31
§ 20 de aed. ed. (21. 1), L. 2,
L. 37 pr. § 1 de evict. (21. 2).
Andere Anwendungen derſelben
Auslegungsregel (bei Teſtamenten)
finden ſich in L. 21 § 1 qui test.
(28. 1), L. 50 § 3 de leg. 1.
(30 un.), L. 18 § 3 de instructo
(33. 7). — Daß jedoch von den
hier abgewieſenen Stellen auch in
unſerer Lehre ein indirecter Ge-
brauch zu machen iſt, wird unten
gezeigt werden (§ 372).
(n) L. 1 pr. de usuris. (22. 1),
„.. usurarum modus ex more
regionis, ubi contractum est,
constituitur“.
(o) L. 37 de usuris (22. 1)
„.. debere dici usuras venire,
eas autem, quae in regione fre-
quentantur, ut est in b. f. judi-
ciis constitutum“ (das ſind eben
die in der vorhergehenden Stelle
erwähnten Verzugszinſen). Vergl.
auch L. 10 § 3 mand. (17. 1),
L. 7 § 10 de admin. (26. 7).
6*
|0106 : 84|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Zweitens aber ſind noch viel wichtiger die Stellen,
welche von den drei Klaſſen der freien Einwohner des Rö-
miſchen Reichs (cives, Latini, peregrini) reden, und die
man gleichfalls verſucht ſein könnte, mit der Unterordnung
der Einzelnen unter ein beſtimmtes poſitives Recht in Ver-
bindung zu bringen. Man könnte nämlich einen ſolchen
Gedanken etwa dahin ausbilden wollen, daß auf die erſte
Klaſſe (die cives) das jus civile, auf die zwei niederen
Klaſſen das jus gentium angewendet worden wäre. Allein
dieſer ganze Gedanke muß völlig zurück gewieſen werden.
Jene Klaſſification war höchſt wichtig für die Rechtsfä-
higkeit der Einzelnen, indem der civis das connubium
und commercium, der Latinus das commercium ohne connu-
bium, der peregrinus keine dieſer beiden Fähigkeiten hatte (p).
Dagegen hat jene Klaſſification durchaus keine Verbindung
mit der hier vorliegenden Aufgabe, nämlich mit dem Syſtem
der auf jeden Einzelnen anwendbaren poſitiven Rechtsre-
geln. Einige Beiſpiele werden Dieſes außer Zweifel ſetzen.
Auf die cives wurden die Regeln des jus gentium nicht
minder, als die des jus civile angewendet. Der Latinus
Junianus konnte allerdings, obgleich er als Latinus die
testamentifactio hatte, kein Teſtament machen, weil ihm
(p) S. o. B. 2 § 64. 66. —
Zu dieſer Lehre von der Rechts-
fähigkeit, und nicht zu dem Syſtem
der auf den Einzelnen anwend-
baren Territorialrechte (wovon hier
allein die Rede iſt), gehört auch
der Satz, daß die Stipulation in
der Formel: spondes? spondeo
nur von Römiſchen Bürgern, nicht
von Peregrinen, gebraucht werden
konnte. Gajus III. § 93.
|0107 : 85|
§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)
Dieſes beſonders verboten war (q). Sein Sohn aber war
ein freigeborner Latinus, der durch dieſes Verbot nicht ge-
bunden war, und wenn dieſer ein Teſtament machte, wozu
ihn ſein Stand als Latinus berechtigte (Note q), ſo wurde
er nach den Regeln der hereditas, alſo nach dem ſtrengſten
jus civile, beerbt, welches alſo auf ihn anwendbar ſein
mußte.
Noch weniger aber, als die hier angeführten Stellen,
können für unſre Unterſuchung ſolche Ausſprüche des Rö-
miſchen Rechts benutzt werden, welche nur ganz im Allge-
meinen die Berückſichtigung eines örtlichen Gewohnheits-
rechts erwähnen, ohne dabei den Gegenſatz verſchiedener
örtlicher Rechte (alſo den Fall einer Colliſion) voraus zu
ſetzen oder anzudeuten (r).
(q) Ulpian. XX. § 14. —
Daß ihm das Recht der testamen-
tifactio nicht fehlte (alſo nur
jenes ganz poſitive Verbot im
Wege ſtand), ſagt ausdrücklich
Ulpian ebendaſ. § 8. Auch be-
ruhte ja das Teſtament auf der
Mancipationsform, und daher war
die testamentifactio gleichbe-
deutend mit dem commercium
oder der Mancipationsfähigkeit,
welche den Latinen jeder Art zuſtand.
Ulpian. XIX. § 4. 5.
(r) Dahin gehören etwa fol-
gende Stellen: L. 1 § 15 de in-
spic. ventre (25. 4), L. 19 C.
de locato (4. 65). — Eben dahin
gehört die Erwähnung der chiro-
grapha und syngraphae, als
eines genus obligationis pro-
prium peregrinorum. Gajus III.
§ 134. — Von den beſonderen Aus-
ſprüchen über die Regel: locus
regit actum vgl. unten § 382.
|0108 : 86|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
§. 357.
Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.
Wirkung dieſer Verhältniſſe. (Fortſetzung.)
Aus der bis hierher geführten Unterſuchung ergab es
ſich, daß die Angehörigkeit einer einzelnen Perſon an eine
beſtimmte Stadtgemeinde drei Wirkungen hatte, indem die
angehörige Perſon unterworfen war: 1. den ſtädtiſchen
Laſten, 2. dem Gerichtsſtand dieſer Stadt, 3. dem eigen-
thümlichen poſitiven Rechte derſelben. Dieſe drei Wirkun-
gen ſtanden in einem inneren Zuſammenhang, und konnten
daher als gleichartig betrachtet werden. Es iſt aber nun
noch eine wichtige Verſchiedenheit unter dieſen Wirkungen
hervor zu heben.
Wenn eine Perſon mehreren Städten angehörig war,
ſei es durch Bürgerrecht oder durch Wohnſitz, ſo war ſie
in jeder dieſer Städte den Bürgerlaſten und dem Gerichts-
ſtand unterworfen, ſo daß dann eine wahre Concurrenz un-
ter den Anſprüchen jener Städte an dieſelbe Perſon ent-
ſtand. Eine ſolche Concurrenz war bei der Unterordnung
der Perſon unter das poſitive Recht verſchiedener Städte
unmöglich, weil ſie einen inneren Widerſpruch mit ſich ge-
führt hätte. Dieſelbe Perſon konnte vor verſchiedenen
Obrigkeiten verklagt werden, je nach der Wahl des Klägers,
ſie konnte aber nicht nach verſchiedenen, vielleicht ganz wi-
derſprechenden, Rechtsregeln beurtheilt werden. Es war
alſo nur die Unterordnung unter Ein örtliches Recht mög-
|0109 : 87|
§. 357. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)
lich, und es mußte für dieſen Zweck unter den verſchiedenen,
in anderer Hinſicht concurrirenden Städten eine entſcheidende
Wahl getroffen werden.
Ich halte es nun für unzweifelhaft, daß das örtliche
Recht, dem jede Perſon unterworfen ſeyn ſollte, wenn dieſe
Perſon in zwei verſchiedenen Städten das Bürgerrecht und
den Wohnſitz hatte, durch das Bürgerrecht beſtimmt
wurde, nicht durch den Wohnſitz. Für dieſe Annahme
ſprechen folgende Gründe. Erſtlich war das Bürgerrecht
das engere, an ſich höher ſtehende Band, verglichen mit dem
von Willkür und Laune abhängenden Wohnſitz. Zweitens
war es das frühere Band, da es durch die Geburt geknüpft
wurde, der anderwärts vorhandene Wohnſitz erſt ſpäter
durch eine freie Handlung entſtanden ſein konnte; es fehlt
aber an jedem Grunde, weshalb das für die Perſon ein-
mal begründete territoriale Recht hätte umgewandelt werden
ſollen. Drittens deuten darauf auch mehrere der eben an-
geführten Aeußerungen der Römiſchen Juriſten, indem dieſe
ſagen: si … alio jure civitas ejus utatur (§ 356 e), und
quoniam nullius certae civitatis civis est (§ 356 h),
welche Ausdrücke offenbar auf das Bürgerrecht hindeuten
als Beſtimmungsgrund für das auf die Perſon anwendbare
örtliche Recht, nicht auf den Wohnſitz.
Nimmt man die hier aufgeſtellte Regel als richtig an,
ſo bleiben dann noch folgende Fälle, die dadurch nicht be-
ſtimmt werden, zu entſcheiden übrig.
|0110 : 88|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Erſtlich konnte Jemand das Bürgerrecht an mehreren
Orten zugleich haben: an dem einen durch die Geburt, an
einem andern durch Adoption oder durch Aufnahme (§ 351).
In einem ſolchen Falle wurde ohne Zweifel das frühere
Bürgerrecht, alſo das durch Geburt entſtandene (die
origo), als vorherrſchend behandelt, weil kein Grund vor-
handen war, eine Umwandlung des perſönlichen Rechtszu-
ſtandes anzunehmen. — Das Bürgerrecht der Stadt Rom,
welches jeder municeps neben ſeinem beſonderen Stadtbür-
gerrecht hatte (§ 352), kam bei der Beſtimmung des per-
ſönlichen Rechts gewiß nicht in Betracht, vielmehr konnte
in dieſer Hinſicht nur das Recht der engeren Heimath be-
rückſichtigt werden.
Zweitens konnte Jemand ganz ohne ſtädtiſches Bür-
gerrecht ſein (§ 351), während er einen Wohnſitz hatte.
In dieſem Fall mußte der Wohnſitz als Beſtimmungsgrund
für das auf ihn anwendbare perſönliche Recht gelten.
Zuletzt bleiben noch die Fälle zu erwägen übrig, wenn Je-
mand in keiner Stadt das Bürgerrecht (§ 351), und zu-
gleich entweder in mehreren Städten, oder auch in keiner
Stadt einen Wohnſitz hatte (§ 354). Wie die Römer ſolche,
bei ihnen gewiß ſeltene, Fälle beurtheilt haben mögen, läßt
ſich aus unſern Rechtsquellen nicht durch unmittelbare
Zeugniſſe nachweiſen. Wir werden auf dieſelben zurück-
kommen bei der Unterſuchung des heutigen Rechts (§ 359).
Auch für dieſe, das örtliche Recht betreffende, Regeln,
muß die Bemerkung wiederholt werden, welche oben für die
|0111 : 89|
§. 357. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)
Gerichtsverfaſſung gemacht worden iſt, daß die Allgemein-
heit dieſer Regeln zwar für das Zeitalter der alten Juriſten
behauptet werden darf, in der früheren Zeit aber, durch die
eigenthümliche Verfaſſung mancher Provinzen, nur mit Aus-
nahmen anzunehmen iſt (a).
§. 358.
Origo und domicilium im heutigen Recht.
Es iſt nicht ſchwer zu zeigen, daß die hier dargeſtellte
Römiſche Lehre von origo und domicilium in unſerem
heutigen Rechtszuſtand, namentlich in dem für Deutſchland
geltenden gemeinen Recht, nicht mehr Anwendung findet,
und daß davon höchſtens vereinzelte Beſtandtheile übrig ge-
blieben ſind. Denn die Grundlage und Vorausſetzung jener
Lehre beſtand in den Stadtgebieten, die wie ein Netz über
den ganzen Boden des Römiſchen Reichs verbreitet waren,
und, damit zuſammenhängend, in den Stadtgemeinden, die
für die einzelnen Einwohner das Verhältniß zum Staate
vermittelten, ſo daß alle Einzelne, mit wenigen Ausnahmen,
als Stadtbürger, mannichfaltigen und dauernden perſön-
lichen Verpflichtungen unterworfen waren (§ 351).
Gerade dieſe Grundlage nun der Römiſchen Verfaſſung
(a) Dieſes gilt namentlich von
Sicilien nach den oben aus
Cicero angeführten Stellen
(§ 355. u.), worin die Gerichte und
die Geſetze neben einander genannt
werden als Vorrechte der Sicilianer.
Cap. 13 „domi certet suis legi-
bus.“ Cap. 24 „postulant, ut se
ad leges suas rejiciat.“ Cap. 37
„ut cives inter se legibus suis
agerent.“
|0112 : 90|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
in ihrer Anwendung auf die einzelnen Theile des Staats-
gebietes, findet ſich in den neueren Zeiten nicht mehr.
Namentlich in Deutſchland haben zwar ſeit vielen Jahr-
hunderten die Städte ein wichtiges Stück der Verfaſſung,
ſowohl im Reiche, als in den einzelnen Ländern, gebildet;
jedoch nur ein vereinzeltes, neben anderen meiſt wichtigeren
Beſtandtheilen ſtehendes Stück, ſo daß hier an ein Aufgehen
des Ganzen in bloße Stadtgebiete und Stadtgemeinden
niemals zu denken war. Wie mit Deutſchland, ſo verhielt
es ſich in dieſer Hinſicht auch mit anderen Staaten neuerer
Zeit; und höchſtens in Italien finden ſich theilweiſe noch
Zuſtände, die, wenn auch unvollſtändig, nicht nur an den
Zuſtand des Römiſchen Kaiſerreichs erinnern, ſondern auch
in der That als Ueberreſte deſſelben zu betrachten ſind.
Iſt nun die Grundlage jener Römiſchen Lehre von origo
und domicilium verſchwunden, ſo können auch die darauf
beruhenden Rechtsverhältniſſe (munera, forum, Stadtrecht
als Recht der Perſon) nicht mehr in Römiſcher Weiſe be-
hauptet werden. Vorzüglich einleuchtend iſt Dieſes für die
origo, das heißt für das bei jedem Einzelnen vorauszu-
ſetzende Stadtbürgerrecht, anſtatt daß bei der abſtracteren
Natur des domicilium ſich noch eher eine gewiſſe Art von
Fortdauer annehmen ließe.
Auch haben von jeher die neueren Schriftſteller als
unzweifelhaft anerkannt, daß in dieſer Lehre unſer Rechts-
zuſtand von dem der Römer durchaus abweiche. Zwar den
ganzen Umfang der eingetretenen Veränderung konnten ſie
|0113 : 91|
§. 358. Origo und domicilium im heutigen Recht.
deswegen nicht anerkennen, weil keiner unter ihnen den
wahren und vollſtändigen Zuſammenhang jener Römiſchen
Rechtsinſtitute überſah. Allein bei einer einzelnen Anwen-
dung, dem Gerichtsſtande, wurden ſie auf dieſen Gegen-
ſtand aufmerkſam, und hier eben erkannten ſie einſtimmig
an, daß das Römiſche forum originis, in ſeiner urſprüng-
lich vorherrſchenden Bedeutung, für uns ganz verſchwunden
ſey, und daß höchſtens noch etwas ihm Aehnliches, aber
untergeordnet, und als bloße Aushülfe für ſeltenere Fälle,
für unſer heutiges Recht übrig bleibe (a). — Wollte etwa
Jemand bezweifeln, ob wirklich in dieſer Lehre eine durch-
greifende Veränderung vorgegangen wäre, ſo müßte er
ſchon durch den Umſtand überzeugt werden können, daß
ſelbſt die Begriffe und Kunſtausdrücke der Römer bei den
Neueren ganz verwirrt und verdunkelt erſcheinen. Denn
dieſer Umſtand erklärt ſich nicht daraus, daß etwa die
Quellen des Römiſchen Rechts in dieſer Lehre beſonders
undeutlich oder lückenhaft wären, (welches in der That
nicht der Fall iſt), ſondern lediglich daraus, daß der In-
halt jener Rechtsquellen ſo wenig zu unſern Zuſtänden
paſſen wollte.
Man könnte nun etwa verſuchen, die eingetretene
Veränderung ſo aufzufaſſen, als wäre aus dem Römiſchen
Recht blos die eine Hälfte (die origo) verſchwunden, die
andere Hälfte (das domicilium) unverändert übrig geblieben.
(a) Lauterbach de domicilio § 13. 14. 50. Schilter ex. 13
§ 24. Stryk V. 1 § 17. 18. Glück B. 6 S. 261.
|0114 : 92|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Allein auch dieſe Auffaſſung kann nur mit großer Be-
ſchränkung als richtig anerkannt werden.
Die praktiſche Bedeutung nämlich des Römiſchen domi-
cilium bezog ſich immer wieder auf die Stadtgemeinde und
deren Gebiet, indem der Wohnſitz, eben ſo wie das Bür-
gerrecht, jeden Einzelnen zum Angehörigen einer Stadt-
gemeinde machen konnte (§ 351. 353). Dieſe aus-
ſchließende praktiſche Bedeutung iſt nicht mehr vorhanden,
oder ſie hat vielmehr eine andere Geſtalt angenommen.
Dagegen iſt die Art, wie der Wohnſitz entſteht und
wieder aufgehoben wird (§ 353. 354), bei uns ganz die-
ſelbe wie im Römiſchen Recht, und in ſofern ſind bei uns
die Beſtimmungen des Römiſchen Rechts völlig anwendbar.
Die Gränze des anwendbaren und nicht anwendbaren
Theils jener ganzen Lehre wird nun noch anſchaulicher
werden durch die Betrachtung der drei einzelnen Wirkungen,
die das Römiſche Recht an den Wohnſitz, eben ſo wie an
das Stadtbürgerrecht, knüpft (§. 355. 356).
1. Städtiſche Laſten (munera). Dieſe können hier völlig
unbeachtet bleiben, da ſie ſich ganz auf eigenthümlich
Römiſche Verhältniſſe bezogen.
2. Gerichtsſtand (forum domicilii).
Dieſe Wirkung des Wohnſitzes iſt nicht nur im heuti-
gen Rechte übrig geblieben, ſondern ſie erſcheint hier
noch wichtiger, als bei den Römern. Denn bei die-
ſen beſtand ganz gewöhnlich das forum originis neben
|0115 : 93|
§. 358. Origo und domicilium im heutigen Recht.
dem forum domicilii, ſo daß zwiſchen beiden der Klä-
ger die Wahl hatte (§ 355); bei uns iſt die origo
im Römiſchen Sinne verſchwunden, und ſo iſt nunmehr
das forum domicilii der einzige ordentliche, regelmäßige
Gerichtsſtand jedes Menſchen.
Dieſer Gerichtsſtand aber, wie der Wohnſitz ſelbſt,
auf welchem er beruht, hat jetzt eine andere Bedeutung,
als im Römiſchen Recht. Er bezieht ſich nicht mehr,
wie dort, allgemein und nothwendig auf die richterliche
Obrigkeit eines Stadtgebietes, zu welchem der Wohn-
ſitz gehört, ſondern eines Gerichtsſprengels, der
ſehr verſchiedenartige Entſtehungsgründe und Gränzen
haben, und allerdings unter anderen und zufällig auch
mit den Gränzen eines Stadtgebietes zuſammen fallen
kann.
3. Das beſondere territoriale Recht, welchem jeder Einzelne,
als ſeinem perſönlichen Recht, untergeordnet iſt. Damit
verhält es ſich ähnlich, wie es ſo eben von dem Gerichts-
ſtand bemerkt worden iſt. Dieſe Wirkung des Wohnſitzes
iſt nicht nur übrig geblieben, ſondern auch ausſchließender
anwendbar und darum wichtiger geworden, als bei ihnen.
Zugleich aber hat ſie bei uns, eben ſo wie der Gerichts-
ſtand, eine veränderte Bedeutung angenommen.
Dieſer Gegenſtand aber iſt für die Aufgabe der gegen-
wärtigen Unterſuchung wichtiger, als alles Uebrige, ja er
allein war die Veranlaſſung, auch die übrigen hier abge-
|0116 : 94|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
handelten Fragen mit in den Kreis dieſer Unterſuchung zu
ziehen. Daher iſt derſelbe nunmehr einer abgeſonderten,
ſelbſtſtändigen Betrachtung zu unterwerfen (§ 359).
Neben der hier dargeſtellten großen und allgemein aner-
kannten Verſchiedenheit, die bei dem Uebergang aus den
Römiſchen Zuſtänden in die heutigen eingetreten iſt, muß
es als eine Merkwürdigkeit erwähnt werden, daß ſich in
einem kleinen Europäiſchen Lande ein ähnlicher Rechtszu-
ſtand ausgebildet hat, wie der oben dargeſtellte Römiſche:
eine origo, verſchieden von dem domicilium, aber mit ent-
ſchiedenem Uebergewicht über dieſes; ein Rechtszuſtand, der
nicht Ueberreſt des Römiſchen, und eben ſo wenig Nach-
ahmung deſſelben iſt, ſo wie er auch darin eigenthümlich
erſcheint, daß er nicht ausſchließend auf einem Stadtbür-
gerrecht, ſondern auf dem Heimathsrecht oder Bürgerrecht
in irgend einer Gemeinde (ſey ſie ſtädtiſch oder ländlich)
beruht. Dieſer Zuſtand findet ſich in den meiſten Kantonen
der deutſchen Schweiz, wo das Heimathsrecht in einer be-
ſtimmten Gemeinde, welches zugleich Bedingung für den
Erwerb des Kantonsbürgerrechts iſt, vorzugsweiſe vor
dem vielleicht anderswo gewählten Wohnſitz, entſcheidend
iſt für viele der wichtigſten Rechtsverhältniſſe: namentlich
für die Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit, für die
Ehe, väterliche Gewalt, Vormundſchaft, ſo wie für das
Recht der Teſtamente und die Inteſtaterbfolge. Für mehrere
|0117 : 95|
§. 358. Origo und domicilium im heutigen Recht.
dieſer Rechtsverhältniſſe wird nicht blos das anwendbare
örtliche Recht, ſondern auch der Gerichtsſtand durch die
origo (das Gemeindebürgerrecht) beſtimmt, vorzugsweiſe
vor dem Wohnſitz; namentlich gilt Dieſes für die Klagen
auf Eheſcheidung, und für die aus dem Erbrecht. Alle
dieſe Beſtimmungen gründen ſich theils auf altes Her-
kommen, theils auf die zwiſchen vielen Kantonen geſchloſſenen
Konkordate (b).
§. 359.
Origo und domicilium nach heutigem Recht.
(Fortſetzung.)
Nach dem heutigen Recht iſt der Wohnſitz als regel-
mäßiger Beſtimmungsgrund anzuſehen für das beſondere
territoriale Recht, welchem jeder Einzelne, als ſeinem per-
ſönlichen Rechte, untergeordnet iſt (§. 358), und dieſer Satz
hat auch von jeher ſehr allgemeine Anerkennung gefun-
den (a). Es tritt alſo nunmehr als Regel derjenige Zu-
(b) Offizielle Sammlung der
das Schweizeriſche Staatsrecht be-
treffenden Aktenſtücke B. 2 Zürich
1822. 4 S. 34. 36. 39. — Ich
verdanke dieſen, das Schweizerrecht
betreffenden, Zuſatz der freundlichen
Mittheilung von Keller.
(a) Vgl. die im § 358 Note a.
angeführten Schriftſteller, und
Eichhorn deutſches Recht § 34. —
Für die Uebereinſtimmung aus-
ländiſcher Rechtslehrer ſind folgende
Zeugniſſe zu bemerken: Projet de
code civil Paris 1801. 8. p. LV.
LVI. — Rocco Lib. 2 C. 8, wo
gleichfalls der bloße Wohnſitz als
Grundlage des örtlichen Rechts
für den Einzelnen anerkannt wird,
völlig verſchieden von der (poli-
tiſchen) Naturaliſation, von welcher
Lib. 1 C. 10 handelt. — Story
Chap. 3. und 4.
|0118 : 96|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſtand ein, welcher im Römiſchen Rechte ausnahmsweiſe an-
erkannt werden mußte für ſolche Perſonen, die zufällig zu
keiner Stadt ein eigentliches Bürgerverhältniß hatten, alſo
ohne origo waren (§ 357). Man könnte dieſe Regel des
heutigen Rechts, um ihr Verhältniß ſowohl zum Römiſchen
Recht, als zu der ſchon erwähnten verwandten Regel für
den Gerichtsſtand, anſchaulich zu machen, etwa ſo aus-
drücken. 1. Bei den Römern beſtand neben dem forum
domicilii das forum originis, beide mit völlig gleicher Be-
rechtigung, alſo concurrirend. Bei uns iſt das forum
originis im Römiſchen Sinne verſchwunden, das forum
domicilii allein übrig. 2. Bei den Römern galt, als ter-
ritoriales perſönliches Recht der Einzelnen, die lex originis,
und nur ausnahmsweiſe die lex domicilii, für diejenigen
Perſonen, die zufällig keine origo hatten. Bei uns iſt die
lex domicilii der einzige regelmäßige Beſtimmungsgrund für
das territoriale perſönliche Recht der Einzelnen (b).
Obgleich nun dieſe ungemein wichtige Regel, die für die
ganze folgende Unterſuchung die Grundlage abgeben wird,
(b) Es iſt ſchon oben (§ 356)
aufmerkſam gemacht worden auf
den Zuſammenhang zwiſchen forum
(originis, domicilii) und lex
(originis, domicilii) Dieſer Zu-
ſammenhang zeigt ſich nicht blos
im R. R., ſondern auch in manchen
rein praktiſchen Folgen des heutigen
Rechts; ſo unter andern in der
Regel, nach welcher die vom ge-
wöhnlichen örtlichen Gerichtsſtand
eximirten Perſonen auch nicht den
örtlichen Statuten unterworfen ſind.
Eichhorn deutſches Recht § 34. —
Es darf jedoch keine unbedingte,
ausſchließende Behauptung dieſes
Zuſammenhangs geltend gemacht
werden, welches ſchon wegen der
nicht ſeltenen Concurrenz verſchie-
dener Arten des Gerichtsſtandes
(z. B. domicilii mit rei sitae)
bedenklich ſeyn würde.
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Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)
als Regel ſehr allgemein anerkannt wird, ſo iſt es doch nach
zwei Seiten hin nöthig, ſie näher zu beſtimmen.
Erſtlich hat im heutigen Recht der Wohnſitz auch in
Anſehung des territorialen Rechts eine andere Bedeutung
und andere Gränzen, als im Römiſchen Recht, ganz ſo wie
es bereits in Anſehung des Gerichtsſtandes bemerkt worden
iſt (§ 358). Bei den Römern war die lex originis, wie
die lex domicilii, ſtets das örtliche Recht eines beſtimmten
Stadtgebietes (§ 356). Bei uns dagegen hat die Einheit
eines territorialen Rechtes, eben ſo wie der Gerichtsſtand,
ſehr verſchiedenartige Entſtehungsgründe und Gränzen (c),
und das territoriale Recht kann nur unter andern und zu-
fälligerweiſe mit den Gränzen eines Stadtgebiets zuſammen
fallen, alſo ein Stadtrecht ſein. Wollen wir alſo für dieſes
Verhältniß den Vortheil einer allgemein paſſenden Bezeich-
nung gewinnen, ſo müſſen wir dafür einen beſonderen Kunſt-
ausdruck erſt bilden, und es würde ſich dazu etwa der Aus-
druck Geſetzſprengel eignen, welcher durch ſeine Aehn-
lichkeit mit dem allgemein üblichen Ausdruck: Gerichtsſpren-
gel leicht verſtändlich ſein wird. Nur muß dabei bedacht
werden, daß der Ausdruck: Geſetz (eben ſo wie lex domi-
cilii) in einem weiteren Sinn zu nehmen iſt, für jede Re-
gel des poſitiven Rechts, ohne Unterſchied, ob dieſe Regel
durch ein eigentliches Geſetz, oder etwa durch Gewohnheits-
recht, entſtanden ſein mag.
(c) Von dieſer verſchiedenar-
tigen Natur und Begränzung terri-
torialer Rechte iſt ſchon oben im
§ 347 die Rede geweſen.
VIII. 7
|0120 : 98|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Zweitens könnte man verſucht ſein, der hier aufgeſtell-
ten Regel von der lex domicilii einen uneingeſchränkten
Einfluß einzuräumen nur bei der Colliſion zwiſchen den
Particularrechten eines und deſſelben Staates (§ 347),
nicht ſo bei der Colliſion zwiſchen den Geſetzen ſouveräner
Staaten (§ 348); man könnte annehmen, daß für dieſe
Colliſion nicht ſowohl der Wohnſitz, als vielmehr der
Staatsverband, das Unterthanenverhältniß, maaßgebend ſein
müſſe. — In mehreren großen Staaten nämlich ſind ge-
naue Beſtimmungen erlaſſen worden über den Erwerb und
Verluſt des Staatsbürgerrechts, und man könnte daher
glauben, in dieſen Staaten ſei die Anwendung des territo-
rialen Rechts auf die Einzelnen forthin bedingt durch das
Staatsbürgerrecht, nicht mehr durch den Wohnſitz, worin
alſo eine modificirte Rückkehr zu dem Römiſchen Begriff
der origo (verſchieden von domicilium) gefunden werden
könnte.
Dieſe Annahme iſt nicht ohne Schein im Franzöſiſchen
Recht, welches genaue Beſtimmungen enthält über die Ent-
ſtehung und Aufhebung der Eigenſchaft eines Français (d).
Daran knüpft ſich dann die Beſtimmung, daß der perſön-
liche Zuſtand des Français (l’état et la capacité), auch wenn
(d) Code civil art. 9 — 13.
17 — 21. Von dem Français iſt
verſchieden der citoyen, welcher
Ausdruck die politiſchen Rechte be-
zeichnet, art. 7. — Auch Foelix
p. 36 ‒ 39 ſpricht zwar zuerſt von der
nationalité als Grundlage des
anzuwendenden örtlichen Rechts,
nimmt aber dann dieſen Ausdruck
gleichbedeutend mit domicile, will
alſo nicht etwa in Widerſpruch
treten mit der unter den Schrift-
ſtellern des gemeinen Rechts herr-
ſchenden Anſicht.
|0121 : 99|
§. 359. Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)
er im Ausland wohne, nach Franzöſiſchem Recht beurtheilt
werden ſolle (e); ferner daß jeder Français alle droits ci-
vils genieße (f). Dieſem letzten Satz könnte man die aus-
ſchließende Bedeutung beilegen, daß der Ausländer die
droits civils in Frankreich nicht genieße, worin dann eine
Herſtellung des Römiſchen Unterſchieds der cives und pere-
grini in der Lehre von der Rechtsfähigkeit gefunden
werden möchte. Allein, abgeſehen davon, daß die Franzö-
ſiſchen Juriſten von den droits civils ſehr verworrene und
irrige Begriffe haben (g), werden daneben den Ausländern
ſo ziemlich dieſelben Rechte, wie den Français, eingeräumt (h).
Daraus geht hervor, daß die praktiſche Bedeutung des Be-
griffs Français weit geringer iſt, als ſie auf den erſten
Blick ſcheint, und daß ſie ſich hauptſächlich in der Lehre
von der Handlungsfähigkeit äußert, an welcher Stelle
wir auf dieſen Gegenſtand zurückkommen werden.
In Preußen iſt neuerlich ein Geſetz erlaſſen worden
über die Entſtehung und Aufhebung der Eigenſchaft eines
Preußen oder Preußiſchen Unterthans (i), und man könnte
auch bei dieſem Geſetz verſucht ſein, darnach die Anwend-
barkeit des Preußiſchen Rechts auf die Einzelnen, unabhän-
(e) Code civ. art. 3, ſ. u.
§ 363 am Ende des §.
(f) Code civ. art. 8.
(g) S. o., B. 2 S. 154 fg.
(h) Code civ. art. 11, wo der
Grundſatz der Reciprocität aufge-
geſtellt iſt, welcher jetzt faſt über-
all auf völlig gleiche Rechtsfähig-
keit zwiſchen Inländern und Aus-
ländern führen wird.
(i) Geſetz vom 31. Dec. 1842
(G. S. 1843 S. 15).
7*
|0122 : 100|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
gig von dem Wohnſitz, abzumeſſen (k). In der That aber
iſt dazu noch weniger Schein, als im Franzöſiſchen Recht,
jenes Geſetz betrifft blos die Verhältniſſe des öffentlichen
Rechts, und nach den allgemeinen Preußiſchen Geſetzen iſt
es unzweifelhaft, daß das perſönliche Recht der Einzelnen
durch den Wohnſitz zu beſtimmen iſt, ohne Unterſchied der
Inländer und Ausländer (l).
Auch für das Engliſche, und das darauf gegründete
Amerikaniſche Recht könnte man annehmen, daß der Be-
griff des Staatsverbandes, an ſich verſchieden von dem
des Wohnſitzes, als Grundbegriff angenommen ſein möchte.
Allein Story, welcher ganz von den Begriffen des Engli-
ſchen Rechts ausgeht, erkennt dennoch den Begriff des
Wohnſitzes als Grundlage an, und zwar ganz in dem Sinn,
in welchem derſelbe von den Schriftſtellern über das Römi-
ſche Recht angewendet wird (Chap. 3 und 4).
Es muß alſo in der That der Wohnſitz als allgemei-
ner Beſtimmungsgrund anerkannt werden, und ſo haben
ihn auch die oben angeführten Schriftſteller (§ 358. a) als
(k) Daß die Eigenſchaft des
Preußen durch den Wohnſitz allein
weder begründet noch aufgehoben
werde, ſagt ausdrücklich das an-
geführte Geſetz § 13. 23.
(l) Allg Landrecht Einleitung
§ 23. 24. 34. — Eine Beſtätigung
dieſer Annahme liegt auch in den
zahlreichen Staatsverträgen mit
deutſchen Nachbarſtaaten, in welchen
für die beiderſeitigen Unterthanen
der Wohnſitz ſchlechthin als
Grundlage des ordentlichen per-
ſönlichen Gerichtsſtandes anerkannt
wird, ohne Erwähnung eines da-
von möglicherweiſe verſchiedenen
Unterthanenverbandes. Ich ver-
weiſe nur beiſpielsweiſe auf die
Verträge mit Weimar 1824 Art. 8
und Sachſen 1839 Art. 8 (G. S.
1824 S. 150. 1839 S. 354).
|0123 : 101|
§. 359. Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)
den wahren Grund des Unterthanenverhältniſſes (in Bezie-
hung auf das Privatrecht) anerkannt.
Der hier aufgeſtellte Grundſatz, daß der Wohnſitz als
Beſtimmungsgrund gelten ſoll ſowohl für den Gerichtsſtand
(forum domicilii), als für das örtliche Recht der Perſon
(lex domicilii), iſt für zwei mögliche Fälle nicht ausreichend,
und bedarf alſo für dieſe Fälle einer Ergänzung. Es kann
nämlich geſchehen, daß die Perſon, deren Gerichtsſtand oder
deren örtliches Recht wir zu beſtimmen haben, entweder
einen mehrfachen Wohnſitz hat, oder überhaupt keinen
Wohnſitz (§ 354).
Im erſten Fall entſteht für den Gerichtsſtand keine
Schwierigkeit. Dieſer iſt an jedem der verſchiedenen Orte
des Wohnſitzes völlig begründet, und der Kläger hat unter
ihnen die Wahl, ganz ſo wie nach dem Römiſchen
Recht (§ 355).
Für das örtliche Recht der Perſon iſt eine gleichartige
Beſtimmung nicht möglich, vielmehr muß hier unter den
mehreren Orten des gleichzeitigen Wohnſitzes einer als aus-
ſchließender Beſtimmungsgrund für das örtliche Recht ge-
wählt werden. Ich habe kein Bedenken, dafür denjenigen
Ort vorzugsweiſe anzuerkennen, an welchem zuerſt der
Wohnſitz errichtet war; und zwar deswegen, weil es an
einem hinreichenden Grunde fehlt, in dem örtlichen Recht,
|0124 : 102|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
das die Perſon durch Errichtung des erſten Wohnſitzes ein-
mal begründet hat, eine Aenderung anzunehmen (m).
Der zweite Fall endlich, wofür der aufgeſtellte Grund-
ſatz nicht ausreicht, alſo einer Ergänzung bedarf, iſt der,
wenn die Perſon, für welche wir den Gerichtsſtand oder
das örtliche Recht aufzuſuchen haben, gegenwärtig gar keinen
Wohnſitz hat.
Dieſer Fall kann zunächſt in der Geſtalt auftreten, daß
dieſelbe Perſon einen wahren Wohnſitz früher erweislich
gehabt, dann aber aufgegeben hat, ohne einen neuen zu
wählen. Dann haben wir dieſen früheren Wohnſitz als
Beſtimmungsgrund anzuſehen, und zwar wieder, wie es
ſchon bei anderer Gelegenheit geltend gemacht worden iſt
(Note m), weil es an einem hinreichenden Grunde zur
Annahme einer Aenderung fehlt. — Und von demſelben
Standpunkt aus iſt dann auch der letzte noch übrig blei-
bende Fall zu entſcheiden, der Fall, in welchem jene Perſon
auch in keiner früheren Zeit irgend einen Wohnſitz errich-
tet hat. Denn in einem ſolchen Fall müſſen wir auf einen
Zeitpunkt zurück gehen, in welchem ſie, ohne eigene Wahl,
einen Wohnſitz hatte. Dieſes iſt der Zeitpunkt der Geburt,
in welchem der Wohnſitz des ehelichen Kindes mit dem
(m) Aus demſelben Grunde iſt
ſchon oben eine gleichartige Ent-
ſcheidung getroffen worden, wenn
nach Römiſchem Recht dieſelbe
Perſon an mehreren Orten das
Bürgerrecht hatte (§ 357). — Mit
der hier aufgeſtellten Behauptung
ſtimmt überein Meier de con-
flietu legum p. 16.
|0125 : 103|
§. 359. Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)
Wohnſitz zuſammen fällt, den zu dieſer Zeit der Vater
hat (n).
Dieſes nun iſt die origo im Sinne unſers neueren
Rechts, und ſo iſt auch die Sache, bei Gelegenheit des
forum originis, von beſonnenen Rechtslehrern ſtets auf-
gefaßt worden (o), obgleich dabei oft die Verwechslung mit
dem bloßen Geburtsort (§ 350. a), oft auch eine unklare Vor-
ſtellung von dem Verhältniß dieſes Begriffs zu dem Römiſchen
Begriff von origo, der richtigen Einſicht hinderlich geweſen
iſt. Um in dieſer letzten Beziehung jeder künftigen Ver-
wechslung ſicherer vorzubeugen, will ich den Unterſchied,
wie er aus der ganzen bisher geführten Unterſuchung her-
vorgeht, hier kurz zuſammenſtellen. Die Römer nennen origo
das durch die Geburt eines Menſchen erworbene Stadt-
bürgerrecht deſſelben. Wir nennen origo die Fiction des
Wohnſitzes eines Menſchen an dem Ort, an welchem zur
Zeit der Geburt deſſelben der Wohnſitz des Vaters ge-
weſen iſt.
(n) S. o. § 353. t. (mit der
daſelbſt hinzugefügten näheren Be-
ſtimmung). — Mit dieſer Ent-
ſcheidung ſtimmt überein Voetius
V. 1 § 92 (am Ende des §), der
auch den richtigen Grund angiebt.
— Meier de conflictu legum
p. 14 will auf den Geburtsort
ſehen, der aber als ſolcher ganz
gleichgültig iſt. Thatſächlich wer-
den freilich beide Orte meiſt zu-
ſammen treffen.
(o) Auch die Preußiſche Ge-
ſetzgebung faßt die Sache richtig
in dieſem Sinne auf. Zwar iſt
in dem A. L. R. Einl. § 25 der
Ausdruck: „Ort der Herkunft“ un-
beſtimmt, und könnte von dem
bloßen Geburtsort verſtanden wer-
den. Allein die Allg. Ger. Ordn. I.
2 § 17. 18 erklärt die Herkunft
und das forum originis ganz
ausdrücklich von dem Gerichts-
ſtand der Eltern.
|0126 : 104|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Dieſer Begriff der origo oder der Herkunft im Sinne
des heutigen Rechts iſt nun gleichmäßig anzuwenden auf
den Gerichtsſtand, als forum originis, und auf das örtliche
Recht der Perſon, als lex originis.
Mit dieſer Behauptung ſetzen wir uns auch gar nicht
etwa in Widerſpruch mit den Beſtimmungen des Römiſchen
Rechts, deſſen Entſcheidung über den hier vorliegenden Fall
ich oben einſtweilen dahin geſtellt gelaſſen habe (§ 357).
Vielmehr glaube ich, daß die Römer dieſen Fall ganz eben
ſo entſchieden haben würden, wenn ihnen ein ſolcher Fall
vorgekommen wäre. Dafür ſpricht nicht nur der oben für
das heutige Recht geltend gemachte innere Grund, den ſie
eben ſo gut, als wir, anerkennen konnten, ſondern auch ein
auf demſelben Grunde beruhender beſtimmter Ausſpruch
über einen nahe liegenden, völlig verwandten Fall. Der
Freigelaſſene konnte ſeinen Wohnſitz frei wählen, unabhän-
gig von dem Wohnſitz ſeines Patrons (§ 353. v). Dennoch
wird daneben geſagt, der Wohnſitz eines Freigelaſſenen
werde beſtimmt durch den Wohnſitz des Patrons; eben
ſo ſogar der Wohnſitz der Kinder des Freigelaſſenen, und
ſelbſt der von ihm wiederum freigelaſſenen Sklaven (p).
Der ſcheinbare Widerſpruch dieſer Ausſprüche iſt unbedenk-
lich auf folgende Weiſe zu löſen. Im Augenblick der Frei-
(p) S. o. § 353. u. — Die
entſcheidenden Stellen ſind: L. 6
§ 3, L. 22 pr. ad mun. (50. 1),
und es iſt für das richtige Ver-
ſtändniß dieſer Stellen beſonders
zu vergleichen: Zeitſchrift für ge-
ſchichtliche Rechtswiſſ. B. 9 S. 98.
|0127 : 105|
§. 359. Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)
laſſung hat der bisherige Sklave keinen anderen Wohnſitz,
als den ſeines Patrons, zu deſſen Hausſtand er bis dahin
gehört hat. Er behält dieſen Wohnſitz ſo lange, bis durch
ſeinen freien Willen eine Veränderung hierin vorgenommen
wird, das heißt, ſo lange, als nicht eine ſolche Veränderung
nachgewieſen werden kann. Derſelbe Wohnſitz muß alſo
bis dahin auch fortwährend angenommen werden für die
von ihm abhängigen Perſonen (Kinder und Freigelaſſene),
ſo lange bis auch dieſe wieder eine Veränderung hierin
vornehmen durch Errichtung eines eigenen Wohnſitzes. —
Dieſe Ausſprüche der Römiſchen Juriſten beruhen augen-
ſcheinlich auf demſelben Grunde, welcher oben für die origo
des heutigen Rechts geltend gemacht worden iſt, und ſie
laſſen kaum einen Zweifel übrig, daß die Römer auch für
den Sohn eines Freigebornen, wenn er keinen eigenen Wohn-
ſitz errichtet hatte, denjenigen Wohnſitz angenommen haben
würden, den der Vater zur Zeit der Geburt dieſes Sohnes
hatte.
Es iſt hierbei noch beſonders hervor zu heben ein ſelt-
ſamer, bei neueren Schriftſtellern ganz gewöhnlicher, Kunſt-
ausdruck: domicilium originis (q). Unter Vorausſetzung
des Römiſchen Sprachgebrauchs iſt dieſe Zuſammenſetzung
widerſinnig, da dieſe Ausdrücke zwei verſchiedene, unabhän-
(q) Schilter ex. 13 § 24.
Lautebbach de domicilio § 13.
— Thomasius de vagabundo
§ 44. bis 68 kritiſirt dieſen Kunſt-
ausdruck, verwickelt ſich aber dabei
in unerträgliche, völlig unfrucht-
bare Subtilitäten.
|0128 : 106|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
gige Gründe der Angehörigkeit bezeichneten. Im Sinn
der neueren Juriſten ſoll es heißen: der Wohnſitz eines
Menſchen, der nicht durch eigene freie Wahl, ſondern durch
ſeine Abſtammung begründet wird, alſo gewiſſermaßen auf
einer Fiction beruht.
Man kann nun allerdings in der Kaſuiſtik noch etwas
weiter fortſchreiten, und die Frage aufwerfen, welches Recht
anwendbar ſei auf einen Menſchen, bei dem weder ein
ſelbſtgewählter Wohnſitz, noch ein Wohnſitz des Vaters er-
mittelt werden kann. Dieſe Frage kann unter andern vor-
kommen, wenn dieſer Menſch ſtirbt, und deſſen Inteſtaterb-
folge beſtimmt werden ſoll. Dann wird kaum etwas An-
deres übrig bleiben, als den augenblicklichen Aufenthalt für
den Wohnſitz anzunehmen, alſo (wenn von der Erbfolge
die Rede iſt) den Ort, an welchem er geſtorben iſt. — Bei
Findelkindern mag als Wohnſitz gelten der Ort, wo ſie
gefunden werden, mit Vorbehalt einer Aenderung, wenn
ſie an einem anderen Orte zum Zweck der Erziehung einen
bleibenden Aufenthalt bekommen, ſei es in einer öffentlichen
Anſtalt, oder bei Privatperſonen (r).
(r) Linde Lehrbuch § 89.
|0129 : 107|
§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.
§. 360.
Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.
Wir ſind jetzt an einem Punkt unſrer Unterſuchung an-
gelangt, der einen größeren Abſchnitt bildet, und an welchem
ein Rückblick auf den zurückgelegten Theil räthlich erſcheint.
Der Gang der Unterſuchung war bisher folgender. Es
wurde ein Rechtsgrund aufgeſucht, aus welchem die Unter-
ordnung der einzelnen Perſon unter ein beſtimmtes örlliches
Recht, alſo die Angehörigkeit der Perſon an ein beſtimmtes
Rechtsgebiet, abgeleitet werden könne (§ 345). Als ein
ſolcher Rechtsgrund wurde im Römiſchen Recht anerkannt
das ſtädtiſche Bürgerrecht (origo), in deſſen Ermangelung
aber der Wohnſitz in einem beſtimmten Stadtgebiet (§ 350.
bis 357). Im heutigen Recht trat an die Stelle dieſes
Rechtsgrundes der Wohnſitz in einem beſtimmten Geſetz-
ſprengel (§ 358. 359).
Es wurde aber zugleich anerkannt, daß dieſe Beſtimmung
nur die Grundlage bilden könne für die Löſung unſrer Auf-
gabe, und nicht als eine ſolche Löſung ſelbſt angeſehen
werden dürfe. Denn zu dieſer Löſung genügt nicht die
Betrachtung der Perſon in ihrem abſtracten Daſeyn (ſo
wie in der oben erwähnten Beſtimmung), ſondern es muß
vielmehr die Perſon unter einem ganz anderen Geſichts-
punkt betrachtet werden, nämlich als eintretend in einen
weiten Kreis erworbener Rechte, und als Träger dieſer
|0130 : 108|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Rechte, womit zugleich die Möglichkeit des Eintritts in die
verſchiedenſten Rechtsgebiete gegeben iſt (§ 345).
Anſtatt alſo, daß bisher der Gegenſtand unſerer Unter-
ſuchung die Perſon war, für welche ein Band aufgeſucht
wurde, durch das ſie an eine beſtimmte Oertlichkeit, als an
ein einzelnes Rechtsgebiet, angeknüpft wäre, ſo wendet ſich
jetzt die Unterſuchung auf einen anderen Gegenſtand, auf
die Rechtsverhältniſſe, für welche wir nunmehr eine
ähnliche Verknüpfung mit einer beſtimmten Oertlichkeit, mit
einem einzelnen Rechtsgebiet, feſtzuſtellen haben. Um aber
beide Theile der Unterſuchung auch im Ausdruck einander
näher zu bringen, können wir ſagen, daß in der Folge für
jede Klaſſe der Rechtsverhältniſſe ein beſtimmter Sitz auf-
geſucht werden ſoll.
Dieſen Gedanken verfolgend, will ich hier die Formel
wiederholen, die ſchon oben in anderem Zuſammenhang vor-
läufig aufgeſtellt worden iſt (§ 348), und nach welcher die
geſammte Aufgabe dahin geht,
daß bei jedem Rechtsverhältniß dasje-
nige Rechtsgebiet aufgeſucht werde,
welchem dieſes Rechtsverhältniß ſeiner
eigenthümlichen Natur nach angehört
oder unterworfen iſt, (worin daſſelbe ſeinen
Sitz hat).
Dieſe Formel iſt im Weſentlichen gleich anwendbar auf
die Colliſion von örtlichen Rechten deſſelben Staates und
verſchiedener Staaten.
|0131 : 109|
§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.
Nur durch die vollſtändige Löſung dieſer Aufgabe wird
eine ſichere und erſchöpfende Anwendung der aufzuſtellenden
Grundſätze auf das wirkliche Leben möglich, und von dieſem
Standpunkte aus können wir die bisher geführte Unter-
ſuchung als den theoretiſchen Theil der ganzen Lehre, die
nunmehr folgende als den praktiſchen Theil derſelben be-
zeichnen.
In dieſer Unterſuchung werden einige allgemeine Ge-
ſichtspunkte öfter erwähnt werden müſſen. Eine vorläufige
Zuſammenſtellung derſelben am gegenwärtigen Orte wird
die ſpäter davon zu machende Anwendung weſentlich er-
leichtern und fördern.
1. Schon oben iſt auf den inneren Zuſammenhang auf-
merkſam gemacht worden, welcher zwiſchen dem Gerichts-
ſtand und dem anzuwendenden örtlichen Recht ſchon
bei den Römern beſtand, und auch im heutigen Recht nicht
verſchwunden iſt (§ 356. 359). Dieſer Zuſammenhang
beruhte bei der Perſon auf dem Gehorſam, den dieſelbe,
wie der Obrigkeit, ſo dem örtlichen Recht, zu leiſten hatte,
alſo auf einer gleichartigen Unterwerfung der Perſon unter
beide über ihr ſtehende Gewalten. Eine ähnliche Verwandt-
ſchaft, beſtehend in gleichartiger Unterwerfung, müſſen wir
nunmehr auch für die Rechtsverhältniſſe geltend machen.
Nur darf dieſer innere Zuſammenhang nicht bis zu völliger
Identität ausgedehnt werden. Eine ſolche Annahme wird
|0132 : 110|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſchon durch den Umſtand ausgeſchloſſen, daß in vielen
Fällen ein mehrfacher Gerichtsſtand anwendbar iſt, anſtatt
daß das anwendbare örtliche Recht ſtets nur ein einfaches
ſeyn kann.
2. Das für jedes Rechtsverhältniß anwendbare örtliche
Recht ſteht unter einem ſehr ausgedehnten Einfluß des
freien Willens der betheiligten Perſonen, alſo der frei-
willigen Unterwerfung unter ein beſtimmtes Rechtsgebiet,
obgleich dieſer Einfluß nicht als ein unbegränzter gedacht
werden darf. Dieſelbe freiwillige Unterwerfung iſt auch
wirkſam bei dem für die einzelnen Rechtsverhältniſſe gelten-
den Gerichtsſtand.
Die freie Unterwerfung unter ein örtliches Recht erſcheint
in verſchiedenen Arten und Graden. Zuweilen darin, daß
der Inhalt eines beſtimmten örtlichen Rechts als maaßgebend
frei gewählt wird, anſtatt daß auch wohl ein anderer In-
halt hätte vorgezogen werden können; ſo insbeſondere bei
den obligatoriſchen Verträgen, bei welchen das frei gewählte
örtliche Recht gleichſam als Beſtandtheil des Vertrages
ſelbſt anzuſehen iſt. In anderen Fällen erſcheint jene freie
Unterwerfung in dem Erwerbe eines Rechtes an ſich, ſo
z. B. bei dem Erwerbe eines Grundeigenthums in einem
fremden Rechtsgebiet, wobei der Erwerber zwar freie Macht
hat, den Erwerb zu unterlaſſen, wenn er ihn aber beſchließt,
den Inhalt des örtlichen Rechts über den Grundbeſitz noth-
wendig anerkennen muß.
|0133 : 111|
§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen
Bei dieſer Anwendung eines örtlichen Rechts in Folge
freier Unterwerfung ſind ſtets zwei Fragen zu beachten:
Unter welchen Bedingungen iſt dieſelbe anzunehmen, da es
meiſt an einer ausdrücklichen Erklärung darüber fehlen wird?
In welchen Fällen iſt ſie zuläſſig, oder aber durch entgegen-
ſtehende abſolute Geſetze ausgeſchloſſen?
Der große Einfluß dieſer freiwilligen Unterwerfung auf
das anzuwendende örtliche Recht hat denn auch ſtets ſehr
allgemeine Anerkennung gefunden. Er konnte noch etwa
bezweifelt werden im Römiſchen Recht, nach welchem die
perſönliche Abhängigkeit von einem beſtimmten örtlichen
Recht zunächſt durch das ſtädtiſche Bürgerverhältniß be-
ſtimmt wurde (§ 357), in welches Jeder regelmäßig nicht
durch ſeinen freien Willen, ſondern durch die Geburt ein-
trat (§ 352). Jeder mögliche Zweifel aber verſchwindet
für das heutige Recht, in welchem die perſönliche Abhän-
gigkeit von einem beſtimmten örtlichen Recht durch den
Wohnſitz beſtimmt wird. Denn da der Wohnſitz ſelbſt durch
völlig freie Wahl eines Jeden beſtimmt wird, ſo kann auch
für einzelne Rechtsverhältniſſe die regelmäßige Befugniß zur
freien Unterwerfung unter ein beſtimmtes örtliches Recht
keinem Zweifel unterliegen.
Die hier erwähnte freiwillige Unterwerfung erſcheint
theils als eine einſeitige (wie bei dem Erwerb des Eigen-
thums und anderer dinglicher Rechte), theils als eine in
mehreren Perſonen übereinſtimmend vorhandene (wie bei den
obligatoriſchen Verträgen). Dieſe letzte könnte man geneigt
|0134 : 112|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſeyn, ſelbſt für einen Vertrag, nämlich einen ſtillſchweigen-
den, zu halten. Allein dieſe Auffaſſung würde nicht genau
richtig ſeyn. Zu jedem Vertrag wird vorausgeſetzt ein
poſitives Wollen mit beſtimmtem Bewußtſeyn. Ein ſolches
iſt bei der hier in Frage ſtehenden Unterwerfung keineswe-
ges immer vorhanden. Vielmehr wird hier nur das dem
inneren Bedürfniß Entſprechende als gewollt, in Kraft einer
allgemeinen Rechtsregel, vorſorglich angenommen, ſo lange
nicht ein beſtimmt widerſprechender Wille vorliegt. Von
dieſer, allerdings etwas ſubtilen, Unterſcheidung zwiſchen
der hier angenommenen Unterwerfung und dem Vertrage,
wird unten eine nicht unwichtige Anwendung gemacht
werden (§ 379 Num. 3), in welcher die Unterſcheidung
ſelbſt noch anſchaulicher hervortreten wird.
Wenngleich nun in der Sache ſelbſt große Ueberein-
ſtimmung herrſcht über den großen Einfluß der freiwilligen
Unterwerfung unter ein beſtimmtes örtliches Recht, ſo muß
ich doch Widerſpruch einlegen gegen einen Sprachgebrauch,
der hierin neuerlich geltend gemacht worden iſt. Die
neueren Schriftſteller pflegen nämlich dieſe ſehr allgemeine
Einwirkung des freien Willens als Autonomie zu be-
zeichnen (a), da doch dieſer Kunſtausdruck von früherer Zeit
her vielmehr angewendet worden iſt als Bezeichnung eines
ſehr eigenthümlichen Verhältniſſes in der Entwickelung des
deutſchen Rechts, beſtehend in der Befugniß des deutſchen
(a) Wächter II. S. 35.
Eichhorn deutſches Recht § 34. 37.
Mittermaier deutſches Recht
§ 30. 31. Foelix p. 134.
|0135 : 113|
§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.
Adels und mancher Korporationen, ihre eigenen Verhält-
niſſe durch eine Art innerer Geſetzgebung ſelbſtſtändig zu
ordnen (b). Hier iſt der Ausdruck nicht wohl zu entbehren,
und er wird in ſeiner eigenthümlichen Bedeutung nur ge-
ſchwächt durch die überflüſſige Anwendung auf die ganz
ungleichartigen Verhältniſſe unſerer Lehre, welche an Klar-
heit und Beſtimmtheit dadurch gar Nichts gewinnt. Wollte
man dieſe Anwendung etwa dadurch zu rechtfertigen ſuchen,
daß ſich auch hier die Parteien einem (ſchon beſtehenden)
Rechte unterwerfen, in dieſem Sinne alſo ſich ſelbſt ein
Geſetz geben, ſo gilt ja Daſſelbe in noch höherem Grade
von der freien Wahl des Wohnſitzes, und doch denkt
Niemand daran, die Wahl des Wohnſitzes als Ausfluß der
Autonomie zu bezeichnen. — Hiernach ſcheint es gerathen,
bei der freien Unterwerfung unter irgend ein örtliches Recht,
eben ſo wie bei der Wahl des Wohnſitzes, und bei den
unzähligen anderen freien Handlungen, woraus rechtliche
Folgen entſpringen, den Namen der Autonomie zu ver-
meiden (c).
3. Wenn wir die Behandlung der hier vorliegenden
Fragen im Großen betrachten, wie ſie im Laufe mehrerer
(b) Eichhorn deutſches Recht
§. 20. 25. 30, Rechtsgeſchichte
B. 2 § 346. — Phillips deut-
ſches Recht B. 1 S. 89 B. 2
S. 73. — Puchta Gewohnheits-
recht B. 1 S. 155—160 B. 2
S. 107.
(c) Vgl. auch Puchta Gewohn-
heitsrecht B. 1 S. 158, B. 2 S. 107
Es liegt bei dem hier getadelten
Sprachgebrauch eine ähnliche Ver-
wechſelung zum Grunde, wie die,
durch welche die Entſtehungsgründe
der Rechtsverhältniſſe mit den
Rechtsquellen zuſammengeſtellt wer-
den, ſ. o. B. 1 § 6 Note b.
VIII. 8
|0136 : 114|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Jahrhunderte bei den Schriftſtellern, in der gerichtlichen
Praxis, und ſelbſt in der Geſetzgebung verſchiedener Na-
tionen erſcheint, ſo erſcheint uns darin eine unverkennbare
Umänderung, und zwar ein Fortſchritt, nach einer und der-
ſelben Richtung hin. In früherer Zeit war eine ſcharfe
Abſonderung der einzelnen Staaten gegen einander vor-
herrſchend, an deren Stelle im Laufe der Zeit eine ſtets
wachſende Annäherung getreten iſt. Uebereinſtimmend damit
hat ſich auch unter den Schriftſtellern der verſchiedenen
Nationen eine merkliche Verminderung der früheren Mei-
nungsverſchiedenheiten gezeigt. Von dieſer veränderten
Richtung geben zwei ſchon oben (§ 348) bemerkte That-
ſachen Zeugniß: die ſtets allgemeiner anerkannte gleiche
Rechtsfähigkeit unter Inländern und Ausländern, ſo wie
das zunehmende Einverſtändniß über manche Sätze eines
allgemeinen Gewohnheitsrechts über unſere Fragen. Wird
dieſe bereits angefangene Entwickelung des Rechts nicht
durch unvorhergeſehene äußere Umſtände geſtört, ſo läßt
ſich erwarten, daß ſie zuletzt zu einer völlig übereinſtim-
menden Behandlung unſerer Lehre in allen Staaten führen
wird. Eine ſolche Uebereinſtimmung könnte herbeigeführt
werden auf dem Wege der Wiſſenſchaft und der durch dieſe
geleiteten Praxis der Gerichte. Sie könnte auch bewirkt
werden durch ein unter allen Staaten vereinbartes Geſetz
über die Colliſion der örtlichen Rechte. Ich ſage nicht, daß
ein ſolches wahrſcheinlich wäre, oder auch nur räthlicher
und heilſamer, als die blos wiſſenſchaftliche Vereinbarung.
|0137 : 115|
§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.
Allein der Gedanke an ein ſolches Geſetz kann uns als
Maaßſtab dienen für die Prüfung einer jeden von uns auf-
zuſtellenden Regel über die Colliſion. Wir haben uns da-
bei ſtets zu fragen, ob eine ſolche Regel wohl geeignet
ſeyn dürfte, um in jenes allen Nationen gemeinſame Geſetz
aufgenommen zu werden.
Bei dieſer zunehmenden Annäherung iſt Ein Haupt-
punkt übrig geblieben, an welchen ſich fortwährend die
ſtrengſten Gegenſätze angeſchloſſen haben. Das ältere ger-
maniſche Recht geht aus von einem ſcharfen Unterſchied
zwiſchen dem Eigenthum an unbeweglichen Sachen auf der
einen Seite, und dem beweglichen Eigenthum nebſt allem
übrigen Vermögen (beſonders Obligationen) auf der andern
Seite. Hält man dieſen Unterſchied auch in unſerer Lehre
feſt, ſo wird man dahin geführt, das unbewegliche Ver-
mögen in allen Beziehungen nach dem Recht des Ortes,
wo die Sache liegt, zu beurtheilen, alſo in vielen der
wichtigſten Fälle von dem übrigen Vermögen gänzlich zu
trennen. Giebt man jenen Unterſchied auf, ſo kommt man
dahin, in vielen ſolchen Fällen das Vermögen aller Art
gleich zu behandeln. Dieſer ſehr wichtige Gegenſatz wird
zunächſt bei den dinglichen Rechten, dann aber beſonders
in dem Erbrecht und in dem ehelichen Güterrecht, weiter
unten genauer dargeſtellt werden. Seiner allgemeineren
Natur wegen erſchien jedoch eine vorläufige Erwähnung
deſſelben ſchon an dieſer Stelle räthlich.
Nach einer unbefangenen Betrachtung muß man aner-
8*
|0138 : 116|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
kennen, daß die in neuerer Zeit völlig veränderten Verhält-
niſſe des Vermögens und des Verkehrs dahin führen, jenen
ſtrengen Unterſchied aufzugeben. Die Gegner dieſer Meinung
verkennen zwar nicht die große Schwierigkeit der Ausführung,
die in heutiger Zeit mit dem Beharren bei jenem Unter-
ſchied verbunden ſeyn müſſe. Sie pflegen aber auf dieſen
Umſtand etwas vornehm herab zu ſehen, indem ſie be-
haupten, eine ſolche Unbequemlichkeit dürfe uns nicht
hindern, an richtigen Grundſätzen feſt zu halten. Dieſes
möchte zugegeben werden, wenn die Rede wäre von einer
bloßen Schwierigkeit für die urtheilenden Richter, deren
Mühe und Arbeit alſo durch die ausgleichende Meinung
vermindert werden ſollte, Allein die Schwierigkeiten, und
die aus dieſen entſpringenden Nachtheile treffen die Be-
theiligten ſelbſt, die Parteien, auf welche die Rechtsregeln
anzuwenden ſind, und wir dürfen niemals vergeſſen, daß
deren wahres und gleichförmiges Intereſſe zu fördern, der
Zweck der Rechtsregeln iſt, daß dieſe Regeln ihnen dienen
ſollen, nicht umgekehrt.
Und betrachten wir doch genauer, worin der Grundſatz
beſtehen könnte, der durch die Beſeitigung jener Schwierig-
keit etwa gefährdet würde. — Man könnte gefährdet glau-
ben den Vortheil der eigenen Unterthanen, wenn vielleicht
in einzelnen Fällen ein Grundeigenthum unſres Landes
durch Vererbung nach Rechtsregeln des Auslandes an einen
Ausländer fiele, anſtatt an einen Einheimiſchen. Allein
theils könnte im einzelnen Fall auch gerade der umgekehrte
|0139 : 117|
§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.
Erfolg bei der Anwendung der fremden Rechtsregel eintreten,
theils wird jede ſolche Gefahr, (wenn man dieſen Namen
gebrauchen will) durch die von uns vorausgeſetzte Gegen-
ſeitigkeit völlig beſeitigt. — Oder man könnte glauben, die
Würde und Selbſtſtändigkeit unſres Staates wäre gefährdet,
wenn auf die Vererbung eines einheimiſchen Grundeigen-
thums fremde Rechtsregeln angewendet würden. Allein
auch dieſer Einwurf widerlegt ſich durch die angenommene
Gegenſeitigkeit, die ſich, allgemeiner aufgefaßt, in eine
völkerrechtliche Gemeinſchaft, als Grundlage und letztes
Ziel unſrer ganzen Lehre auflöſt (§ 348).
Thatſächlich nun hat ſich der hier erwähnte Gegenſatz
der Meinungen ſo ausgebildet. Die deutſchen Schriftſteller
haben ſich in neuerer Zeit immer mehr dahin geneigt, den
oben erwähnten ſtrengen Unterſchied zwiſchen unbeweglichem
und anderem Vermögen aufzugeben, und zwar ſo, daß hierin
Romaniſten und Germaniſten ganz einverſtanden ſind. Die
Engliſchen Schriftſteller dagegen mit Einſchluß der Ame-
rikaniſchen (deren Lehre auf demſelben Boden des common
law ſteht) halten jenen Unterſchied in großer Strenge
feſt (d), und ihnen ſcheinen ſich auch die Franzöſiſchen
Schriftſteller anzuſchließen. Mit den Schriftſtellern aber
geht überall die Praxis der Gerichte, nach einer ſehr natür-
lichen Wechſelwirkung, Hand in Hand.
(d) Nicht ohne Einfluß auf
dieſes Feſthalten in England iſt
gewiß das Normänniſche Lehenrecht
geweſen, welches daſelbſt noch jetzt
den Verkehr im Grundeigenthum
großentheils beherrſcht.
|0140 : 118|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
§. 361.
Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.
(Fortſetzung.)
Unſere nächſte Aufgabe geht dahin, für jede Klaſſe der
Rechtsverhältniſſe ein beſtimmtes Rechtsgebiet dem es an-
gehört, alſo gleichſam einen Sitz des Rechtsverhältniſſes,
aufzuſuchen (§ 360). Die Grundlage dieſer Arbeit muß
eine zuſammenſtellende Ueberſicht der Rechtsverhältniſſe
ſelbſt bilden, auf welche jene Unterſuchung gerichtet wer-
den ſoll (a).
Den Mittelpunkt jedes Rechtsverhältniſſes bildet die
Perſon, als der Träger derſelben, und es muß zuvörderſt
der Zuſtand der Perſon an ſich beſtimmt werden. Dieſes
geſchieht durch die Feſtſtellung von zweierlei Bedingungen:
den Bedingungen, unter welchen die Perſon Träger von
Rechtsverhältniſſen ſeyn kann (Rechtsfähigkeit); und
den Bedingungen, unter welchen ſie durch eigene Freiheit
Träger von Rechtsverhältniſſen werden kann (Handlungs-
fähigkeit). Man pflegt dieſe zweifache Fähigkeit den
abſoluten Zuſtand der Perſon zu nennen.
(a) Vgl. oben § 345 und B. 1
§ 53—58. — Die Rechtsfähig-
keit und Handlungsfähigkeit ſind
oben dargeſtellt, B. 2 und 3, das
Actionenrecht B. 5. 6. und 7. —
Uebrigens verſteht es ſich von ſelbſt,
daß die vorliegende Unterſuchung,
ſo wie das ganze Werk, beſchränkt
iſt auf das materielle Privatrecht,
ſo daß davon ausgeſchloſſen bleibt
ſowohl das Prozeßrecht, als das
Strafrecht, ſ. o. B. 1 § 1.
|0141 : 119|
§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)
Um dieſen Mittelpunkt nun (die Perſon an ſich) bilden
ſich die erworbenen Rechte in ihren mannichfaltigen Ge-
ſtalten. Sie laſſen ſich auf zwei Hauptklaſſen zurückführen,
die durch ihre Gegenſtände beſtimmt werden: Familien-
recht und Vermögensrecht.
Zum Vermögensrecht gehören zunächſt die Rechte an
einzelnen Sachen (dingliche Rechte), dann die Rechte an
einzelnen Handlungen beſtimmter Perſonen (Obligationen-
recht, wovon das Actionenrecht als einzelner Zweig zu be-
trachten iſt).
Dieſe, das Vermögen bildende, einzelne Rechte erſchei-
nen als eine künſtliche Einheit im Erbrecht, welches das
Vermögen in ſeinem abſtracten Begriff, von unbeſtimmtem
Inhalt, zum Gegenſtand hat.
Die Familie erſcheint theils in ihrer urſprünglichen Na-
tur, als dauernde Lebensform (reines Familienrecht), theils
in dem wichtigen Einfluß, den ihre einzelne Zweige auf das
Vermögen ausüben (angewandtes Familienrecht). Sie iſt
in den drei Geſtalten zu betrachten, die im heutigen Römi-
ſchen Recht allein noch übrig ſind: Ehe, väterliche Ge-
walt, Vormundſchaft, da das im Römiſchen Recht bis
zur ſpäteſten Zeit enthaltene Sklavenrecht längſt verſchwun-
den iſt.
Aus dieſer Ueberſicht ergiebt ſich, als leitend für den
ganzen folgenden Theil unſerer Unterſuchung, folgende Reihe
der Rechtsverhältniſſe:
|0142 : 120|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit,
Handlungsfähigkeit.)
II. Sachenrecht.
III. Obligationenrecht.
IV. Erbrecht.
V. Familienrecht.
A. Ehe.
B. Väterliche Gewalt.
C. Vormundſchaft.
Für jedes Rechtsverhältniß nun, das einer dieſer Klaſſen
angehört, werden wir die Regel feſtzuſtellen haben, nach
welcher die Colliſion verſchiedener örtlicher Rechte zu ent-
ſcheiden iſt. Der formelle Grundſatz zur Löſung dieſer
Aufgabe iſt bereits (§ 360) dahin angegeben worden, daß
der Sitz (die Heimath) jedes Rechtsverhältniſſes (wohl zu
unterſcheiden von dem Wohnſitz der Perſon) ermittelt wer-
den müſſe; dieſes örtliche Recht ſoll in jedem Fall einer
Colliſion zur Anwendung kommen. Die thatſächlichen Ver-
hältniſſe, die bei dieſer Ermittelung in Betracht kommen
können, unter welchen alſo jedesmal zu wählen ſein
wird, wo es darauf ankommt, den Sitz der einzelnen Rechts-
verhältniſſe feſtzuſtellen, ſind folgende:
Der Wohnſitz irgend einer mit dem Rechts-
verhältniß in Beziehung ſtehenden Perſon.
|0143 : 211[121]|
§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)
Der Ort, an welchem eine Sache liegt, auf die
ſich das Rechtsverhältniß bezieht.
Der Ort einer juriſtiſchen Handlung, welche
geſchehen iſt oder geſchehen ſoll.
Der Ort des Gerichts, welches einen Rechts-
ſtreit zu entſcheiden hat.
Nun ſind aber zu verſchiedenen Zeiten Verſuche ge-
macht worden, auch einen materiellen Grundſatz für die
Entſcheidung aller vorkommenden Colliſionsfragen aufzu-
finden. Ich will hier die wichtigſten Verſuche dieſer Art
zuſammen ſtellen. Die Prüfung eines jeden derſelben wird
davon abhängen, ob er dem angegebenen formellen Grund-
ſatz entſpricht, das heißt, ob aus ihm in der That für
jedes einzelne Rechtsverhältniß der wahre Sitz deſſelben
ſicher erkannt werden kann. Als bedenklich aber müſſen
alle dieſe Verſuche ſchon in vorläufiger Betrachtung des-
wegen erſcheinen, weil ja die einzelnen Rechtsverhältniſſe
von ſo ſehr verſchiedener Natur ſind, daß ſie ſchwerlich
auf eine gemeinſame, durchgreifende Regel über ihren Wohn-
ſitz zurückgeführt werden können.
1. Die Unterſcheidung der Statuta personalia, realia,
mixta (b).
(b) Darauf iſt ſchon oben hin-
gedeutet worden am Schluß des
§ 345 und im § 347. Ausführ-
lich handelt davon Wächter I.
S. 256 — 261. S. 270 — 311.
Vgl. auch Foelix § 19 fg. Story
§ 12 fg.
|0144 : 122|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
In einem ſehr unreifen Anfang findet ſich dieſe Unter-
ſcheidung ſchon bei Bartolus (c), vollſtändiger ausgebil-
det erſt gegen Ende des ſechszehnten Jahrhunderts (d).
Perſonalſtatuten ſollen diejenigen Geſetze ſein,
welche principaliter die Perſon und deren Zuſtände zum
Gegenſtande haben, mögen ſie auch nebenher Beſtimmungen
enthalten, die ſich auf das Vermögen beziehen.
Realſtatuten werden die Geſetze genannt, welche prin-
cipaliter von Sachen (und zwar von unbeweglichen) han-
deln, mögen auch nebenher die Perſonen erwähnt ſein.
Gemiſchte Statuten werden von Einigen die Geſetze
genannt, die keines von beiden (Perſon oder Sache) zum
Gegenſtand haben, ſondern vielmehr die Handlungen (e);
von Anderen die, welche beides (Perſon und Sache zugleich)
umfaſſen. Dieſe zwei Erklärungen ſind einander ſcheinbar
entgegengeſetzt, ſpielen jedoch in einander über.
Die praktiſche Bedeutung dieſer Begriffe iſt nun dieſe.
Man geht aus von der Frage, welche Geſetze auch außer
dem Staatsgebiet des Geſetzgebers anzuwenden ſind, und
man beantwortet dieſelbe in folgender Weiſe. Perſonalſtatuten
ſollen anzuwenden ſeyn auf alle Perſonen, die in dem Ge-
biete des Geſetzgebers ihren Wohnſitz haben, auch wenn
(c) Bartolus in L. 1 C. de
summa trin. Die Hauptſtelle iſt
excerpirt bei Wächter I. S. 272.
bis 274.
(d) Argentraeus Num. 5. 6.
7. 8. Eine kurze, klare Zuſammen-
ſtellung bei I. Voet. §. 2—4.
(e) Auch wohl mit engerer Be-
ſchränkung auf die Form der
Handlungen. I. Voet. § 4.
|0145 : 123|
§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)
ein auswärtiger Richter zu entſcheiden hat. Realſtatuten
auf alle in dem Gebiete des Geſetzgebers liegende Grund-
ſtücke, wiederum ohne Unterſchied, ob ein einheimiſcher oder
ein auswärtiger Richter zu entſcheiden hat; gemiſchte Sta-
tuten endlich auf alle in dem Gebiete des Geſetzgebers vor-
kommende Handlungen, es mag die Entſcheidung in demſelben
Lande zu geben ſeyn oder nicht. — So ſtellt ſich die An-
wendung im Großen und Ganzen, allein im Einzelnen fin-
den ſich unzählige abweichende Meinungen, indem die Grän-
zen der Begriffe ſelbſt, ſo wie der praktiſchen Anwendung
derſelben, bald ſo, bald anders gezogen werden.
Als ganz unwahr läßt ſich dieſe Lehre gewiß nicht ver-
werfen, da ſie der verſchiedenſten Deutungen und Anwen-
dungen empfänglich iſt, unter welchen ſich mitunter auch
ganz richtige wahrnehmen laſſen. Dagegen zeigt ſie ſich als
völlig ungenügend, ſowohl durch Unvollſtändigkeit, als durch
Vieldeutigkeit, und ſie iſt daher durchaus unbrauchbar, als
Grundlage für den bevorſtehenden Theil unſerer Unterſu-
chung zu dienen.
Manche neuere Schriftſteller haben behauptet, es ſey
dieſe Lehre als entſchiedenes allgemeines Gewohnheitsrecht
aufgenommen worden (f). Die Richtigkeit dieſer Behaup-
tung iſt nicht nur unerwieſen, ſondern ſogar unmöglich, da
die Meinungen der Schriftſteller, mit welchen auch die Ent-
ſcheidungen der Gerichte mehr oder weniger zuſammenhän-
(f) Thibaut Pandekten § 38. Kierulff S. 75—82.
|0146 : 124|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
gen, weit aus einander gehen, alſo nicht von einer über-
einſtimmenden Gewohnheit Zeugniß geben können. Als
wahren Beſtandtheil jener Behauptung können wir nur die
Thatſache anerkennen, daß faſt alle Schriftſteller, bis auf
ſehr neue Zeit hin, in der Behandlung unſerer Lehre die
erwähnten Kunſtausdrücke (Perſonal- und Realſtatuten,
nebſt gemiſchten) anwenden. Da ſie aber an dieſe Aus-
drücke ganz verſchiedene Begriffe und Regeln anknüpfen, ſo
iſt der übrig bleibende wahre Beſtandtheil der erwähnten
Behauptung ganz unbedeutend und gleichgültig.
Der oben erwähnte ſcharfe Unterſchied zwiſchen dem
unbeweglichen und dem übrigen Vermögen (§ 360 No. 3)
pflegt mit der ſo eben dargeſtellten Lehre in Verbindung
geſetzt zu werden, und zwar in der Art, daß die Verthei-
diger jenes Unterſchiedes ein beſonderes Gewicht auf den
Begriff der Realſtatuten legen, anſtatt daß für ihre
Gegner dieſer Begriff ein weit geringeres Intereſſe hat.
2. Jedes einzelne Rechtsverhältniß ſoll in der Regel,
im Zweifel, nach dem örtlichen Recht des Wohnſitzes
der Perſon beurtheilt werden, welche das Rechtsverhältniß
betrifft. Dieſes ſoll alſo geſchehen in allen Fällen, für
welche nicht eine beſondere Ausnahme nachgewieſen werden
kann (g).
(g) Eichhorn deutſches Recht
§ 34. Göſchen Vorleſungen B. 1
S. 111. Puchta Pandekten §. 113
und: Vorleſungen über die Pan-
dekten § 113. (Puchta nimmt dieſen
Grundſatz nur an bei der Colliſion
örtlicher Rechte deſſelben Staates).
— Gegen dieſen Grundſatz erklärt
ſich Wächter II. S. 9—12.
|0147 : 125|
§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rchtsverhältniſſen. (Fortſ.)
Auf den erſten Blick ſcheint dieſer Grundſatz im Zu-
ſammenhang zu ſtehen mit der ſehr allgemein, und auch
von mir, anerkannten Regel, nach welcher der Wohnſitz das
Band iſt, das eine Perſon mit einem beſtimmten Rechts-
gebiet verknüpft (§ 359. a). Bei genauerer Betrachtung
aber verhält es ſich damit ganz anders. Das für die Per-
ſon als ſolche geltende Recht gilt darum nicht auch für die
einzelnen Rechtsverhältniſſe, in welche ſich die Perſon be-
giebt, und durch die ſie in die verſchiedenſten Rechtsgebiete
eintreten kann (§ 360). Das örtliche Recht der Perſon
kann zugleich für irgend ein einzelnes Rechtsverhältniß
derſelben anwendbar ſein, und darum zeigt ſich jener Grund-
ſatz in manchen beſonderen Fällen als richtig. Aber ein
ſolches Zuſammentreffen iſt ganz zufällig, der Grundſatz
ſelbſt hat an ſich keinen Anſpruch auf allgemeine Anwend-
barkeit für die einzelnen Rechtsverhältniſſe, und wir können
uns bei dieſen nicht der Nothwendigkeit entziehen, für jedes
derſelben das ihm angemeſſene Rechtsgebiet mit völliger
Unbefangenheit beſonders zu ermitteln.
Dazu kommt noch der wichtige Umſtand, daß die meiſten
Rechtsverhältniſſe nicht eine einzelne Perſon allein, ſondern
mehrere Perſonen zugleich betreffen. In ſolchen Fällen
nun läßt uns jener Grundſatz ganz ohne Entſcheidung, in-
dem aus ihm nicht erkennbar iſt, welche unter dieſen meh-
reren, von dem Rechtsverhältniß betroffenen, Perſonen
durch ihren Wohnſitz das auf das Rechtsverhältniß anzu-
wendende örtliche Recht beſtimmen ſoll.
|0148 : 126|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Endlich muß auch noch Widerſpruch eingelegt werden
gegen die ganze Geſtalt, worin der erwähnte angebliche
Grundſatz auftritt. Er ſoll in der Regel, oder im Zweifel,
gelten, alſo nur dann nicht gelten, wenn die Anwendbar-
keit eines anderen örtlichen Rechts vollſtändig bewieſen
werden kann (h). Damit ſcheint die Geltung des Grund-
ſatzes bevorwortet zu werden für die zahlreichen Fälle, wo-
rin für eine oder die andere Meinung ſcheinbare Gründe,
gewichtige Autoritäten, Präjudizien der Gerichte, vorgebracht
werden. Es wird alſo hier gewiſſermaßen das Verfahren
des Civilprozeſſes angewendet, in welchem Jeder, dem die
Beweislaſt obliegt, den Prozeß verliert, wenn es ihm nicht
gelingt, den Beweis zu führen. Dieſe ganze Art der Be-
handlung kann ich nicht billigen. Vielmehr muß für jedes
einzelne Rechtsverhältniß das Rechtsgebiet, dem es nach
ſeiner Natur angehört, ſelbſtſtändig unterſucht und feſtge-
ſtellt werden, ſo daß in dieſe Unterſuchung keine allgemeine
Präſumtion, fördernd oder hindernd, eingemiſcht werden
darf. Dieſer Widerſpruch übrigens wird nicht blos gegen
den eben erwähnten vermeintlichen Grundſatz erhoben, ſon-
dern er iſt ganz eben ſo auch auf den nachfolgenden an-
wendbar.
3. Jedes einzelne Rechtsverhältniß ſoll in der Regel zu
beurtheilen ſein nach dem Ort des Gerichts, das heißt,
nach den Geſetzen des Landes, dem der darüber urtheilende
(h) So beſonders bei Puchta Pandekten § 113 Note b
|0149 : 127|
§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)
Richter angehört. Dieſer Grundſatz wird übrigens nur
aufgeſtellt für die Colliſion der Rechte verſchiedener Staa-
ten, nicht für die der Particularrechte deſſelben Staates (i).
An ſich aber würde kein Hinderniß ſein, dieſen Grundſatz,
wenn man ihn als wahr anerkennte, auch auf die collidi-
renden Particularrechte eines und deſſelben Staates anzu-
wenden.
Die ſcheinbare Wahrheit dieſes Grundſatzes liegt darin,
daß jeder Geſetzgeber ausſchließende Herrſchaft über ſein
Land hat, in dieſem Gebiet alſo die Einmiſchung irgend
eines fremden Rechts nicht zu dulden braucht; oder, was
von anderer Seite her Daſſelbe ſagt, daß jeder Richter nur
die Geſetze ſeines Staates anzuwenden berufen iſt (k). Dieſer
Grund würde entſcheidend ſein, wenn der vorherrſchende
Geſichtspunkt neuerer Geſetzgebung die eiferſüchtige Hand-
habung der eigenen Autorität wäre. Dieſes aber verſteht
ſich gewiß nicht von ſelbſt; vielmehr entſteht uns nun erſt
die Frage, ob die einheimiſche Geſetzgebung nach ihrem
Geiſt und ihrer Richtung die Anwendung jedes fremden
Rechts auf die mit mehreren Rechtsgebieten in Berührung
(i) Wächter I. S. 261 — 270
(deſſen ganze Schrift nur von den
Geſetzen verſchiedener Staaten han-
delt); Puchta Pandekten § 113.
Vorleſungen § 113. — Dieſe
Meinung wird beſtritten von
Schäffner § 24 — 29. Kori
Archiv B. 27. S. 312.
(k) Zugleich ſteht dieſer Grund-
ſatz ſcheinbar in Zuſammenhang
mit der oben (§ 360) geltend ge-
machten Verwandtſchaft zwiſchen
dem Gerichtsſtand und dem ört-
lichen Recht. Nur wird irriger-
weiſe von den Vertheidigern deſſel-
ben dieſe Verwandtſchaft in wirk-
liche Identität ausgebildet.
|0150 : 128|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſtehenden Rechtsverhältniſſe in der Regel ausſchließt (l).
Ein neuerer Schriftſteller giebt dieſer Anſicht folgenden ſehr
angemeſſenen Ausdruck. Wir wollen einräumen, ſagt er,
daß jeder Richter zunächſt die Geſetze ſeines Landes anzu-
wenden habe. Aber er ſoll ſie doch gewiß nur anwenden
auf die Perſonen und die Fälle, für welche ſie gegeben ſind;
ob nun aber der Geſetzgeber ſein Geſetz hat gelten laſſen
wollen für die an ſich zweideutigen Rechtsverhältniſſe, bei
welchen eine Colliſion örtlicher Rechte eintritt, dieſes her-
auszufinden (ſagt jener Schriftſteller), iſt der allein ſchwie-
rige Punkt (m).
Wenn wir nun die oben angeregte Frage unbefangen
erwägen, ſo müſſen wir uns überzeugen, daß der vorherr-
ſchende Geſichtspunkt der neueren Geſetzgebung und Praxis
nicht in der eiferſüchtigen Handhabung der ausſchließenden
eigenen Herrſchaft beſteht, ja daß ſie vielmehr gerade um-
gekehrt auf die Förderung einer wahren Rechtsgemeinſchaft
gerichtet iſt, alſo auf die Beurtheilung der Colliſionsfälle
nach dem inneren Weſen und Bedürfniß eines jeden ein-
zelnen Rechtsverhältniſſes, ohne Rückſicht auf die Gränzen
der Staaten und ihrer Rechtsgebiete (§ 348).
Erkennen wir aber dieſen vorherrſchenden Geſichtspunkt
der neueren Rechtsentwickelung (in Geſetzgebung und
(l) Dieſen Geſichtspunkt er-
kennt auch der Vertheidiger des
hier zu prüfenden Grundſatzes,
als wahr an. Wächter I. S. 262.
265.
(m) Thöl Handelsrecht B. 1
S. 28.
|0151 : 129|
§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)
Praxis) als wahr an, ſo müſſen wir nothwendig den hier
vorliegenden Grundſatz (daß der Richter in der Regel nach
den Geſetzen ſeines Landes zu entſcheiden habe, wo ihm
ein Colliſionsfall vorkommt) verwerfen. Dieſer Grundſatz
ſtört und hindert ſogar die wünſchenswerthe und annähe-
rungsweiſe zu erreichende Uebereinſtimmung der Ent-
ſcheidung von Colliſionsfällen in verſchiedenen Staaten.
Er könnte daher unmöglich in ein gemeinſames Geſetz aller
Staaten über die Colliſion der örtlichen Rechte (wenn ein
ſolches je verſucht werden ſollte) aufgenommen werden
(§ 360, S. 115).
Es kommt aber noch ein beſonderer Grund hinzu, der
die Anwendung jenes Grundſatzes ſehr bedenklich macht.
In vielen Colliſionsfällen findet ſich der Gerichtsſtand an
verſchiedenen Orten concurrirend begründet, ſo daß die
Wahl des Gerichtsſtandes im einzelnen Falle dem Kläger
frei ſteht. Dadurch wird, wenn jener Grundſatz gelten
ſoll, das in jedem einzelnen Fall anzuwendende örtliche
Recht abhängig gemacht, nicht allein von blos zufälligen
Umſtänden, ſondern ſelbſt von der einſeitigen Willkür einer
Partei. Ein Grundſatz aber, deſſen Anwendung zu dieſem
Erfolge führt, kann unmöglich als gerecht anerkannt wer-
den. Recht auffallend erſcheint die Härte und Willkür,
wozu die Anwendung jenes Grundſatzes führen kann, wenn
man dabei an die Länder denkt, worin der volle Land-
ſaſſiat eingeführt iſt (n).
(n) Eichhorn deutſches Recht § 75. — Als beſonderer Einwurf
VIII. 9
|0152 : 130|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Zum Schluß aber müſſen noch die wahren Beſtand-
theile des hier bekämpften Grundſatzes anerkannt werden,
um ſo mehr, als gerade dieſe Anerkennung vielleicht eine
Verſtändigung über die widerſtreitenden Meinungen erleich-
tern kann.
A. Wenn der Richter ein einheimiſches Geſetz über
die Colliſionsfrage vorfindet, ſo muß er die-
ſes unbedingt befolgen, ſelbſt wenn es mit ſeiner
eigenen theoretiſchen Anſicht nicht übereinſtimmen
ſollte (§ 347. 348). — Weit wird indeſſen die
Befolgung dieſer Regel nicht führen, da die Ge-
ſetze über die Behandlung der Colliſionen meiſt
nur der Ausdruck irgend einer unvollſtändigen,
ungenügenden Theorie ſind.
B. Der Richter kann niemals ein fremdes örtliches
Recht anwenden, wenn dieſe Anwendung durch
die oben gezogenen Gränzen für die Rechtsge-
meinſchaft unabhängiger Staaten ausgeſchloſſen
iſt (§ 349). Die wichtigſten Folgen dieſer Regel
werden unten in dem § 365 zuſammengeſtellt wer-
den. Dadurch wird es zugleich anſchaulich wer-
den, daß die praktiſche Verſchiedenheit zwiſchen
gegen den hier vorliegenden Grund-
ſatz wird auch noch der Umſtand
geltend gemacht, daß in dem Ge-
richtsſprengel des entſcheidenden
Richters mehrere örtliche Rechte
neben einander beſtehen können,
und daß es dann unentſchieden
bleibe, welches derſelben gelten
ſolle. Seuffert Archiv für Ent-
ſcheidungen der oberſten Gerichts-
höfe in den deutſchen Staaten B. 2
Num. 4.
|0153 : 131|
§. 361. Übergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)
der hier bekämpften und der von mir vertheidig-
ten Lehre in der That minder groß iſt, als ſie
auf den erſten Blick erſcheinen mag.
C. Der Richter muß ſtets das Recht ſeines eigenen
Landes anwenden, wenn nicht von einem Ver-
hältniß des materiellen Rechts, ſondern vielmehr
von der gerichtlichen Rechtsverfolgung die Rede
iſt. Dahin gehören nicht blos die für den eigent-
lichen Prozeß geltenden Formen und Regeln, ſon-
dern auch theilweiſe die Regeln des Actionen-
rechts. Hierin aber iſt die Gränzſcheidung oft
ſehr ſchwierig, es muß dabei mit großer Vorſicht
verfahren, und ſtets auf die wahre Natur und
Beſtimmung der einzelnen Rechtsinſtitute geachtet
werden. Gar manche Regel iſt nur ſcheinbar der
Rechtsverfolgung, in der That aber dem Rechts-
verhältniß ſelbſt angehörig.
4. Jedes Rechtsverhältniß ſoll nach dem örtlichen Recht
desjenigen Rechtsgebietes beurtheilt werden, worin es
exiſtent geworden iſt (o).
Dieſer Grundſatz iſt nicht nur willkürlich, weil der Ent-
ſtehungsort an ſich, und abgeſehen von möglichen vermit-
telnden Gründen, nicht das anzuwendende örtliche Recht
beſtimmen kann, ſondern er hat auch blos den Schein eines
materiellen Grundſatzes, während er in der That eine blos
(o) Schäffner § 32. — Vgl. dagegen Wächter II. S. 32.
9*
|0154 : 132|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
formelle Natur hat. Denn der Ort, wo das Rechtsver-
hältniß im juriſtiſchen Sinn exiſtent wird, kann nur durch
genaueres Eingehen in die individuelle Natur jedes Rechts-
verhältniſſes erkannt werden, und dabei iſt die vorherrſchende,
an die Spitze geſtellte Rückſicht auf den Entſtehungsort nur
ſtörend, nicht fördernd.
5. Es ſoll ſtets dasjenige örtliche Recht angewendet
werden, wodurch wohlerworbene Rechte aufrecht erhalten
werden (p).
Dieſer Grundſatz führt auf einen bloßen Zirkel. Denn
welche Rechte wohlerworben ſind, können wir nur erfahren,
wenn wir zuvor wiſſen, nach welchem örtlichen Rechte wir
den vollzogenen Erwerb zu beurtheilen haben.
In dieſer allgemeinen Ueberſicht ſollen zuletzt noch einige
der in neuerer Zeit erſchienenen umfaſſenden Geſetzbücher
für größere Europäiſche Staaten erwähnt werden.
Das Preußiſche Allgemeine Landrecht (q) erkennt den
Grundſatz der Rechtsgleichheit in der Behandlung der In-
länder und Ausländer ſehr beſtimmt an (r), und wo da-
von Ausnahmen vorkommen, da haben dieſe durchaus nicht
den Zweck, dem einheimiſchen Recht eine ausſchließende Herr-
ſchaft auch über Fremde zu verſchaffen, ſondern vielmehr
(p) Vgl. über dieſen Grundſatz Wächter II. S. 1—9.
(q) Vgl. A. L. R. Einleitung § 23—35.
(r) A. L. R. Ein-
leitung § 34, vgl. mit §. 23.
|0155 : 133|
§. 361. Übergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)
den wohlwollenden Zweck, unternommene Rechtsgeſchäfte
gegen die Ungültigkeit zu ſchützen, die etwa aus der Colli-
ſion örtlicher Rechte hergeleitet werden möchte (s). — Sicht-
baren Einfluß auf die Abfaſſung dieſer Stellen des Land-
rechts hat die damals allgemein herrſchende Lehre von Per-
ſonal- und Realſtatuten gehabt (t); und gerade die Man-
gelhaftigkeit dieſer Lehre iſt als Haupturſache der neuerlich
entſtandenen Zweifel und Streitigkeiten über eine der wich-
tigſten Anwendungen geworden, wovon unten in der Lehre
vom Erbrechte (§ 378) die Rede ſeyn wird.
Das Franzöſiſche Geſetzbuch enthält nur wenige Be-
ſtimmungen, die als entſcheidend für Colliſionsfragen ange-
ſehen werden können. Dennoch iſt auch hier die regelmäßig
anzuwendende Rechtsgleichheit in der Behandlung der Ein-
heimiſchen und der Fremden unzweideutig anerkannt (u).
Das Oeſterreichiſche Geſetzbuch (v) nähert ſich dem
Preußiſchen. Es erkennt die Rechtsgleichheit der Inländer
und Ausländer an und nimmt ähnliche wohlwollende Rück-
ſichten auf die Erhaltung der Rechtsgeſchäfte, wie das
Preußiſche Recht (w).
(s) A. L. R. Einleitung § 27.
35.
(t) Vornemann Preuß. Recht
Ausg. 2. B. 1 S. 52. Koch Preuß.
Recht B. 1 S 129.
(u) Code civil art. 3 art. 11.
bis 13. Vgl. oben § 358 Noten d
bis h.
(v) Oeſterreich. Geſetzbuch § 4.
§ 33—37.
(w) Ebendaſ. § 33. 34. § 35.
|0156 : 134|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
§. 362.
I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und
Handlungsfähigkeit.)
Auf die verſchiedenen Zuſtände der Perſon, wodurch die
Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit beſtimmt wird, iſt
nur eine reine, einfache Anwendung desjenigen örtlichen
Rechts möglich, welchem die Perſon ſelbſt durch ihren
Wohnſitz angehört (§ 359).
Dieſer Grundſatz iſt zwar auch nicht ganz ohne Wider-
ſpruch geblieben (a). Allein die Zahl der Anhänger deſſel-
ben iſt ſo überwiegend, daß man ihn dennoch als Gegen-
ſtand einer faſt allgemeinen Meinung bezeichnen kann, ja
daß er durch ein gemeines in Deutſchland geltendes Ge-
wohnheitsrecht beſtätigt worden iſt (b). Auch liegt darin
die eigentliche Bedeutung der Perſonalſtatuten, auf
deren Begriff in früherer Zeit ſo großer Werth gelegt
worden iſt (§ 361 Num. 1).
Indeſſen würden wir irren, wenn wir dieſe Ueberein-
ſtimmung allzu hoch anſchlagen wollten, da ſie großentheils
nur ſcheinbar iſt. Es iſt nämlich folgende Unterſcheidung
ſchon in früherer Zeit verſucht, neuerlich aber mit großem
Nachdruck geltend gemacht worden (c). Man will unter-
(a) So z. B. bei I. Voet,
§ 7. Andere Gegner ſiehe bei
Wächter II. S. 162. 163 und
Foelix p. 121.
(b) Wächter II. S. 162. 163.
175. 177.
(c) Hert. § 5. 8. 11. 22.
Meier, p. 14. Mittermaier
deutſches R. § 30 S. 118. Ausg. 7,
beſonders aber Wächter II. S 163.
S. 175—184.
|0157 : 135|
§. 362. I. Zuſtand der Perſon an ſich.
ſcheiden das bloße Daſeyn der rechtlichen Eigenſchaften
einer Perſon an ſich, und die rechtlichen Wir-
kungen dieſer Eigenſchaften, das heißt, die daraus entſprin-
genden Rechte und Beſchränkungen der Perſon. Die Eigen-
ſchaften an ſich ſollen beurtheilt werden nach dem örtlichen
Recht des Wohnſitzes; die rechtlichen Wirkungen aber nicht
nach dieſem, ſondern nach irgend einem anderen örtlichen
Recht; nach welchem Recht? Davon wird noch ferner die
Rede ſeyn. Von den Vertheidigern dieſer Unterſcheidung
wird daher auch die allgemein übereinſtimmende Meinung,
und das damit zuſammenhängende gemeine Gewohnheitsrecht,
auf die Eigenſchaften an ſich beſchränkt.
Der Sinn dieſer Unterſcheidung wird aus folgenden An-
wendungen klar werden. Zu den Eigenſchaften an ſich ge-
hören die Zuſtände des Bevormundeten, Unmündigen,
Minderjährigen, des Verſchwenders, ferner des Geſchlechts, der
Verheiratheten, der ehelich oder unehelich Gebornen u. ſ. w.
Ob alſo Jemand minderjährig iſt oder nicht, das heißt, die
Gränze der Minderjährigkeit, ſoll zu beurtheilen ſeyn nach dem
Recht des Wohnſitzes. Dagegen gehören die Rechte und
Beſchränkungen des Minderjährigen zu den rechtlichen
Wirkungen, und ſind daher (nach jener Lehre) nicht nach
dem Wohnſitz zu beurtheilen.
Zu allen Zeiten jedoch haben viele Schriftſteller eine
ſolche Unterſcheidung gar nicht gemacht, ſondern vielmehr
die rechtlichen Wirkungen, gerade ſo wie die Eigenſchaften
an ſich, lediglich nach dem durch den Wohnſitz der Perſon
|0158 : 136|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
beſtimmten örtlichen Rechte beurtheilt (d). Und mit dieſen
übereinſtimmend muß auch ich jene Unterſcheidung gänzlich
verwerfen. Ich halte ſie für willkürlich und inconſequent,
da es an einem inneren Grunde, eine ſolche Gränze zu
ziehen, gänzlich fehlt. Sehen wir die Sache genau an,
ſo finden wir keinen anderen Unterſchied, als daß manche
perſönliche Zuſtände mit beſonderen Namen bezeichnet
werden, andere aber nicht; dieſer ganz zufällige, gleichgül-
tige Umſtand nun kann unmöglich einen Grund abgeben,
verſchiedene örtliche Rechte anzuwenden.
Volljährig nennen wir Den, welcher die vollſtän-
digſte, durch das Alter erreichbare, Handlungsfähigkeit be-
ſitzt; das iſt alſo nur ein Name für gewiſſe rechtliche
Wirkungen, für die Verneinung früher vorhandener Be-
ſchränkungen der Fähigkeit. Eben ſo nennen wir minder-
jährig Den, welcher jene vollſtändige Fähigkeit noch
nicht beſitzt; es iſt ein Name für die Verneinung des Zu-
ſtandes vollſtändiger Fähigkeit. Wenn nun aber ein Geſetz
auch bei den Minderjährigen gewiſſe Stufen der Fähigkeit
aufſtellt, ohne dafür einen beſonderen Namen zu gebrauchen,
ſo iſt doch gewiß kein Grund einzuſehen, warum nicht dieſe
Stufen der Fähigkeit, eben ſo wie der Eintritt der voll-
ſtändigen Fähigkeit, nach dem Recht des Wohnſitzes beur-
(d) Argentraeus N. 47. 48.
49. Rodenburg T. 1 C. 3 § 4—10.
Boullenois T. 1 p. 145—198.
Huber § 12. Foelix p. 126 (An-
wendung auf Ehefrauen und Ge-
ſchlechtsvormundſchaft). Viele an-
dere Anhänger dieſer Meinung
ſ. bei Wächter II. S. 167.
|0159 : 137|
§. 362 I. Zuſtand der Perſon an ſich.
theilt werden ſollten. Durch folgendes Beiſpiel wird dieſe
Behauptung noch anſchaulicher werden. Die Vertheidiger
jener Unterſcheidung räumen ein, daß ein Franzoſe, der
21 Jahre alt iſt, auch in Preußen, wo ſonſt 24 Jahre, und
eben ſo in Ländern des Römiſchen Rechts, wo 25 Jahre erfor-
dert werden, als volljährig und völlig handlungsfähig gelten
muß; denn er hat ja durch den art. 488 des Franzöſiſchen
Geſetzbuchs den Titel als majeur erhalten, und daher hat
er eine Eigenſchaft an ſich, auf welche das Recht des
Wohnſitzes anzuwenden ſeyn ſoll. Allein daſſelbe Geſetzbuch
räumt den Minderjährigen theils mit 16, theils mit 15 und
18 Jahren, gewiſſe beſchränktere Fähigkeiten ein, ohne aus
ihnen eine beſondere Klaſſe mit eigenem Namen zu bilden (e).
Das iſt alſo nach jener Lehre keine Eigenſchaft an ſich,
ſondern blos eine rechtliche Wirkung, eine eigenthümlich
eingerichtete Beſchränkung der Perſon, und dabei ſoll das
Recht des Wohnſitzes nicht gelten.
Ein anderes Beiſpiel mag folgendes ſeyn. Nach
manchen Geſetzen bedürfen Frauen zu ihren Rechtsgeſchäften
der Zuziehung eines Geſchlechtsvormundes; nach anderen
Geſetzen bedürfen die Ehefrauen der Genehmigung des
Mannes. Wenn nun eine Frau im Ausland ein Geſchäft
eingeht, ſo müßte (bei conſequenter Anwendung jener
Lehre) nach dem Wohnſitz beurtheilt werden nur das Da-
ſeyn der perſönlichen Eigenſchaft an ſich, das heißt, die
(e) Code civil art. 903. 904. 477. 478.
|0160 : 138|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Frage, ob ſie eine Frau iſt (im Gegenſatz eines Mannes),
oder eine Ehefrau (im Gegenſatz einer Jungfrau oder
Wittwe). Dagegen wäre die nothwendige Zuziehung des
Geſchlechtsvormundes, ſo wie die Genehmigung des Ehe-
mannes, nicht nach dem Wohnſitz zu beurtheilen, da dieſe
Dinge zu den rechtlichen Wirkungen und Beſchränkungen
gehören (f).
Ich komme nun auf die Frage, welches andere örtliche
Recht, als das des Wohnſitzes, von den Vertheidigern jener
Unterſcheidung angewendet wird, wenn die rechtlichen Wir-
kungen der perſönlichen Eigenſchaften zu beurtheilen ſind.
Hierüber finden ſich folgende verſchiedene Meinungen.
In älterer Zeit verſuchte man auch hierin die Real-
ſtatuten anzuwenden, wenn von unbeweglichem Vermögen
die Rede war, ſo daß alſo eine und dieſelbe Perſon ganz
verſchiedene Handlungsfähigkeit haben konnte in Anſehung
ihrer auswärtigen Grundſtücke, und in Anſehung ihres
übrigen Vermögens. Dieſe Meinung findet jetzt in Deutſch-
land wenig Anklang mehr (g).
Andere nehmen an, die Wirkungen der perſönlichen
Eigenſchaften ſeyen zu beurtheilen nach dem Rechte des
Orts, an welchem ein Rechtsgeſchäft vorgenommen wird (h).
(f) So meint es in der That
Wächter II. S. 180, der dadurch
unmittelbar dahin geführt wird,
auf die im Ausland handelnden
einheimiſchen Frauen ganz andere
Colliſionsregeln anzuwenden, als
die wir den bei uns handelnden
Ausländerinnen einräumen.
(g) Wächter II. S. 163. 164.
(h) Meier p. 14. Dagegen
erklärt ſich Mittermaier deut-
ſches Recht § 31 S. 120.
|0161 : 139|
§. 362. I. Zuſtand der Perſon an ſich.
Dieſe Meinung iſt noch aus beſonderen Gründen, unabhän-
gig von dem allgemeinen Widerſtreite, zu verwerfen. Wenn
Der, welcher auswärts einen Vertrag ſchließt, an ſeinem
Wohnſitz mehr Handlungsfähigkeit hat, als am Ort des
Vertrags, ſo kann man nicht annehmen, daß er ſich habe
mit dieſem Vertrag einem örtlichen Rechte unterwerfen
wollen, nach welchem dieſer Vertrag ungültig wäre; die
freie Unterwerfung aber (die ſogenannte Autonomie) iſt ja
der einzige Grund, wodurch das am Ort des Vertrags gel-
tende Recht anwendbar gemacht werden ſoll. Hat aber
umgekehrt der Handelnde an ſeinem Wohnſitz weniger
Handlungsfähigkeit, als am Ort des Vertrags, ſo daß der
am Wohnſitz geſchloſſene Vertrag ungültig wäre, ſo würde
es inconſequent ſein, wenn das heimathliche Geſetz den
Vertrag an ſich verhindern, aber mit Hülfe einer kleinen
Reiſe zulaſſen wollte; vielmehr wird ihn jenes Geſetz eben
ſowohl an der Unterwerfung unter das fremde Recht, als
an dem Vertrag ſelbſt, verhindern. Dabei braucht gar
nicht einmal die Abſicht einer Umgehung des Geſetzes (in
fraudem legis) eingemiſcht zu werden.
Der neueſte Vertheidiger jener Unterſcheidung nimmt
dagegen an, daß die Wirkungen der perſönlichen Eigen-
ſchaften nach dem örtlichen Recht des in jedem einzelnen
Falle urtheilenden Richters zu beurtheilen ſeyen (Note c).
Gegen dieſe Meinung muß ich zunächſt die Gründe geltend
machen, die gegen die ganze Unterſcheidung zwiſchen den
Eigenſchaften an ſich und deren Wirkungen bisher ausge-
|0162 : 140|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
führt worden ſind; dann aber auch die anderen Gründe,
die überhaupt gegen das örtliche Recht des urtheilenden
Richters als durchgreifende Regel ſprechen (§ 361. Nr. 3).
Und hier beſonders muß daran erinnert werden, wie grell
ſich die Anwendung jener Meinung darſtellt in den Ländern,
worin der volle Landſaſſiat gilt. Denn da würde Jeder,
der einen unbedeutenden Grundbeſitz in einem ſolchen Lande
hat, durch die bloße Willkür ſeines Gegners, einem ihm
völlig fremden Rechte in der Beurtheilung der rechtlichen
Wirkungen ſeiner eigenen perſönlichen Zuſtände unterworfen
werden können.
Meine Meinung geht alſo vielmehr dahin, daß Jeder
in ſeinen perſönlichen Zuſtänden ſtets nach dem Recht ſeines
Wohnſitzes zu beurtheilen iſt; ohne Unterſchied, ob darüber
im Inland oder im Ausland geurtheilt werde; eben ſo
aber auch ohne Unterſchied, ob die perſönliche Eigenſchaft
an ſich, oder die rechtliche Wirkung derſelben, beurtheilt
werden ſoll.
Dabei ſollen jedoch keinesweges die praktiſchen Schwie-
rigkeiten verkannt werden, die mit der Anwendung dieſes
Grundſatzes in einzelnen Fällen verbunden ſeyn können.
Bei dem Vertrag mit einem Ausländer mag es zuweilen
ſchwer ſeyn, das örtliche Recht ſeiner Heimath ſicher zu
erkennen; allein dieſe Schwierigkeit wird auch durch die
hier verworfene Unterſcheidung nicht beſeitigt, nur im Um-
fang verringert. Es wird alſo Nichts übrig bleiben, als
in Fällen ſolcher Art genaue Erkundigungen einzuziehen,
|0163 : 141|
§. 363. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
die ja ohnehin für die individuellen Verhältniſſe des Aus-
länders unentbehrlich ſind, ganz unabhängig von dem
fremden örtlichen Recht. Wer aber etwa noch mehr Er-
leichterung und Sicherheit auf dieſem Gebiete verlangen
möchte, der kann dieſelbe nur auf dem Wege poſitiver Ge-
ſetzgebung erwarten. Was hierin geſchehen kann, wird ſo-
gleich bei der Ueberſicht neuerer Geſetze in unſerer Lehre
gezeigt werden.
§. 363.
I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und
Handlungsfähigkeit.) (Fortſetzung.)
Es ſoll nun zuſammengeſtellt werden, was ſich in den
wichtigſten neueren Geſetzbüchern über die hier vorliegende
Frage findet.
I. Das Preußiſche Allgemeine Landrecht ſtellt fol-
genden Grundſatz an die Spitze: „Die perſönlichen Eigen-
ſchaften und Befugniſſe eines Menſchen werden nach den
Geſetzen der Gerichtsbarkeit beurtheilt, unter welcher der-
ſelbe ſeinen eigentlichen Wohnſitz hat“ (a). Dieſe Be-
ſtimmung bezieht ſich auf die Preußiſchen Unterthanen, und
unterſcheidet nicht, ob ſie ihre Befugniſſe (wozu vor allen
die Handlungsfähigkeit gehört) ausüben an ihrem Wohnſitz
ſelbſt, oder an einem andern Ort des Inlandes, der viel-
(a) L. R. Einl. § 23. Die näheren Beſtimmungen folgen in den
§§ 24—27.
|0164 : 142|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
leicht ein anderes örtliches Recht über ſolche Befugniſſe
hat, oder endlich im Ausland.
Für die Ausländer lautet die Beſtimmung ſo: „Auch
Unterthanen fremder Staaten, welche in hieſigen Landen
leben, oder Geſchäfte treiben, müſſen nach obigen Be-
ſtimmungen beurtheilt werden“ (b).
So weit ſtimmt Alles mit den oben aufgeſtellten Grund-
ſätzen überein. Völlig gleiche Behandlung der Einheimiſchen
und der Fremden. Allgemeine Beurtheilung des perſönlichen
Zuſtandes, der Handlungsfähigkeit, nach dem örtlichen Recht,
das an dem Wohnſitz der Perſon beſteht, es mag dieſes
ein einheimiſches oder ein fremdes Recht ſeyn.
Daneben bleiben aber zwei Fragen zu erörtern, welche
ſchon oben für das gemeine Recht aufgeworfen worden ſind.
Zuerſt: Sind hier nur die Eigenſchaften an ſich gemeint,
oder ſollen auch die rechtlichen Wirkungen derſelben nach
dem Rechte des Wohnſitzes beurtheilt werden (§ 362)?
Wäre in dem § 23 blos geſagt: „die perſönlichen Eigen-
ſchaften“, ſo könnte man vielleicht die erſte, alſo die be-
ſchränkende, Bedeutung in jene Worte legen; da aber hin-
zugeſetzt wird: „und Befugniſſe“, ſo muß jene Vor-
ſchrift auch auf die rechtlichen Wirkungen der Eigen-
ſchaften bezogen werden, das heißt: es iſt für Jeden
nach dem Recht ſeines Wohnſitzes zu beſtimmen, nicht
blos, ob er minderjährig iſt oder nicht, ſondern auch,
(b) L. R. Einl. § 34.
|0165 : 143|
§. 363. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
was er als Minderjähriger vermag und nicht vermag.
Wollte man dieſe Behauptung noch bezweifeln, ſo würde
doch jeder Zweifel beſeitigt werden durch einige nachfolgende
Stellen des Geſetzes, worin der nach dem Recht des Wohn-
ſitzes zu beurtheilende Gegenſtand bezeichnet wird als Fä-
higkeit zu handeln (c), und zwar ſo, daß damit nicht
etwas Neues erwähnt, ſondern blos das Vorhergehende mit
einem willkürlich abwechſelnden, völlig gleichbedeutenden,
Ausdruck bezeichnet werden ſoll. Es iſt daher unzweifel-
haft, daß das Preußiſche Recht unter den perſönlichen Ei-
genſchaften und Befugniſſen gerade die Handlungsfähigkeit
mit begreift, und daß es alſo nicht blos die Eigenſchaften
an ſich, ſondern auch die rechtlichen Wirkungen derſel-
ben, nach dem örtlichen Rechte des Wohnſitzes beurtheilt
wiſſen will.
Zweitens iſt ſchon oben auf die praktiſche Schwierigkeit
aufmerkſam gemacht worden, die bei den Verträgen eines
Ausländers in unſerm Lande entſtehen kann, indem vielleicht
das im Auslande, an ſeinem Wohnſitz geltende, Recht bei
uns unbekannt iſt (§ 362). Dieſe Schwierigkeit beſeitigt
das Preußiſche Geſetz durch die Vorſchrift, daß die Hand-
lungsfähigkeit des Ausländers nach dem für das Beſtehen
des Vertrages günſtigſten Geſetz (alſo nach dem leichteſten)
beurtheilt werden ſoll, vorausgeſetzt, daß die Gegenſtände
(c) L. R. Einl. § 27. 35.
|0166 : 144|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
des Vertrags in unſerm Lande ſich befinden (d). Wird
alſo in Berlin ein ſolcher Vertrag geſchloſſen von einem
Franzoſen, der über 21 Jahre alt iſt, ſo iſt der Vertrag gül-
tig nach Franzöſiſchem Recht, welches die Volljährigkeit
auf 21 Jahre ſetzt. Wird der Vertrag ebendaſelbſt geſchloſ-
ſen von dem Einwohner eines unter dem Römiſchen Recht
ſtehenden Landes, welcher über 24 Jahre alt iſt, ſo iſt der
Vertrag gültig nach Preußiſchem Recht, welches 24 Jahre
als Gränze der Minderjährigkeit annimmt. Das erſte iſt dem
allgemeinen Grundſatz gemäß, das zweite iſt eine rein poſitive
Vorſchrift, gegeben in der Abſicht, die Inländer gegen die Folgen
eines unverſchuldeten Irrthums, vielleicht ſelbſt der Unredlichkeit
ihres Gegners, zu ſchützen. Eine gleichartige Beſtimmung
ließe ſich in den Geſetzen jedes Staates denken, und die
wünſchenswerthe Rechtsgemeinſchaft in der Beurtheilung
der Colliſionen würde dadurch nicht beeinträchtigt werden.
II. Das Oeſterreichiſche bürgerliche Geſetzbuch (1811)
beſchränkt ſich auf zwei hierher gehörende Beſtimmungen,
die mit den oben aufgeſtellten Grundſätzen übereinſtimmen.
Die Staatsbürger bleiben auch in Handlungen, die ſie
außer dieſem Staatsgebiete vornehmen, an dieſe Geſetze
(d) L. R. Einl. § 35 „Doch
wird ein Fremder, der in hieſigen
Landen Verträge über daſelbſt be-
findliche Sachen ſchließt, in An-
ſehung ſeiner Fähigkeiten, zu han-
deln, nach denjenigen Geſetzen be-
urtheilt, nach welchen die Hand-
lung am beſten beſtehen kann“.
Der § 26 enthält eine ähnliche,
aber weit weniger wichtige, Be-
ſtimmung. Beide Stellen fehlten
in dem Entwurf, und wurden erſt
ſpäter aufgenommen, mit Rückſicht
auf die oben erwähnte praktiſche
Schwierigkeit. Bornemann
Preuß. Recht B. 1 S. 53 Note l.
|0167 : 145|
§. 363. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
(alſo an die Geſetze ihres Wohnſitzes) gebunden, „inſoweit
als ihre perſönliche Fähigkeit, ſie zu unternehmen, dadurch
eingeſchränkt wird“ (e).
Eben ſo wird für Fremde beſtimmt: „Die perſönliche
Fähigkeit der Fremden zu Rechtsgeſchäften iſt insgemein
nach den Geſetzen des Ortes, denen der Fremde vermöge
ſeines Wohnſitzes ..... unterliegt, zu beurtheilen“ (f).
Aus dieſen Stellen, ſo allgemein ſie auch gehalten
ſind, geht doch unzweifelhaft hervor, daß für Inländer und
Ausländer der perſönliche Zuſtand nach gleichem Grundſatz,
und zwar nach dem örtlichen Rechte des Wohnſitzes zu be-
urtheilen iſt; ferner, daß dieſe Beurtheilung nicht blos zu
beziehen iſt auf die Eigenſchaften an ſich (z. B. ob Jemand
minderjährig iſt oder nicht), ſondern auch auf die rechtlichen
Wirkungen dieſer Eigenſchaften, da in beiden Stellen aus-
drücklich erwähnt wird, die „perſönliche Fähigkeit, ſie (die
Handlungen) zu unternehmen, die perſönliche Fähigkeit.....
zu Rechtsgeſchäften.“
Dagegen findet ſich hier eine beſondere Vorkehrung we-
gen des, vielleicht unbekannten, örtlichen Rechtes, dem der
Ausländer unterworfen ſein kann, nicht (g).
(e) Oeſterr. Geſetzbuch § 4.
(f) Ebendaſ. § 34.
(g) Zwar könnte man hierauf
beziehen den § 35, indem man ihn
in einem ähnlichen Sinne auffaßte,
wie die oben erwähnte Vorſchrift
des Preußiſchen Rechts (Note d.).
Allein bei einer unbefangenen Ver-
gleichung des § 34 mit § 35—37
muß man ſich überzeugen, daß nur
der § 34 von der perſönlichen
Handlungsfähigkeit ſpricht, anſtatt
daß die drei folgenden §§ von der
objectiven Natur und Gültigkeit
der Rechtsgeſchäfte reden.
VIII. 10
|0168 : 146|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
III. Das Franzöſiſche Geſetzbuch enthält über unſre
Frage nur folgende ganz kurze Stelle: „Les lois concer-
nant l’état et la capacité des personnes régissent les Fran-
çais même résidant en pays étranger“ (h). Allein aus
den vorhergegangenen Discuſſionen ſcheint unzweifelhaft her-
vorzugehen, daß man dabei vorausſetzte, auch die perſönliche
Handlungsfähigkeit der Ausländer müſſe nach dem Wohn-
ſitz derſelben, alſo nach dem ausländiſchen Rechte, beurtheilt
werden. Hierüber ſind Schriftſteller und Gerichte in ihren
Entſcheidungen übereinſtimmend (i).
Aus den angeführten Ausdrücken des Geſetzes iſt es
übrigens unzweifelhaft, daß daſſelbe nicht blos auf die Ei-
genſchaften an ſich (l’état), ſondern auch auf die rechtlichen
Wirkungen dieſer Eigenſchaften (et la capacité) zu beziehen
iſt (k). Ferner geht daraus ganz beſtimmt hervor, daß, ſo
lange die Eigenſchaft eines Français nicht aufgehoben iſt,
dieſe Eigenſchaft allein entſcheidet, ſelbſt wenn die Perſon
ihren Wohnſitz in das Ausland verlegt (même résidant en
pays étranger), ſo daß alſo das Franzöſiſche Geſetz den
Wohnſitz als Grundlage der Rechtsfähigkeit und Handlungs-
fähigkeit nicht unbedingt feſt hält (§ 359. e).
(h) Code civil art. 3.
(i) Foelix p. 44.
(k) Foelix
p. 126 (ſ. o. § 362. d).
|0169 : 147|
§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
§. 364.
I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und
Handlungsfähigkeit.) (Fortſetzung.)
Es iſt bisher der Grundſatz durchgeführt worden, daß
der perſönliche Zuſtand an ſich, der vorzugsweiſe in der
Handlungsfähigkeit beſteht, nach dem an dem Wohnſitz
der Perſon geltenden örtlichen Rechte beurtheilt werden
müſſe. Dieſem Grundſatz aber werden nicht ſelten von
Denen, die ihn im Allgemeinen anerkennen, mancherlei Ein-
ſchränkungen an die Seite geſtellt, die nunmehr zu prüfen
ſind, und die theilweiſe die Natur wahrer Ausnahmen an
ſich tragen, anſtatt daß andere nur auf der Anerkennung
natürlicher Gränzen beruhen, die nur vielleicht verkannt
werden möchten. Dieſe Einſchränkungen werden hier theils
als gegründet angenommen, theils aber verworfen werden
müſſen.
Von manchen Seiten wird ein Unterſchied behauptet
zwiſchen einer allgemeinen und beſonderen Fähigkeit
und Unfähigkeit zu juriſtiſchen Handlungen. Die erſte ſoll
ſich auf Rechtsgeſchäfte aller Art beziehen, und dabei ſoll
das örtliche Recht des Wohnſitzes zur Anwendung kommen;
die zweite ſoll nur auf beſtimmte, einzelne Rechtsgeſchäfte
gehen, und dabei ſoll nicht das Recht des Wohnſitzes an-
wendbar ſein, ſondern dasjenige örtliche Recht, in deſſen
10*
|0170 : 148|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Gebiet das einzelne Rechtsgeſchäft vorgenommen wird. —
Dieſe Unterſcheidung iſt aber an ſich willkürlich und grund-
los, da die an einen beſtimmten Zuſtand der Perſon ge-
knüpfte Unfähigkeit in beiden Fällen dieſelbe Natur hat;
auch iſt hierin eine feſte Gränzbeſtimmung, alſo eine ſichere
Anwendung kaum möglich (a). — In folgenden Fällen
etwa kann von dieſer Unterſcheidung Gebrauch gemacht
werden.
1. Nach dem Römiſchen Recht ſind Frauen, ihres bloßen
Geſchlechts wegen, unfähig zu wirkſamen Bürgſchaften
(Sc. Vellejanum). Wenn nun eine Frau in einem
fremden Lande eine Bürgſchaft übernimmt, ſo entſteht
die Frage, nach welchem örtlichen Rechte die Gültig-
keit derſelben zu beurtheilen iſt. Nach der eben dar-
geſtellten Unterſcheidung wäre die Bürgſchaft ungültig,
wenn am Ort des Vertrages das Römiſche Recht gälte,
möchte auch am Wohnſitz der Bürgin ein anderes Recht
beſtehen. Nach der richtigen Meinung iſt die Bürgſchaft
ungültig, wenn das Römiſche Recht am Wohnſitz der
Bürgin gilt, ohne Rückſicht auf das am Ort des Ver-
trags beſtehende Recht. Wollen wir hierin den früher
verbreiteten Kunſtausdruck anwenden, ſo müſſen wir
ſagen: Das Sc. Vellejanum iſt ein reines Perſonal-
ſtatut (b).
(a) Aus beiden Gründen ver-
wirft dieſe Unterſcheidung auch
Wächter II. S. 172.
(b) Dieſer Ausdruck wird in
der That gebraucht von folgenden
Schriftſtellern, welche die hier auf-
|0171 : 149|
§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
2. Gleichfalls nach dem Römiſchen Recht iſt jede in
väterlicher Gewalt ſtehende Perſon unfähig, ohne Wiſſen
des Vaters ein gültiges Gelddarlehen aufzunehmen (Sc.
Macedonianum). Dieſe Vorſchrift hat eine ganz ähn-
liche Natur, wie die eben erwähnte Vorſchrift über
die Bürgſchaft der Frauen: ſie iſt ein reines Perſonal-
ſtatut. Die Gültigkeit des Darlehens wird alſo davon
abhängen, ob am Wohnſitz des Schuldners das Sc.
Macedonianum als geltendes Recht beſteht. Das Recht
des Ortes, wo das Darlehen geſchloſſen wird, iſt dabei
gleichgültig.
3. Die wichtigſte und ſchwierigſte Anwendung jener
Unterſcheidung iſt die auf das Wechſelrecht. Denn für
kein Geſchäft beſtehen ſo verſchiedene örtliche Rechte,
wie über die perſönliche Wechſelfähigkeit, und kein
Rechtsgeſchäft verbreitet ſeine Wirkſamkeit in ſo ſchran-
kenloſer Ausdehnung Nach gemeinem Recht nun ſtellt
ſich die Sache ſo: Die Anhänger jener Unterſcheidung
müſſen die allgemeine Fähigkeit des Ausſtellers (z. B.
Volljährigkeit) nach dem Recht des Wohnſitzes, die be-
ſondere nach dem Recht des Ausſtellungsortes beſtimmen (c).
geſtellte Meinung (mit Widerlegung
der Gegner) vertheidigen: Boul-
lenois T. 1 p. 187. Chabot de
l’Allier questions transitoires
Paris 1809 T. 2 p. 352.
(c) Schäffner S. 120 hat
hierin eine abweichende Meinung.
Nach ihm muß der Ausſteller
wechſelfähig ſein: 1. am Ort der
Ausſtellung, 2. an ſeinem Wohn-
|0172 : 150|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Nach der richtigen Meinung wird das örtliche Recht des
Wohnſitzes allein entſcheiden.
Die ſo eben erwähnte ganz eigenthümliche Natur des
Wechſelgeſchäfts dürfte gerade hier ein erleichterndes Ein-
greifen poſitiver Geſetzgebung rechtfertigen, da es dem Käu-
fer eines Wechſels oft ſchwer, ja unmöglich ſein wird, die
verſchiedenen Geſetze über Wechſelfähigkeit zu kennen, unter
welchen die einzelnen durch den Wechſel bezeichneten
Schuldner (Ausſteller, Indoſſanten, Acceptanten) nach
ihrem Wohnſitz ſtehen, ſo wie die auf die Heimath be-
züglichen perſönlichen Verhältniſſe dieſer Schuldner (d).
Indeſſen iſt doch die Schwierigkeit im wirklichen Leben
geringer, als ſie auf den erſten Blick ſcheinen mag. Der
vorſichtige Käufer eines gezogenen Wechſels (e), wenn auch
dieſer durch mehrere Welttheile gelaufen und mit zahlreichen
Unterſchriften bedeckt iſt, wird meiſt nur auf wenige Unter-
ſchriften ſehen, die ihm aus eigener Erfahrung als ſicher
bekannt ſind, und neben welchen ihm alle übrigen gleich-
gültig ſein können. — Für ganz Deutſchland aber iſt die
Schwierigkeit ungemein vermindert worden durch die neue
ſitz, wenn er da verklagt werden
ſoll, weil ſonſt ein abſolutes Ge-
ſetz die Klage hindern würde. Er
iſt irre geführt worden durch un-
richtige Auffaſſung der Vorſchriften
des Preußiſchen Rechts, wovon
ſogleich die Rede ſeyn wird.
(d) Darauf gründet ſich im
Preußiſchen Recht eine abweichen-
de, das Wechſelgeſchäft erleichternde,
Beſtimmung über die perſönliche
Fähigkeit (ſ. u. Noten l. m.)
(e) Bei trockenen Wechſeln iſt
ohnehin, wegen der großen Ein-
fachheit des Geſchäfts, die Er-
mittelung der Wechſelfähigkeit we-
nig ſchwierig.
|0173 : 151|
§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
deutſche Wechſelordnung vom 27. November 1848 (f), die
gleich im erſten Artikel Jeden, der überhaupt Verträge
ſchließen kann, für wechſelfähig erklärt, alſo alle bisher be-
ſtehenden beſonderen Einſchränkungen der Wechſelfähigkeit
aufhebt (g). Im Verhältniß zum Ausland erkennt dieſe
Wechſelordnung den hier aufgeſtellten Grundſatz an, daß
die perſönliche Fähigkeit nach dem Wohnſitz jedes Ver-
pflichteten zu beurtheilen iſt; nur mit der ſehr zweckmäßigen
praktiſchen Erleichterung, daß Der, welcher im Auslande
eine Wechſelverpflichtung eingeht, vom Gericht dieſes Lan-
des als wechſelfähig zu behandeln iſt, wenn ihn auch nur
das Geſetz dieſes Landes als fähig annimmt (Art. 84).
Es würde übrigens ganz unrichtig ſein, den Fall eines
Wechſelſchuldners, dem das Recht ſeines Wohnſitzes die
Wechſelfähigkeit verſagt, mit dem Fall gleich zu ſtellen,
wenn am Ort des Wohnſitzes (oder auch am Ort der Aus-
ſtellung) kein Wechſelrecht gilt. In dieſem Fall iſt der
Ausſteller, Indoſſant, Acceptant, für wechſelfähig zu halten,
wenn er nur überhaupt handlungsfähig iſt. Aber eine
Wechſelklage freilich wird gegen Niemand angeſtellt
werden können an einem Orte, wo kein Wechſelrecht gilt,
weil bei der Wechſelklage Alles auf das örtliche Prozeßrecht
(f) Vgl. die Preußiſche Geſetz-
ſammlung 1849 S. 51. Das Ge-
ſetz hat in Preußen Geſetzeskraft
vom 1. Febr. 1849 ab.
(g) Der Art. 3 beſtimmt aus-
drücklich, daß jede auf einem
Wechſel befindliche Unterſchrift für
ſich verbindliche Kraft hat, unab-
hängig von der Gültigkeit der
übrigen Unterſchriften, welche Be-
ſtimmung beſonders für die per-
ſönliche Wechſelfähigkeit wichtig iſt.
|0174 : 152|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ankommt. Die aus dem ausgeſtellten Wechſel herzuleitende
perſönliche Verbindlichkeit ſelbſt wird dadurch nicht ausge-
ſchloſſen, wenngleich ſie nicht (wenigſtens am Wohnſitz des
Ausſtellers) im Wechſelprozeß verfolgt werden kann.
Eine beſondere Rückſicht verdient in dieſer Beziehung die
Preußiſche Geſetzgebung. Wenn wir die allgemeinen Regeln
derſelben über die perſönliche Handlungsfähigkeit (§ 363
Nr. I.) unbedingt anwenden auf die Wechſelfähigkeit, ſo
finden wir folgendes Ergebniß. Der Inländer iſt in ſeiner
Wechſelfähigkeit nach Preußiſchem Recht (dem Recht ſeines
Wohnſitzes) zu beurtheilen, er mag im Inland oder Ausland
ein Wechſelgeſchäft vornehmen. Der Ausländer, der in
Preußen Wechſelgeſchäfte vornimmt, wird nach dem hei-
mathlichen oder dem Preußiſchen Rechte beurtheilt, je nach-
dem das eine oder das andere die Gültigkeit des Geſchäfts
mehr begünſtigt (§ 363 d). — Bei dieſer reinen Anwen-
dung der allgemeinen Grundſätze auf das Wechſelgeſchäft
iſt nun aber unſere Geſetzgebung nicht ſtehen geblieben, ohne
jedoch ſtark davon abzuweichen. Zu einiger Abänderung
konnte ſie aber auch in der That bewogen werden, nicht
nur durch die oben dargelegte ganz eigenthümliche Natur
des Wechſelgeſchäfts überhaupt, ſondern auch durch die ganz
beſonderen Beſchränkungen der Wechſelfähigkeit, die ſie nö-
thig fand, und worin ſie einen eigenen Weg, verſchieden
von anderen Geſetzgebungen, einſchlug. Betrachten wir
zunächſt dieſe Beſchränkungen, wie ſie bis auf die neueſte
Zeit im Preußiſchen Recht beſtanden.
|0175 : 153|
§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
Wechſelfähig ſollten nur folgende Klaſſen von Perſonen
ſeyn: Die, welche die Rechte eines Kaufmannes hatten,
ferner Rittergutsbeſitzer, Domänenpächter, und Die, welchen
von ihrem perſönlichen Richter die Befugniß zum Wechſel-
geſchäft beſonders beigelegt war; alle übrige Einwohner
(alſo die ungeheure Mehrzahl aller Einwohner überhaupt)
ſollten nicht wechſelfähig ſeyn (h). Beſonders ſchwierig
aber wurde die Erkennbarkeit jener Eigenſchaft durch die
geſetzliche Beſtimmung, daß da, wo Innungen der Kaufleute
beſtanden, nur die Mitglieder dieſer Innungen kaufmänniſche
Rechte haben, alſo wechſelfähig ſeyn ſollten (i). Der Grund
dieſer ſehr eigenthümlichen Beſchränkung war ohne Zweifel
die vormundſchaftliche Fürſorge für Die, welche etwa aus
Leichtſinn Schulden zu machen geneigt ſeyn möchten. Das
Wechſelgeſchäft wurde, wegen der damit verbundenen ſtren-
gen Execution, als beſonders gefährlich angeſehen; und der
Gebrauch dieſes gefährlichen Inſtruments zur künſtlichen
Erhöhung des Credits ſollte allen Denen verſagt werden,
denen es nicht, wegen ihrer beſonderen gewerblichen Ver-
hältniſſe, unentbehrlich wäre (k).
(h) A. L. R. II. 8 § 715—747.
(i) A. L. R. II. 8 §. 480.
Dieſe Beſtimmung wurde außer
Kraft geſetzt durch das Gewerbe-
geſetz vom 7. Septbr. 1811, nach
welchem der Gewerbeſchein zu allen
kaufmänniſchen Rechten genügen
ſollte; dagegen wurde ſie für die-
jenigen Städte wiederhergeſtellt,
welche ein beſonderes Statut für
die Kaufmannſchaft erhielten, wie
Berlin, Stettin, Danzig, Königs-
berg, Magdeburg u. ſ. w. Vgl.
Ergänzungen des A. L. R. von
Gräff, Koch, Rönne, Simon,
Wentzel (häufig das Fünfmänner-
buch genannt) B. 4 S. 758—760
Ausg. 2.
(k) Koch Preuß. Recht B. 1
§ 415 B. 2 § 617 N. 2. 3. trennt
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Nach dieſer Vorbereitung gehe ich über zu den Beſtim-
mungen über das bei Beurtheilung der Wechſelfähigkeit
anzuwendende örtliche Recht. Zuerſt von den Inländern.
Wenn dieſe im Inlande Wechſelgeſchäfte vornehmen, ſo
ſind ſie natürlich an die Beſchränkungen des Preußiſchen
Rechts gebunden. Thun ſie es im Auslande, ſo müßte ei-
gentlich, nach dem allgemeinen Grundſatz, Daſſelbe gelten;
ſie müßten nach dem Rechte des Wohnſitzes beurtheilt werden,
alſo nach dem Preußiſchen Geſetz über die beſchränkte Wechſel-
fähigkeit. Dieſes aber ſoll hier anders gehalten werden; ihre
Wechſelfähigkeit ſoll beurtheilt werden nach dem Orte des verhan-
delten Geſchäftes (l), und nur ausnahmsweiſe nach Preußiſchem
Rechte, wenn nämlich beide Contrahenten Preußen ſind (m). —
Wie iſt es nun zu erklären, daß das Landrecht hier von dem allge-
bei Wechſeln gänzlich die allge-
meine Handlungsfähigkeit von der
Wechſelfähigkeit; dieſe letzte ſey
nach Preußiſchem Recht eine Ge-
werbsberechtigung, ein Privilegium
der Kaufleute. Dieſe Auffaſſung
ſcheint mir gezwungen, und erklärt
auch nicht einmal die beſonderen
Vorſchriften über das örtliche Recht
bei der Wechſelfähigkeit (ſ. u.
Note q).
(l) A. L. R. II. 8 § 936
„Außerhalb Landes vorgenommene
Wechſelgeſchäfte ſind nach den Ge-
ſetzen des Orts, wo ſie verhandelt
worden, zu beurtheilen“. Dieſe
Worte allein könnten auch etwa
blos von der Einrichtung des
Wechſels u. ſ. w., und nicht von
der perſönlichen Wechſelfähigkeit,
verſtanden werden. Die Beziehung
auf dieſe letzte aber wird unzweifel-
haft durch den augenſcheinlichen
Gegenſatz im § 938: „Hat aber
ein Landeseinwohner mit einem
andern Landeseinwohner,
welcher nicht wechſelfähig
iſt, ein Wechſelgeſchäft geſchloſſen:
ſo iſt ſelbiges nur eben ſo
zu beurtheilen, wie wenn
es innerhalb Landes ge-
ſchloſſen wäre“.
(m) A. L. R. II. 8 § 938
(abgedruckt in Note l). — Daß
dieſe Auffaſſung die richtige ſey,
wurde früherhin beſtritten, in
|0177 : 155|
§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
meinen Grundſatz des § 23 der Einleitung (§ 363. a) ab-
geht, und denſelben nur noch ausnahmsweiſe für den Fall
gelten läßt, wenn zwei Preußen mit einander ein Wechſel-
geſchäft abſchließen? Der Grund dieſer Abweichung liegt,
wie ich glaube, in der ganz eigenthümlichen Beſchaffenheit
der Preußiſchen Geſetzgebung über die Wechſelfähigkeit.
Wenn ein Berliner in Paris an einen Franzoſen einen
Wechſel ausſtellt, ſo wäre es gewiß höchſt unbillig, von
dem Franzoſen, der über die künftige Wechſelklage in Ber-
lin Gewißheit haben wollte, zu verlangen, nicht nur, daß
er jene Geſetze kenne (welches noch etwa auszuführen wäre),
ſondern auch daß er unterſuche, ob der Ausſteller Mitglied
der Berliner Kaufmannscorporation, oder Rittergutsbeſitzer,
oder Domänenpächter ſei, welche Eigenſchaften gewiß nicht
leicht erkennbar ſind. Eine ſolche Unbilligkeit würde ſich
aber ſogleich empfindlich beſtraft haben, indem dadurch der
Wechſelcredit der im Ausland befindlichen Preußen unter-
graben worden wäre. Daher war es räthlich, ja faſt noth-
wendig, in dieſem Fall den allgemeinen Grundſatz aufzuge-
ben (n). Dagegen mußte derſelbe ausnahmsweiſe beibehalten
neuerer Zeit iſt es allgemein aner-
kannt worden. Es ſpricht dafür:
1. Ein Gutachten des Staatsraths
von 1834, 2. Ein Erkenntniß des
Obertribunals vom 21. Nov. 1840,
Entſcheidungen des Obertribunals
von Simon B. 6 S. 288—300,
wo auch ein Auszug des vorher
erwähnten Staatsrathsgutachtens
S. 289 abgedruckt iſt.
(n) Anders wird dieſe Ab-
weichung erklärt in dem Staats-
rathsgutachten und dem Erkennt-
niß des Obertribunals (Note m),
indem an beiden Orten die Unter-
ſcheidung der allgemeinen und
beſonderen Bedingungen der
Handlungsfähigkeit zum Grunde
gelegt wird, gegen welche ich mich
im Eingang dieſes § ausgeſprochen
|0178 : 156|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
werden für den Fall von zwei mit einander im Ausland
verhandelnden Preußen, weil ſonſt das Preußiſche Geſetz
über die beſchränkte Wechſelfähigkeit durch eine Reiſe über
die Gränze allzuleicht umgangen werden konnte. — Es
muß aber noch hinzugefügt werden, daß die eben erwähnte
Abweichung von den allgemeinen Grundſätzen an die Ana-
logie einer anderen Beſtimmung unſeres Geſetzes ſich an-
ſchließt, nämlich des § 35 der Einleitung zum A. L. R.
Was hier für die Ausländer in Preußen vorgeſchrieben iſt,
wird dort auf die Preußen im Ausland übertragen, und
dazu war gerade im Wechſelrecht, wie ſo eben bemerkt,
dringender Grund vorhanden. Man hätte aber auch dieſe
Uebertragung allgemein vornehmen können, für alle Rechts-
verhältniſſe, ohne den Grundſätzen allzuviel zu vergeben.
Ich betrachte nun ferner die Beſtimmungen über die
Wechſelfähigkeit der Ausländer, die im Preußiſchen Staate
Wechſelgeſchäfte unternehmen wollen. Hier lauten die Be-
ſtimmungen des Geſetzes ſo:
§ 931. Fremde Reiſende ſind in Anſehung der Fähig-
keit, Wechſelverbindlichkeiten zu übernehmen, den
Einſchränkungen des hieſigen Wechſelrechts nicht
unterworfen.
habe. — Wieder anders erklärt ſie
Koch (Note k); da nämlich die
ausſchließende Wechſelfähigkeit der
Kaufleute in unſrem Geſetz als
Privilegium des Kaufmannsſtandes
gedacht werde, ſo könne davon
im Ausland keine Anwendung ein-
treten.
|0179 : 157|
§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
§ 932. Uebrigens aber werden die von ihnen in hieſigen
Landen vorgenommenen Wechſelgeſchäfte, nach
der Vorſchrift der Einleitung § 38. 39. (o) be-
urtheilt.
Es liegt blos an der nicht ganz glücklichen Faſſung,
daß der § 931 das Anſehen hat, und auch wohl von
Schriftſtellern ſo aufgefaßt worden iſt, als ſollte darin eine
Abweichung von den allgemeinen, in der Einleitung zum
A. L. R. aufgeſtellten Grundſätzen vorgeſchrieben werden.
Es iſt aber vielmehr eine reine Anwendung derſelben beab-
ſichtigt, beide Paragraphen waren eigentlich zu entbehren,
und ohne ſie würde ganz Daſſelbe eingetreten ſeyn, welches
aus ihnen hervorgehen ſoll. Der § 932 ſagt Dieſes für
die objectiven Erforderniſſe des Wechſels ausdrücklich. Aber
auch von der perſönlichen Wechſelfähigkeit, von welcher der
§ 931 ſpricht, muß Daſſelbe behauptet werden. Denn der
§ 931 enthält nur den negativen Satz, daß die Einſchrän-
kungen des hieſigen Wechſelrechts den Ausländer nicht
binden ſollen. Darin liegt aber gar nicht, daß er nun
unbedingt wechſelfähig ſeyn ſollte; vielmehr ſoll er (ganz
nach dem § 35 der Einleitung), in Anſehung der Wechſel-
fähigkeit, nach demjenigen Geſetz beurtheilt werden, welches
(o) Dieſes Allegat iſt falſch;
es muß heißen: 34. 35. Vgl.
Kamptz Jahrb. B. 43 S. 445.
Ergänzungen ꝛc. von Gräff ꝛc. B. 4
S. 804. — Der Irrthum beruht
nicht auf einem Druckfehler, ſondern
darauf, daß man die Paragraphen-
zahlen aus dem Geſetzbuch (1792)
beibehalten hatte, die aber im A.
L. R. (1794) hier, wie an mehreren
Orten, abgeändert worden waren.
|0180 : 158|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
die leichteſten Bedingungen ſtellt (p). Dieſe in der That
beabſichtigte Vorſchrift konnte ohne beſondere Gefahr ſo
ausgedrückt werden, wie es hier geſchehen iſt, weil man
im Voraus gewiß ſeyn konnte, daß kein fremdes Geſetz in
der Beſchränkung der perſönlichen Wechſelfähigkeit ſo weit
gehen würde, wie das Preußiſche. Unter dieſer Voraus-
ſetzung aber reichte der negative Satz des § 931 für den
praktiſchen Zweck völlig aus, obgleich ein einfacherer Aus-
druck der eigentlichen Abſicht wünſchenswerth geweſen wäre
zur Verhütung von Mißverſtändniſſen. — Iſt nun aber,
wie ich glaube, der § 931 keine abweichende Vorſchrift,
ſondern nur eine einfache Anwendung der allgemeinen
Grundſätze, ſo bedarf es für ihn auch keiner beſonderen
Erklärung und Rechtfertigung (q). Höchſtens könnte man
fragen, warum der vormundſchaftliche Schutz gegen die
Gefahren der Wechſelſtrenge, um deſſen Willen das Land-
(p) Vgl. Ergänzungen ꝛc. von
Gräff ꝛc. B. 4 S. 804. — Der
Unterſchied vom § 35 der Ein-
leitung muß allerdings eintreten,
daß bei dem Wechſel nicht die
Einſchränkung des § 35 hinzuge-
dacht werden darf, nach welcher
das Geſchäft nur die im Inland
befindlichen Sachen betreffen darf.
Dieſer Unterſchied liegt aber in
der Natur und dem Gegenſtand
des Wechſels.
(q) Die Anſicht von Koch
(ſ. o. Note k) iſt, wie ich glaube,
mit dieſer Beſtimmung nicht wohl
vereinbar. Es läßt ſich denken,
daß dem Preußiſchen Handelsſtand
der aus dem Wechſelgeſchäft zu
ziehende Vortheil als ein Privile-
gium, mit Ausſchließung der
übrigen Landeseinwohner, zugeſtan-
den worden wäre, welches nur in
der Abſicht geſchehen ſeyn könnte,
um den Handelsſtand zu begün-
ſtigen. Dann wäre es aber völlig
inconſequent geweſen, den in das
Land kommenden Ausländern (auch
den Nichtkaufleuten) den Mitgenuß
jenes Vortheils zu geſtatten,
während man ihn den gleichartigen
eigenen Unterthanen verſagte.
|0181 : 159|
§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
recht die meiſten Einwohner von der Wechſelfähigkeit aus-
ſchließt, nicht auch den Ausländern zu gut kommen ſolle.
Allein Dieſes rechtfertigt ſich hinreichend daraus, daß über-
haupt die Gränzen ſchützender Maaßregeln jedem Geſetz-
geber für die ihm unterworfenen Einwohner anheim geſtellt
bleiben. Wie alſo in Preußen der Franzoſe mit 21 Jahren
fähig erkannt wird, andere Verträge zu ſchließen, die ihm
Nachtheil bringen können, welches wir dem Preußen erſt
mit 24 Jahren geſtatten, ſo müſſen wir conſequenterweiſe
den Franzoſen für fähig halten, in Preußen Wechſelver-
bindlichkeiten zu übernehmen, ohne Kaufmann, Ritterguts-
beſitzer oder Domänenpächter zu ſeyn.
Alle hier erörterten Zweifel und Schwierigkeiten aber
haben im Preußiſchen Recht ihr Ende erreicht ſeit dem
1. Febr. 1849, an welchem Tage hier die neue deutſche
Wechſelordnung in Kraft getreten iſt, die Jeden, der über-
haupt Verträge ſchließen kann, auch für wechſelfähig erklärt
(Note f).
§. 365.
I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und
Handlungsfähigkeit.) (Fortſetzung.)
Bisher iſt für die Handlungsfähigkeit das örtliche Recht
des Wohnſitzes als allgemein maaßgebend behauptet worden,
und zwar ſelbſt in ſolchen Fällen, die von manchen Schrift-
ſtellern anders angeſehen zu werden pflegen (§ 364). Es
ſind aber nun noch die Gränzen der Anwendung jenes
|0182 : 160|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Grundſatzes hinzuzufügen, alſo die Fälle, in welchen derſelbe
nicht anzuwenden iſt. Die Anerkennung dieſer Fälle kann
vielleicht auch eine Verſtändigung mit manchen von mir
bisher bekämpften Gegnern erleichtern, welche nicht ſelten
durch die Rückſicht auf ſolche Fälle dem Grundſatz ſelbſt
abgeneigt geworden ſeyn mögen.
Dieſe Fälle laſſen ſich auf zwei Klaſſen zurück führen.
A. Wenn ein den perſönlichen Zuſtand (Rechtsfähigkeit
oder Handlungsfähigkeit) betreffendes Geſetz unter diejenigen
abſoluten Geſetze gehört, die durch ihre anomale Natur
außer den Gränzen der Rechtsgemeinſchaft unabhängiger
Staaten liegen, ſo hat der Richter nicht das örtliche Recht
des Wohnſitzes der Perſon anzuwenden, ſondern vielmehr
das örtliche Recht des Landes, dem der Richter angehört.
Dieſer Grundſatz iſt oben (§ 349) ausführlich dargeſtellt
worden, und es kommt hier nur darauf an, einige der
wichtigſten Anwendungen deſſelben auf die Rechtsfähigkeit
und Handlungsfähigkeit, wovon gegenwärtig die Rede iſt,
anzugeben.
1. Wo die Polygamie als Recht beſteht, hat auch
Der, welcher in einer gegenwärtigen Ehe lebt, die
Fähigkeit, neben derſelben eine zweite und fernere Ehe
einzugehen. Der Richter eines chriſtlichen Staates aber
wird ihm dafür keinen Rechtsſchutz gewähren, alſo, in
Anſehung dieſer Art der Handlungsfähigkeit, nicht das
Recht des perſönlichen Wohnſitzes, ſondern das Recht des
eigenen Landes, zur Anwendung bringen.
|0183 : 161|
§. 365. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
2. Wenn Der, welchem als Ketzer das Recht ſeiner
Heimath die Rechtsfähigkeit verſagt, in einem Lande
Rechte erwerben und Handlungen vornehmen will, das
ein ſolches Ketzerrecht als unſittlich verwirft, vielleicht ſelbſt
der Religion dieſes ſogenannten Ketzers zugethan iſt, ſo
wird der Richter dieſes Landes nicht das am Wohnſitz der
Perſon geltende, ſondern das eigene, einheimiſche Recht zur
Anwendung bringen (a).
3. Wenn die Geſetze eines Landes die Erwerbsfähig-
keit kirchlicher Inſtitute (der todten Hand) einſchränken,
ſo werden daſelbſt von dieſer Einſchränkung auch die in
einem anderen Lande beſtehenden kirchlichen Inſtitute be-
troffen werden. Umgekehrt werden in dem anderen Lande,
das ſolche Geſetze nicht hat, die kirchlichen Inſtitute, die
in ihrer Heimath unter ſolchen Geſetzen ſtehen, ſolchen Ein-
ſchränkungen nicht unterliegen. Es wird alſo in beiden
Fällen die Handlungsfähigkeit zu beurtheilen ſeyn nach dem
Recht des Landes, dem der urtheilende Richter angehört,
nicht nach dem an dem Wohnſitz eines ſolchen Inſtituts
geltenden Recht.
4. Erklärt ein Landesgeſetz die Juden für unfähig
zum Erwerb des Grundeigenthums, ſo bindet daſſelbe
(a) Hert. § 8 Note 3. —
Anders verhält es ſich wohl mit
der Unfähigkeit auswärtiger Mönche
zum Erwerb von Erbſchaften,
welches Recht ihres Wohnſitzes,
als zur gewöhnlichen Handlungs-
fähigkeit gehörend, auch auf dem
freien Willen der Perſon beruhend,
in unſrem Staate anzuerkennen iſt.
Hert. §. 13. Bornemann Preuß.
Recht B. 1 S. 53 Note 1.
VIII. 11
|0184 : 162|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſowohl fremde als einheimiſche Juden; die einheimiſchen
Juden aber ſind dadurch nicht gehindert, in einem anderen
Lande, das ein ſolches Geſetz nicht hat, Grundeigenthum
zu erwerben. In beiden Fällen alſo kommt das am
Wohnſitz der Perſon geltende örtliche Recht nicht zur An-
wendung.
5. Ganz dieſelbe Bewandniß hat es mit einem be-
kannten Franzöſiſchen Geſetz, welches in einigen weſtlichen
(theilweiſe nachher an deutſche Staaten abgetretenen) De-
partements die Juden für unfähig erklärte, Schuldfor-
derungen anders, als unter gewiſſen, ſehr beſchränkenden,
Bedingungen zu erwerben. Dieſes Geſetz bindet inner-
halb eines ſolchen Landes alle Juden, einheimiſche und
fremde (b); die einheimiſchen werden davon in einem
anderen Lande nicht betroffen. Von dem örtlichen Recht
des Wohnſitzes iſt alſo dabei keine Rede.
Die hier zuſammengeſtellten Fälle gründen ſich darauf,
daß das anzuwendende Geſetz über die Rechtsfähigkeit oder
Handlungsfähigkeit eine ſtreng poſitive und zwingende Natur
hat (c). In folgenden Fällen wird eine gleichmäßige Aus-
nahme von der ſonſt geltenden Regel des Wohnſitzes des-
(b) Wächter II. S. 173.
Foelix p. 147. — Damit ſtimmt
überein ein Urtheil des O. A. G.
zu München. Seuffert Archiv
für Entſcheidungen der oberſten
Gerichte in den deutſchen Staaten
B. 1 N. 35.
(c) Es bedarf kaum der Er-
innerung, daß der Werth oder
Unwerth der hier beiſpielsweiſe
angeführten Geſetze für unſre Frage
gleichgültig iſt, alſo dahin geſtellt
bleibt.
|0185 : 163|
§. 365. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
wegen behauptet werden müſſen, weil in einem Staate
irgend ein Rechtsinſtitut des anderen Staates überhaupt
keine Anerkennung gefunden hat.
6. So verhält es ſich mit der aus dem bürgerlichen
Tod des Franzöſiſchen und des Ruſſiſchen Rechts hervor-
gehenden Rechtsunfähigkeit. Der Richter eines Staates,
dem das Inſtitut des bürgerlichen Todes fremd iſt, wird
davon keine Anwendung machen, alſo das Recht des
Wohnſitzes nicht beachten dürfen (§ 349. d).
7. Ganz Daſſelbe gilt von der Rechtsunfähigkeit eines
Negerſklaven, wenn dieſelbe zur Sprache kommt in einem
Staate, der die Sklaverei überhaupt nicht als ein Rechts-
inſtitut anerkennt (§ 349. e).
B. Andere Fälle, in welchen die Anwendbarkeit unſres
Grundſatzes verneint werden muß, haben den Grund der
Verneinung darin, daß in ihnen gar nicht von der Rechts-
fähigkeit oder Handlungsfähigkeit, die allein hierher gehört,
die Rede iſt, daß ſie alſo ihrer Natur nach außer den
Gränzen dieſer Lehre liegen, und nur durch täuſchenden
Schein dahin gezogen werden können. Dahin rechne ich
folgende Fälle:
1. In manchen Ländern hat der Adel gewiſſe eigen-
thümliche Rechte im Erwerb des Grundeigenthums oder
in der Erbfolge. Dieſe Privilegien haben mit unſrer
Lehre gar keinen inneren Zuſammenhang. Ob ſie blos
dem einheimiſchen Adel, oder auch dem auswärtigen, zu-
ſtehen ſollen, hängt von dem Inhalt der das Privilegium
11*
|0186 : 164|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
begründenden Rechtsnormen ab; aus einem allgemeinen
Rechtsgrundſatz läßt ſich dieſe Frage nicht entſcheiden (d).
2. Eine ganz ähnliche Bewandniß hat es mit den
Privilegien im Concurs, welche nach manchen Geſetzen
den Kirchen und Klöſtern, oder auch dem Fiscus, zukommen.
Was insbeſondere den Fiscus betrifft, ſo iſt damit nicht
der abſtracte Begriff eines Fiscus überhaupt, ſondern ſtets
nur der einheimiſche Fiscus gemeint. Alle ſolche Rechte
aber gehören nicht hierher, ſondern zur Lehre vom
Concurſe (e).
3. Zweifelhafter iſt die Reſtitution der Minderjähri-
gen, indem genau feſtgeſtellt werden muß, in welchem
Sinn das Recht derſelben in der Geſetzgebung ſelbſt
gedacht wird. Urſprünglich war dieſelbe aufgefaßt als
eine Beſchränkung der Handlungsfähigkeit, ſo daß ſie dem
Minderjährigen als ein Surrogat dienen ſollte für die
den Unmündigen ſchützende völlige Unfähigkeit. Seitdem
aber die Reſtitution auch auf die Handlungen der Cu-
ratoren angewendet, und in dieſer Geſtalt ſelbſt auf die
Tutoren der Unmündigen ausgedehnt worden iſt, hat
ſie jenen Charakter verloren (f). Sie gehört nun nicht
mehr hierher, zu der Einſchränkung der Handlungsfähigkeit,
muß vielmehr in Anſehung des anwendbaren örtlichen
(d) Wächter II. S. 172.
(e) Wächter II. S. 173. 181.
(f) S. o. B. 7 §. 322.
|0187 : 165|
§. 365. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
Rechts ſo, wie andere Anfechtungsgründe der Rechts-
geſchäfte, behandelt werden (g).
4. Eben ſo muß auch behauptet werden, daß die
Begünſtigung der Minderjährigen, wodurch ſie gegen alle
Klagverjährungen unter 30 Jahren geſchützt ſind (und
zwar ſelbſt ohne Reſtitution) (h), mit der Handlungs-
fähigkeit keine Verbindung hat, alſo in Anſehung des
örtlichen Rechts nicht nach den hier aufgeſtellten Regeln
zu beurtheilen iſt (i), ſondern nach den für die Klagver-
jährung geltenden Regeln.
Zum Schluß dieſes Theils der Unterſuchung mögen noch
zwei allgemeine Bemerkungen folgen.
Es war hier die Rede von der Rechtsfähigkeit und
der Handlungsfähigkeit (§ 362—365). Unter dieſen
beiden Verhältniſſen gebührte im Römiſchen Recht der erſte
Rang der Rechtsfähigkeit, ſie war das Ueberwiegende. Im
heutigen Recht verhält es ſich umgekehrt, indem die Römi-
ſchen Einſchränkungen der Rechtsfähigkeit theils ganz ver-
ſchwunden, theils vermindert ſind. Verſchwunden iſt der
Einfluß der Freiheit und der Civität, vermindert der auf
die väterliche Gewalt gegründete Einfluß.
(g) Vgl. Wächter II. S. 174. 179.
(h) S. o. B. 7 § 32 4 N. 1.
(i) Wächter II. S. 179.
|0188 : 166|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Eine zweite Bemerkung betrifft den Wohnſitz, als den
hier anerkannten Beſtimmungsgrund für das in jedem ein-
zelnen Fall anwendbare örtliche Recht über den perſönlichen
Zuſtand. Der Wohnſitz aber hat eine veränderliche wech-
ſelnde Natur, und daher wird auch der perſönliche Rechts-
zuſtand in Folge des veränderten Wohnſitzes wandelbar
ſeyn, dergeſtalt, daß der Rechtszuſtand in jeder Zeit zu be-
urtheilen iſt nach dem örtlichen Recht des gegenwärtigen
Wohnſitzes, nicht nach dem des früheren, wenngleich dieſer
von der Geburt an beſtanden haben ſollte (k).
Als Regel iſt dieſer Satz ziemlich allgemein anerkannt
(l), und er wird namentlich, wenn auch nur auf indirecte
Weiſe, durch eine Stelle des Preußiſchen Landrechts beſtä-
tigt (m). Nach zwei Seiten bedarf derſelbe jedoch einer
genaueren Erwägung.
Erſtlich wird jener Satz leicht und allgemein anerkannt
werden von den Gerichten des neuen Wohnſitzes; eben ſo
auch von den Gerichten irgend eines dritten Ortes. Dage-
gen findet ſich nicht ſelten ein Widerſpruch von Seiten der
Gerichte des früheren Wohnſitzes, welche ihr eigenes ört-
(k) Dieſe ganze Frage gehört
zu den oben, § 344. e, vorbehaltenen.
(l) Story § 69 fg.
(m) A. L. R. Einl. § 24.
„Eine bloße Entfernung aus ſeiner
Gerichtsbarkeit, bei welcher die
Abſicht, einen andern Wohnſitz
zu wählen, noch nicht mit Zuver-
läſſigkeit erhellet, verändert die
perſönlichen Rechte und Pflichten
dieſes Menſchen nicht.“ Darin
liegt der unzweifelhafte Gegenſatz,
daß die zuverläſſige Wahl eines
neuen Wohnſitzes die perſönlichen
Rechte in der That verändert.
|0189 : 167|
§. 365 I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)
liches Recht auch nach verändertem Wohnſitz der Perſon
feſt halten wollen, obgleich grundſätzlich dieſer Widerſpruch
nicht zu rechtfertigen iſt (n).
Zweitens verdient beſondere Erwägung eine vorzüglich
häufige und wichtige Anwendung jenes Satzes, die auf
den geſetzlichen Zeitpunkt der Volljährigkeit. Eine unbe-
dingte Anwendung der oben aufgeſtellten Regel würde hier
zwei entgegengeſetzte Folgen mit ſich führen. Das Preußiſche
Landrecht ſetzt die Volljährigkeit auf vier und zwanzig Jahre,
das in Cöln geltende Franzöſiſche Recht auf ein und zwanzig.
Wenn nun im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein
Berliner ſeinen Wohnſitz nach Cöln verlegt, ſo müßte er
augenblicklich volljährig werden. Verlegt dagegen im gleichen
Alter ein Cölner den Wohnſitz nach Berlin, ſo müßte er
wieder minderjährig werden, von Neuem unter Vormund-
ſchaft kommen, und noch zwei Jahre unter derſelben bleiben.
— Die erſte dieſer beiden Folgen hat auch kein Bedenken,
und wird ſchwerlich einen Widerſpruch erfahren. Die zweite
Folge aber, obgleich ſie von aͤlteren Schriftſtellern gleichfalls
vertheidigt wird (o), iſt aus folgenden Gründen zu ver-
werfen.
(n) Story a. a. O. führt ſo-
wohl Schriftſteller, als Amerika-
niſche und Engliſche Urtheils-
ſprüche, für die eine oder andere
Meinung an. Indeſſen ſpielen’ in
ſeiner ausführlichen Erörterung
zwei an ſich ſehr verſchiedene Fragen
in einander: Die Colliſion des
alten und neuen Wohnſitzes, und
die Colliſion des Wohnſitzes über-
haupt mit dem Ort, wo ein
Rechtsgeſchäft (z. B. eine Ehe)
geſchloſſen wird.
(o) Lauterbach de domici-
lio § 69, Dissert. Vol. 2 p. 1353.
Hert. § 5 am Ende des §.
|0190 : 168|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Für den Minderjährigen, der an ſeinem Wohnſitz das
geſetzliche Alter der Volljährigkeit erreicht, hat die dadurch
erlangte Selbſtſtändigkeit ganz die Natur eines erworbenen
Rechts, welches ihm alſo durch die blos zufällige Verände-
rung des Wohnſitzes nicht wieder entzogen werden kann.
Dieſe Auffaſſung erhält eine beſondere Beſtätigung durch
die Vergleichung mit dem Fall, wenn die Volljährigkeit an
dem früheren Wohnſitz nicht durch das Alter, ſondern durch
venia aetatis, erworben, und nachher der Wohnſitz verlegt
wird. Die Folgen einer ſolchen landesherrlichen Verleihung
können ihm unmöglich wieder entzogen werden (p). Es
würde aber unnatürlich und willkürlich ſein, der auf das
Geſetz der früheren Heimath gegründeten Volljährigkeit ge-
ringere Kraft und Dauer zuzuſchreiben, als der aus Ver-
leihung entſtandenen.
Die hier aufgeſtellte Behauptung iſt im Preußiſchen
Recht, ſowohl durch die Praxis der Gerichte, als durch
Schriftſteller, unzweifelhaft anerkannt (q).
(p) Dieſes Letzte wird auch
anerkannt in der Uebereinkunft
zwiſchen Preußen und Sachſen
vom J. 1821 § 3 (Geſ. Samml.
S. 39). Desgleichen wird es
anerkannt von Hert § 8, der
alſo hierin ganz inconſequent iſt
(Note n).
(q) Bornemann Preuß. Recht
B. 1 S. 53 Note 1. Num. 2.
Koch Preuß. Recht § 40 Note 11.
Beide geben mehrere Reſcripte des
Juſtizminiſterii an, wodurch die
Praxis der Gerichte außer Zweifel
geſetzt wird.
|0191 : 169|
§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.
§. 366.
II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.
Indem wir jetzt zu den Rechten an einzelnen Sachen,
oder den dinglichen Rechten, übergehen, um das Rechtsge-
biet, dem ſie angehören, zu ermitteln, werden wir ſchon
durch den Gegenſtand derſelben zur Beſtimmung dieſes Ge-
bietes hingeführt. Denn da ihr Gegenſtand ſinnlich wahr-
nehmbar iſt, alſo einen beſtimmten Raum erfüllt, ſo iſt der
Ort im Raum, an welchem ſie ſich befinden, zugleich der
Sitz jedes Rechtsverhältniſſes, deſſen Gegenſtand ſie ſeyn
ſollen. Wer an einer Sache ein Recht erwerben, haben,
ausüben will, begiebt ſich zu dieſem Zweck an ihren Ort
und unterwirft ſich freiwillig für dieſes einzelne Rechts-
verhältniß dem in dieſem Gebiet herrſchenden örtlichen Recht.
Wenn alſo behauptet wird, daß die dinglichen Rechte nach
dem örtlichen Recht der gelegenen Sache (lex rei sitae)
zu beurtheilen ſeyen, ſo beruht dieſe Behauptung auf dem-
ſelben Grunde, wie die Anwendung der lex domicilii auf
den perſönlichen Zuſtand. Beides entſpringt aus freiwilli-
ger Unterwerfung.
Auch hier zeigt ſich der ſchon oben hervorgehobene
innere Zuſammenhang des Gerichtsſtandes mit dem ört-
lichen Recht (a). Zwar war im älteren Römiſchen Recht
(a) S. o. § 360 Num. 1. Ueber das forum rei sitae iſt im
Allgemeinen zu vergleichen: Bethmann Hollweg, Verſuche
S. 69 — 77, wo die hier folgenden Sätze weiter ausgeführt ſind.
|0192 : 170|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
das forum rei sitae ganz unbekannt (b). Allein es wurde
ſchon frühe für die Eigenthumsklage eingeführt (c), und
ſpäter auf andere Klagen in rem ausgedehnt (d). Es gilt
jedoch nicht als ausſchließender Gerichtsſtand, ſondern ſo,
daß der Kläger die Wahl hat zwiſchen dem (ſpeciellen) fo-
rum rei sitae und dem (allgemeinen) forum domicilii. Allein
eine ſolche, von einſeitiger Willkür abhängige, Unbeſtimmt-
heit würde für die Beſtimmung des örtlichen Rechts, das
einer feſten Regel bedarf, nicht anwendbar ſein. Daher
muß für dieſen Zweck Eines von Beiden ausſchließend
gelten, und dieſes Eine wird nur das örtliche Recht der
gelegenen Sache (lex rei sitae) ſein können, indem daſſelbe
durch den ſpeciellen, gerade auf dieſes einzelne Rechtsver-
hältniß gerichteten, Willen gerechtfertigt wird. Dieſer Vor-
zug wird auch noch durch einen anderen Grund unterſtützt.
Zu demſelben Recht auf eine einzelne Sache können meh-
rere Perſonen in Beziehung ſtehen, deren jede einen beſon-
deren Wohnſitz haben kann. Sollte nun das Recht des
(b) Vatic. fragm. § 326. —
Das Gegentheil folgt nicht aus
L. 24 § 2 de jud. (5. 1), welche
Stelle nicht vom forum rei sitae
ſpricht, ſondern von dem forum
originis, das jeder Römiſche Bür-
ger in der Stadt Rom, noch neben
ſeiner beſonderen Heimath, hatte,
dem ſich aber die Legaten entziehen
konnten (§ 352. k).
(c) L. 3. C. ubi in rem
(3. 19).
(d) Nov. 69. — Ob dieſe Aus-
dehnung hier als ganz neues Recht
eingeführt, oder nur anerkannt
werden ſollte, während ſie ſchon
früher in die Praxis Eingang ge-
funden hatte, iſt in Ermangelung
von Quellen nicht zu entſcheiden.
Mühlenbruch Archiv B. 19
S. 377 behauptet wohl zu be-
ſtimmt, daß jenes Geſetz nichts
Neues enthalten ſollte.
|0193 : 171|
§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.
Wohnſitzes maaßgebend ſein für die dinglichen Rechte, ſo
würde in einem ſolchen Fall der Zweifel übrig bleiben,
welcher Wohnſitz zu entſcheiden hätte. Dieſer Zweifel ver-
ſchwindet von ſelbſt durch den Vorzug der lex rei sitae,
die ſtets eine einfache, ausſchließende Natur hat.
Der hier aufgeſtellte Grundſatz hat denn auch im All-
gemeinen von jeher Anerkennung gefunden, und es ſteht
damit in Verbindung der oben erwähnte Begriff der Real-
ſtatuten (§ 361 Nr. 1.), durch welchen eben ausgedrückt
werden ſollte, daß die Geſetze, welche zunächſt und haupt-
ſächlich über das Recht an Sachen Verfügung treffen, an-
zuwenden ſeyen auf alle im Gebiet dieſes Geſetzgebers lie-
gende Sachen, ohne Rückſicht darauf, ob einheimiſche oder
fremde Perſonen zu dieſen Sachen in Beziehung treten
möchten. Jedoch wurde lange Zeit hindurch die Anerken-
nung dieſer richtigen Lehre durch folgende willkürliche Unter-
ſcheidung verkümmert, die ihr alle innere Haltung und
Conſequenz entzog. Der Grundſatz ſollte nämlich nur gel-
ten in Anwendung auf unbewegliche Sachen; dagegen
ſollten die beweglichen beurtheilt werden, nicht nach der
lex rei sitae, ſondern nach der lex domicilii, indem vermöge
einer Fiction angenommen werden müſſe, daß bewegliche
Sachen, auch wenn ſie anderwärts ſich befänden, doch ſo
angeſehen werden müßten, als befänden ſie ſich an dem
Wohnſitz der Perſon (e).
(e) Neuere Schriftſteller be-
zeichnen nicht ſelten dieſe Anſicht
durch die Formel: mobilia ossibus
inhaerent, und zwar in ſolcher
|0194 : 172|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Dieſe Unterſcheidung iſt eigentlich entſtanden auf dem
Gebiete des Erbrechts, wo davon eine ſehr wichtige, und
zwar ganz irrige, Anwendung gemacht worden iſt. Von
da iſt ſie erſt übertragen worden auf die Rechte an ein-
zelnen Sachen, wozu ſie aber großentheils ſo entſchieden
nicht paßt, daß ihre conſequente Anwendung auf die ding-
lichen Rechte oft ganz unhaltbar iſt, und auch ſchwerlich
Vertheidiger finden wird. Grundſätzlich iſt dieſe Unterſchei-
dung in beiden hier erwähnten Gebieten der Anwendung
zu verwerfen, ſo daß überall ein und daſſelbe örtliche
Recht auf bewegliche und unbewegliche Sachen anzuwenden
iſt. Jedoch muß gleich hier darauf aufmerkſam gemacht
werden, daß in dieſen beiden Anwendungen die Parteimei-
nungen auf ganz verſchiedene, ja entgegengeſetzte Weiſe ein-
ander gegenüber ſtehen. — Im Erbrecht iſt, der richtigen
Meinung nach, das örtliche Recht des Wohnſitzes auf
Sachen aller Art anzuwenden. Die Gegner geben Dieſes
zu bei den beweglichen, wollen aber bei den unbeweglichen
ein anderes Recht, das Recht der gelegenen Sache, zur
Anwendung bringen. — Umgekehrt iſt im Sachenrecht, der
richtigen Meinung nach, das örtliche Recht der gelegenen
Sache, und zwar bei Sachen aller Art, anzuwenden. Die
Gegner geben dieſes zu bei den unbeweglichen Sachen,
Weiſe, daß man glauben möchte,
dieſe Formel fände ſich bei den
älteren auf jeder Seite. So Story
§ 362. Schäffner § 65. Dieſes
iſt aber nicht richtig, und ich weiß
auch den Urſprung jener Formel
nicht anzugeben.
|0195 : 173|
§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.
wollen aber bei beweglichen Sachen das am Wohnſitz der
Perſon geltende örtliche Recht anwenden.
Bei der gegenwärtig (für das Sachenrecht) vorliegenden
Frage nach dem Werth jener Unterſcheidung wollen wir
zunächſt erwägen, wohin die in verſchiedenen Zeitaltern ent-
ſprungene Geſetzgebung neigt. Und hier können wir nicht
in Abrede ſtellen, daß die älteren Deutſchen Rechtsbücher,
der Sachſenſpiegel und Schwabenſpiegel, allerdings eine
beſondere Rückſicht auf unbewegliche Sachen zu nehmen
ſcheinen, inſofern alſo die hier bekämpfte Unterſcheidung
ſcheinbar begünſtigen (f). Indeſſen ſind die darauf bezüg-
lichen Stellen ſo ſchwankend und unbeſtimmt, und es bleibt
beſonders ſo zweifelhaft, welche Gegenſätze dabei im Hin-
tergrunde liegen, daß durchaus keine ſichere Behauptung
darauf gebaut werden kann.
Die Bairiſche Geſetzgebung aus der Mitte des achtzehn-
ten Jahrhunderts erklärt ſich entſchieden gegen jene Unter-
ſcheidung, und will bei beweglichen und unbeweglichen
Sachen das örtliche Recht der gelegenen Sache gelten
laſſen (g).
(f) Sachſenſpiegel I. 30, III.
33. Schwabenſpiegel Kap. 87.
130. 405.
(g) Cod. Bavar. Maximil.
P. 1. C. 2. § 17 „ſo ſoll … in
realibus vel mixtis auf die
Rechten in loco rei sitae ohne
Unterſchied der Sachen, ob ſie
beweglich oder unbeweglich …
geſehen und erkannt werden.“ Die
ganze Stelle iſt abgedruckt bei
Eichhorn deutſches Recht § 34
Note d.
|0196 : 174|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Dagegen haben ſich die in neuere Zeiten fallende Ge-
ſetzbücher der zur Zeit ihrer Abfaſſung herrſchenden Unter-
ſcheidung angeſchloſſen, jedoch in ſo abſtracter und unbe-
beſtimmter Weiſe, daß daraus ein ſicherer Schluß, insbe-
ſondere auf die beabſichtigte Behandlung der dinglichen
Rechte, durchaus nicht gezogen werden kann. Dieſes gilt
vom Preußiſchen Recht (h), und in noch höherem Grade
vom Oeſterreichiſchen (i). Das Franzöſiſche Geſetzbuch
aber deutet ſeine Zuſtimmung zu der herrſchenden Unter-
ſcheidung nur ſtillſchweigend an, indem es für unbewegliche
Sachen die Anwendung des örtlichen Rechts der gelegenen
Sache vorſchreibt, von den beweglichen Sachen aber gar
Nichts ſagt (k). Alle dieſe Geſetzbücher ſagen nur, daß gewiſſe
Sachen nach dieſen oder jenen Geſetzen beurtheilt wer-
den, ihnen unterworfen ſind u. ſ. w. Solche allge-
meine Ausſprüche aber ſind vereinbar mit den verſchiedenſten
Deutungen in Beziehung auf die Art und die Gränze einer
ſolchen Beurtheilung oder Unterwerfung.
(h) A. L. R. Einleitung § 28.
„Das bewegliche Vermögen eines
Menſchen wird … nach den Ge-
ſetzen der ordentlichen Gerichts-
barkeit deſſelben beurtheilt“
(d. h. nach dem Wohnſitz § 23). —
§ 32 „In Anſehung des unbeweg-
lichen Vermögens gelten, ohne
Rückſicht auf die Perſon des Eigen-
thümers, die Geſetze der Ge-
richtsbarkeit, unter welcher ſich
daſſelbe befindet.“
(i) Oeſterr. Geſ. § 300 „Un-
bewegliche Sachen ſind den Ge-
ſetzen des Bezirks unterworfen,
in welchem ſie liegen; alle übrige
Sachen hingegen ſtehen mit der
Perſon ihres Eigenthümers unter
gleichen Geſetzen.
(k) Code civil art. 3. „Les
immeubles, même ceux possé-
dés par des étrangers, sont
régis par la loi française.“
|0197 : 175|
§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.
Ich gehe nun über zu den Meinungen der Schriftſteller
über die hier vorliegende Frage.
In der älteren Zeit erklären ſich die meiſten und ange-
ſehenſten derſelben entſchieden für die eben erklärte Unter-
ſcheidung der beweglichen und unbeweglichen Sachen (l),
und dieſe Meinung hat ſich auch noch bis in ſehr neue
Zeit hin erhalten (m). Indeſſen iſt ſie doch bei mehreren
der neueſten Zeit angehörigen Rechtslehrern mehr ſcheinbar,
als in der Wirklichkeit anzutreffen. Sie tragen jene Lehre
zwar in denſelben allgemein lautenden Formen vor, wie
ihre Vorgänger, und ſchließen ſich alſo dieſen ſcheinbar
an (n), wo es aber darauf ankommt, dieſelbe auf die
Rechte an einzelnen Sachen wirklich anzuwenden, gehen ſie
wieder davon ab, und werden alſo dem eigenen Grundſatz
untreu (o).
Dagegen wird dieſe Unterſcheidung von den meiſten
neueren Schriftſtellern völlig verworfen, alſo eine gleiche
(l) Argentraeus Num. 30. —
Rodenburg Tit. 1 C. 2 —
P. Voet. Sect. 4 C. 2 § 8. —
I. Voet. §. 11. (dieſer jedoch mit
der ſehr beachtenswerthen Ein-
ſchränkung, daß Geſetze von poli-
zeilicher Natur, z. B. über Getreide-
ausfuhr, eine ſtreng territoriale
Einwirkung auch auf die beweg-
lichen Sachen im Lande haben
müßten).
(m) Story Chap. 9. 10 und
§ 362. — Foelix p. 72 — 75
p. 80. — Schäffner § 54 — 56
§ 65 — 68. — Story § 386 be-
merkt jedoch, daß die Gerichte von
Louifiana auch bei beweglichen
Sachen die lex rei sitae (nicht
domicilii) als anwendbar be-
trachten.
(n) Foelix und Schäffner
(Note m).
(o) Foelix p. 78. —
Schäffner § 66, welcher geradezu
behauptet, für die Rechte an ein-
zelnen Sachen gebe es gar keine
allgemeine Regel.
|0198 : 176|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Regel für bewegliche und unbewegliche Sachen (das örtliche
Recht der gelegenen Sache) behauptet (p), für welche Mei-
nung auch ich mich bereits ausgeſprochen habe.
Die ſchwächſte Seite jener unterſcheidenden Meinung,
welche auf die beweglichen Sachen nicht die lex rei sitae,
ſondern die lex domicilii anwenden will, wird von den
Vertheidigern derſelben meiſt umgangen oder verhüllt. Man
ſagt, der Wohnſitz der Perſon ſolle über das anzuwen-
dende örtliche Recht entſcheiden; welche Perſon aber iſt
damit gemeint (q)? Ohne Zweifel die bei dem Rechts-
verhältniß zu dieſer Sache betheiligte Perſon; dieſes iſt
aber ein ſehr vieldeutiger Begriff, und dadurch wird die
ganze Behauptung ſelbſt, auch wenn man ſie zugeben wollte,
in hohem Grade unbeſtimmt und ſchwankend. Man kann
unter dem Betheiligten den Eigenthümer verſtehen (r);
daneben aber bleibt es zweifelhaft, ob bei einer Uebertra-
gung des Eigenthums der alte oder der neue Eigenthümer
gemeint ſein ſoll; eben ſo, bei einem Streite über das Ei-
genthum, welche der beiden ſtreitenden Parteien, deren jede
das Eigenthum ſich zuſchreibt. — Man kann aber auch
(p) Mühlenbruch doctrina
Pand. §. 72. Meißner vom
ſtillſchweigenden Pfandrecht. Ganz
beſonders aber Wächter I. S. 292.
— 298. II. S. 199 — 200. S. 383.
— 389, wo auch I. 293 Note 130
noch mehrere Vertheidiger dieſer
Meinung angeführt werden.
(q) Dieſe Einwendung iſt ſehr
gut hervorgehoben von Wächter
I. S. 293.
(r) So wird es aufgefaßt in
der Preußiſchen und der Oeſterreichi-
ſchen Geſetzgebung, ſ. o. Noten
h. und i.
|0199 : 177|
§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.
den Gedanken an den Eigenthümer ganz aufgeben, und
dafür den Beſitzer annehmen, wodurch allerdings die Aus-
führung vereinfacht und erleichtert wird. — Außer dem
Eigenthum endlich kommen noch verſchiedene andere dingliche
Rechte in Betracht, und jedes derſelben, wenn es vorhan-
den iſt, oder auch nur behauptet wird, führt wieder auf eine
neue bei dieſer Sache betheiligte Perſon. — So iſt alſo die
auf den Wohnſitz der Perſon gerichtete Behauptung,
ſelbſt wenn ſie an ſich Grund hätte, doch eine ſehr viel-
deutige, indem jede der hier genannten Perſonen einen ver-
ſchiedenen Wohnſitz haben kann; und daher iſt die behaup-
tete Regel nicht dazu geeignet, eine praktiſche Löſung der
Aufgabe herbei zu führen.
Die Hauptfrage aber bleibt immer die, ob denn ein in-
nerer Grund vorhanden iſt, die dinglichen Rechte an be-
weglichen Sachen nach einem anderen örtlichen Recht zu
beurtheilen, als die an unbeweglichen. Gerade Dieſes muß
durchaus verneint werden. Vielleicht iſt eine Einigung
über die ganze Frage bisher am meiſten dadurch verhindert
worden, daß man die Frage ſelbſt zu abſtract aufgefaßt
hat. Ich will es verſuchen, anſchaulich zu machen, wie
ſich die Sache im wirklichen Leben auf ganz verſchiedene
Weiſe geſtaltet. Dieſe Betrachtung wird zugleich dahin
führen, die Entſtehung der Meinung, die ich für irrig halte,
zu erklären, und das in ihr enthaltene wahre Element nach-
zuweiſen.
VIII. 12
|0200 : 178|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Wenn wir die räumliche Lage beweglicher Sachen be-
trachten, ſo können wir dabei zwei äußerſte, völlig entge-
gengeſetzte, Fälle unterſcheiden, zwiſchen welchen viele an-
dere Fälle, mit mancherlei Abſtufungen, in der Mitte
liegen.
Erſtlich kann die räumliche Lage der beweglichen Sache
in ſolchem Grade unbeſtimmt und wechſelnd ſeyn, daß da-
durch ein beſtimmtes Bewußtſeyn dieſer Lage, ſo wie des
Landgebiets worin das örtliche Recht beſteht, folglich auch
die Annahme einer freiwilligen Unterwerfung unter dieſes
örtliche Recht, völlig ausgeſchloſſen wird. Dahin gehören
etwa folgende Fälle. Ein Reiſender, der ſich mit ſeinen
Sachen in einem Eilwagen oder auf einer Eiſenbahn be-
wegt, kann in Einem Tage mehrere Landgebiete durchſchnei-
den, ohne auch nur daran zu denken, in welchem derſelben
er ſich augenblicklich befindet. Derſelbe Fall tritt ein, wenn
ein Kaufmann Waaren auf weite Strecken hin verſendet,
ſo lange als dieſe Waaren auf dem Wege ſind; beſonders
im Seehandel, wenn die Waaren nach verſchiedenen Häfen,
vielleicht nach verſchiedenen Welttheilen, verſchifft werden,
damit irgendwo ein vortheilhafter Verkauf bewirkt werde. —
In ſolchen Fällen kann man von dem örtlichen Recht der
gelegenen Sache allerdings keine Anwendung machen;
man wird vielmehr in Gedanken irgend einen Ruhepunkt
aufſuchen müſſen, an welchem ſolche Sachen auf längere,
vielleicht unbeſtimmte Zeit zu bleiben beſtimmt ſind. Ein
ſolcher Ruhepunkt kann vielleicht aus dem erweislichen
|0201 : 179|
§. 366 II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.
Willen des Eigenthümers unzweifelhaft hervorgehen; in
andern Fällen wird er mit dem Wohnſitz des Eigenthümers
zuſammen fallen. Dieſes Letzte wird unter Anderm anzu-
nehmen ſeyn bei dem Reiſegepäck, das nach vollendeter Reiſe
in die Heimath zurück zu kehren pflegt; oft aber auch bei
den in Fracht gehenden Waaren, die der Eigenthümer, wenn
kein Verkauf zu Stande kommt, vielleicht nach ſeinem Wohn-
ſitz kommen läßt, um ſie da bis zu einer günſtigeren Zeit
aufzubewahren. Die einſeitige Rückſicht auf Fälle ſolcher
Art ſcheint die oben dargeſtellte Behauptung veranlaßt oder
unterſtützt zu haben, nach welcher das örtliche Recht des
Wohnſitzes bei beweglichen Sachen überhaupt anwendbar
ſein ſoll (s).
Der zweite, völlig entgegengeſetzte, Fall ſetzt voraus,
daß bewegliche Sachen eine Beſtimmung erhalten haben,
die ſie an einem bleibenden Aufenthalt feſt bindet. So
geſchieht es mit dem Mobiliar eines Hauſes, mit einer da-
ſelbſt aufgeſtellten Bibliothek oder Kunſtſammlung, mit
dem Inventar eines Landgutes. Zwar kann auch bei ſol-
chen Sachen die Abſicht geändert, ſie können an einen an-
deren Ort, in ein anderes Land gebracht werden; allein
dieſe Veränderungen ſind zufällig, und liegen außer dem
(s) Daraus erklärt es ſich auch
wohl, warum Amerikaniſche Ge-
richte u. Schriftſteller (wie Story)
dieſer Meinung ſehr zugethan ſind,
denn bei dieſen iſt die vorherrſchende
Rückſicht auf den Seehandel ſehr
natürlich.
12*
|0202 : 180|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
gegenwärtigen Bewußtſeyn und Willen des Beſitzers (t).
Es verhält ſich damit genau, wie mit dem Wohnſitz einer
Perſon, welcher gleichfalls als bleibend gedacht wird, und
dennoch in der Zukunft ſtets veränderlich bleibt (§ 353).
— Bei Sachen dieſer Art nun iſt auch nicht einmal ein
ſcheinbarer Grund vorhanden, ſie anders zu behandeln, als
unbewegliche Sachen, vielmehr ſind ſie ohne allen Zweifel,
eben ſo wie dieſe, nach demjenigen örtlichen Recht zu be-
urtheilen, welches durch ihre gegenwärtige Lage (nicht durch
den Wohnſitz des Eigenthümers oder Beſitzers) beſtimmt
wird. Dieſes wird denn auch von mehreren Schriftſtellern
anerkannt, die außerdem die Unterſcheidung beweglicher und
unbeweglicher Sachen grundſätzlich vertheidigen, die alſo
für die angegebene Klaſſe von Sachen eine Ausnahme ihrer
Regel behaupten, und inſofern eine mittlere Meinung ver-
treten (u).
Zwiſchen den hier dargeſtellten Klaſſen beweglicher Sachen
liegen endlich viele andere in der Mitte, und zwar in den
verſchiedenſten Abſtufungen. Als Beiſpiele können gelten
die Kaufmannswaaren, die der Eigenthümer an einem an-
deren Ort, als an ſeinem Wohnſitz, auf unbeſtimmte Zeit
(t) Dieſes Verhältniß beweg-
licher Sachen von bleibender räum-
licher Beſtimmung wird auch im
Römiſchen Recht öfter erwähnt,
wenngleich aus anderen juriſtiſchen
Veranlaſſungen, als der hier vor-
liegenden. L. 35 pr. § 3 — 5 de
her. inst. (28. 5), L. 17 de act.
emt. (19. 1), L. 32 de pign.
(20. 1), L. 203 de V. S. (50. 16).
(u) I. Voet. ad Pand. I. 8.
§. 14, Story § 382, und mehrere
andere bei Wächter I. S. 296
Note 133 angeführte Schriftſteller.
|0203 : 181|
§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.
aufbewahren läßt, das Reiſegeräthe bei einem vorübergehenden
Aufenthalt des Eigenthümers an einem fremden Orte u. ſ. w.
Bei dieſen wird es von den Umſtänden abhängen, ob ſie der
erſten oder der zweiten Klaſſe von Sachen beigezählt werden
ſollen. Es wird Dieſes nicht blos von dem kürzeren oder
längeren Aufenthalt ſolcher Sachen abhängen, ſondern auch
von der Natur der Rechtsregel, deren Anwendbarkeit gerade
in Frage geſtellt wird. So z. B. wird bei der Frage nach
der Form der Veräußerung (Tradition oder bloßer Vertrag)
auch ſchon ein ſehr kurzer Aufenthalt an einem beſtimmten
Orte hinreichen, um das örtliche Recht der gelegenen Sache
für anwendbar zu erachten, anſtatt daß die Erſitzung viel-
leicht anders anzuſehen ſein wird. Im Allgemeinen aber
müſſen wir die Anwendung des örtlichen Rechts der gele-
genen Sache als Regel feſthalten, ſo daß uns eine ab-
weichende Behandlung der oben dargeſtellten erſten Klaſſe
von Sachen nur als eine (verhältnißmäßig ſeltnere) Aus-
nahme gelten darf.
§. 367.
II. Sachenrecht. Eigenthum.
Ich will hier die einzelnen, das Eigenthum betreffenden,
Rechtsfragen der Reihe nach durchgehen, bei welchen von
der Anwendbarkeit verſchiedener örtlicher Rechte die Rede
ſeyn kann.
1. Die Fähigkeit einer Perſon, Eigenthum zu erwerben,
und eben ſo die Fähigkeit einer Perſon, das ihr gehörende
|0204 : 182|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Eigenthum aufzugeben, iſt zu beurtheilen nach dem örtlichen
Recht, welches am Wohnſitz der einen oder der anderen
Perſon gilt (§ 362), alſo nicht nach dem Recht der gele-
genen Sache, weil jede dieſer Fähigkeiten nur ein einzelner
Zweig der allgemeinen Rechtsfähigkeit und Handlungs-
fähigkeit iſt, alſo zum perſönlichen Zuſtand gehört.
Dieſe Regel iſt von folgenden irrigen Standpunkten
aus beſtritten worden, welche ſchon oben ihre Erledigung
gefunden haben. Manche ſagen, jene Fähigkeiten gehörten
nicht zu den Eigenſchaften der Perſon an ſich, ſondern zu
den rechtlichen Wirkungen jener Eigenſchaften; dabei aber
ſoll nicht das Recht des Wohnſitzes zur Anwendung
kommen, ſondern das Recht des jedesmal urtheilenden
Richters (a).
Andere laſſen zwar im Allgemeinen das Recht des
Wohnſitzes gelten, behaupten aber eine Ausnahme für den
Fall unbeweglicher Sachen. Hier ſoll auch die perſönliche
Fähigkeit nach der lex rei sitae beurtheilt werden, das heißt,
es ſoll das Realſtatut zur Anwendung kommen (b).
Allerdings aber muß eine Ausnahme jener Regel be-
hauptet werden, wenn eine Beſchränkung der Erwerbs-
fähigkeit vorgeſchrieben wird durch ſtreng poſitive, zwingende
(a) Von dieſer Meinung iſt
oben ausführlich gehandelt worden
§. 362.
(b) Vgl. oben § 362 Note g.
Dieſe irrige Meinung hat Story
§ 430 — 434, der viele Schriftſteller
anführt; die richtige Meinung hat
Huber § 12.
|0205 : 183|
§. 367. II. Sachenrecht. Eigenthum.
Geſetze, wie die, welche einen polizeilichen Charakter an ſich
tragen. Solche Geſetze kommen zur Anwendung bei allen
im Gebiete dieſes Geſetzgebers befindlichen Sachen, und es
iſt dabei auf das Recht des Wohnſitzes der Perſon, die
erwerben will, nicht zu ſehen (§ 365).
2. Die Fähigkeit einer Sache, dem Privateigenthum
unterworfen zu werden, alſo nicht unter die res quarum
commercium non est zu gehören, iſt zu beurtheilen nach
dem Geſetz des Ortes, an welchem die Sache liegt.
3. Dieſelbe Regel gilt für den Umfang der herrenloſen
Sachen, alſo für die Zuläſſigkeit oder Beſchränkung des
Eigenthumserwerbs durch Occupation an Sachen mancher
Art. Dahin gehören die Geſetze über die Regalität des
Bernſteins, ſo wie mancher Arten von Mineralien. Niemand
bezweifelt, daß hierin die lex rei sitae allein entſcheidet,
alſo auch auf bewegliche Sachen anzuwenden iſt. Iſt
jedoch nach dieſem Geſetz das Eigenthum einer ſolchen
Sache einmal erworben, ſo muß dieſes Eigenthum auch
in jedem anderen Staate anerkannt werden, wenngleich
dieſer Staat eine gleichartige Erwerbung innerhalb ſeiner
Gränzen nicht anerkannt haben möchte.
4. In den Formen der Veräußerung, das heißt, der
freiwilligen Uebertragung des Eigenthums an eine andere
Perſon, kommen ſehr verſchiedene Rechtsregeln vor, und
nach dem oben aufgeſtellten Grundſatz müſſen wir die am
Ort der gelegenen Sache geltende Rechtsregel anwenden,
ohne Rückſicht auf den Wohnſitz der einen oder der anderen
|0206 : 184|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Perſon, und ohne Rückſicht auf den Ort des geſchloſſenen
Vertrages.
So beruht nach dem Römiſchen Recht die Veräußerung
auf der Uebergabe der Sache. Nach dem Preußiſchen Recht
gleichfalls auf der Uebergabe (c). Nach dem Franzöſiſchen
Recht wird dagegen die Uebertragung des Eigenthums ſchon
durch den bloßen Vertrag bewirkt (d).
Die Anwendung dieſer Regeln wird durch folgende Bei-
ſpiele anſchaulich werden. Wenn ein Pariſer ſein in Berlin
befindliches Mobiliar einem Pariſer in Paris verkauft, ſo
geht das Eigenthum nur durch Tradition über. Wenn
aber umgekehrt ein Berliner ſeine in Paris ſtehende Sachen
einem Berliner in Berlin verkauft, ſo überträgt ſchon der
bloße Vertrag das Eigenthum. Ganz Daſſelbe wird ein-
treten, wenn wir in dieſen Beiſpielen die Stadt Köln an
die Stelle von Paris ſetzen.
Für die Anwendung dieſer Regel wird es genügen,
wenn der Aufenthalt der Sache auch nur ein vorübergehen-
der, kurz dauernder, ſeyn ſollte (e), da in jedem Fall die
Uebertragung des Eigenthums auf einer augenblicklichen
Handlung beruht, alſo keinen längeren Zeitraum erfüllt.
(c) A. L. R. I. 10. § 1. Vgl.
Koch Preuß. Recht B. 1 § 252.
255. 174. Selbſt die bedeutenden
praktiſchen Erleichterungen bei der
unter Abweſenden durch Ueberſen-
dung vor ſich gehenden Tradition
(I. 11 § 128 — 133) ändern an
jenem Grundſatz Nichts.
(d) Code civil art. 1138.
Dieſes Recht gilt alſo auch in der
Preußiſchen Rheinprovinz.
(e) S. o. § 366 S. 181.
|0207 : 185|
§. 367. II. Sachenrecht. Eigenthum.
Anders wird es ſich nur verhalten in den Ausnahmefällen,
in welchen der augenblickliche Aufenthalt der Sache in
ſolchem Grade unbeſtimmt iſt, daß auf denſelben ein ſicheres
Bewußtſeyn der handelnden Perſonen gar nicht gerichtet
ſeyn kann. In ſolchen Fällen werden wir als Ort der
gelegenen Sache denjenigen Ort zu betrachten haben, an
welchem die Sache zunächſt zu bleiben beſtimmt iſt, welches
häufig der Wohnſitz des gegenwärtigen Eigenthümers (des
Veräußerers) ſeyn wird (f).
In allen hier unterſchiedenen Fällen kommt es unzwei-
felhaft nur auf den Ort an, an welchem ſich die Sache
zur Zeit der Uebertragung befindet. Iſt dieſe Uebertragung
einmal geſchehen, ſo iſt für das Schickſal des Eigenthums
jede ſpätere Veränderung des Aufenthalts der Sache gleich-
gültig, indem das einmal erworbene Eigenthum durch eine
ſolche räumliche Veränderung nicht berührt werden kann.
5. Der Erwerb des Eigenthums durch Erſitzung un-
terſcheidet ſich weſentlich von dem Erwerb durch Tradition
darin, daß er nicht, wie die Tradition, durch eine augen-
blickliche, ſondern durch eine über einen längeren Zeitraum
verbreitete Thatſache bedingt iſt.
(f) S. o. § 366 S. 179. Bei
der Veräußerung von Kaufmanns-
gütern kommen noch die ſehr zwei-
felhaften Fragen von dem kauf-
männiſchen Zeichen, und (wenn die
Waaren im Transport begriffen
ſind) von der Wirkung des über-
tragenen Connoſſements in Be-
tracht. Vgl. Thöl Handelsrecht
§ 79. 80.
|0208 : 186|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Bei unbeweglichen Sachen nun iſt die Anwendung des
Rechts der gelegenen Sache ganz unbeſtritten. Dagegen
gehen, in Anſehung der Erſitzung beweglicher Sachen, die
Meinungen ſehr auseinander (g). Hier aber iſt die Frage
dadurch beſonders wichtig, daß die Geſetze verſchiedener
Länder ſehr von einander abweichen. Das Römiſche Recht
erfordert einen Beſitz von drei Jahren, das Preußiſche von
zehn Jahren (h), das Franzöſiſche endlich erfordert gar
keinen fortgeſetzten Beſitz, ſondern ſchließt ſchon mit dem
Anfang deſſelben die Eigenthumsklage des früheren Eigen-
thümers aus; Dieſes jedoch mit Ausnahme verlorener und
geſtohlener Sachen, deren Schutz aber mit dem Ablauf von
drei Jahren aufhört (i). Durch dieſe letzte Beſtimmung
ſchließt ſich im praktiſchen Erfolg das Franzöſiſche Recht
dem Römiſchen nahe an.
Gerade hier nun erſcheint die Anwendung der lex rei
sitae vorzugsweiſe gewiß durch den Umſtand, daß die Grund-
lage aller Erſitzung der fortwährende Beſitz iſt. Der Beſitz
aber, als ein, ſeinem Weſen nach, ganz thatſächliches Ver-
hältniß, iſt noch unzweifelhafter, als jedes dingliche Recht,
nach der lex rei sitae zu beurtheilen (§ 368).
(g) Mühlenbruch doctr.
Pand. § 73 nimmt ganz richtig
die lex rei sitae an. Meier
p. 37 die lex domicilii, und zwar
nach dem Wohnſitz des Uſucapien-
ten, weil dieſer während der lau-
fenden Uſucapion das prätoriſche
Eigenthum ſchon habe. Schäff-
ner §. 67 läßt Alles ungewiß.
(h) A. L. R. I. 9 §. 620.
(i) Code civil art. 2279.
|0209 : 187|
§. 367. II. Sachenrecht. Eigenthum.
Ein Zweifel kann noch entſtehen für die Fälle, in wel-
chen der Aufenthalt der beweglichen Sache, während der
Erſitzungszeit, innerhalb verſchiedener Landgebiete geweſen
iſt. Es kann nicht zweifelhaft ſein, daß alle dieſe Zeiten
des Beſitzes zuſammengerechnet werden müſſen. Der Ab-
lauf der Erſitzung aber, alſo der vollendete Erwerb des
Eigenthums, muß nach dem Recht des Orts beurtheilt
werden, an welchem zuletzt die Sache ſich befindet, weil
erſt mit dem Ablauf des ganzen Zeitraums die Veränderung
im Eigenthum eingetreten, vorher aber eine ſolche nur
erſt vorbereitet worden iſt (k). Iſt einmal nach dieſem
Recht durch Erſitzung das Eigenthum erworben, ſo muß
daſſelbe auch in jedem anderen Lande anerkannt werden,
wenngleich das Geſetz dieſes Landes einen längeren Zeit-
raum erfordern möchte.
6. Die Verfolgung des Eigenthums durch Klage, mit
allen dazu gehörenden näheren Beſtimmungen, iſt zu beur-
theilen nach dem Recht des Ortes, an welchem der Prozeß
geführt wird (l).
Dieſes kann der Ort der gelegenen Sache ſein, wegen
des an dieſem Orte begründeten Gerichtsſtandes (§ 366. a);
alsdann iſt die lex rei sitae anwendbar. Es kann aber
auch der Wohnſitz des Beklagten ſein, weil nach gemeinem
(k) Es gilt alſo bier derſelbe
Grundſatz, wie bei der zeitlichen
Colliſion der Uſucapionsgeſetze
(§ 391. b).
(l) S. o. § 361 Num. 3 C.
|0210 : 188|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Recht beide Arten des Gerichtsſtandes in der Art concur-
riren, daß der Kläger zwiſchen beiden die Wahl hat; als-
dann iſt die lex domicilii des Beklagten anzuwenden auf
alle, die Eigenthumsklage betreffende, Rechtsfragen. Es iſt
nicht zu verkennen, daß durch dieſe alternative Regel eine
bedenkliche Willkür in die Hand des Klägers gelegt wird;
ſie iſt aber hier unvermeidlich.
Eine große Verſchiedenheit zwiſchen den Geſetzgebungen
findet ſich in Anſehung der Beſchränkung der Eigenthums-
klage. Das Römiſche Recht läßt die Klage unbedingt zu ge-
gen jeden Beſitzer, der nicht Eigenthümer iſt, und zwar ohne
Anſpruch dieſes Beſitzers auf Erſatz des ausgelegten Kauf-
preiſes. — Das Preußiſche Recht läßt gleichfalls die un-
bedingte Vindication zu, jedoch mit Vorbehalt des eben
erwähnten Erſatzes an den redlichen Beſitzer (m). — Das
Franzöſiſche Recht läßt in der Regel gar keine Vindication
beweglicher Sachen zu, und macht davon nur einige Aus-
nahmen: bei geſtohlenen oder verlorenen Sachen binnen
drei Jahren, und bei verkauften, noch unbezahlt gebliebenen
Sachen, die gegen den Käufer binnen acht Tagen vindicirt
werden können (n). Der eine oder der andere dieſer Grund-
ſätze wird zur Anwendung kommen müſſen, je nachdem an
dem Ort des Gerichts, vor welchem der Prozeß geführt
wird, das Römiſche, das Preußiſche, das Franzöſiſche
Recht gilt.
(m) A. L. R. I. 15 § 1. 26.
art. 2102 N. 4.
(n) Code civil art. 2279.
|0211 : 189|
§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.
Der eingeleitete Prozeß über das Eigenthum kann be-
ſondere Folgen mit ſich führen, insbeſondere wegen der
Früchte, wegen des durch den Untergang oder die Beſchä-
digung der vindicirten Sache begründeten Schadenerſatzes
u. ſ. w. (o). Alle darauf bezügliche Fragen ſind gleichfalls
nach dem am Orte des Gerichts geltenden Recht zu ent-
ſcheiden.
§. 368.
II. Sachenrecht. Jura in re.
Auf die dinglichen Rechte außer dem Eigenthum (jura
in re) ſind meiſt ähnliche Grundſätze anzuwenden, wie auf
das Eigenthum.
1. Daß die Prädialſervituten nur nach der lex rei
sitae beurtheilt werden können, wird von keiner Seite be-
ſtritten.
Eben ſo verhält es ſich mit den perſönlichen Servituten,
deren Gegenſtand in einer unbeweglichen Sache beſteht.
Iſt der Gegenſtand eine bewegliche Sache, ſo wird von
Vielen die lex domicilii eben ſo, wie bei dem Eigenthum
an beweglichen Sachen, mit Unrecht für anwendbar gehal-
ten. Der Parteiſtreit über dieſe Frage im Allgemeinen iſt
ſchon oben ausführlich abgehandelt worden (§ 366).
2. Die Emphyteuſe und die Superficies ſind keinem
Zweifel unterworfen, da ſie nur an unbeweglichen Sachen
(o) S. o. B. 6 § 260 fg.
|0212 : 190|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
vorkommen können, alſo, wie alle Parteien annehmen, nach
dem Recht der gelegenen Sache zu beurtheilen ſind.
3. Das Preußiſche Recht giebt dem Miether, Pächter,
und ähnlichen Inhabern fremder Sachen zum Zweck eige-
ner Benutzung, ein dingliches Recht mit einer Klage in rem
gegen den dritten Beſitzer, vorausgeſetzt, daß ihnen die
Sache übergeben iſt (a). Im Römiſchen Recht kommt
bekanntlich ein ſolches dingliches Recht nicht vor.
Ohne Zweifel wird nun ein dingliches Recht dieſer Art
entſtehen, wenn die Sache, ſie mag beweglich oder unbe-
weglich ſeyn, im Preußiſchen Staat zur Zeit der Uebergabe
ſich befindet; liegt ſie zu jener Zeit in einem, dem Römi-
ſchen Recht folgenden Lande, ſo entſteht das dingliche
Recht nicht.
Geſetzt aber, dieſes dingliche Recht wird im Preußiſchen
Staat durch Uebergabe einer gemietheten beweglichen Sache
begründet, und der Beſitzer bringt die Sache in ein Land
des Römiſchen Rechts, ſo könnte man annehmen, er könne
auch hier das einmal erworbene Recht gegen einen dritten
Beſitzer geltend machen. Ich glaube jedoch, Dieſes verneinen
zu müſſen, weil ſein Anſpruch auf einem ganz eigenthüm-
lichen Rechtsinſtitut beruht, das in jenem Lande über-
haupt nicht anerkannt iſt (b). — Uebrigens iſt dieſe Frage
(a) A. L. R. I. 2 § 135—137.
I. 7. § 169. 170. Vgl. Koch
Preuß. Recht B. 1 §. 317. 318.
(b) S. o. § 149. B. Dieſer
Meinung iſt auch Wächter II.
S. 388. 389, zwar nicht in dem
hier angeführten beſonderen Fall,
wohl aber in dem ganz gleichar-
|0213 : 191|
§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.
nicht von praktiſcher Erheblichkeit, weil das hier erwähnte
dingliche Recht überhaupt nur bei unbeweglichen Sachen
in wichtigen Folgen hervortritt.
4. Das Pfandrecht iſt nicht nur von ausgedehnterer
Wirkſamkeit, als die bisher genannten jura in re, ſondern
auch in der hier vorliegenden Frage größeren Zweifeln und
Streitigkeiten unterworfen.
Auch hier muß das örtliche Recht der gelegenen Sache
als Regel feſtgehalten werden, und die meiſten dagegen er-
hobenen Bedenken beruhen auf bloßem Schein.
Ich will damit anfangen, eine Ueberſicht der wichtigſten,
dieſes Rechtsinſtitut im Ganzen betreffenden, Verſchieden-
heiten zu geben, die in deutſchen Staaten wahrzunehmen
ſind.
Das Römiſche Recht beruht auf folgenden Grundſätzen.
a. Das Pfandrecht entſteht, als dingliches, gegen jeden
dritten Beſitzer verfolgbares Recht, durch bloßen Vertrag,
auch ohne übergebenen Beſitz (c). b. Der Vertrag kann
auch ſtillſchweigend geſchloſſen werden, indem, neben mehre-
ren obligatoriſchen Rechtsgeſchäften, vermöge einer allge-
meinen Rechtsregel fingirt wird, es ſey zur Sicherheit der
tigen Fall des Pfandrechtes, von
welchem ſogleich die Rede ſeyn
wird.
(c) Ich beſchränke mich hier
abſichtlich auf das Pfandrecht in
ſeinem eigentlichen Sinn, als jus
in re, das heißt, ein vom Eigen-
thum abgezweigtes Recht, mit
Uebergehung der künſtlicheren An-
wendung deſſelben auf Obligatio-
nen u. ſ. w.
|0214 : 192|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Forderung zugleich eine Verpfändung verabredet worden (d).
c. Bewegliche und unbewegliche Sachen werden, als Ge-
genſtände einer Verpfändung, nicht unterſchieden. d. Der
ausdrückliche ſowohl, als der ſtillſchweigende Vertrag kann
ſich beziehen, nicht nur auf einzelne Sachen, ſondern auch
auf ein ganzes Vermögen. Die Verpfändung dieſer letzten
Art hat den Sinn, daß ſie alle zu dieſem Vermögen jetzt
gehörende, und alle in daſſelbe künftig eintretende Sachen
umfaßt, alſo auch ſolche Sachen, die nicht einzeln bezeich-
net, ja nicht einmal einzeln zum Bewußtſeyn der Parteien
gebracht werden. Mit Unrecht hat man als den Gegen-
ſtand eines ſolchen Pfandrechts das Vermögen in ſeinem
idealen Begriff, abſtrahirt von allem Inhalt, anſehen, und
daher die juriſtiſchen Begriffe der universitas und successio
per universitatem, ähnlich den Verhältniſſen des Erbrechts,
darauf anwenden wollen (e); in der That iſt dabei nur
von einer indirecten Bezeichnung und Begränzung der Ge-
genſtände die Rede, die als einzelne Sachen mit dem
Pfandrecht behaftet ſeyn ſollen.
(d) L. 3 in quib. caus.
(20. 2), „.. tacitam conven-
tionem de inveetis illatis ..“
L. 4 pr. eod. „.. quasi id taci-
te convenerit ..“ L. 6 eod.
„.. tacite solet conventum ac-
cipi, ut perinde teneantur in-
vecta et illata, ac si specialiter
convenisset ..“ L. 7 pr. eod.
„.. tacite intelliguntur pignori
esse .. etiamsi nominatim id
non convenerit.“ Der bei
neueren Schriftſtellern übliche Aus-
druck des geſetzlichen Pfandrechts
(pignus legale) verdunkelt die
wahre Natur des Rechtsinſtituts.
(e) Ueber dieſe Begriffe vgl.
oben B. 3 § 105.
|0215 : 193|
§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.
Unter den verſchiedenen Ländern nun, welche im Ganzen
das Römiſche Recht befolgen, kommen gerade im Pfand-
recht, neben der eben dargeſtellten gemeinſamen Grundlage,
manche untergeordnete Abweichungen vor. Hauptſächlich
betreffen dieſe den Umfang des ſtillſchweigenden Pfandrechts,
welches, je nach den einzelnen Landesgeſetzgebungen, bald
mehr bald weniger Fälle von Obligationen umfaßt, die
mit der Fiction eines Pfandvertrages verbunden ſeyn ſollen.
Geſetzt nun, es ſey von zwei, das Römiſche Recht im
Ganzen befolgenden, Ländern die Rede. In dem einen
gelte auch die Regel des Römiſchen Rechts, nach welchem
das Verſprechen, eine Brautgabe zu beſtellen, ſtets durch
ſtillſchweigende Verpfändung des ganzen Vermögens ge-
ſichert iſt (f); in dem anderen Lande ſey dieſe Regel auf-
gehoben. Wenn nun zwei Einwohner jenes erſten Landes
einen ſolchen Dotalvertrag ſchließen, der Schuldner aber
beſitzt in dem zweiten Lande ein Grundſtück, ſo fragt es
ſich, ob dieſes Grundſtück dem ſtillſchweigenden Pfandrecht
unterworfen ſey. Man könnte dieſe Frage verneinen wollen,
indem man die lex rei sitae zur Anwendung brächte; aber
mit Unrecht. Denn auch das zweite Land erkennt die
Möglichkeit einer Verpfändung durch bloßen Vertrag, und
ſelbſt durch ſtillſchweigenden Vertrag, an. Ob nun im
vorliegenden Fall ein ſolcher Pfandvertrag vorhanden iſt,
das iſt eine thatſächliche Frage, die nur nach demjenigen
(f) L. un § 1 C. de rei ux. act. (5. 13).
VIII. 13
|0216 : 194|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
örtlichen Recht entſchieden werden kann, unter welchem
überhaupt das hier geſchloſſene Rechtsgeſchäft ſteht (g).
Nach dieſem Recht aber wird fingirt, es ſey eine ausdrück-
liche Verpfändung des ganzen Vermögens, alſo auch jenes
auswärtigen Grundſtücks, vorgenommen worden, und daher
muß das Grundſtück als mitverpfändet gelten (h). Wäre
der Dotalvertrag in dem zweiten Lande, von Einwohnern
deſſelben, geſchloſſen worden, ſo würde weder das Grund-
ſtück, noch das übrige Vermögen des Schuldners, als
verpfändet anzuſehen ſeyn.
Eine ungleich größere Verſchiedenheit aber findet ſich
zwiſchen den deutſchen Ländern, die das Römiſche Pfand-
recht im Ganzen anerkennen, und denen, die das Pfand-
recht auf eine ganz neue Grundlage ſtellen. Ich will als
Typus dieſer letzten die Preußiſche Geſetzgebung annehmen,
worin ein ſolches neues Recht am vollſtändigſten ausgebildet
erſcheint. Einzelne Beſtandtheile davon finden ſich auch in
anderen Ländern, und es wird nicht ſchwer ſeyn, die hier
folgenden Regeln auch auf dieſe anzuwenden.
Das Preußiſche Recht verſagt dem bloßen Vertrag all-
gemein die Kraft, ein Pfandrecht als dingliches Recht zu
(g) Welches örtliche Recht als
ſolches anzuſehen iſt, wird in dem
gleich folgenden Abſchnitt (Obli-
gationenrecht) feſtgeſtellt werden
(§ 374. D.).
(h) Dieſelbe Entſcheidung ge-
ben Meier p. 39 — 41. Meißner
vom ſtillſchweigenden Pfandrecht
§ 23. 24, aber aus einem Grunde,
den ich nicht als richtig anerkenne.
Das Recht des Wohnſitzes, als
ſolches, ſoll entſcheiden, gerade wie
bei Fragen des Erbrechts, weil
hier das ideale Vermögen, die
universitas, Gegenſtand der Ver-
pfändung ſey.
|0217 : 195|
§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.
erzeugen. Es unterſcheidet ferner unbewegliche und beweg-
liche Sachen. Bei den unbeweglichen entſteht das dingliche
Recht nur durch die Eintragung in das Hypothekenbuch (i).
Ein Vertrag über die Eintragung eines beſtimmten Grund-
ſtücks iſt ein Titel, auf deſſen Grund die Eintragung ſelbſt
gefordert werden kann, ein allgemeiner Pfandvertrag über
das ganze Vermögen giebt einen ſolchen Anſpruch für ein-
zelne Grundſtücke nicht (k). — An beweglichen Sachen ent-
ſteht ein dingliches Pfandrecht nur durch die Uebergabe (l);
ein Vertrag über die Verpfändung beſtimmter einzelner
Sachen iſt ein Titel zum Anſpruch auf dieſe Uebergabe (m).
Wenn nun in einem Lande, worin das Römiſche Recht
gilt, eine Verpfändung durch Vertrag ausdrücklich oder
ſtillſchweigend vorgenommen wird, ſo kann dieſe an den in
Preußen befindlichen Sachen des Schuldners kein Pfand-
recht erzeugen. Sie kann höchſtens als Titel gelten, um
an jenen Sachen die Beſtellung eines Pfandrechts (durch
Eintragung oder Uebergabe) zu fordern, und auch das nur
unter den ſo eben angegebenen beſonderen Bedingungen
(Noten k. m.). — Wird aber umgekehrt in Preußen ein
Pfandvertrag über einzelne Sachen oder über ein ganzes
Vermögen geſchloſſen, und hat der Schuldner Vermögens-
(i) A. L. R. I. 20 § 411. 412.
(k) Ebendaſ. § 402. 403.
(l) Ebendaſ. § 111.
(m) Ebendaſ. § 109. 110. —
Ein allgemeiner Verpfändungsver-
trag giebt dieſen Anſpruch nur in
den beſonderen Fällen, worin auch
eine Cautionsleiſtung gefordert
werden kann. Ebendaſ. § 112.
13*
|0218 : 196|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſtücke, die in einem Lande des Römiſchen Rechts liegen, ſo
iſt kein Hinderniß vorhanden, dieſe Vermögensſtücke als
gültig verpfändet zu behandeln, da das Römiſche Recht die
Verpfändung durch Vertrag weder von einem beſtimmten
Ort des geſchloſſenen Vertrags, noch von einem beſtimmten
Wohnſitz des Verpfänders abhängig macht. Es kann und
muß alſo hier die lex rei sitae ungeſtört zur Anwendung
kommen (n).
Nur folgender Fall bleibt dabei noch zu erwägen übrig.
Wenn in einem Lande des Römiſchen Rechts eine beweg-
liche Sache durch Vertrag, ſey es ausdrücklich oder ſtill-
ſchweigend, gültigerweiſe verpfändet, die Sache aber nach-
her nach Preußen gebracht wird; wirkt nun das Pfandrecht
fort, ſo daß die Sache auch hier mit einer Klage gegen
jeden Beſitzer (ſey es der Schuldner oder ein Dritter) ver-
folgt, und eben ſo von dem Pfandberechtigten, wenn dieſer
durch Zufall, ohne Uebergabe, den Beſitz erlangt, veräußert
werden kann? Man möchte geneigt ſein, dieſe Frage zu
bejahen, weil ſcheinbar das einmal erworbene Recht durch
(n) Eine buchſtäbliche Anwen-
dung des Allg. Landrechts Einl.
§ 28 würde dahin führen, daß ein
Berliner in Stralſund (wo Rö-
miſches Recht gilt) ſeine bewegliche
Sache nicht durch bloßen Vertrag
verpfänden könnte, ſo daß dieſe Ver-
pfändung in Stralſund wirkſam
wäre (§ 366. h). Die Widerſinnig-
keit dieſer Behauptung wird beſon-
ders einleuchtend, wenn man den
Fall umgekehrt denkt. Denn ſo müßte
auch der Stralſunder ſeine beweg-
liche Sache durch bloßen Vertrag
in Berlin dergeſtalt verpfänden
können, daß die Verpfändung in
Berlin wirkſam wäre. Dieſe letzte
Behauptung wird ſchwerlich irgend
einen Vertheidiger finden, und
doch folgt auch ſie aus der völlig
buchſtäblichen Anwendung des § 28.
|0219 : 197|
§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.
die Veränderung des Orts ſeine Kraft nicht verlieren
kann.
Dennoch glaube ich, die Frage verneinen zu müſ-
ſen. Es iſt nämlich in einem ſolchen Fall nicht von
einem und demſelben Pfandrecht die Rede, das nur in
mehreren Ländern auf verſchiedene Weiſe erworben werden
möchte, etwa ſo, wie das Eigenthum hier durch Tradition,
dort durch bloßen Vertrag erworben wird, und dennoch
überall gleichmäßig anerkannt, als Eigenthum wirkt.
Vielmehr iſt das Pfandrecht durch bloßen Vertrag ein
ganz anderes Rechtsinſtitut, als das, welches nur durch
Uebergabe begründet werden kann, und beide haben nur
den Namen und den allgemeinen Zweck mit einander ge-
mein. Wenn daher die oben erwähnte bewegliche Sache in
das Gebiet der Preußiſchen Geſetzgebung hereingebracht
wird, und hier das anderwärts durch bloßen Vertrag be-
gründete Pfandrecht geltend gemacht werden ſoll, ſo beruft
ſich der angebliche Pfandgläubiger auf ein im Preußiſchen
Staat nicht anerkanntes Rechtsinſtitut und ein ſolches Ver-
fahren iſt ſchon oben als unzuläſſig nachgewieſen wor-
den (o). Dagegen kann umgekehrt der Pfandgläubiger,
(o) S. o. § 349. B. — Die-
ſelbe Meinung wird vertheidigt in
den Ergänzungen zum A. L. R.
von Gräff u. ſ. w. B. 1 S. 116.
— Eben ſo auch von Wächter
II. S. 386. 388. 389, in Bezie-
hung auf das Württembergiſche
Recht, welches hierin mit dem
Preußiſchen übereinſtimmt. Er
giebt als Grund an, daß das Ge-
ſetz hier das Pfandrecht an Mo-
bilien in Entſtehung und im
Fortbeſtehen nur in der Form
des Fauſtpfandes anerkenne. Dieſe
|0220 : 198|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
welchem in Preußen eine bewegliche Sache durch Uebergabe
verpfändet worden iſt, ſein Recht auch in einem Lande des
Römiſchen Rechts geltend machen, da er alle Bedingungen
in ſich vereinigt, die hier zu einem wirkſamen Pfandrechte
erfordert werden.
Die Rangordnung mehrerer an derſelben Sache begrün-
deter Pfandrechte iſt nach der lex rei sitae zu beurtheilen.
Dieſe Rangordnung kann beſonders auch im Concurſe zur
Sprache kommen, und von dieſem Falle wird noch unten
gehandelt werden (§ 374).
5. Was hier von den dem Römiſchen Recht angehö-
renden, und den ihnen durch neuere Geſetzgebung nachge-
bildeten dinglichen Rechten geſagt worden iſt, muß eben ſo
von den rein germaniſchen gelten. Das Recht an Lehen
und Fideicommiſſen iſt ſtets ein Recht an beſtimmten Grund-
ſtücken, und wird alſo beherrſcht von dem Geſetz des Ortes,
an welchem die Grundſtücke liegen.
Im Laufe dieſer Unterſuchung über das Geſetz, welchem
die dinglichen Rechte unterworfen ſind, habe ich an jedem
gehörigen Orte ſogleich die oben (§ 344. e) vorbehaltene
Frage eingeſchaltet, inwiefern das anwendbare Geſetz durch
Begründung iſt weſentlich dieſelbe,
wie die von mir verſuchte, und nur
in der Ausdrucksweiſe davon ver-
ſchieden.
|0221 : 199|
§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.
eine Veränderung in dem Aufenthalt der beweglichen Sache,
die den Gegenſtand eines dinglichen Rechts bildet, ſo oder
anders beſtimmt werden müſſe.
Der Beſitz gehört zwar nicht unter die dinglichen
Rechte, jedoch wird an der gegenwärtigen Stelle, neben
den dinglichen Rechten, die Frage nach dem auf den Beſitz
anwendbaren örtlichen Recht zweckmäßiger, als an irgend
einer anderen Stelle, behandelt werden können.
Der Beſitz ſelbſt iſt, ſeiner Natur nach, ein rein that-
ſächliches Verhältniß (p), und als ſolches kann er nur dem
örtlichen Recht der gelegenen Sache unterworfen ſeyn, er
mag ſich auf bewegliche oder unbewegliche Sachen beziehen.
Nach dieſem Recht allein alſo iſt die Frage nach dem Er-
werb und Verluſt irgend eines Beſitzes, alſo nach dem
Daſeyn deſſelben, zu entſcheiden, ohne Unterſchied, um wel-
ches Zweckes und Erfolges Willen dieſe Frage irgendwo
aufgeworfen werden möge. An den Beſitz aber knüpfen ſich
zwei rechtliche Folgen, die Uſucapion und die poſſeſſoriſchen
Interdicte. Die erſte hat gar keine ſelbſtſtändige Natur,
fällt vielmehr mit dem Eigenthum zuſammen, und gehört
mit dieſem zur lex rei sitae (§ 367 Num. 5). — Die
poſſeſſoriſchen Interdicte, als die zweite Folge des Beſitzes,
gehören unter die obligationes ex delicto (q), ſtehen alſo
(p) Savigny Recht des Beſitzes § 5.
a. a. O. §. 6. 37.
(q) Savigny
|0222 : 200|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
unter dem örtlichen Rechte des Gerichts, vor welchem der
Rechtsſtreit geführt wird (r). Indeſſen iſt dieſer Satz von weit
geringerer Erheblichkeit, als man ihm auf den erſten Blick
zuſchreiben möchte. Er betrifft nämlich nur das eigentlich
delictartige Element in den Beſitzklagen, alſo ihre Straf-
natur, welches der bei weitem geringere Beſtandtheil ihres
juriſtiſchen Gehaltes iſt. Der weit wichtigere Beſtandtheil,
die Frage nach dem Daſeyn und der Anerkennung des Be-
ſitzes, iſt aber von jedem Richter, wie ſo eben bemerkt
wurde, lediglich nach der lex rei sitae zu entſcheiden.
§. 369.
III. Obligationenrecht. Einleitung.
Bei den Obligationen, wie bei den dinglichen Rechten,
tritt die Perſon aus ihrer abſtracten Perſönlichkeit heraus
in das örtliche Rechtsgebiet eines einzelnen Rechtsverhält-
niſſes (§ 345. 360. 366). Auch hier alſo haben wir die
ſtets wiederkehrende Frage zu beantworten, wo der wahre
Sitz jeder Obligation iſt, an welchem Ort im Raum ſie ihre
Heimath hat. Denn aus dieſem Sitz der Obligation, aus
dieſer ihrer Heimath, werden wir zugleich den beſonderen
(r) S. u. § 374. C. Dieſes
kann nun allerdings das forum
rei sitae ſeyn, welches unſtreitig
für die Beſitzklagen ſtets begründet
iſt. L. un C. ubi de poss. (3. 16),
Nov. 69. C. 1. Es kann aber auch
das davon vielleicht verſchiedene
forum domicilii ſeyn, indem dieſes
mit jenem electiv concurrirt (§ 371
Note n. und p.).
|0223 : 201|
§. 369. III. Obligationenrecht. Einleitung.
Gerichtsſtand derſelben, ſo wie das örtliche Recht erkennen
nach welchem ſie zu beurtheilen iſt.
Die Beantwortung dieſer Frage iſt gerade bei den Obli-
gationen aus folgenden Gründen, mehr als anderwärts,
ſchwierig und zweifelhaft.
Erſtlich hat die Obligation einen Gegenſtand von un-
ſichtbarer Natur, in Vergleichung mit dem dinglichen Recht,
welches an einem ſinnlich wahrnehmbaren Gegenſtand, einer
Sache, haftet. Wir müſſen uns alſo jenes Unſichtbare in
der Obligation erſt zu verkörpern ſuchen.
Ferner bezieht ſich jede Obligation weſentlich auf zwei
verſchiedene Perſonen; in der einen erſcheint ſie als erweiterte
Freiheit, als Herrſchaft über einen fremden Willen: in der
anderen als beſchränkte Freiheit, als Abhängigkeit von
einem fremden Willen (a). Nach welchem dieſer beiden,
zwar eng verbundenen, dennoch verſchiedenen, Verhältniſſe
ſollen wir nun den Sitz der Obligation beſtimmen? — Ohne
Zweifel nach dem Verhältniß des Schuldners, da die in
der Perſon des Schuldners vorhandene Nothwendigkeit
einer Handlung das eigentliche Weſen der Obligation aus-
macht. Dieſe Annahme wird beſtätigt durch den unbeſtrit-
tenen großen Einfluß des Orts der Erfüllung auf den
Gerichtsſtand, indem die Erfüllung vorzugsweiſe in einer
Thätigkeit des Schuldners beſteht, neben welcher eine Thä-
tigkeit des Glaubigers entweder gar nicht, oder doch nur
(a) S. o. B. 1 § 56.
|0224 : 202|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
in untergeordneter, mitwirkender Weiſe vorkommt. Ferner
durch den inneren Zuſammenhang des örtlichen Rechts mit
dem Gerichtsſtand, welcher letzte ſtets auf die Perſon des
Beklagten, hier alſo des Schuldners, ſich bezieht.
Endlich entſteht noch eine Schwierigkeit aus der Gegen-
ſeitigkeit, welche, wenn auch nicht bei allen, doch bei vielen
Obligationen vorkommt. Wo dieſe vorhanden iſt, da iſt
jede der beiden Perſonen als Schuldner anzuſehen, nur in
Beziehung auf verſchiedene Handlungen, weshalb die ſo
eben aufgeſtellte Regel der überwiegenden Berückſichtigung
des Schuldners nicht mehr auszureichen ſcheint. Allein in
jeder gegenſeitigen Obligation laſſen ſich die beiden getrenn-
ten Schuldverhältniſſe ſtets als getrennte behandeln, ſo daß
uns auch hier Nichts hindert, für jede der beiden, durch
dieſe Trennung entſtehenden, Hälften, den Gerichtsſtand und
das örtliche Recht nach der Perſon des Schuldners zu be-
ſtimmen. Ja ſogar iſt dieſe abſondernde Auffaſſung als
die urſprüngliche und natürliche anzuſehen, die zuſammen-
faſſende Behandlung und Bezeichnung als eine abgeleitete
und künſtliche, welche jedoch in der innigen Verbindung der
beiden Obligationen ihre Rechtfertigung findet. Die Rich-
tigkeit der hier aufgeſtellten Anſicht wird beſtätigt durch die
bei den Römern ſehr gewöhnliche Abſchließung eines Kauf-
vertrags u. ſ. w. durch zwei getrennte Stipulationen (b).
(b) Es ſoll dabei nicht geleugnet
werden, daß in manchen Fällen
dieſe abſondernde Behandlung bei-
der Hälften einer zweiſeitigen Obli-
gation, namentlich in Beziehung
auf das örtliche Recht, Zweifel und
|0225 : 203|
§. 369. III. Obligationenrecht. Einleitung.
Bei den Obligationen finden wir wieder den ſchon öfter
hervorgehobenen Zuſammenhang zwiſchen dem Gerichtsſtand
und dem Recht (§ 360. Num. 1). Derſelbe zeigt ſich aber
hier wichtiger und einflußreicher, als anderwärts, weil im
Römiſchen Recht der für die Obligationen geltende beſon-
dere Gerichtsſtand ſorgfältig ausgebildet erſcheint, anſtatt
daß das örtliche Recht faſt gar nicht erwähnt wird. Den-
noch paſſen die den Gerichtsſtand beſtimmenden Gründe
durchaus auch auf das örtliche Recht, indem Beides auf
dem gleichmäßigen Gehorſam gegen verſchiedene Zweige der
örtlichen öffentlichen Zuſtände beruht. Wir können daher
aus den Beſtimmungen des Römiſchen Rechts über den
Gerichtsſtand der Obligationen mit Sicherheit abnehmen,
in welchem Sinne das örtliche Recht der Obligationen auf-
zufaſſen iſt.
Der ſpecielle Gerichtsſtand, wie das örtliche Recht der
Obligationen, beruht auf einer freiwilligen Unterwerfung
(§ 360. Num. 2), die in den meiſten Fällen nicht ausdrück-
lich erklärt wird, ſondern nur aus den Umſtänden zu
ſchließen iſt, eben deshalb aber auch durch eine entgegenge-
ſetzte ausdrückliche Erklärung ausgeſchloſſen wird (c). Die
Umſtände alſo, unter welchen eine Obligation entſteht, kön-
Verwickelungen mit ſich führen
kann. Grundſätzlich aber iſt ſie
darum nicht weniger richtig, und
ſie wird auch von Anderen für
mehrere Fälle der Anwendung be-
hauptet. Vgl. Wächter II. S. 45.
(c) L. 19 § 2 de jud. (5. 1)
„.. nisi alio loci, ut defen-
deret, convenit“ …
|0226 : 204|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
nen oft in Anderen eine beſtimmte wohlbegründete Erwar-
tung erregen, und dieſe Erwartung ſoll dann auch nicht
getäuſcht werden. Das iſt der Geſichtspunkt, von welchem
aus ſowohl der Gerichtsſtand der Obligationen, als das
örtliche Recht derſelben, aufgefaßt werden muß.
Freiwillige Unterwerfung iſt nun auch der Grund des
prorogirten Gerichtsſtandes, und daher iſt eine Verwandt-
ſchaft zwiſchen dieſem und dem Gerichtsſtand der Obliga-
tionen unzweifelhaft, obgleich dieſer letzte eine mehr objective,
der prorogirte eine mehr ſubjective Natur hat, die Rückſicht
auf ein beſtimmtes Gericht, oft auch auf beſtimmte Gerichts-
perſonen. Den Gerichtsſtand der Obligation als eine reine
Anwendung des prorogirten, als einen einzelnen Fall deſſel-
ben, aufzufaſſen, iſt wohl nicht gerechtfertigt (d). Das
eigentliche Intereſſe dieſer Frage möchte etwa darin beſte-
hen, daß es nach Römiſchem Recht zweifelhaft iſt, ob die
Prorogation ſtreng bindet (e). Der Gerichtsſtand der
(d) Über dieſe Frage wird
geſtritten zwiſchen Bethmann
Hollweg Verſuche S. 20—27
S. 50 und Linde Abhandlungen
B. 2 S. 75 ſg. Der letzte aber
irrt offenbar darin, daß er bei den
Obligationen nicht blos den Aus-
druck des prorogirten Gerichts-
ſtandes verwirft, ſondern ſelbſt die
freiwillige Unterwerfung als Rechts-
grund. — Die Hauptſtellen über
den prorogirten Gerichtsſtand ſind:
L. 1 L. 2 pr. § 1 de jud. (5. 1),
L. 15 de jurisdict. (2. 1), L. 1 C.
de jurisdict. (3. 13).
(e) Nach L. 29 C. de pact.
(2. 3) ſcheint ſie bindend, nach
L. 18 de jurisdict. (2. 1) wider-
ruflich. Die letzte Stelle ſetzt wohl
ein nudum pactum voraus, ſo
daß die Stipulation allerdings
bindend war, und eben ſo das
pactum adjectum neben einem
b. f. contractus (Cato de re
rust. 149). Vgl. auch Holl-
weg Verſuche S. 12.
|0227 : 205|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
Obligation dagegen iſt ganz gewiß bindend für den Beklag-
ten, und eben ſo gewiß nicht bindend für den Kläger, der
zwiſchen dieſem ſpeciellen Gerichtsſtand und dem forum
domicilii des Beklagten freie Wahl hat (f).
§. 370.
III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
Schriftſteller.
Linde Archiv für civiliſtiſche Praxis Band 7. S. 59—
79 (1824).
Abhandlungen B. 2. S. 75—121 (1829),
v. Bethmann Hollweg Verſuche Num. I. S. 1—77
(1827).
Mühlenbruch Archiv B. 19. S. 337—384 (1836).
Albrecht Programm über das Motiv des forum con-
tractus. Würzburg 1845.
Es ſind oben drei in ſich zuſammenhängende Fragen auf-
geworfen worden (§ 369): Wo iſt der Sitz einer Obliga-
tion? Wo iſt der beſondere Gerichtsſtand derſelben? Wo iſt
(f) Vgl. unten § 371. Der
Grund des ſpeciellen Gerichtsſtan-
des der Obligationen iſt alſo gewiß
nicht die Begünſtigung des Be-
klagten (wie Linde annimmt,
Archiv VII. S. 67), ſondern des
Klägers. Dieſem ſoll der Beweis
und die Execution erleichtert wer-
den, vielleicht auch die Prozeßfüh-
rung ſelbſt, indem er dadurch oft
an dem eigenen Wohnſitz klagen
kann, nicht blos an dem des Be-
klagten.
|0228 : 206|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
das örtliche Recht aufzuſuchen, welches auf ſie angewendet
werden muß? Die erſte dieſer drei Fragen hat eine theo-
retiſche Natur, und dient blos als Grundlage für die rich-
tige Beantwortung der beiden anderen, weshalb ſie mit der
zweiten Frage ſogleich zuſammen gefaßt werden kann.
Dieſe zweite, den Gerichtsſtand der Obligation betreffende,
Frage hat im Römiſchen Recht zu einer Reihe von prak-
tiſchen, ſehr in das Einzelne gehenden Entſcheidungen ge-
führt, weshalb die Meinungsverſchiedenheiten unſrer Schrift-
ſteller weniger den Inhalt der Rechtsregeln, als deren An-
ordnung und Begründung betreffen, alſo eine mehr theore-
tiſche, als praktiſche Natur haben.
Der beſondere Gerichtsſtand der Obligation (zuſammen
fallend mit dem wahren Sitz der Obligation) beruht auf
freier Unterwerfung der Parteien, die jedoch meiſt nicht in
einer ausdrücklichen, ſondern in einer ſtillſchweigenden Wil-
lenserklärung liegt, und daher ſtets durch eine entgegenge-
ſetzte ausdrückliche Erklärung ausgeſchloſſen wird (§ 369).
Wir haben alſo zu erforſchen, auf welchen Ort die Erwar-
tung der Parteien gerichtet war, welchen Ort ſie ſich als
den Sitz der Obligation gedacht haben? An dieſem Ort
haben wir den beſonderen Gerichtsſtand der Obligation,
vermöge freier Unterwerfung, anzunehmen. Da aber die
Obligation an ſich, als Rechtsverhältniß, ein unkörperliches,
nicht räumliches Daſeyn hat, ſo müſſen wir in dem natür-
lichen Entwickelungsgang derſelben ſichtbare Erſcheinungen
aufſuchen, an welche wir das unſichtbare Weſen der Obli-
|0229 : 207|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
gation anknüpfen können, um ihr gleichſam einen Körper
zu verſchaffen.
Nun finden wir in jeder Obligation vorherrſchend und
gleichförmig zwei ſolche ſichtbare Erſcheinungen, die wir
als leitend anſehen könnten. Jede Obligation entſteht näm-
lich aus ſichtbaren Thatſachen: jede Obligation wird aber
auch erfüllt durch ſichtbare Thatſachen; beide müſſen an
irgend einem Orte vorkommen. Wir können daher entwe-
der den Entſtehungsgrund der Obligation, oder die
Erfüllung derſelben, als Anhalt wählen, um darauf den
Sitz der Obligation, ſo wie den beſonderen Gerichtsſtand
derſelben, zu beſtimmen; entweder den Anfang oder das
Ende der Obligation. Welchem von beiden Punkten wer-
den wir nach allgemeiner Betrachtung den Vorzug zu geben
haben?
Nicht dem Entſtehungsgrund. Dieſer iſt an ſich zu-
fällig, vorübergehend, dem Weſen der Obligation und ihrer
ferneren Entwickelung und Wirkſamkeit fremd. Sollte dem
Ort, wo die Obligation entſtand, in den Augen der Par-
teien eine bleibende, in die Zukunft hin wirkende, Wichtig-
keit zugeſchrieben werden, ſo könnte Dieſes gewiß nicht aus
dem Entſtehungsgrund an ſich hervorgehen, ſondern nur
aus der Verbindung deſſelben mit äußeren, ihm ſelbſt fremd-
artigen Umſtänden, durch welche eine beſtimmte Erwartung
der Parteien gerade auf dieſen Ort gerichtet werden
möchte.
|0230 : 208|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Ganz anders verhält es ſich mit der Erfüllung, die mit
dem eigenſten Weſen der Obligation zuſammen fällt. Denn
die Obligation beſteht eben darin, daß irgend Etwas, das
früher in der Willkür einer Perſon ſtand, in ein Nothwen-
diges, das bisher Ungewiſſe in ein Gewiſſes, verwandelt
wird, und dieſes nothwendig und gewiß Gewordene iſt ge-
rade die Erfüllung. Auf dieſe alſo iſt die ganze Erwar-
tung der Parteien gerichtet, und es liegt daher im Weſen
der Obligation, daß der Ort der Erfüllung als Sitz der
Obligation gedacht, daß an dieſen Ort der beſondere Ge-
richtsſtand der Obligation durch freie Unterwerfung verlegt
werde. — Bevor aber dieſer Gedanke im Einzelnen durch-
geführt wird, ſcheint es räthlich, einen vorläufigen Blick
auf die unter den neueren Schriftſtellern vorherrſchenden
Auffaſſungen der hier vorliegenden Frage zu werfen.
Die meiſten Schriftſteller haben von jeher den beſon-
deren Gerichtsſtand der Obligation an den Ort geſetzt,
an welchem die Obligation entſtanden iſt. Da nun
die meiſten Obligationen aus Verträgen entſtehen, ſo ſollte
der Ort, an welchem der Vertrag geſchloſſen wurde, be-
ſtimmend ſeyn für den Gerichtsſtand, und daraus erklärt
ſich der ſehr allgemein verbreitete, keinesweges quellen-
mäßige, Kunſtausdruck forum contractus für den beſonde-
ren Gerichtsſtand der Obligationen. — Die Erklärung und
ſcheinbare Rechtfertigung dieſer Lehre liegt in einigen Haupt-
ſtellen des Römiſchen Rechts, in welchen durch ungründ-
liche Auslegung das wahre Verhältniß der Regel zur Aus-
|0231 : 209|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
nahme, des Mittelpunktes zu den untergeordneten Beſtim-
mungen, verkannt und verſchoben wurde. Die praktiſchen
Irrthümer, wozu jener Grundſatz führen konnte, wurden
nun eben abgewendet durch eine Reihe beigefügter Ausnah-
men, die aber den Grundſatz ſelbſt großentheils in bloßen
Schein auflöſten (a). — Nach der oben aufgeſtellten An-
ſicht müſſen wir dieſe Lehre im Ganzen verwerfen, weil
ſie eines inneren Grundes, der nur aus dem Weſen der
Obligation entnommen werden könnte, völlig ermangelt.
Was aber an partieller Wahrheit in ihr enthalten iſt, wird
in der unten folgenden Lehre ſeine wahre Stellung finden,
und nach Gebühr anerkannt werden.
Andere Schriftſteller dagegen haben in neuerer Zeit je-
nen Grundſatz aufgegeben, und den Gerichtsſtand der Obli-
gation vielmehr an den Erfüllungsort anzuknüpfen verſucht.
Mit dieſer Grundlage habe ich mich bereits im Allgemeinen
einverſtanden erklärt. Der richtige Erfolg dieſes Verfah-
rens hängt aber ab von der Art, wie der Erfüllungsort
feſtgeſtellt werden ſoll. Dieſes kann zunächſt geſchehen
(a) Vgl. oben B. 1 Vorrede
S. XLV. — Jene Stellen ſind:
L. 3 de reb. auct. jud. (42. 5),
L. 21 de O. et A. (44. 7), vor-
züglich aber L. 19 § 2 de jud.
(5. 1), welche allerdings auf den
erſten Blick ſo ausſieht, als wolle
ſie ſo, wie es von den Neueren
zu geſchehen pflegt, Regel und
Ausnahme neben einander ſtellen,
anſtatt daß ſie in der That nur
verſuchsweiſe einen ſcheinbar allge-
meinen Satz an die Spitze ſtellt,
dann aber durch hinzugefügte Be-
ſchränkungen den Leſer dahin führt,
die wahre Regel, die ſie nicht un-
mittelbar ausſpricht, durch Ab-
ſtraction zu finden; ganz wie es
der Methode der alten Juriſten
angemeſſen iſt.
VIII. 14
|0232 : 210|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
durch den für dieſe beſondere Obligation ausgeſprochenen
Willen der Parteien. Daß nun an einem ſolchen Ort der
Gerichtsſtand der Obligation anzunehmen ſey, iſt niemals
bezweifelt worden. Allein der hier vorausgeſetzte Fall iſt
gerade der ſeltnere, und es bleibt daher für die meiſten
Fälle zu unterſuchen übrig, welcher Ort in Ermangelung
eines ſolchen beſonderen ausgeſprochenen Willens als Er-
füllungsort, und (an dieſen anknüpfend) zugleich als beſon-
derer Gerichtsſtand der Obligation angenommen werden ſoll.
Hierüber wird von manchen Schriftſtellern folgender
Grundſatz aufgeſtellt: In Ermangelung des Privatwillens
entſcheidet das Geſetz. Für jede Obligation alſo giebt es
ſtets einen feſt beſtimmten Erfüllungsort; dieſer beruht ent-
weder auf dem beſonderen Willen der Parteien, oder, in
deſſen Ermangelung, auf der Vorſchrift des Geſetzes. Der
eine wie der andere beſtimmt zugleich den beſonderen Ge-
richtsſtand der Obligation.
Ich halte dieſe Lehre für völlig verwerflich, will aber
die Widerlegung derſelben erſt verſuchen, nachdem ich eine
andere durchgeführt haben werde. Dieſe läßt ſich in we-
nigen Worten ſo ausdrücken:
Der Erfüllungsort wird ſtets beſtimmt durch den
beſonderen Willen der Parteien; dieſer kann aber
entweder ausdrücklich erklärt werden, oder
ſtillſchweigend; in beiden Fällen beſtimmt
er zugleich den beſonderen Gerichtsſtand der
|0233 : 211|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
Obligation, der alſo ſtets auf freier Unterwerfung
beruht (§ 369) (b).
Die hier angedeutete Lehre alſo unterſcheidet ſich von
der vorher angegebenen und verworfenen darin, daß an die
Stelle des geſetzlich beſtimmten Erfüllungsortes der
durch ſtillſchweigende Uebereinkunft beſtimmte ge-
ſetzt wird.
Ich gehe nun zur genaueren Darſtellung dieſer Lehre
über.
I. Der erſte mögliche Fall, den wir zu berückſichtigen
haben, ſetzt voraus den an ſich zufälligen Umſtand, daß der
beſondere Wille der Parteien einen Ort der Erfüllung feſt-
geſtellt hat. Dieſes kann etwa dadurch geſchehen, daß der
Vertrag, worin die Auszahlung einer Geldſumme ver-
ſprochen wird, zugleich die Stadt geradezu benennt, worin
dieſe Handlung vorgenommen werden ſoll. Daß nun in
einem ſolchen Fall dieſer Ort als der beſondere Ge-
richtsſtand der Obligation gelten ſoll, iſt in unſern Rechts-
quellen ſo deutlich und zugleich ſo vielfältig geſagt (c),
(b) Weſentlich ſtimmt damit
überein Albrecht S. 13—27,
deſſen Ausführung ich ganz als
richtig anerkenne. Er geht aber
in dem ſpäteren Theil ſeiner Ab-
handlung (S. 28—35) wieder in
die oben erwähnte irrige Lehre
über, wovon noch unten die Rede
ſeyn wird (Note aa).
(c) L. 19 § 4 de jud. (5. 1),
L. 1. 2. 3 de reb. auct. jud. (42. 5),
L. 21 de O. et A. (44. 7) „con-
traxisse … in eo loco intelli-
gitur“, C. 17 X. de foro comp.
(2. 2). — Es gehört dahin auch
L. 1 de eo quod certo loco
(13. 4). Denn indem dieſe Stelle
ſagt, daß eigentlich (d. h. abgeſehen
14*
|0234 : 212|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
daß darüber zu keiner Zeit ein Zweifel erhoben worden
iſt (d).
Jedoch würde man dieſen Fall in zu enge Gränzen ein-
ſchließen, wenn man ihn auf die Geſtalt beſchränken wollte,
die ſo eben an einem Beiſpiel anſchaulich gemacht worden
iſt. Um Dieſes klar zu machen, iſt es nöthig, den natür-
lichen Unterſchied unter den Handlungen hervor zu heben,
die als Gegenſtände von Obligationen vorkommen können.
Einige dieſer Handlungen, und zwar die meiſten, ſind ſo
beſchaffen, daß ſie an jedem Orte vorgenommen werden
können. Dahin gehören perſönliche Dienſtleiſtungen, ferner
die Bearbeitung beweglicher Sachen, eben ſo die Beſitz-
übertragung beweglicher Sachen, insbeſondere die Zahlung
von baarem Gelde. Für dieſe Handlungen nun kann ein
beſtimmter Erfüllungsort nur in der oben beiſpielsweiſe be-
merkten Geſtalt feſtgeſtellt werden, nämlich durch wörtliche
Bezeichnung des Ortes, wo ſie geſchehen ſollen. — Andere
von der actio arbitraria) an
keinem anderen, als dem be-
dungenen Erfüllungsort geklagt
werden könne, liegt darin gewiß
vor Allem die Regel, daß an
dieſem Ort die Klage zuläſſig iſt.
(d) Manche haben den wahren
Geſichtspunkt verdunkelt, indem ſie
dieſen Fall als forum solutionis
bezeichnet, und dadurch als weſent-
lich verſchieden von den folgenden
Fällen mit Unrecht angegeben
haben. Andere haben dieſe ver-
meintliche Verſchiedenheit bis zu
dem praktiſchen Irrthum getrieben,
neben dieſem Gerichtsſtand gleich-
zeitig ein zweites forum contrac-
tus am Ort des geſchloſſenen Ver-
trages anzunehmen. So Linde
Abhandl. II. S. 112—114. (Vgl.
Hollweg S. 46). Allerdings be-
ſteht neben dieſem beſonderen Ge-
richtsſtand ſtets das allgemeine
forum domicilii, ſo daß zwiſchen
beiden der Kläger die Wahl hat
(§ 371).
|0235 : 213|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
Handlungen dagegen ſind ſchon ihrer Natur nach ſo aus-
ſchließend an einen einzelnen Ort gebunden, daß ſie nur an
dieſem gedacht werden können. Dahin gehört jede Bearbei-
tung eines beſtimmten Grundſtücks, der Aufbau oder die
Ausbeſſerung eines Hauſes, Vermiethung, Verpachtung,
Verkauf eines Hauſes oder Landgutes. Denn bei jedem
Verkauf beſteht die Verpflichtung des Verkäufers in der
Beſitzübertragung (e), dieſe aber iſt an einem Grundſtück
nur denkbar da, wo dieſes liegt (f). Daher wäre es eine
ganz müſſige, überflüſſige Förmlichkeit, in dem Verkauf zu
verſprechen, daß die Uebergabe des verkauften Hauſes gerade
in der Stadt, worin das Haus liegt, vorgenommen werden
ſolle. Von dieſer Förmlichkeit die Anwendung unſeres
Grundſatzes abhängig zu machen, iſt durchaus kein Grund
vorhanden, und wir müſſen alſo vielmehr behaupten, daß
die Feſtſtellung des Erfüllungsortes mit ihren Folgen be-
wirkt wird nicht nur durch die wörtliche Bezeichnung eines
Ortes, ſondern ganz eben ſo auch durch die Natur einer
ſolchen Handlung, die nur an dieſem Orte denkbar iſt (g).
Ja es würde ſelbſt ungenau ſein, in dieſem Fall eine nur
ſtillſchweigende Willenserklärung annehmen zu wollen. Denn
unter dieſer verſtehen wir die auslegende Folgerung aus
(e) L. 11 § 2 de act. emti
(19. 1).
(f) Die Apprehenſion iſt nur
durch die Gegenwart des Beſitz-
erwerbers möglich (Savigny
Recht des Beſitzes § 15), anſtatt
daß der bisherige Beſitzer auch ab-
weſend ſeyn kann (Ebendaſ. S. 239).
(g) Anderer Meinung hierüber
iſt Bethmann Hollweg S. 47.
—50.
|0236 : 214|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
einer zu anderen Zwecken, als der Willenserklärung, be-
ſtimmten Handlung, welche Folgerung ſtets durch eine ent-
gegengeſetzte ausdrückliche Erklärung ausgeſchloſſen werden
kann (h). Wenn aber Jemand ein Haus verkauft, das
heißt, zu übergeben verſpricht, ſo iſt der beſondere Umſtand,
daß dieſe Uebergabe gerade da, wo das Haus liegt, geſche-
hen ſolle, ſchon in dem Verſprechen ſelbſt unmittelbar
enthalten, indem eine Uebergabe an anderem Orte unmög-
lich iſt, ſo daß auch eine entgegengeſetzte ausdrückliche
Erklärung über dieſen Nebenpunkt völlig widerſinnig ſeyn
würde.
Wir gehen jetzt über zu den weit häufigeren und ſehr
mannichfaltigen Fällen, in welchen ein feſt beſtimmter Er-
füllungsort der Obligation nicht vorhanden iſt; dieſe Fälle
aber werden ſich nur beziehen können auf Handlungen, die
ihrer Natur nach überall vorkommen können, alſo nicht mit
einer beſtimmten Oertlichkeit zuſammen hängen, weil ſonſt,
wie ſo eben gezeigt wurde, eben dieſer Zuſammenhang den
Erfüllungsort mit ſich führen würde. Für alle dieſe Fälle
nun haben wir zu unterſuchen, an welchem Orte von den
Parteien die Erfüllung gedacht und erwartet ſeyn möge;
dieſen Ort haben wir als den wahren Sitz der Obligation
und als ihren beſonderen Gerichtsſtand zu betrachten, indem
(h) S. o. B. 3 § 131.
|0237 : 215|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
in jener durch die Umſtände begründeten Erwartung eine
ſtillſchweigende Feſtſtellung des Erfüllungsortes, alſo
auch eine ſtillſchweigende Unterwerfung des Beklagten unter
den Gerichtsſtand dieſes Ortes, enthalten iſt. Aus dieſer
Annahme einer ſtillſchweigenden Uebereinkunft und Unter-
werfung folgt aber von ſelbſt, daß der durch die folgenden
Betrachtungen feſtzuſtellende beſondere Gerichtsſtand der
Obligation ſtets ausgeſchloſſen werden kann durch eine ent-
gegengeſetzte ausdrückliche Willenserklärung (§ 369. b).
Dieſer Grundſatz nun findet ſich im Römiſchen Recht nirgend
wörtlich ausgeſprochen; allein alle einzelne Entſcheidungen
der Römiſchen Juriſten laſſen ſich ungezwungen auf ihn,
und nur auf ihn, zurückführen, auch ſteht er in unverkenn-
barem Zuſammenhang mit der freien Unterwerfung (§ 369),
die ja in dieſer ganzen Lehre überall als beſtimmend anzu-
ſehen iſt.
Wir werden alſo nunmehr zurückgeführt auf die That-
ſachen, die der Obligation ihre Entſtehung gegeben haben,
und wir haben, der Reihe nach, diejenigen äußeren Um-
ſtände anzugeben, unter deren Vorausſetzung der Entſtehungs-
ort der Obligation von den Parteien zugleich als Erfüllungs-
ort zu erwarten war. Wenn wir uns bei dieſer Unter-
ſuchung an die Ausſprüche der Römiſchen Juriſten halten,
welches, vom Standpunkt des gemeinen Rechts aus, als
richtig und nothwendig nicht bezweifelt werden kann, ſo
dürfen wir dabei nicht überſehen, welcher Natur jene Aus-
ſprüche ſind. Sie enthalten nicht etwa Vorſchriften des
|0238 : 216|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
poſitiven Rechts, ſondern leitende Geſichtspunkte, aus
welchen der wahrſcheinliche, natürliche Gedanke der Parteien
zu erkennen iſt, neben welchen alſo ſtets die beſonderen Um-
ſtände jedes einzelnen Falles zu beachten ſind. Wo alſo
dieſe Umſtände auf eine andere Entſcheidung führen möchten,
da handeln wir ganz im Sinn jener Römiſchen Ausſprüche,
wenn wir ſie nicht zur Anwendung bringen. Von häu-
figem Einfluß wird jedoch dieſe Bemerkung gewiß nicht
ſeyn.
II. Um den erſten Fall dieſer Art deutlich zu machen,
iſt eine vorläufige Betrachtung nöthig über die verſchiedene
Beſchaffenheit und äußere Erſcheinung der Thatſachen, aus
welchen Obligationen entſtehen. Die meiſten Obligationen
entſtehen aus einzelnen, vorübergehenden Handlungen. So
verhält es ſich mit dem häufigſten aller Entſtehungsgründe,
dem Vertrag, der zwar nicht ſelten lange vorbereitet wird,
deſſen wirklicher Abſchluß aber ſtets eine augenblickliche
Erſcheinung darbietet, alſo einen kaum merklichen Zeitraum
erfüllt. Dagegen giebt es andere, allerdings ſeltnere, Obli-
gationen, die aus einer fortgeſetzten, zuſammenhängenden
Thätigkeit des Schuldners entſpringen, einer Thätigkeit, die
ſtets einen längeren Zeitraum erfüllt, und zugleich mit einer
beſtimmten Oertlichkeit in Verbindung ſteht. Wir können
eine Thätigkeit ſolcher Art, aus welcher, im Laufe der Zeit,
mehr oder weniger einzelne Obligationen zu entſtehen pflegen,
mit dem gemeinſamen Namen der Geſchäftsführung be-
zeichnen. Eine Ueberſicht der wichtigſten Fälle ſolcher Art,
|0239 : 217|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
wie ſie in unſeren Rechtsquellen erwähnt werden, mit An-
erkennung des dadurch begründeten Gerichtsſtandes, wird
die Sache anſchaulich machen (i).
Es gehören dahin folgende Fälle. Die Tutel über Un-
mündige, ſo wie jede Art von Curatel. Ferner die Be-
ſorgung der Geſchäfte eines Anderen, ſey es aller ſeiner
Geſchäfte (Generalmandat), ſey es einer gewiſſen Klaſſe
derſelben, etwa einer Fabrik, Handlung u. ſ. w.; ſey es
in Folge eines Vertrags (Mandat oder operae locatae),
oder aber aus einſeitigem Willen (negotiorum gestio) (k).
Endlich ein fortlaufendes eigenes Bank- und Commiſſions-
geſchäft (argentaria). Aus dieſer Ueberſicht ergiebt es ſich,
daß ſowohl eigene, als fremde Geſchäftsführung dieſen
Gerichtsſtand begründen kann, ferner ſowohl ein Vertrag,
als ein Quaſicontrakt, welcher der fremden Geſchäftsführung
zum Grunde liegt. Die weſentliche Vorausſetzung beſteht
nur darin, daß die fortgehende Geſchäftsführung an eine
beſtimmte Oertlichkeit bleibend geknüpft iſt (l). In den
(i) L. 19. § 1 de jud. (5. 1),
L. 36 § 1 L. 45 pr. eod., L. 4 § 5
de ed. (2. 13), L. 54 § 1 de proc.
(3. 3), L. 1. 2 C. ubi de ratio-
cin. (3. 21). — Der Grund der
freiwilligen Unterwerfung wird aus-
drücklich angegeben bei der nego-
tiorum gestio in L. 36 § 1 de
jud. (5. 1) „non debet judicium
recusare … cum sua sponte
sibi hanc obligationem con-
traxerit“.
(k) Nicht jedes Mandat, und
nicht jede negotiorum gestio ge-
hören in dieſe Kategorie; denn
beide können auch ein einzelnes,
vorübergehendes Geſchäft zum Ge-
genſtand haben, wovon hier nicht
die Rede iſt.
(l) L. 19 § 1 de jud. (5. 1)
Si quis tutelam … vel quid
aliud, unde obligatio oritur,
certo loci administravit, etsi
ibi domicilium non habuit, ibi
se debebit defendere“.
|0240 : 218|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
meiſten Fällen tritt dieſer beſondere Gerichtsſtand deswegen
nicht merklich hervor, weil die Geſchäftsführung mit dem
Wohnſitz zuſammenfällt; beide können aber auch getrennt
ſeyn, und dann zeigt ſich dieſer Gerichtsſtand wirkſam
(Note l).
Manche Schriftſteller haben dieſen Gerichtsſtand als
einen ganz eigenthümlichen betrachten wollen unter dem
Namen forum gestae administrationis, verſchieden von dem
ſogenannten forum contractus. Ganz mit Unrecht, da beide
auf demſelben Grunde beruhen, auf der in den Umſtänden
begründeten Erwartung der Parteien, daß die aus der Ge-
ſchäftsführung entſtehenden Obligationen auch an dem Ge-
ſchäftsort ihre Erledigung finden werden, zu welcher Er-
wartung die dauernde Natur einer ſolchen Verwaltung
gewiß hinreichenden Grund darbietet; denn in dieſer Ge-
ſchäftsführung hat die Geſammtheit der aus ihr entſprin-
genden Obligationen gleichſam ein räumliches, ſichtbares
Daſeyn gewonnen, ſie erſcheint darin wie verkörpert. Will
man alſo überhaupt den Kunſtausdruck forum contractus
anwenden, ſo muß man dieſen Fall durchaus darunter be-
ziehen. Nur darf hier der Entſtehungsort der Obligation
nicht da gedacht werden, wo etwa der Vertrag wegen
Uebernahme des Geſchäfts geſchloſſen worden iſt; noch auch
da, wo die einzelnen Kaufverträge, Geldeinnahmen u. ſ. w.
Statt gefunden haben, aus welchen der Geſchäftsführer
dem Herrn des Geſchäfts verantwortlich geworden ſeyn
mag. Dieſe beiden Orte verſchwinden hier als unterge-
|0241 : 219|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
ordnet, und das Geſchäft ſelbſt, als dauerndes Ganze, muß
als die gemeinſame Grundlage der daraus entſpringenden
einzelnen Obligationen angeſehen werden (m). Auf den
bleibenden Sitz dieſes Geſchäfts war der Gedanke, die Er-
wartung, die freie Unterwerfung der Parteien gerichtet.
III. Es bleiben jetzt noch übrig diejenigen Obligationen,
denen weder ein beſtimmter Erfüllungsort angewieſen iſt
(Num. I.), noch eine fortgeſetzte Thätigkeit an einem be-
ſtimmten Orte als Grundlage dient (Num. II.). Dieſe
müſſen alſo insgeſammt auf Handlungen, die überall vor-
kommen können, gerichtet ſeyn, und zugleich aus einzelnen,
vorübergehenden Handlungen entſpringen; denn ſonſt wür-
den ſie den früher aufgeſtellten Kategorieen anheim fallen.
Bei dieſen alſo haben wir zu unterſuchen, unter welchen
Vorausſetzungen die Rückſicht auf den Entſtehungsort die
Erwartung begründet, daß dieſer zugleich der Erfüllungs-
ort, und daher der wahre Sitz der Obligation, ſeyn
werde.
Der nächſte Fall, auf welchen wir in dieſer Reihe von
Betrachtungen geführt werden, beſteht darin, daß ein Schuld-
ner in ſeinem perſönlichen Wohnſitz in eine Obligation
eintritt. Dadurch unterwirft er ſich dem Gerichte dieſes
Ortes als dem beſonderen Gerichtsſtande dieſer Obligation.
Es ſcheint auf den erſten Blick überflüſſig, ja widerſprechend,
den Gerichtsſtand, der ohnehin für dieſe Perſon als der
(m) Vgl. Albrecht S. 23.
|0242 : 220|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
allgemeine begründet iſt, nun noch als etwas Neues, als
einen beſonderen Gerichtsſtand, anſehen zu wollen, indem
man annehmen möchte, es ſey ausreichend, in einem ſolchen
Fall blos die gewöhnliche Wirkung des ohnehin geltenden
forum domicilii anzuerkennen.
Allein die praktiſche Wichtigkeit der hier aufgeſtellten
Unterſcheidung bezieht ſich auf die Fälle möglicher Verände-
rungen. Wenn jener Schuldner willkürlich ſeinen Wohnſitz
ändert, oder wenn er ſtirbt, ſo hat ſein bisheriges forum
domicilii, als ſolches, gänzlich aufgehört. Aber in der hier
aufgeſtellten Eigenſchaft, als beſonderer Gerichtsſtand der
Obligation, dauert er fort: er folgt dem Auswandernden
in ſeinen neuen Wohnſitz nach, er bindet im Fall des To-
des den Erben, wenngleich dieſer einen anderen Wohnſitz
hat (n).
Der Grund dieſer eigenthümlichen Beſtimmung liegt
darin, daß der Schuldner durch die hier übernommene Obli-
gation die Erwartung erregt hat, er werde ſich an dem-
ſelben Orte auch den Folgen derſelben unterwerfen (§ 369);
(n) L. 19 pr. de jud. (5. 1),
L. 2 C. de jurisdict. (3. 13).
Vgl. Bethmann Hollweg
S. 24. Dieſer wichtige Satz ſteht
in Verbindung mit dem oben
gemachten Vorbehalt § 344. e.
— Aus dieſem Satz iſt auch zu
erklären L. 45. de jud. (5. 1),
welche folgenden Fall vorausſetzt.
Eine Einwohnerin von Rom nimmt
in ihrer Heimath ein Darlehen auf.
Nach ihrem Tode wird ſie beerbt
von ihrer Tochter, deren Wohnſitz
in eine Provinz kommt. Hier
werden die Vormünder im Namen
der Mündel verurtheilt. Dennoch,
ſagt Ulpian, gehört die judicati
actio wieder nach Rom, weil die
Erblaſſerin daſelbſt den Gerichts-
ſtand der Obligation begründet hatte.
|0243 : 221|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
dieſe Erwartung ſoll nicht getäuſcht werden, der Schuldner
ſoll alſo zwar nicht gehindert werden, ſeinen Wohnſitz will-
kürlich zu ändern, er ſoll aber die an dem alten Wohnſitz
übernommenen Obligationen ebendaſelbſt abwickeln.
IV. Aber auch außer ſeinem Wohnſitz kann Jemand
als Schuldner in eine Obligation eintreten unter ſolchen
Umſtänden, welche die natürliche Erwartung erregen, daß der
Entſtehungsort der Obligation zugleich ihr Erfüllungsort
ſeyn werde.
Eine ſolche Erwartung erregt Der, welcher außer ſeinem
Wohnſitz ein gewerbliches Geſchäft von einiger Dauer be-
gründet, und dabei Einrichtungen trifft, aus welchen abzu-
nehmen iſt, er werde die Waaren, die er hier verkauft,
auch eben daſelbſt abliefern. Dadurch unterwirft er ſich
dem beſondern Gerichtsſtand der Obligation an dem Ort
des geſchloſſenen Vertrags. Dieſes wird von Ulpian
ausführlich angegeben, und zwar als Warnung gegen die
unbedingte Annahme eines Gerichtsſtandes blos deswegen,
weil an irgend einem Orte ein Vertrag geſchloſſen worden
ſey; er begründet dieſe Warnung durch die Erwähnung
eines Durchreiſenden, der einen Vertrag ſchließe, und von
welchem man doch gewiß nicht werde behaupten wollen,
daß er ſich einem Gerichtsſtand am Ort des Vertrags un-
terwerfe (o).
(o) L. 19 § 2 de jud. (5. 1)
„.. durissimum est, quotquot
locis quis navigans, vel iter
facicns, delatus est, tot locis
se defendi. At si quo consti-
tit, non dico jure domicilii, sed
|0244 : 222|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Aber das hier erwähnte gewerbliche Verhältniß iſt über-
haupt nur als Beiſpiel, keinesweges als ausſchließende Be-
dingung, eines Gerichtsſtandes der Obligation anzuſehen.
Werden nämlich während eines Aufenthaltes außer dem
Wohnſitz Verträge geſchloſſen, ſo muß aus dem Inhalt
derſelben abgenommen werden, welchen Gedanken über die
Erfüllung die Parteien damit wahrſcheinlich verbunden ha-
ben mögen. Wenn alſo ein Beamter in Folge eines Amts-
geſchäfts, oder ein Abgeordneter zu einer legislativen Ver-
ſammlung, Monate lang an demſelben Orte verweilt, und
daſelbſt Schulden contrahirt, die ſich auf ſeinen täglichen
Lebensunterhalt beziehen, ſo iſt an der Begründung des
beſonderen Gerichtsſtandes der Obligation nicht zu zweifeln.
Eben ſo, wenn bei einem Badeaufenthalt Schulden zu ähn-
lichen Zwecken entſtehen. Wenn dagegen bei einem Bade-
aufenthalt Verträge über Handelsgeſchäfte geſchloſſen wer-
den, deren weitere Entwickelung nur von der Heimath aus
zu erwarten iſt, ſo muß ein ſolcher Gerichtsſtand für den
Ort des geſchloſſenen Vertrages verneint werden (p). Da
hier Alles auf die wahrſcheinliche Abſicht der Parteien an-
kommt, ſo kann nach Umſtänden auch ſchon ein ſehr kurzer
tabernulam … officinam con-
duxit, ibique distraxit, egit:
defendere se eo loci debebit.“
— L. 19. § 3 eod. — L. un. C.
de nund. (4. 60) verneint das
forum contractus nur gegen Die,
welche einen öffentlichen Markt zu
einzelnen Kaufgeſchäften als Rei-
ſende beſuchen, nicht gegen Die,
auf welche die oben von Ulpian
angegebenen Kennzeichen paſſen.
(p) Bethmann Hollweg
S. 24. 25. Vgl. Seuffert Ar-
chiv B. 2 N. 119.
|0245 : 223|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
Aufenthalt zur Begründung jenes Gerichtsſtandes hin-
reichen. So wird dieſe Begründung angenommen werden
dürfen gegen einen Reiſenden, der im Gaſthauſe ſeine Rech-
nung nicht bezahlen will, da bei dieſem Geſchäft die unver-
zügliche Erfüllung allgemein üblich iſt, alſo von Jedem er-
wartet werden kann. Es kommt alſo Alles darauf an, in
welchem Verhältniß die Natur und die Dauer des Aufent-
halts zu dem Inhalt der Obligation ſteht.
Wenn wir die bisher aufgeſtellten Regeln (Num. II. III. IV.)
mit der oben dargeſtellten und verworfenen Meinung ver-
gleichen, ſo ergiebt ſich folgendes Verhältniß beider Auf-
faſſungen. Jene Meinung betrachtete den Ort der obliga-
toriſchen Handlung an ſich als den Grund des Gerichts-
ſtandes der Obligation (nur mit Ausnahmen); die hier
vorgetragene Lehre knüpft dieſe Wirkung nicht an die obli-
gatoriſche Handlung an ſich, ſondern nur in Verbindung
mit anderen, ihr zum Grund liegenden und vorhergehenden
Umſtaͤnden (q).
V. Es bleibt endlich noch übrig, den Sitz der Obliga-
tion für diejenigen Fälle zu beſtimmen, in welchen alle bis-
her angegebene Vorausſetzungen nicht ausreichen, indem
(q) Mühlenbruch beurtheilt
die unter der Num. IV. zuſammenge-
ſtellten Fälle an ſich richtig, und
mit praktiſcher Einſicht in die Ver-
hältniſſe des wirklichen Lebens
(S. 355—357. 360—361. 365—
375), allein er irrt in der theore-
tiſchen Begründung derſelben, in-
dem er in dieſen Fällen ein Qua-
ſidomicil oder ein temporäres Do-
micil annimmt, und ſie alſo mit
dem Fall Num. III. in Verbindung
ſetzt. Dieſe Verbindung iſt ge-
zwungen und unfruchtbar.
|0246 : 224|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
weder ein feſt beſtimmter Erfüllungsort vorhanden iſt
(Num. I.), noch der Entſtehungsort der Obligation durch
begleitende Umſtände geeignet erſcheint, zugleich als Erfül-
lungsort von den Parteien gedacht zu werden (Num. II. III.
IV.). Dahin wird alſo namentlich der von Ulpian an-
gegebene Fall zu zählen ſeyn, wenn ein Durchreiſender
während ſeines ganz vorübergehenden Aufenthaltes einen
Vertrag ſchließt (Note o). Fehlt es hier an jeder Andeu-
tung irgend eines beſtimmten Erfüllungsortes, ſo muß an-
genommen werden, daß der Wohnſitz des Schuldners, an
den er doch immer wieder zurückkehrt, als Erfüllungsort
gedacht worden iſt. Ein ſolcher Fall iſt alſo gerade ſo zu
beurtheilen, wie wenn der Vertrag nicht auf der Reiſe,
ſondern in dem eigenen Wohnſitz, von dem Schuldner ge-
ſchloſſen worden wäre (Num. III.).
Dieſer Fall wird am häufigſten in folgender Geſtalt
auftreten, die noch einer beſonderen Erwähnung wegen der
zweideutigen Natur des Inhalts der Obligation bedarf.
Wenn der Eigenthümer einer Fabrik oder Handlung um-
her reiſt oder ſeinen Diener reiſen läßt, um Beſtellungen zu
ſammeln, alſo Verträge über Lieferung von Waaren abzu-
ſchließen, ſo kann es zweifelhaft ſcheinen, worin eigentlich
der Inhalt der von ihm übernommenen Obligation beſteht,
und davon wird zugleich der Erfüllungsort abhängig ſein.
Die Lieferung iſt nämlich ein zuſammengeſetztes, Zeit er-
füllendes Geſchäft. Die Waare wird zuerſt vom Verkäu-
fer abgeſendet, bleibt dann einige Zeit auf dem Wege, und
|0247 : 225|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
kommt endlich in den Beſitz des Käufers. Dabei könnte man
als wahren Inhalt der Obligation denken entweder die Ab-
ſendung, ſo daß die Empfangnahme blos eine ſpätere Folge
der vollendeten Erfüllung wäre, oder aber die Empfang-
nahme, ſo daß die Abſendung blos als Vorbereitung der
wirklichen Erfüllung gelten könnte. Im erſten Fall würde
als Erfüllungsort der Wohnſitz des Verkäufers gedacht, im
zweiten Fall der Wohnſitz des Käufers. Welche dieſer bei-
den Anſichten iſt nun nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen
vorzuziehen? Ich halte die erſte für richtig, nach welcher
die eigentliche Erfüllung in der Abſendung beſteht, der Er-
füllungsort alſo an dem Wohnſitz des Verkäufers anzuneh-
men iſt. Dafür ſprechen, wie ich glaube, zwei Beſtimmun-
gen des Römiſchen Rechts. Erſtlich der Uebergang der
Gefahr des zufälligen Untergangs auf den Käufer vom Au-
genblick des geſchloſſenen Kaufs an, alſo noch ehe das Ei-
genthum durch Uebergabe erworben iſt (r). Zweitens die
allgemeinere Regel, nach welcher die verſprochene Uebergabe
einer beweglichen Sache nur an dem Orte gefordert werden
kann, wo gerade jetzt die Sache liegt (s). — Im Preußi-
ſchen Recht iſt dieſe Anſicht noch unzweifelhafter anerkannt.
Denn hier geht mit der Abſendung nicht blos die Gefahr,
(r) § 3 J. de emt. (3. 23).
(s) L. 12 § 1 depos. (16. 3).
Von dieſem Satze wird ſogleich
noch ausführlicher die Rede ſeyn.
In Verbindung mit demſelben be-
hauptet auch Thöl Handelsrecht
§ 78 Note 5. 6, die Uebergabe
einer Waare müſſe in der Regel
da erfolgen, wo der Verkäufer ſeine
gewöhnliche Waarenniederlage habe.
VIII. 15
|0248 : 226|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſondern ſelbſt ſchon das Eigenthum auf den Käufer über,
vorausgeſetzt, daß die Art der Abſendung durch den Käufer
entweder angeordnet war, oder durch unterlaſſenen Wider-
ſpruch genehmigt worden iſt (t).
Unter dieſelbe Kategorie glaube ich auch ſtellen zu
müſſen den Fall der L. 65 de judiciis (5. 1) von einer
Dos, über welche der künftige Ehegatte einen ſchriftlichen
Vertrag ſchließt außer ſeinem Wohnſitz (etwa im Wohnſitz
der Braut, oder ihres Vaters). Die Klage auf Rückgabe
der Dos, ſagt Ulpian, iſt künftig nicht anzuſtellen an dem
Ort des geſchloſſenen Dotalvertrags, ſondern an dem Wohn-
ſitz des Mannes. Denn dieſer iſt zugleich der Sitz der
Ehe, alſo der Aufenthalt der Dos, und von dieſem Orte
aus mußte daher die künftige Rückgabe der Dos erwartet
werden.
Der bequemeren Ueberſicht wegen will ich die hier aus-
führlich erörterten Regeln über den beſonderen Gerichtsſtand
der Obligation kurz zuſammenſtellen. Dieſer Gerichtsſtand
iſt in folgenden verſchiedenen Fällen als begründet anzu-
nehmen.
I. An dem Orte, welcher als Erfüllungsort durch den
Willen der Parteien beſonders feſtgeſtellt iſt; ohne
Unterſchied, ob dieſe Feſtſtellung bewirkt wird durch
(t) A. L. R. I. 11 § 128—133.
|0249 : 227|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
die wörtliche Bezeichnung irgend eines Ortes, oder
durch die Natur der durch die Obligation herbei
zu führenden Handlung, welche nur an einem ein-
zigen Orte möglich iſt.
II. In Ermangelung eines feſtgeſtellten Erfüllungsortes
kann der Gerichtsſtand dadurch begründet werden,
daß eine Obligation entſpringt aus der an einen
beſtimmten Ort gebundenen Geſchäftsführung des
Schuldners.
III. Der Gerichtsſtand wird ferner begründet durch den
Entſtehungsort der Obligation, wenn dieſer mit
dem Wohnſitz des Schuldners zuſammen fällt.
IV. Auch außer dem Wohnſitz des Schuldners kann
der Entſtehungsort der Obligation den Gerichts-
ſtand begründen, wenn durch die Umſtände die
Erwartung begründet wird, daß an demſelben
Orte auch die Erfüllung eintreten werde.
V. Wenn keine der angegebenen Vorausſetzungen vor-
handen iſt, ſo iſt der Gerichtsſtand der Obligation
an dem Wohnſitz des Schuldners.
Alle dieſe Fälle, ſo verſchiedenartig ſie ausſehen, und
ſo zufällig ihre Verbindung erſcheint, laſſen ſich doch auf
einen gemeinſamen Grundſatz zurück führen. Es iſt überall
der Erfüllungsort, welcher den beſonderen Gerichtsſtand
beſtimmt; entweder der ausdrücklich feſtgeſtellte (Num. I.),
oder der auf ſtillſchweigender Erwartung beruhende (Num.
II. — V.). In beiden Fällen iſt eine freie Unterwerfung
15*
|0250 : 228|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
des Beklagten unter dieſen Gerichtsſtand anzunehmen,
wenn nicht eine entgegengeſetzte ausdrückliche Erklärung
ihn ausſchließt.
Die hier vorgetragene Lehre iſt oben zuſammengeſtellt
worden mit einer anderen, theilweiſe ähnlichen, deren Prüfung
und Widerlegung nun noch nachgeholt werden muß
(S. 210). Dieſe andere Lehre lautet, auf eine conſequente
Spitze getrieben, alſo. Für jede Obligation läßt ſich ſtets
ein beſtimmter Ort angeben, an welchem ſie erfüllt werden
muß. Dieſer kann durch den Willen der Parteien feſtge-
ſtellt ſeyn; wo dieſe Feſtſtellung fehlt, da ſorgt das Geſetz
für einen beſtimmten Erfüllungsort. In beiden Fällen iſt
der Gerichtsſtand der Obligation an dieſem Erfüllungsort
begründet.
Dieſe ganze Lehre ſteht und fällt mit der Behauptung,
daß es für jede Obligation einen geſetzlichen Erfüllungs-
ort gebe; prüfen wir alſo vor Allem die Richtigkeit dieſer
Behauptung. Es ließe ſich etwa denken, daß geſetzlich be-
ſtimmt wäre, jede Obligation müſſe da erfüllt werden, wo
ſie entſtanden wäre; dann wäre das forum contractus im
buchſtäblichen Sinne dadurch begründet, daß der Ort des
geſchloſſenen Vertrags als Erfüllungsort vorgeſchrieben
wäre (u), und an innerem Zuſammenhang würde es dann
(u) So nahm es früher Linde (Archiv S. 61—63 S. 75), er
|0251 : 229|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
jener Lehre nicht fehlen. Allein weder dieſe, noch irgend
eine ähnliche Regel über den geſetzlichen Erfüllungsort iſt
wahr. Vielmehr lautet die wahre Regel ſo, daß in Er-
mangelung eines vertragsmäßigen Erfüllungsorts der
Schuldner erfüllen muß da, wo er gerade verklagt wird
(ubi petitur) (v), ſo daß es ganz in der Willkür des
Klägers ſteht, an welchem Ort er die Erfüllung erzwingen
will, natürlich vorausgeſetzt, daß er an dieſem Ort einen
Gerichtsſtand findet, welchen der Beklagte anzuerkennen
verpflichtet iſt. Anſtatt alſo daß nach jener Lehre der ge-
ſetzliche Erfüllungsort den Gerichtsſtand beſtimmen ſollte,
wird gerade umgekehrt der geſetzliche Erfüllungsort beſtimmt
durch jeden irgendwo begründeten Gerichtsſtand, ſobald nur
der Gläubiger beſchließt, des einen oder des anderen Ge-
richtsſtandes ſich zu bedienen. Nach Römiſchem Recht nun
war für jeden Schuldner ſowohl das forum originis be-
gründet, als das forum domicilii, welche beide ganz ver-
ſchieden ſeyn konnten; ja der Schuldner konnte in mehreren
Städten Bürger ſeyn, auch in mehreren Städten einen
wahren Wohnſitz haben. Dann hatte der Kläger freie
Wahl, an welchem unter dieſen vielen Orten er
klagen wollte, und wo er immer klagte, da war zugleich
wurde aber ſelbſt ſpäter irre an
dieſem Grundſatz (Abhandlungen II.
S. 111). Daß er ihn theilweiſe
beibehalten hat, wird ſogleich ge-
zeigt werden.
(v) L. 1 de ann. leg. (33. 1),
L. 38 de jud. (5. 1), L. 47 § 1
de leg. 1 (30. un.), L. 4 de cond.
trit. (13. 3), L. 22 de reb. cred.
(12. 1).
|0252 : 230|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
der geſetzliche Erfüllungsort. So wird alſo durch jene
Lehre das wahre Sachverhältniß geradezu umgekehrt; denn
nach der wirklichen Lehre des Römiſchen Rechts iſt der Er-
füllungsort nicht das Beſtimmende für den Gerichtsſtand,
ſondern vielmehr das von dem Gerichtsſtand Abhängige.
Wäre nun die eben angegebene Regel des Römiſchen
Rechts allein vorhanden, ſo würde ein ſo handgreiflicher
Zirkel nicht verkannt worden ſeyn, und die erwähnte irrige
Lehre hätte ſchwerlich Vertheidiger gefunden. Allein jener
Regel iſt im Römiſchen Recht eine Beſchränkung hinzuge-
fügt worden, und dieſe Beſchränkung hat das ganze Miß-
verſtändniß verſchuldet. In vollſtändigem Zuſammenhang
ſteht nun die Sache alſo.
Allerdings kann in der Regel jeder Glaubiger die Er-
füllung einer Forderung an jedem Ort erzwingen, wo er einen
Gerichtsſtand des Schuldners findet. Wenn aber die Forderung
auf Uebergabe einer individuell beſtimmten beweglichen
Sache, einer certa species, gerichtet iſt, ſo tritt für den
Schuldner die Erleichterung ein, daß er ſich frei machen
kann durch die Uebergabe an dem Orte, wo ſich gerade jetzt
die Sache zufällig befindet, daß er ſie alſo nicht auf ſeine
Koſten und Gefahr an den Ort der Klage zu bringen ver-
pflichtet iſt. Nur verliert er dieſen Vortheil, wenn die
Sache nicht durch Zufall, ſondern durch ſeine unredliche
Handlung anderwärts iſt. Ferner gilt dieſe Erleichterung
nicht bei allen Schuldklagen, ſondern nur bei Klagen aus
|0253 : 231|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
bonae fidei Contracten (w), oder aus einem Teſtament auf
Entrichtung eines Legates (x); namentlich alſo nicht bei der
Condiction aus einer Stipulation (y). Dagegen gelten
dieſelben Sätze auch bei Klagen in rem, namentlich der Eigen-
thumsklage, und eben ſo bei der actio ad exhibendum,
welche beide arbiträre Klagen ſind (z).
Faßt man dieſe exceptionelle Vorſchrift ſo auf, wie es
hier geſchehen iſt, als eine bloße Begünſtigung des Schuld-
ners, auf Billigkeit gegründet, ſo iſt es einleuchtend, daß
ſie mit dem Erfüllungsort, und einem auf denſelben zu
gründenden Gerichtsſtand, gar Nichts zu ſchaffen hat; denn
dieſe ſind gerade umgekehrt bindend und beſchränkend für
den Schuldner. Die Richtigkeit meiner Auffaſſung aber
geht daraus hervor, daß durch den Dolus des Schuldners
die exceptionelle Maaßregel ausgeſchloſſen ſeyn ſoll, welches
nur Sinn hat, wenn dieſe Maaßregel als Begünſtigung des
Schuldners anzuſehen iſt. Daraus folgt aber, daß die
(w) L. 12 § 1 depos. (16. 3).
(x) L. 38 de jud. (5. 1), L. 47
pr. §. 1 de leg. 1 (30. un.). Es
kann auffallen, daß hier die per-
ſönliche Legatenklage mit den b. f.
actiones gleich geſtellt wird, da
ſie ſelbſt doch eine Condiction war
(S. o. B. 5 S. 540). Wahrſchein-
lich bezogen ſich jene Stellen ur-
ſprünglich blos auf das sinendi
modo legatum, in deſſen Begriff
dieſe Begünſtigung ſchon lag, und
das auch in anderen Beziehungen
von Julian den Fideicommiſſen
gleich, alſo ſehr frei, behandelt
wurde (Gajus II. § 280.). Mit
der hier vorliegenden Streitfrage
hat dieſes Bedenken gewiß keinen
Zuſammenhang.
(y) L. 137 § 4 de V. O. (45. 1)
„.. ut sie non multum referre
videatur, Ephesi daturum se,
an (quod Ephesi sit, cum
ipse Romae sit) dare spon-
deat …“
(z) L. 10. 11. 12 de rei vind.
(6. 1), L. 38 in f. de jud. (5. 1),
L. 11 §. 1 ad exhib. (10. 4).
|0254 : 232|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Vertheidiger der hier bekämpften Lehre im Irrthum ſind,
wenn ſie in dieſer Maaßregel einen geſetzlichen Erfüllungs-
ort ſehen, und darauf einen beſonderen Gerichtsſtand der
Obligation gründen wollen, nämlich eben an dem Orte, wo
die bewegliche Sache ſich zufällig befindet (aa). Vollends
dieſe letzte Folgerung (worauf hier Alles ankommt) iſt ſchon
deswegen durchaus verwerflich, weil darin ein forum rei
sitae für perſönliche Klagen liegen würde, das wohl Nie-
mand behaupten wird.
Die hier bekämpfte Meinung iſt noch durch folgenden
Umſtand unterſtützt worden. Bei Fideicommiſſen (womit
gewiß das fideicommissum hereditatis gemeint iſt) beſteht
die, auf billige Schonung des belaſteten Erben gegründete,
Vorſchrift, daß er ſie nur da zu entrichten braucht, wo der
größere Theil der Erbſchaft liegt. An dieſem Ort ſoll da-
für auch ein beſonderer Gerichtsſtand begründet ſein (bb).
Eine ähnliche billige Rückſicht ſoll auch gelten zum Vortheil
(aa) Linde Abhandlungen II.
S. 118. Albrecht S. 29—32.
Dieſer legt mit Unrecht Werth auf
ſolche Ausdrücke, wie: ibi dari
debet, ubi est in L. 38 de jud.
(5. 1). Nach dem ganzen Zu-
ſammenhang heißt das: „er iſt
nur ſchuldig, an dieſem Ort zu
übergeben“, wie die gleich darauf
folgende Ausnahme deutlich macht;
er braucht alſo nicht die Trans-
portkoſten daran zu wenden „nisi
dolo malo heredis subductum
fuerit, tunc enim ibi dari
debet, ubi petitur.“ — So
heißt es ja auch in L. 38 de jud.
(5. 1) „per in rem actionem
… ibi peti debet, ubi res
est.“ Und doch hat der Kläger
ſtets die Wahl zwiſchen dem forum
rei sitae und dem forum domi-
cilii. Bethmann Hollweg
S. 70.
(bb) L. 50 pr. de jud. (5. 1),
L. un. C. ubi fideicomm. (3. 17).
|0255 : 233|
§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
des Fideicommiſſarerben, welcher aus Erbſchaftsſchulden be-
langt wird (cc). Ganz irrig hat man dieſe, was den Ge-
richtsſtand betrifft, ſehr poſitive Vorſchriften in ſolche Ver-
bindung geſetzt mit der vorher erörterten Regel über die
Ablieferung beweglicher Sachen an dem Orte, wo ſie liegen,
daß man daraus auch bei dieſen einen beſonderen Gerichts-
ſtand hat ableiten wollen (dd). Noch weit irriger aber
war es, dieſe ſehr willkürliche Vorſchriften zur Unterſtützung
eines allgemeinen Rechtsgrundſatzes über den Gerichtsſtand
der Obligationen benutzen zu wollen. Die ganz poſitive
und vereinzelte Natur der erwähnten Vorſchriften ergiebt
ſich theils aus dem ſehr unbeſtimmten Begriff der major
pars hereditatis, der gewiß nicht auf die Ableitung aus
einer allgemeinen Rechtsregel hindeutet, theils aus der ge-
ſchichtlichen Entwickelung der Fideicommiſſe überhaupt, die,
geſchützt durch extraordinaria cognitio, ſtets einer viel freieren
und durchgreifenderen Einwirkung der Geſetzgebung unter-
worfen waren, als die Obligationen (ee).
§. 371.
III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.
(Fortſetzung).
Die hier aufgeſtellten Regeln über den beſonderen Ge-
richtsſtand der Obligation bedürfen noch einiger Ergänzun-
(cc) L. 66 § 4 ad Sc. Treb. (36. 1).
(dd) Albrecht S 20.
(ee) Vgl. Bethmann Hollweg S. 32—35. S. 48.
|0256 : 234|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
gen und näheren Beſtimmungen, die nunmehr hinzugefügt
werden ſollen.
Nach einer früher ſehr verbreiteten Meinung, die ſelbſt
dem Kunſtausdruck forum contractus zum Grunde liegt,
ſoll jener Gerichtsſtand in der Regel an dem Orte ange-
nommen werden, an welchem die obligatoriſche Handlung,
alſo der thatſächliche Entſtehungsgrund der Obligation, vor-
genommen worden iſt (§ 370). Dieſe Meinung mußte
zwar verworfen werden, indem nicht jene Handlung an ſich
ſelbſt, ſondern nur in Verbindung mit anderen, ihr zum
Grund liegenden und vorhergehenden Umſtänden, dazu geeig-
net iſt, einen ſolchen Gerichtsſtand zu begründen (S. 208).
Dennoch muß, auch nach dieſer umgebildeten Anſicht, der
obligatoriſchen Handlung noch immer ein wichtiger Einfluß
auf die Begründung jenes Gerichtsſtandes zugeſtanden wer-
den. Und ſo erſcheint uns auch jetzt noch die Frage von
Bedeutung: Wo iſt der wahre Ort einer obligatoriſchen
Handlung? oder mit anderen Worten: Wo entſteht eine
Obligation? Die Beantwortung dieſer Frage, die oft nicht
ohne Schwierigkeit iſt, ſoll hier nach den drei wichtigſten
Arten obligatoriſcher Handlungen verſucht werden: Ver-
träge, einſeitige erlaubte Handlungen, Delicte.
A. Verträge. Dieſe werden meiſt geſchloſſen in per-
ſönlicher Zuſammenkunft beider Parteien; dann iſt der Ort
dieſer Zuſammenkunft zugleich der Entſtehungsort der Obli-
gation. Es können aber folgende Abweichungen von dieſem
einfachſten und gewöhnlichſten Hergang eintreten.
|0257 : 235|
§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)
Zuerſt kann die Gültigkeit des Vertrags durch geſetzliche
Vorſchrift, oder auch durch den Willen der Parteien, abhän-
gig gemacht werden von der Beobachtung einer beſonderen
Form, etwa von ſchriftlicher, notarieller, gerichtlicher Ab-
faſſung. Dann iſt der Ort, an welchem dieſe Form vollen-
det wird, der wahre Ort des Vertrags, weil bis zu dieſer
Vollendung kein Theil gebunden iſt (a).
Weit häufiger und ſchwieriger aber iſt der Fall, wenn
ein Vertrag nicht in perſönlicher Zuſammenkunft beider
Theile geſchloſſen wird, ſondern durch einen Boten, durch
eine an verſchiedenen Orten von Beiden unterzeichnete Ur-
kunde, oder, welches das Häufigſte iſt, durch bloßen Brief-
wechſel. Hier iſt der wahre Ort des Vertrags ungemein
beſtritten. Für dieſen Fall entſtehen eigentlich drei, an ſich
verſchiedene, Fragen, die jedoch von den Meiſten vermiſcht
behandelt werden: Wo iſt der Vertrag geſchloſſen? Welcher
Ort gilt für den Gerichtsſtand? Welcher für das örtliche
Recht? Die erſte Frage beantworte ich unbedenklich dahin,
daß der Vertrag da geſchloſſen iſt, wo der erſte Brief em-
pfangen und von dem Empfänger die zuſtimmende Antwort
abgeſendet wird; denn an dieſem Ort iſt es zu einer über-
einſtimmenden Willenserklärung gekommen. Der Abſender
des erſten Briefes iſt demnach ſo zu betrachten, als ob er
ſich durch eine Reiſe zu dem Anderen hinbegeben, und deſſen
(a) L. 17 C. de fide instr. (4. 21). Vgl. Meier p. 58.
|0258 : 236|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Zuſtimmung eingeholt hätte (b). Dieſe Meinung iſt auch
von Mehreren angenommen worden (c). Manche aber
haben dabei folgendes Bedenken geltend gemacht. Der zu-
ſtimmende Brief, meinen ſie, könne ja vor der Ankunft wie-
der zurückgeholt oder durch einen Widerruf entkräftet wer-
den; daher ſey der Vertrag erſt vollendet an dem Orte, wo
der Abſender des erſten Briefes die Antwort empfangen,
alſo von der Zuſtimmung ein Bewußtſeyn erhalten habe (d).
Es iſt aber ganz verwerflich, den richtigen Grundſatz durch
die Rückſicht auf ſolche, ohnehin ſehr ſeltene, Fälle entkräf-
ten zu wollen. In den allermeiſten Fällen werden beide
Erklärungen abgegeben werden ohne ein ſolches Schwanken
der Entſchlüſſe, wo aber ein ſolches einmal vorkommt, da
kann die Frage nur durch Berückſichtigung der ſehr man-
nichfaltigen einzelnen Umſtände entſchieden werden, ſo daß
(b) Daſſelbe iſt alſo bei dem
Boten anzunehmen an dem Orte,
wo dieſem die Zuſtimmung ausge-
ſprochen wird; bei der doppelt
unterſchriebenen Urkunde an dem
Orte, wo die letzte Unterſchrift er-
folgt; bei einem Wechſel an jedem
Orte, an welchem Einer acceptirt
oder indoſſirt.
(c) Hommel obs. 409 N. 17.
18. Meier p. 59 (Beide bei Ge-
legenheit der Frage nach dem gel-
tenden örtlichen Recht). Wening
Archiv f. civ. Praxis B. 2
S. 267—271 (der zunächſt nur
von dem Zeitpunkt des vollen-
deten Vertrags, ſpricht jedoch ſo,
daß ſeine Entſcheidung zugleich
auf den Ort zu beziehen iſt).
Lauterbach de nuncio § 25
(Diss. T. 3 N. 107), wo zunächſt
von dem Boten die Rede iſt, dieſer
aber dem Briefe ganz gleich geſtellt
wird.
(d) Hert de commeatu lite-
rarum § 16—19 in Comment.
Vol. I p. 243. Haſſe Rhein.
Muſeum II. 371—382. Wächter
Archiv B. 19 S. 116. Etwas
zweideutig iſt I. Voet. V. 1 § 73.
|0259 : 237|
§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)
dann auch jene von den Gegnern aufgeſtellte ſehr willkür-
liche Regel keinesweges ausreicht (e).
Ich gehe nun zu der zweiten Frage über: Wo iſt der
Gerichtsſtand der Obligation bei einem durch Briefwechſel
geſchloſſenen Vertrage? Man möchte, nach der eben aufge-
ſtellten Behauptung, glauben, an dem Orte, wo der erſte
Brief empfangen und zuſtimmend beantwortet wurde. Die-
ſes muß aber entſchieden verneint werden (f). Denn der
Abſender des erſten Briefes kann doch höchſtens verglichen
werden mit einem Durchreiſenden, gewiß nicht mit Einem,
der einen bleibenden Aufenthalt an dem Wohnſitz des Geg-
ners aufgeſchlagen hat; alſo hat er ſich auch nicht dem Ge-
richtsſtand dieſes Ortes unterwerfen wollen (§ 370. o).
Vielmehr iſt für jede der beiden Parteien der durch Brief-
wechſel geſchloſſene Vertrag zu betrachten als an ihrem
Wohnſitz geſchloſſen, und hier muß ſie den beſonderen Ge-
richtsſtand der Obligation für ſich anerkennen (§ 370 Nr. V.)
Iſt aber in dem Vertrag ein beſtimmter Erfüllungsort an-
gegeben, ſo wird durch dieſen zugleich der Gerichtsſtand
der Obligation begründet. — Das eigenthümliche Bedürf-
niß des Wechſelgeſchäfts (Note b) kann ſtarke Modifica-
tionen dieſer Grundſätze über den Gerichtsſtand rechtferti-
gen. So iſt denn auch in der Preußiſchen Einführungs-
(e) Wening a. a. O. macht
dafür praktiſche Vorſchläge. Die
für eine andere, aber verwandte,
Frage gegebenen Vorſchriften des
A. L. R. I. 5 § 90 fg. könnten
dabei benutzt werden.
(f) So erklärt ſich auch Müh-
lenbruch S. 348. 351.
|0260 : 238|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ordnung zur neueſten Deutſchen Wechſelordnung (g) vorge-
ſchrieben worden, daß nicht blos der Zahlungsort und der
Wohnſitz den Gerichtsſtand begründe, ſondern daß an den
Ort der einmal angeſtellten Wechſelklage auch andere Wech-
ſelſchuldner herangezogen werden können.
Die dritte Frage, wegen des bei einem Vertrag durch
Briefwechſel geltenden örtlichen Rechts, kann erſt weiter un-
ten (§ 373) beantwortet werden.
B. Einſeitige erlaubte Handlungen.
Daß dieſe hier ganz auf gleiche Weiſe wie Verträge zu
beachten ſind, iſt in unſeren Rechtsquellen klar ausge-
ſprochen (h); auch iſt von dieſem Satz ſchon oben Anwen-
dung gemacht worden auf die wichtigen Obligationen, die
aus einer Geſchäftsführung u. ſ. w. entſtehen (§ 370 Nr. II.).
Nur Ein Fall bedarf jedoch noch einer beſonderen Er-
wähnung.
Der Erbe, der eine Erbſchaft antritt, übernimmt dadurch
Obligationen verſchiedener Art, insbeſondere gegen die Erb-
ſchaftsglaubiger und gegen die Legatare. Dieſe Obliga-
tionen werden in unſern Rechtsquellen als contractähn-
liche bezeichnet (i). Daher haben mehrere neuere Schrift-
(g) § 5, ſ. Geſetzſamml. 1849.
S. 50.
(h) L. 20 de jud. (5. 1)
„Omnem obligationem pro
contractu habendam, existi-
mandum est …“, ohne Zweifel
mit Hinſicht auf den Gerichtsſtand
ſo ausgeſprochen.
(i) §. 5 J. de obl. quasi ex
contr. (3. 27), L. 3 § 3, L. 4
quib. ex caus. (42. 4), L. 5 § 2
de O. et A. (44. 7), L. 19 pr.
de R. J. (50. 17).
|0261 : 239|
§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)
ſteller für einen ſolchen Fall ein forum contractus ange-
nommen, und zwar bald an dem Ort, wo der Antritt der
Erbſchaft erklärt worden ſey, bald an dem, wo die Erbſchaft
liege, oder am Wohnſitz des Verſtorbenen (k). Dieſe
Meinung aber iſt zu verwerfen, und es iſt ein ſolcher Ge-
richtsſtand nicht anzunehmen. Nur ausnahmsweiſe, durch
ganz poſitive Vorſchrift, iſt ein ſolcher Gerichtsſtand be-
gründet für Fideicommiſſe, und zwar an dem Orte, wo der
größte Theil der Erbſchaft liegt (l). Der oben erwähnte
Ausdruck der Rechtsquellen bezieht ſich nur auf den per-
ſönlichen Eintritt des Erben in das obligatoriſche Verhält-
niß zu Glaubigern und Legataren, nicht auf deſſen eigent-
liche Entſtehung und juriſtiſche Beſchaffenheit.
C. Delicte.
Der durch ein Delict begründete beſondere Gerichtsſtand
iſt dem älteren Römiſchen Recht fremd, und erſt in der
Kaiſerzeit entſtanden (m). Dann aber hat er eine ſo all-
gemeine Anerkennung gefunden, daß er nunmehr auch in
Geſetzen auf gleiche Linie mit dem forum domicilii, con-
tractus, rei sitae geſtellt wird (n). — Es würde aber un-
richtig ſeyn, dieſen Gerichtsſtand als eine einzelne Anwen-
dung des Gerichtsſtandes der Obligation, des ſ. g. forum
(k) Linde Abhandlung B. 2
S. 101 — 109, Mühlenbruch
S. 379—382.
(l) Bethmann Hollweg
Verſuche S. 32—35. S. 48. Vgl.
oben § 370 am Ende des §.
(m) Bethmann Hollweg
Verſuche S. 29. 52.
(n) Nov. 69 C. 1. — C. 20.
X. de foro comp. (2. 2).
|0262 : 240|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
contractus, zu betrachten (o). Denn das forum delicti
entſteht nicht durch eine präſumtive freiwillige Unterwer-
fung, und daher gelten für daſſelbe auch nicht die Be-
ſchränkungen, welche oben für den Gerichtsſtand der Obli-
gation aufgeſtellt worden ſind (§ 370). Zur Begründung
dieſes Gerichtsſtandes iſt weder Wohnſitz, noch irgend ein
anderer hinzutretender äußerer Umſtand, erforderlich, viel-
mehr entſteht derſelbe aus der Verübung des Delicts an
ſich, auch bei einem ganz zufälligen und vorübergehenden
Aufenthalt. — Es hat demnach dieſer Gerichtsſtand eine
ganz eigenthümliche Natur, indem er begründet wird nicht
durch freiwillige, ſondern durch nothwendige Unterwerfung;
dieſe aber iſt eine unmittelbare Folge der Rechtsverletzung,
deren ſich der Thäter ſchuldig gemacht hat. — Der Ge-
richtsſtand aus dem Delict iſt übrigens eben ſo wenig aus-
ſchließend, als der aus dem Contract, vielmehr hat der
Kläger ſtets die Wahl zwiſchen dieſem beſonderen und dem
allgemeinen, auf den Wohnſitz des Schuldners gegründeten
Gerichtsſtand. Dieſes liegt ſchon in der wörtlichen Er-
wähnung jenes Gerichtsſtandes in den angeführten Ge-
ſetzen (Note n); noch mehr aber folgt es daraus, daß der-
ſelbe ganz gewiß nicht zum Vortheil des Beklagten, ſondern
vielmehr des Klägers, eingeführt iſt (o¹).
(o) In der angeführten Stelle
des canoniſchen Rechts werden
beide auch wörtlich unterſchieden
und einander coordinirt.
(o¹) Linde Lehrbuch des Pro-
zeſſes § 93 Note 10.
|0263 : 241|
§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)
Man hat die Frage aufgeworfen, ob der Gerichtsſtand
der Obligation blos begründet ſey für die Klagen, die zur
natürlichen Entwickelung der Obligation gehören, alſo zur
Erfüllung derſelben führen, oder vielmehr auch für die, welche
die umgekehrte Richtung haben, indem ſie die Auflöſung der
Obligation bezwecken, oder Das rückgängig machen wollen,
welches in Erfüllung der Obligation ſchon geſchehen iſt.
Hier muß nun in der Regel die erſte, beſchränktere Anwen-
dung jenes Gerichtsſtandes behauptet werden (p). Die
zweite, ausgedehntere Anwendung des Gerichtsſtandes kann
nur ausnahmsweiſe in den ſeltneren Fällen eintreten, in
welchen die Auflöſung der Obligation mit der Entſtehung
derſelben einen gemeinſchaftlichen Urſprung hat, alſo wenn die
Auflöſung einer durch Vertrag gegründeten Obligation ab-
geleitet wird aus einem dieſem Vertrag hinzugefügten
Nebenvertrag (q).
Der beſondere Gerichtsſtand der Obligation ſchließt den
allgemeinen, aus dem Wohnſitz entſpringenden, Gerichts-
ſtand nicht aus, vielmehr hat der Kläger freie Wahl, an
dem einen oder dem andern eine Klage anzuſtellen (r).
(p) L. 2 C. ubi et apud quem
(2. 47).
(q) Glück B. 6 S. 301—303.
Unbedingt wird dieſe Anwendung
des Gerichtsſtandes verneint von
Linde Archiv B. 7 S. 67—69.
(r) L. 19 § 4 de jud. (5. 1),
(wo geleſen werden muß: habeat
VIII. 16
|0264 : 242|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Manche haben mit Unrecht dieſes Wahlrecht auf den Fall
einſchränken wollen, wenn der Gerichtsſtand durch einen
beſonders verabredeten Ort der Erfüllung begründet ſey.
Das Wahlrecht gilt vielmehr in der That auch, wenn der
Gerichtsſtand ſich gründet auf den Vertrag an ſich (ohne
Erfüllungsort) (s), oder aber auf eine geführte Verwal-
tung (t).
Gerade umgekehrt mußte für den Fall eines durch Sti-
pulation beſtimmten Erfüllungsortes urſprünglich behauptet
werden, daß nur an dieſem Ort geklagt werden könne,
indem der Glaubiger durch den beſonderen Inhalt dieſer
Stipulation darauf verzichtet hatte, den allgemeinen perſön-
lichen Gerichtsſtand ſeines Schuldners für die Klage zu be-
anſtatt habuit, ſ. Hollweg
S. 46), L. 1. 2. 3 de reb. auct.
jud. (42. 5), L. un C. ubi conv.
(3. 18) C. 17 X. de foro comp.
(2. 2). — Nach Römiſchem Recht
konnte der Kläger auch noch in
dem forum originis klagen (§ 355).
(s) L. 2 C. de jurisdict.
(3. 13). In den Worten: ubi
domieilium reus habet“ liegt
der Accent nicht auf domicilium,
ſondern auf reus. Es ſoll alſo
geſagt werden, des Beklagten
Wohnfitz (nicht des Klägers) be-
ſtimme den Gerichtsſtand; das
zeigen die Anfangsworte der Stelle.
Damit ſoll aber dem Kläger nicht
benommen ſeyn, das forum con-
tractus vorzuziehen, wo ein ſolches
begründet iſt.
(t) Das ſ. g. forum gestae
administrationis hat überhaupt
keine eigenthümliche Natur (§ 370.
II.). Auch wird das Wahlrecht
ausdrücklich anerkannt im Fall
des Argentarius. L. 4 § 5 de ed.
(2. 13). Und gerade für dieſen Fall
hat man es verneinen wollen wegen
L. 45 pr. de jud. (5. 1). Allein
hier heißt „conveniri oportet“:
er muß ſich gefallen laſſen, daß
er verklagt werde. Die richtige
Meinung haben: Struben Be-
denken III. 96. Gönner Hand-
buch B. 1 Abh. X I; die irrige
Meinung: Leyser 73. 8, Weber
Beiträge B. 2 S. 35, Linde
Archiv B. 7 S. 73.
|0265 : 243|
§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)
nutzen. Weil aber dieſes zu einer völligen Verſagung des
Rechtsſchutzes führen konnte, wenn etwa der Schuldner die
Vorſicht gebrauchte, an dem bedungenen Erfüllungsorte nicht
zu erſcheinen, ſo wurde eine beſondere Klage eingeführt, die
nun auch an dem perſönlichen Gerichtsſtand angeſtellt wer-
den konnte, nur mit Berückſichtigung des vielleicht verſchie-
denen örtlichen Intereſſe der Leiſtung (u). Durch dieſe
Klage iſt alſo ſelbſt für ſolche Fälle das Wahlrecht des
Klägers begründet worden.
Dagegen iſt es nicht zu rechtfertigen, wenn Manche
auch ein Wahlrecht des Klägers annehmen wollen zwiſchen
dem auf ausdrückliche und dem auf ſtillſchweigende Verabre-
dung eines Erfüllungsortes gegründeten Gerichtsſtande (v);
denn die Annahme einer ſolchen ſtillſchweigenden Verabredung
wird durch das Daſeyn einer ausdrücklichen ſtets aus-
geſchloſſen.
(u) L. 1 de eo quod certo
loco (13. 4). „Alio loco, quam
in quem sibi dari quisque sti-
pulatus esset, non videbatur
agendi facultas competere. Sed
quia iniquum erat, si promis-
sor ad eum locum, in quem
daturum se promisisset, nun-
quam accederet, quod vel data
opera faceret, vel quia aliis
locis necessario distringeretur,
non posse stipulatorem ad
suum pervenire, ideo visum
est, utilem actionem in eam
rem comparare“ Was hier von
der Stipulation geſagt iſt, gilt
eben ſo von jeder anderen mit
einem beſtimmten Erfüllungsort
verſehenen Obligation, ſobald dieſe
eine Condiction erzengt (wie Dar-
lehen und Legat), nur nicht von
den b. f. obligationes, wobei die
Contractsklage ſelbſt ſchon aus-
reichte. L. 7 eod.
(v) So daß alſo der Kläger
bald an dem bedungenen Er-
füllungsort, bald an dem Ort des
geſchloſſenen Vertrages, nach Be-
lieben ein forum contractus gel-
tend machen könnte (§ 370).
16*
|0266 : 244|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Der beſondere Gerichtsſtand der Obligation kann nur
geltend gemacht werden, wenn der Schuldner in dieſem Ge-
richtsſprengel entweder perſönlich anweſend iſt, oder
Vermögensſtücke beſitzt, in welchem letzten Fall durch missio
in possessionem der Zwang gegen ihn durchgeführt wird.
Dieſe alternative Bedingung iſt nach dem älteren Römi-
ſchen Recht unzweifelhaft (w). Nach einem Geſetz von
Juſtinian könnte man dieſelbe für aufgehoben anſehen (x).
Allein dieſes Geſetz iſt ſo allgemein und unbeſtimmt gefaßt,
und wirft ſo ſehr die verſchiedenen Gerichtsſtände ohne Un-
terſcheidung durch einander, daß die Abſicht, das frühere
Recht zu verändern, daraus nicht mit Sicherheit entnom-
men werden kann. Daher hat denn auch eine Decretale
darauf keine Rückſicht genommen, ſich vielmehr ganz an
das frühere Römiſche Recht, und ſelbſt an die Ausdrücke
deſſelben, angeſchloſſen (y). Die überwiegende Praxis der
neueren Zeit iſt dieſer Meinung beigetreten (z), ſo daß
(w) L. 1 de eo qui certo
loco (Note u) „.. si nunquam ac-
cederet“. L. 19 pr. de jud.
(5. 1) „si ibi inveniatur“. § 1
eod. „si non defendat … bona
possideri patietur“. Aehnlich
lautet die Beſtimmung für das
forum rei sitae in L. 2 C. ubi
in rem (3. 19).
(x) Nov. 69 C. 1. 2.
(y) C. 1 § 3 de foro comp.
in VI. (2. 2) „… nisi inve-
niantur ibidem (vgl. Note w)
trahere coram se non debent
invitos, licet in possessionem
bonorum, quae ibi habent,
… possint missionem facere“.
Von Mehreren wird dieſe Stelle
ſehr gezwungen ſo ausgelegt, der
Richter ſolle den Abweſenden nicht
durch eigene Gewalt (ſondern nur
durch Requiſition ſeines Richters)
zwingen. Cocceji jus controv. V.
1 qu. 15. Glück VI. S. 304.
Linde Archiv VII. S. 69. 70.
(z) Dieſe überwiegende Praxis
|0267 : 245|
§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)
alſo der Gerichtsſtand der Obligation gegen einen Abwe-
ſenden durch bloße Requiſition eines fremden Gerichts nicht
geltend gemacht werden kann. — Es iſt nicht zu verkennen,
daß durch dieſe beſchränkende Bedingung der beſondere Ge-
richtsſtand der Obligation einen großen Theil ſeiner Wich-
tigkeit verliert.
In neueren Geſetzgebungen hat der Gerichtsſtand der
Obligation, wie zu erwarten war, diejenige Geſtalt ange-
nommen, die zur Zeit ihrer Abfaſſung unter den Schrift-
ſtellern herrſchend war, alſo theilweiſe nicht in Ueberein-
ſtimmung mit dem wirklichen Römiſchen Recht, dem man
ſich doch anzuſchließen glaubte. So ſetzt das Preußiſche
Recht jenen Gerichtsſtand zunächſt an den Ort der verab-
redeten Erfüllung, und, wo ein ſolcher nicht vorhanden iſt,
an den Ort des geſchloſſenen Vertrags (aa), ohne
Rückſicht auf die beſchränkenden Bedingungen, unter welchen
allein das Römiſche Recht den Ort des geſchloſſenen Ver-
trags als entſcheidend anſieht. Das Wahlrecht des Klä-
gers wird auch hier anerkannt, und zugleich wird der Be-
klagte, im Sinn der neueren Praxis (Note z), nur dann
wird ſelbſt von den Gegnern ein-
geräumt. Cocceji l. c. Glück VI
S. 304—306. Linde S. 69.
(aa) Allg. Ger. Ordn. I. 2
§ 148—152. Eben ſo iſt dieſer
Gerichtsſtand anerkannt in Ver-
trägen mit vielen Nachbarſtaaten,
z. B. Weimar 1824 Art. 29, Ge-
ſetzſammlung 1824 S. 153.
|0268 : 246|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
an dieſen Gerichtsſtand gebunden, wenn er ſich an einem
ſolchen Orte antreffen läßt.
§. 372.
III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.
Die Lehre vom Gerichtsſtande der Obligation iſt bisher
deshalb ſo genau in ihren Einzelheiten dargeſtellt worden
(§ 370. 371), weil ſie allein einen ſicheren Halt gewährt
für die Frage nach dem bei den Obligationen anwendbaren
örtlichen Recht, für welche Frage es an quellenmäßigen
Beſtimmungen des Römiſchen Rechts eigentlich ganz fehlt.
Gerade hier iſt der innere Zuſammenhang zwiſchen dem
Gerichtsſtand und dem örtlichen Recht eben ſo ergiebig und
fruchtbar, als wohl begründet, indem dieſelbe präſumtive
Unterwerfung, welche den Sitz der Obligation und mit ihm
den Gerichtsſtand beſtimmt, auch für das anwendbare ört-
liche Recht als beſtimmend anerkannt werden muß (a).
Ich nehme die ganze Reihe praktiſcher Regeln, wie ſie
oben für den Gerichtsſtand aufgeſtellt worden ſind, ohne
Bedenken zugleich als maaßgebend für das anwendbare
örtliche Recht an (§ 370). Daſſelbe iſt alſo, je nach
Verſchiedenheit der Fälle, auf folgende Orte zurück zu
führen (S. 226. 227).
(a) Auch Eichhorn deutſches
Recht § 37 b wendet die von dem
Gerichtsſtand redenden Stellen des
Römiſchen Rechts unmittelbar auf
das örtliche Recht an.
|0269 : 247|
§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.
I. Wenn die Obligation einen feſt beſtimmten Erfül-
lungsort hat: auf dieſen Erfüllungsort.
II. Wenn die Obligation hervorgegangen iſt aus einer
fortlaufenden Geſchäftsführung des Schuldners: auf
den Ort, an welchem dieſe Geſchäftsführung ihren
bleibenden Sitz hat.
III. Wenn die Obligation aus einer einzelnen Handlung
des Schuldners an deſſen Wohnſitz entſtanden iſt:
auf den Ort dieſer Handlung, ſo daß die ſpätere
Aenderung des Wohnſitzes hierin Nichts ändert.
IV. Wenn die Obligation aus einer einzelnen Handlung
des Schuldners außer deſſen Wohnſitz, aber unter
ſolchen Umſtänden entſtanden iſt, welche eben-
daſelbſt die Erfüllung erwarten laſſen: auf den Ort
dieſer Handlung.
V. Wenn keine dieſer Vorausſetzungen vorhanden iſt,
auf den Wohnſitz des Schuldners (b).
(b) Es könnte ſcheinen, als
wollte ich mich hier anſchließen an
den oben verworfenen Grundſatz
(§ 361. g), nach welchem das ört-
liche Recht des Wohnſitzes ſubſi-
diäre Gültigkeit haben ſollte für
alle Fälle, in welchen nicht ein
anderes örtliches Recht beſonders
nachgewieſen werden kann. Dieſes
iſt aber nicht der Fall. Denn auf
das Recht des Wohnſitzes wird
hier zurück gegangen, nicht weil
kein anderes Recht begründet
werden kann, ſondern weil in
dieſem Fall die Parteien die Er-
füllung der Obligation an dem
Wohnſitz des Schuldners, natür-
licher als an jedem anderen Ort,
zu erwarten haben. Dieſer Grund
aber, der blos eine einzelne An-
wendung der allgemeinen Regel
über den Sitz der Obligation iſt,
paßt für den Gerichtsſtand (§ 370
Num. V.) nicht mehr und nicht
weniger, als für das örtliche Recht.
|0270 : 248|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Inſofern alſo fällt die Beſtimmung des örtlichen Rechts
ganz zuſammen mit der Beſtimmung des Gerichtsſtandes.
Nur darin iſt ein wichtiger Unterſchied wahrzunehmen, daß
neben dem beſonderen Gerichtsſtand der Obligation auch
noch der allgemeine Gerichtsſtand des Wohnſitzes wirkſam
bleibt, mit freiem Wahlrecht des Klägers; anſtatt daß das
anwendbare örtliche Recht einem ſolchen einſeitigen Wahl-
recht nicht unterworfen ſeyn kann, ſondern ausſchließend
durch den feſt beſtimmten Erfüllungsort, in deſſen Erman-
gelung durch den Ort der Entſtehung der Obligation, oder
durch den Wohnſitz des Schuldners, je nach Verſchieden-
heit der Fälle, beſtimmt werden muß.
Die Ableitung der hier aufgeſtellten Regeln aus der
vermutheten freiwilligen Unterwerfung des Schuldners un-
ter ein beſtimmtes örtliches Recht hat einige wichtige prak-
tiſche Folgen, die hier zuſammengeſtellt werden ſollen.
A. Dieſes örtliche Recht tritt zurück, wenn es in
Widerſpruch ſteht mit einer am Ort des urtheilenden Rich-
ters geltenden zwingenden, ſtreng poſitiven Rechtsregel
(§ 349), indem in ſolchen Fällen der freie Wille der
Parteien überhaupt keinen Einfluß haben kann (b¹).
B. Das angegebene örtliche Recht tritt gleichfalls
zurück, wenn die Vermuthung der freiwilligen Unterwerfung
(b¹) Vgl. Wächter II. S. 397—405. Foelix p. 145.
|0271 : 249|
§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.
ausgeſchloſſen wird durch eine ausdrückliche abweichende
Willenserklärung (c).
C. Von manchen Seiten iſt behauptet worden, daß
unter mehreren an ſich denkbaren örtlichen Rechten dasje-
nige jedesmal angewendet werden müſſe, nach welchem das
vorliegende Rechtsgeſchäft am beſten aufrecht erhalten wer-
den könne (d). Aus dem beſtehenden Recht läßt ſich dieſer
Satz in ſolcher Allgemeinheit wohl nicht begründen, dage-
gen könnte man darauf kommen, ihn als neues poſitives
Geſetz aufzuſtellen (e). Allein in folgendem Sinn läßt ſich
der Satz dennoch vertheidigen. Wenn die Anwendung der
oben aufgeſtellten Regeln dahin führen würde, den Vertrag
einem örtlichen Recht (etwa des Erfüllungsortes) zu unter-
werfen, nach welchem er ungültig ſeyn würde, anſtatt daß
er nach dem Rechte des Wohnſitzes gültig wäre, ſo iſt ge-
wiß nicht zu vermuthen, daß ſich die Parteien einem ört-
lichen Recht haben unterwerfen wollen, das mit ihrer Abſicht
völlig im Widerſpruch ſtände (e¹).
(c) L. 19 § 2 de jud. (5. 1)
„.. nisi alio loci, ut defen-
deret, convenit ..“. Was hier
von dem Gerichtsſtand geſagt wird,
muß eben ſo von dem örtlichen
Recht gelten, ſoweit deſſen Be-
ſtimmungen durch Privatwillkür
abgeändert werden können. Vgl.
oben § 369. b. und § 370.
(d) Eichhorn deutſches Recht
§ 37. Noten f. g.
(e) Für einen einzelnen Fall
iſt er im Preußiſchen A. L. R. auf-
geſtellt (I. 5 § 113), nämlich für
den Fall verſchiedener geſetzlicher
Formen bei einem durch Brief-
wechſel geſchloſſenen Vertrage.
(e¹) So aufgefaßt, ſtimmt der
Satz ganz überein mit einer be-
kannten Auslegungsregel bei zwei-
deutig gefaßten Rechtsgeſchäften.
L. 12 de reb. dub. (34. 5).
|0272 : 250|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Wenngleich nun durch die hier aufgeſtellten Regeln der
Sitz der Obligation, und mit dieſem zugleich das örtliche
Recht derſelben, im Ganzen ſicher beſtimmt ſeyn meg, ſo
ſoll damit doch nicht behauptet werden, daß alle bei Gele-
genheit einer Obligation möglicherweiſe eintretende Rechts-
fragen eben nur nach dieſem örtlichen Rechte zu entſcheiden
ſeyn möchten. Dazu iſt eine tiefer eingehende Erwägung
ſolcher Rechtsfragen in ihrem vollſtändigen Zuſammenhang
nöthig, die der Fortſetzung dieſer Unterſuchung (§ 374)
vorbehalten bleiben muß (f).
Von der hier aufgeſtellten Lehre über das bei den Obli-
gationen anwendbare örtliche Recht weichen die Mei-
nungen unſerer Schriftſteller in folgenden zwei Haupt-
punkten ab.
Erſtlich knüpfen faſt Alle das anwendbare örtliche Recht
an den Ort der obligatoriſchen Handlung an ſich, ohne
zugleich die im Römiſchen Recht hinzugefügten beſonderen
Vorausſetzungen zu berückſichtigen (§ 370), obgleich doch
im Allgemeinen die Meiſten auf dem Boden des Römiſchen
Rechts zu ſtehen vermeinen. Dieſes iſt aber um ſo mehr
zu mißbilligen, als die erwähnten Vorausſetzungen des Rö-
(f) Auf die verſchiedenartige
Beurtheilung ſolcher einzelnen
Rechtsfragen haben ſchon hinge-
wieſen: Leyser 73. 3, Foelix
p. 142—145. Dieſe Schriftſteller
kann ich daher nicht als meine
Gegner in der Aufſtellung des
Grundſatzes anſehen; es wird
darauf ankommen, bei den einzelnen
Rechtsfragen ſich mit einander zu
verſtändigen. Ein ähnliches Ver-
fahren iſt ſchon oben in der
Lehre vom Eigenthum eingeſchla-
gen worden (§ 367).
|0273 : 251|
§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.
miſchen Rechts, wodurch die Sache eine andere Geſtalt
gewinnt, nicht auf willkürlichen poſitiven Vorſchriften
beruhen, ſondern vielmehr auf der in der Natur der
Sache beruhenden Erwägung, in welchen Fällen eine frei-
willige Unterwerfung unter ein beſtimmtes örtliches Recht
mit Wahrſcheinlichkeit angenommen werden kann oder nicht.
Zweitens findet ſich ein ſehr häufiger Widerſpruch gegen
die hier angenommene Meinung, nach welcher vorzugsweiſe
ein verabredeter Erfüllungsort zugleich das anwendbare
örtliche Recht beſtimmen ſoll. Hierin ſind jedoch die Mei-
nungen ſehr getheilt. Ein Theil der Schriftſteller, und
zwar der größere Theil, ſtimmt mit der hier vorgetragenen
Lehre überein (g). Ein anderer Theil dagegen behauptet,
das örtliche Recht dürfe lediglich nach dem Ort der obliga-
toriſchen Handlung beſtimmt werden; der verabredete Er-
füllungsort habe darauf gar keinen Einfluß, indem die von
dieſem redenden Stellen des Römiſchen Rechts lediglich auf
den Gerichtsſtand, gar nicht auf das örtliche Recht, zu be-
ziehen ſeyen (h).
Bei dieſer Streitfrage kommt es auf die Erklärung der
hier einſchlagenden Stellen des Römiſchen Rechts an, die
ich, der leichteren Ueberſicht wegen, voranſtelle.
(g) Christinaeus Vol. I.
Dec. 283 N 8. 11. P. Voet.
Sect. 9 C. 2 § 12. 15. Mühlen-
bruch doctr. Pand. § 73. not. 17.
Foelix p. 142—145. Story
§ 280. 299.
(h) Hert. § 10 ampl. 2.
Meier p. 57. 58. Wächter II.
S. 41—47.
|0274 : 252|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
1. L. 6 de evict. (21. 2.) „Si fundus venierit,
ex consuetudine ejus regionis, in qua negotium
gestum est, pro evictione caveri oportet.”
2. L. 21 de oblig. et act. (44. 7.) „Contraxisse
unusquisque in eo loco intelligitur, in quo, ut
solveret, se obligavit.”
3. L. 1. 2. 3. de reb. auct. jud. (42. 5.) „Venire
bona ibi oportet, ubi quisque defendi debet, id
est — ubi domicilium habet — aut ubi quisque
contraxerit. Contractum autem non utique eo
loco intelligitur, quo negotium gestum sit, sed
quo solvenda est pecunia.”
Dieſe Stellen werden von den Gegnern auf folgende
Weiſe erklärt. Die erſte Stelle, ſagen ſie, ſpreche allein
vom örtlichen Recht, und wolle bei dieſem ausſchließend
den Ort beachtet wiſſen, an welchem die obligatoriſche Hand-
lung vorgenommen worden ſey (in qua negotium gestum
est), wodurch alſo die Beachtung des Erfüllungsortes ver-
neint werde. Die zweite und dritte Stelle dagegen ſollen
lediglich von dem Gerichtsſtand reden, nicht von dem ört-
lichen Recht; für den Gerichtsſtand aber fordern ſie die
Beachtung des Contractsorts, und als Contractsort bezeich-
nen ſie nicht den Ort der obligatoriſchen Handlung, ſon-
dern den der Erfüllung. So werden, ſagen ſie, in dieſen
Stellen der Gerichtsſtand und das örtliche Recht ſcharf un-
terſchieden, und nach entgegengeſetzten Regeln behandelt.
|0275 : 253|
§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.
Dieſe Erklärung hat Schein, aber keine Wahrheit.
Allerdings ſpricht die dritte Stelle von dem Gerichtsſtand,
nicht von dem örtlichen Recht; die zweite aber redet ſo
allgemein, daß ſie eben ſo gut auf das Eine, wie auf das
Andere, anzuwenden iſt. Sind nun die oben aufgeſtellten
Gründe für den inneren Zuſammenhang des örtlichen Rechts
mit dem Gerichtsſtand überzeugend, ſo muß eine praktiſche
Verſchiedenheit in der Behandlung beider Fragen ſo lange
verneint werden, als nicht beſtimmte Zeugniſſe für dieſe
Verſchiedenheit aufgewieſen werden können; dieſe eben ſollen
in den oben angegebenen Stellen liegen, und es wird jetzt
hauptſächlich darauf ankommen, durch die Erklärung der
erſten Stelle zu zeigen, daß dieſe den praktiſchen Gegenſatz
gegen die zwei anderen Stellen, den man darin finden will,
in der That nicht enthält.
Von der erſten Stelle nun, der L. 6 de evict., iſt ſchon
oben bemerkt worden, daß ſie eigentlich gar nicht von dem
anzuwendenden örtlichen Recht ſpricht, ſondern von that-
ſächlichen Gewohnheiten, die gar nicht Rechtsregeln begrün-
den (§ 356. i. k.). Indeſſen können wir über dieſes Be-
denken hinweggehen, und einen indirecten Gebrauch dieſer
Stelle für unſere Frage willig einräumen. Denn dieſelbe
Wahrſcheinlichkeit, die dafür ſpricht, daß die Parteien ge-
wiſſe factiſche Gewohnheiten des Orts ſtillſchweigend be-
folgen wollten, läßt ſich auch geltend machen für ihre frei-
willige Unterwerfung unter das örtliche Recht deſſelben
Orts. Wir wollen alſo die Stelle ganz ſo behandeln, als
|0276 : 254|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ob ſie über das örtliche Recht entſcheiden wollte, und nur
noch fragen, für welchen beſtimmten Ort ſie entſcheidet.
Offenbar will ſie in den Worten: ejus regionis, in qua
negotium gestum est, irgend einen anderen denkbaren Ort
ausſchließen; welches iſt nun dieſer von ihr ausgeſchloſſene
Ort? Um die verſchiedenen Möglichkeiten, die dabei in
Betracht kommen können, zur Anſchauung zu bringen, will
ich folgendes Beiſpiel wählen. Zwei Einwohner von Pu-
teoli, deren Einer in dieſer Stadt ein Grundſtück beſitzt,
treffen zuſammen im Bade von Bajä, und ſchließen daſelbſt
einen Kaufcontract über jenes Grundſtück; hinterher ent-
ſteht ein Streit über die Evictionsleiſtung, und es fragt
ſich, welches örtliche Recht dabei angewendet werden ſoll.
Nach der Erklärung der Gegner müßte es das Recht von
Bajä ſeyn (regionis, in qua negotium gestum est), nicht
das von Puteoli, und dieſes letzte eben ſollte durch den
Ausſpruch des Juriſten verneint werden. Ich gebe nun
zu, daß es möglich wäre, der alte Juriſt hätte an den auf
einem ſo verwickelten Fall beruhenden Gegenſatz gedacht,
und darüber eine Entſcheidung geben wollen; aber in der
Stelle ſelbſt findet ſich darauf nicht die entfernteſte Hin-
deutung, und eine unbefangene Erklärung muß vielmehr
darauf führen, folgenden viel einfacheren Fall vorauszu-
ſetzen. Die zwei Einwohner von Puteoli haben in ihrer
Vaterſtadt ſelbſt den Kaufvertrag geſchloſſen (i); in dieſem
(i) So erklärt die Stelle auch
C. Molinaeus, Conclusiones
de statutis in dem Comm. in
Codicem hinter L. 1 C. de
|0277 : 255|
§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.
Stadtgebiet aber gilt bei Evictionen eine eigenthümliche
Gewohnheit, abweichend von der anderwärts üblichen. An-
ſtatt nämlich, daß die allgemeine Gewohnheit anderer Orte
dahin führte, für den Fall der Eviction den doppelten Kauf-
preis zurück zu zahlen (k), war es in Puteoli üblich,
einen anderen Erſatz, etwa den anderthalbfachen, oder den
dreifachen Kaufpreis eintreten zu laſſen. Der Ausſpruch
des Juriſten geht alſo dahin, in einem ſolchen Fall nicht
die allgemeine, anderwärts übliche, Höhe des Erſatzes gel-
ten zu laſſen, ſondern die an dieſem Ort hergebrachte,
weil wahrſcheinlich dieſe den Parteien vorgeſchwebt haben
werde. Geſetzt nun, es wäre ihm die weitere Frage vor-
gelegt worden, wie es zu halten ſey, wenn der Ver-
trag nicht in Puteoli ſelbſt, ſondern in Bajä geſchloſ-
ſen worden wäre (wovon übrigens die Stelle ſelbſt keine
Spur enthält), ſo würde er ohne Zweifel auch wieder auf
die Gewohnheit von Puteoli verwieſen haben, weil der
Vertrag in dieſer Stadt und nicht in Bajä zu erfüllen war;
nur würde er dann nicht mehr den Ausdruck gebraucht
haben: in qua negotium gestum est, weil dieſer, wenn ein
ſolcher Gegenſatz in Frage geſtanden hätte, faſt nothwendig
summa trin. (p. 6. 7 ed. Hanov.
1604. f) „quod est intelligen-
dum non de loco contractus
fortuiti, sed domicilii, prout
crebrius usu venit, immobilia
non vendi peregre, sed in loco
domicilii. Lex autem debet
adaptari ad casus vel hypo-
theses, quae solent frequenter
accidere: nec extendi ad casus
raro accidentes.“
(k) L. 31 § 20 de aedil. ed.
(21. 1), L. 2. L. 37 de evict.
(21. 2).
|0278 : 256|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
mißverſtanden werden mußte. — Wird nun dieſe Erklärung
der Stelle angenommen, die ganz bei ihren Worten ſtehen
bleibt, und ihr keine fremdartige Vorausſetzungen aufdrängt,
ſo enthält ſie durchaus keinen Grund, das örtliche Recht
nach einer andern Regel zu beſtimmen, als den Gerichts-
ſtand.
§. 373.
III. Obligationenrecht. Örtliches Recht (Fortſetzung).
Es ſind nun für das örtliche Recht der Obligation
einige Nebenfragen zu erörtern, meiſt anſchließend an ähn-
liche Nebenfragen, die ſchon oben für den Gerichtsſtand der
Obligation unterſucht worden ſind (§ 371).
In mehreren Fällen nämlich wird das örtliche Recht,
eben ſo, wie der Gerichtsſtand der Obligation, begründet
durch den Entſtehungsort derſelben (§ 372 Num. III. IV),
und es kann dann die genauere Beſtimmung dieſes Ent-
ſtehungsortes wichtig, zuweilen aber auch zweifelhaft ſeyn.
Mit Rückſicht auf ſolche Zweifel ſollen hier mehrere beſon-
dere Fälle angegeben und einer Prüfung unterworfen
werden, in ähnlicher Weiſe wie Dieſes bereits bei dem
Gerichtsſtand geſchehen iſt.
A. Verträge:
Der zweifelhafteſte und beſtrittenſte Fall iſt der eines
Vertrages, welcher durch Briefwechſel geſchloſſen wird.
Mit dieſem Fall aber iſt auf völlig gleiche Linie zu ſtellen
der Vertrag, der durch eine an verſchiedenen Orten unter-
|0279 : 257|
§. 373. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht. (Fortſ.)
zeichnete Urkunde, oder durch die mündliche Willenserklärung
vermittelſt eines Boten, zu Stande kommt (§ 370. b). —
Hierüber nun kann nur wiederholt werden, was oben
(S. 235) über den Gerichtsſtand in ſolchen Fällen geſagt
worden iſt. Der Vertrag durch Briefwechſel iſt als ge-
ſchloſſen anzuſehen an dem Orte, wo der Brief empfangen
und zuſtimmend beantwortet wird. Käme es alſo blos
darauf an, ſo müßte durch dieſen Ort auch das örtliche
Recht beſtimmt werden, und dieſes iſt in der That die
Meinung mehrerer Schriftſteller (a). Dieſe Meinung muß
aber verworfen werden, weil der Verfaſſer des Briefes
höchſtens einem Reiſenden zu vergleichen iſt, der ſich auf
einen Augenblick zu dem Empfänger hinbegeben hat, um
den Vertrag zu ſchließen; durch einen ſolchen ganz vorüber-
gehenden Aufenthalt aber wird, auch wenn darin ein Ver-
trag zu Stande kam, der Sitz der Obligation mit ſeinen
rechtlichen Folgen nicht begründet. Daher iſt hier das
örtliche Recht der Obligation zu beurtheilen vor Allem
nach dem Erfüllungsort, wenn ein ſolcher feſt beſtimmt iſt;
fehlt es an einer ſolchen Beſtimmung, ſo gilt für jede
Partei das Recht ihres Wohnſitzes (b). — Ganz abweichend
von dieſen verſchiedenen Anſichten haben andere Schriftſteller
angenommen, der durch Briefwechſel geſchloſſene Vertrag
(a) Hommel rhaps., obs. 409
N. 17. 18, Meier p. 59.
(b) Wächter II. S. 45 nimmt
das Recht des Wohnſitzes allge-
mein an, ohne Rückſicht auf den
Erfüllungsort.
VIII. 17
|0280 : 258|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
müſſe nach dem Naturrecht beurtheilt werden (c); wobei
nur zu bedauern iſt, daß ſie nicht zugleich das naturrecht-
liche Syſtem angegeben haben, welches ſie angewendet
wiſſen wollen. — Das Preußiſche Geſetzbuch entſcheidet
die hier vorliegende Frage nur in der beſchränkten An-
wendung auf den Fall, wenn am Wohnſitz beider Parteien
ein verſchiedenes Recht über die Form des Vertrags gelte;
dann ſoll dasjenige Recht angewendet werden, bei welchem
der Vertrag am beſten beſtehen kann (d). In dem Sinn
dieſer Vorſchrift aber liegt es, auch in anderen Beziehungen
(wo es nicht auf das Beſtehen des Vertrags, ſondern auf
die Art der Wirkung ankommt) das Recht des Wohnſitzes
über die Schuld jedes Theiles entſcheiden zu laſſen.
Die wichtigſte Anwendung dieſer Streitfrage iſt die auf
das Wechſelrecht. Nach dem aufgeſtellten Grundſatze müſſen
wir annehmen, daß die Verpflichtung jedes einzelnen Unter-
zeichners eines Wechſels nach dem Recht ſeines Wohnſitzes
zu beurtheilen iſt. Das ganz eigenthümliche Bedürfniß
dieſes Geſchäfts aber kann eine abweichende poſitive Be-
ſtimmung wohl rechtfertigen. Das neueſte deutſche Wechſel-
recht beſtimmt im Art. 85 Folgendes. Jede Wechſel-
erklärung iſt zu beurtheilen nach dem Geſetz des Orts, an
welchem ſie erfolgt iſt. Iſt ſie jedoch nach dieſem Geſetz
mangelhaft, genügt aber den Anforderungen des inländiſchen
(c) Grotius de j. belli Lib. 2 C. 11 § 5 N. 3. Hert. de com-
meatu literarum § 16 — 19 (Comm. Vol. I pag. 243).
(d) A. L. R. I. 5 § 113. 114.
|0281 : 259|
§. 373. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht. (Fortſ.)
Geſetzes, ſo ſind die ſpäter im Inland auf den Wechſel
geſetzten Wechſelerklärungen gültig. Eben ſo ſind gültig
die Wechſelerklärungen, die ein Inländer einem anderen
Inländer im Auslande giebt, wenn ſie nur dem inländiſchen
Geſetze entſprechen (e).
B. Einſeitige erlaubte Handlungen.
Aus dieſer Kategorie kommen hier hauptſächlich in
Betracht die mannichfaltigen Verpflichtungen, die aus dem
Klagenrecht hervorgehen, insbeſondere aus der Litisconte-
ſtation (Anſtellung der Klage), dem gerichtlichen Geſtändniß,
dem rechtskräftigen Urtheil. Hierüber waren früher viele
Zweifel und Meinungsverſchiedenheiten wahrzunehmen, die
ſich jedoch allmälig immer mehr dem richtigen Grundſatz
angenähert haben, nach welchem das am Ort des Gerichts
(und zwar der erſten Inſtanz) beſtehende örtliche Recht als
anwendbar gelten muß, auch wenn an anderen Gerichten
dieſe Frage ſpäterhin vorkommt (f).
Es muß jedoch bemerkt werden, daß hier eigentlich zwei,
wenngleich verwandte, dennoch an ſich verſchiedene Fragen
zu entſcheiden ſind, deren Sinn am anſchaulichſten werden
wird, wenn ich ſie ſogleich auf den wichtigſten Fall der
Anwendung, das rechtskräftige Urtheil, beziehe. Die erſte,
allerdings wichtigſte, Frage iſt die, ob überhaupt das aus-
(e) Preußiſche Geſetz-Sammlung 1849 S. 68. Aehnliche Be-
ſtimmungen enthält das A. L. R. II. 8 § 936—938.
(f) Huber
§ 6. Meier p. 29. Story § 584 fg.
17*
|0282 : 260|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
geſprochene rechtskräftige Urtheil auch anderwärts, ſelbſt in
einem anderen Lande, anzuerkennen iſt. Die zweite Frage
betrifft die Modalitäten in den Bedingungen und Wirkungen
des rechtskräftigen Urtheils, die in den Geſetzen verſchie-
dener Länder verſchieden beſtimmt ſeyn können. Unſere
Schriftſteller denken meiſt nur an die erſte Frage. Wer
aber dieſe zum Vortheil der Gültigkeit des rechtskräftigen
Urtheils beantwortet, muß conſequenterweiſe auch auf die
Modalitäten das Geſetz des Orts anwenden, an welchem
das Urtheil geſprochen wurde, da man doch überhaupt das
Urtheil nur in dem Sinn kann anwenden wollen, in welchem
der urtheilende Richter daſſelbe erlaſſen hat.
Dieſer Gegenſatz tritt hervor in der Faſſung vieler Ver-
träge, die von der Preußiſchen Regierung mit Nachbarſtaa-
ten geſchloſſen worden ſind (g). Nach der wörtlichen
Faſſung dieſer Verträge könnte man annehmen, wenn ein
in Weimar geſprochenes Urtheil in einem Preußiſchen Ge-
richt vorgebracht werde, ſo müſſe die exceptio rei judicatae
ſo angewendet werden, wie es den Preußiſchen Regeln
über dieſe Exception, nicht, wie es den Weimarſchen (ge-
meinrechtlichen) entſpreche. An dieſen feineren Gegenſatz
(g) Vertrag mit Weimar Art. 3
(ſ. o. § 348) „Ein von einem zu-
ſtändigen Gericht gefälltes rechts-
kräftiges Erkenntniß begründet vor
den Gerichten des andern Staates
die Einrede des rechtskräftigen Ur-
theils (exceptio rei judicatae)
mit denſelben Wirkungen,
als wenn das Urtheil von einem
Gericht desjenigen Staates, in
welchem ſolche Einrede geltend ge-
macht wird, geſprochen wäre“. —
Eben ſo mit mehreren anderen
Nachbarſtaaten.
|0283 : 261|
§. 373. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht. (Fortſ.)
aber hat man dabei ſchwerlich gedacht, um ſo weniger, als
bei jenen Verhandlungen gewiß nicht die möglichen Ver-
ſchiedenheiten in der Theorie der exceptio rei judicatae er-
wogen worden ſind. Die Meinung ging vielmehr unzwei-
felhaft blos dahin, daß die Exception aus einem Urtheil
des Nachbarlandes eben ſo gewiß, wie aus einem inlän-
diſchen Urtheil, geltend gemacht, alſo nicht etwa wegen der
ausländiſchen Stellung des früheren Richters zurückgewie-
ſen werden könne.
C. Delicte.
Der Gerichtsſtand am Ort des begangenen Delicts hat
nach den Geſetzen und nach der Praxis keinen Zweifel, ob-
gleich er auf andere Weiſe begründet werden muß, als der
Gerichtsſtand anderer Obligationen (§ 371. C.). Für das
örtliche Recht aber muß eine andere Regel gelten. Indeſſen
wird es zweckmäßiger ſeyn, dieſe Frage in einem anderen
Zuſammenhang zu behandeln (§ 374. C.), weshalb ſie hier
einſtweilen ausgeſetzt bleibt.
Die neueren Geſetzgebungen enthalten nur ſehr unvoll-
ſtändige Beſtimmungen über das örtliche Recht der Obli-
gationen. Das Preußiſche Landrecht giebt eine Vorſchrift
über die durch Briefwechſel geſchloſſenen Verträge (Note d).
Es erkennt ferner bei der Frage über Maaß und Gewicht,
ſo wie über die Münzſorte, die in einem Vertrag gemeint
ſeyn mögen, den Grundſatz an, daß der örtliche Gebrauch
|0284 : 262|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
des vertragsmäßigen Erfüllungsortes anwendbar ſey (h);
dieſe Vorſchrift nun bezieht ſich zwar eigentlich nicht auf
das örtliche Recht, ſondern auf die davon verſchiedene
Auslegung der Verträge (§ 374. f); ich halte es aber für
unbedenklich, den hier anerkannten Grundſatz auch auf das
örtliche Recht über die Wirkungen der Verträge im Sinne
des Landrechts anzuwenden, da in demſelben der erwähnte
ſcharfe Unterſchied ſchwerlich vorausgeſetzt werden darf.
Das Oeſterreichiſche Geſetzbuch legt vorzugsweiſe Ge-
wicht auf den Ort, wo ein Vertrag geſchloſſen iſt, um das
anwendbare örtliche Recht zu beſtimmen, und fügt nur die
natürliche Ausnahme hinzu, wenn die Parteien erweislich
die Anwendung eines anderen örtlichen Rechts beabſichtigt
haben (i).
(h) A. L. R. I. 5 § 256. 257.
— Koch Preuß. Recht B. 1
S. 133 ſtellt den ganz richtigen
Grundſatz auf, es müſſe das ört-
liche Recht gelten, dem ſich die
Parteien haben unterwerfen wollen,
nimmt aber ohne hinreichenden
Grund an, daß dieſes meiſtens
der locus contractus ſeyn werde.
Auch Bornemann B. 1 S. 65
nimmt dieſen Ort als vorherr-
ſchende Regel an. — Von der
Form der Verträge wird noch
unten die Rede ſeyn bei der Regel:
locus regit actum. Vgl. auch
die oben in der Note e angeführten
Geſetzſtellen.
(i) Oeſterreichiſches Geſetzbuch
§. 36. 37.
|0285 : 263|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
§. 374.
III. Obligationenrecht. Örtliches Recht. Einzelne
Rechtsfragen.
Die bisher aufgeſtellten Grundſätze betrafen das örtliche
Recht der Obligation im Allgemeinen. Es wurde aber
dabei anerkannt, daß dieſes örtliche Recht nicht gerade auf
alle einzelne, bei Gelegenheit einer Obligation etwa vor-
kommende Rechtsfragen anwendbar ſeyn müſſe, und es
wurde die beſondere Prüfung dieſer einzelnen Rechtsfragen
noch vorbehalten (§ 372. S. 250). Zu dieſer Prüfung
gehe ich jetzt über.
A. Die erſte dieſer Rechtsfragen betrifft die perſön-
liche Fähigkeit des in einer Obligation auftretenden
Glaubigers oder Schuldners zu dieſem beſonderen Rechts-
verhältniß.
Gerade dieſe erſte Frage nun iſt gar nicht nach dem
örtlichen Recht der Obligation als ſolchem zu entſcheiden,
ſondern lediglich nach dem örtlichen Recht, welches an dem
Wohnſitz der Perſon gilt. Es muß Dieſes unbedingt be-
hauptet werden, da der von Vielen aufgeſtellte Unterſchied
zwiſchen der allgemeinen und beſonderen Handlungsunfä-
higkeit durchaus unhaltbar iſt (§ 364).
Es gilt dieſes namentlich nach gemeinem Recht in Beziehung
auf die perſönliche Wechſelfähigkeit, welche ſtets nach dem Rechte
des Wohnſitzes des bei einem Wechſel betheiligten Unterzeichners
zu beurtheilen iſt. Jedoch würde es irrig ſeyn, die perſönliche
Wechſelunfähigkeit zu verwechſeln mit dem an irgend einem Orte
|0286 : 264|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
nicht geltenden Wechſelrecht. An einem ſolchen Orte näm-
lich kann nur keine Wechſelklage mit Erfolg angeſtellt wer-
den, ſelbſt aus einem an ſich vollgültigen Wechſel; dagegen
hat das Recht eines ſolches Ortes auf die Gültigkeit der
an demſelben ausgeſtellten Wechſel keinen Einfluß, ſo daß
dieſe an anderen, mit Wechſelrecht verſehenen Orten aller-
dings wechſelmäßig eingeklagt werden können (§ 364).
B. Eine andere Rechtsfrage betrifft die Auslegung
der Rechtsgeſchäfte, insbeſondere der Verträge, aus welchen
Obligationen entſtehen (a).
Man kann dieſe Frage mit mehreren Schriftſtellern in
einem ſo weiten Sinne auffaſſen, daß ſie alle andere Fra-
gen über das örtliche Recht in ſich aufnimmt, indem die
Anwendung irgend einer örtlichen Rechtsregel auf einen
Vertrag ſtets ſo verſtanden werden kann, daß ſie nach dem
wahrſcheinlichen Willen der Parteien zu dem Vertrag hinzu
gedacht werden müſſe. Das läßt ſich als ergänzende Aus-
legung bezeichnen, ſo wie ſie überhaupt den vermittelnden
Rechtsregeln zum Grunde liegt (b). Allein ſo allgemein
aufgefaßt, verliert die Frage nach der Auslegung alle eigen-
thümliche Bedeutung. Soll ihr dieſe erhalten werden, ſo
müſſen wir ſie in einem engeren Sinne auffaſſen, indem
wir ſie auf die Zweifel beziehen, die aus der ungewiſſen
(a) Schriftſteller über dieſe
Frage: Boullenois T. 2 obs. 46
dixième règle. p. 489—538.
Story § 272 fg. 280 fg. Wäch-
ter Archiv für civil. Praxis B. 19
S. 114 bis 125.
(b) S. o. B. 1 § 16.
|0287 : 265|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Faſſung eines Vertrags, alſo aus den Ausdrücken deſſelben,
entſpringen. Das iſt eine thatſächliche Frage, eben ſo wie
bei der Geſetzauslegung; ſie iſt hier und dort gerichtet auf
die Erkenntniß des wahren Gedankens, den die gebrauchte
mündliche oder ſchriftliche Rede in ſich enthält (c). Bei
dieſer Frage nun iſt gar nicht die Rede von der Anwen-
dung irgend eines örtlichen Rechts, wohl aber kann der
örtliche Sprachgebrauch oft dazu dienen, den Gedanken
der Perſon erkennen zu laſſen, von welcher die Willens-
erklärung herrührt. Fragen wir nun nach dem Ort, deſſen
Sprachgebrauch zu berückſichtigen iſt, ſo können dabei die
Regeln über das anwendbare örtliche Recht nicht maaßge-
bend ſeyn, und es iſt ganz grundlos, wenn Manche auf
den Entſtehungsort oder den Erfüllungsort der Obligation
blos deswegen verweiſen, weil ſich nach dieſen Orten das
anwendbare örtliche Recht in vielen Fällen richtet.
So wird bei einem durch Briefwechſel geſchloſſenen
Vertrag in der Regel der Sprachgebrauch des Ortes zu
beachten ſeyn, an welchem der Verfaſſer des erſten Schrei-
bens wohnt, nicht der Ort des Empfanges und der An-
nahme, obgleich an dieſem letzten Ort der Vertrag als ab-
geſchloſſen anzuſehen iſt (S. 235) (d); denn es iſt anzu-
(c) S. o. B. 3 S. 244. —
So drücken ſich auch die Römiſchen
Juriſten aus. L. 34 de R. J.
(50. 17) „id sequimur, quod
actum est“. L. 114 eod. „In
obscuris inspici solere, quod
verisimilius est, aut quod ple-
rumque fieri solet“.
(d) Wächter a. a. O., S. 117.
Er erläutert dieſen Satz durch
folgenden Rechtsfall. Eine Leip-
ziger Verſicherungsgeſellſchaft hatte
|0288 : 266|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
nehmen, daß der Verfaſſer des Schreibens den ihm geläu-
figen Sprachgebrauch vor Augen gehabt haben wird.
Wenn ferner ein mündlicher oder ſchriftlicher Vertrag
im Wohnſitz beider Parteien geſchloſſen wird, ſo iſt unſtrei-
tig der Sprachgebrauch dieſes Ortes anwendbar. Dagegen
läßt ſich Dieſes nicht unbedingt behaupten, wenn der Ver-
trag an einem Orte geſchloſſen wird, der für eine der Par-
teien oder für beide nicht der eigene Wohnſitz iſt. Hier
muß in jedem einzelnen Fall erwogen werden, ob anzuneh-
men iſt, daß der Fremde, der an dem Vertrage Theil nahm,
dieſen örtlichen Sprachgebrauch kannte, und ſich ihn wahr-
ſcheinlich aneignen wollte (e).
Aus denſelben Gründen können wir auch nicht den
Sprachgebrauch des verabredeten Erfüllungsortes unbedingt
zum Grunde legen bei der Auslegung eines Vertrages,
in ihren gedruckten Bedingungen
den Fall einer Zerſtörung durch
Aufruhr ausgenommen. Bei einer
auswärts vorgekommenen Feuers-
brunſt entſtand nun die Frage, ob
dabei der juriſtiſche Begriff des Auf-
ruhrs anwendbar ſey, indem die Ge-
ſetze verſchiedener Länder dieſen
Begriff nicht gleichmäßig beſtimmen.
Wächter entſcheidet ganz richtig,
es müſſe auf den Sprachgebrauch
des Sächſiſchen Geſetzes geſehen
werden, weil in dem Bereich deſſel-
ben die Bedingungen abgefaßt
waren, auf deren Grund die Ver-
ſicherungen ausgeſtellt und ange-
nommen wurden.
(e) Man könnte dieſe Be-
hauptung widerlegen wollen durch
L. 34 de R. J. (50. 17) „id
sequamur, quod in regione,
in qua actum est, frequenta-
tur.“ Allein dieſe Stelle will ge-
wiß keine willkürliche Vorſchrift
geben, muß alſo unter der natür-
lichen Vorausſetzung verſtanden
werden, daß die verhandelnden
Perſonen an dieſem Orte ein-
heimiſch ſind; ganz eben ſo wie
die L. 6 de evict. (21. 2), ſ. o.
§. 372. i.
|0289 : 267|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
wenngleich das örtliche Recht einer Obligation ſtets nach
dem Erfüllungsort ſich richtet. Auch hier wird es darauf
ankommen, ob die Parteien den Sprachgebrauch dieſes
Ortes kannten und ſich aneignen wollten. Für manche
Stücke in dem Inhalt eines Vertrages werden wir freilich
den Sprachgebrauch des Erfüllungsortes allgemein bei der
Auslegung zum Grunde legen können. Wenn nämlich an
einem fremden Orte eine Geldſumme ausgezahlt, eine Waare
nach Maaß und Gewicht abgeliefert, oder ein Grundſtück
nach dem beſtimmten Umfang eines Landmaaßes übergeben
werden ſoll, in dem Vertrage aber für die Geldſorte, das
Maaß oder das Gewicht Ausdrücke gebraucht ſind, die in
verſchiedener Bedeutung, in verſchiedenem Umfang und
Werth vorzukommen pflegen, ſo iſt der Sprachgebrauch des
Erfüllungsortes zum Grunde zu legen, nicht blos, weil an-
zunehmen iſt, daß die Parteien an das dort übliche Geld,
Maaß, Gewicht gedacht haben werden, ſondern auch, weil
es in jenem Orte oft an der Möglichkeit fehlen wird, die
Erfüllung nach anderen Gewichten u. ſ. w. abzumeſſen und
zu vollziehen (f).
Man könnte glauben, die hier aufgeſtellten Regeln über
die Auslegung der Verträge ſtänden im Widerſpruch mit
gewiſſen Vorſchriften des Römiſchen Rechts. Nach dieſen
nämlich ſoll die Auslegung eines zweifelhaften Vertrages
(f) Boullenois p. 496—498. So iſt es auch ausdrücklich in dem
Preußiſchen Geſetze beſtimmt. A. L. R. I. 5 § 256. 257.
|0290 : 268|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſtets ausfallen zum Nachtheil des Stipulator bei einer Stipula-
tion (g); eben ſo zum Nachtheil des Verkäufers oder des Vermie-
thers, wenn von dieſen anderen Verträgen die Rede iſt (h).
Als Grund wird dabei der Umſtand angegeben, daß dieſe
Perſonen es in ihrer Macht hatten, den Zweifel durch an-
dere Faſſung zu verhüten, welches ſo viel ſagen will, daß
ſie entweder durch ihre Nachläſſigkeit oder gar durch un-
redliche Abſicht den Zweifel verſchuldet haben. Eben dieſer
Grund aber deutet darauf hin, daß ein ganz anderer Fall,
als bei der hier vorliegenden Frage, vorausgeſetzt wird.
Jene Ausſprüche beziehen ſich überdem ganz ausdrücklich
auf dunkle, zweideutige Ausdrücke (i), anſtatt daß in un-
ſerer Frage von Ausdrücken die Rede iſt, die an ſich weder
dunkel noch zweideutig ſind, ſondern nur an verſchiedenen
Orten eine andere Bedeutung mit ſich führen, welche aber
an jedem dieſer Orte für ſich klar und gewiß iſt.
Die hier erörterte Frage wegen der Auslegung der
Verträge iſt von jeher von den meiſten Schriftſtellern auf
andere Weiſe, als hier geſchehen, aufgefaßt, und vielmehr
auf die Grundſätze des örtlichen Rechts zurückgeführt wor-
den. Hiernach hat man gewöhnlich angenommen, daß die
Auslegung geſchehen müſſe nach dem Sprachgebrauch des
(g) L. 26 de reb. dub. (34. 5),
L. 38 § 18, L. 99 pr. de V. O.
(45. 1).
(h) L. 39 de pactis (2. 14),
L. 21. 33 de contr. emt. (18. 1),
L. 172 pr. de R. J. (50. 17).
(i) L. 39 de pactis (2. 14),
L. 21. 33 de contr. emt. (18. 1),
L. 26 de reb. dub. (34. 5), L. 172
pr. de R. J. (50. 17).
|0291 : 269|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Vertragsortes, oder des Erfüllungsortes, wenn ein ſolcher
verabredet ſey (k). Mehrere aber haben völlig richtig die
Aufgabe erkannt, nicht ſowohl eine juriſtiſche Regel feſtzu-
ſtellen, als vielmehr die wahre Abſicht der Parteien nach
den für die Auslegung überhaupt geltenden Grundſätzen
für jeden einzelnen Fall zu erforſchen (l).
C. Die Gültigkeit einer Obligation iſt abhängig
theils von formellen, theils von materiellen Bedingungen.
Die formellen Bedingungen werden weiter unten, in Ver-
bindung mit den bei anderen Rechtsverhältniſſen anwend-
baren Formen, erwogen werden, da, wo von der Regel:
locus regit actum die Rede ſeyn wird (§ 381). Hier iſt
für die materiellen Bedingungen der Gültigkeit das örtliche
Recht feſtzuſtellen, nach welchem ſie beurtheilt werden
müſſen.
Als Regel müſſen wir annehmen, daß die Gültigkeit
der Obligation abhängt von dem örtlichen Recht, dem die
Obligation überhaupt unterworfen iſt (§ 372); alſo, je nach
Verſchiedenheit der Fälle, von dem Recht des Erfüllungs-
ortes, oder des Entſtehungsortes der Obligation, oder des
Wohnſitzes des Schuldners. Von dieſer Regel aber muß
eine Ausnahme behauptet werden in allen Fällen, in wel-
chen ein am Ort der angeſtellten Klage geltendes Geſetz
von ſtreng poſitiver, zwingender Natur entgegenſteht.
(k) So Story § 272. 280 und die daſelbſt angeführten Schrift-
ſteller.
(l) So Boullenois a. a. O., beſonders p. 494—498,
und Wächter a. a. O.
|0292 : 270|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Die hier aufgeſtellte Regel wird denn auch von den
meiſten Schriftſtellern anerkannt, natürlich mit Vorbehalt
ſehr verſchiedener Anwendungen, gegründet auf die Mei-
nungsverſchiedenheiten über das örtliche Recht der Obliga-
tion ſelbſt (m).
Dieſe Uebereinſtimmung jedoch beſchränkt ſich auf den
durchgreifenden Gegenſatz einer durchaus gültigen oder
durchaus ungültigen (nichtigen) Obligation. Zwiſchen die-
ſen beiden äußerſten Fällen finden ſich mannichfaltige Mit-
telglieder, und über das örtliche Recht, nach welchem dieſe
beurtheilt werden ſollen, gehen die Meinungen ſehr aus-
einander.
Zunächſt ſind hier die Fälle zu beachten, in welchen
einer an ſich nicht ungültigen Obligation blos die Rechts-
hülfe der Klage verſagt wird (naturalis obligatio); ferner
die weit häufigeren Fälle, in welchen eine klagbare Obli-
gation durch entgegenſtehende peremtoriſche Einreden ent-
kräftet wird. Manche Schriftſteller haben hier die Klagen
und Einreden als Prozeßinſtitute behandelt, und daher auf
alle Fälle ſolcher Art das Geſetz, welches am Ort der an-
geſtellten Klage gilt, anzuwenden verſucht (n). Dieſe Mei-
nung aber iſt ganz verwerflich; alle Rechtsregeln der hier
erwähnten Art beſtimmen nur verſchiedene Stufen und
(m) Voet. Pand. IV. 1. § 29.
Hert. § 66. Story § 332 fg.
Wächter II. S. 397. 403. 404.
(n) Weber natürliche Ver-
bindlichkeit § 62. 95. Foelix
p. 146.
|0293 : 271|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Formen unvollſtändiger Gültigkeit einer Obligation (o), und
gehören daher eben ſo, wie die Regeln über völlige Gültig-
keit oder Ungültigkeit dem materiellen Rechte an, nicht dem
Prozeßrecht (p). Es iſt alſo ganz inconſequent, beide Ar-
ten von Rechtsregeln nach verſchiedenen Grundſätzen zu
behandeln. Beſonders bedenklich aber muß es erſcheinen,
wenn dieſe Behandlung auf neuere Geſetzgebungen ange-
wendet werden ſoll, welchen ſcharf begränzte Begriffe und
Kunſtausdrücke oft fehlen, worauf allein jene Unterſcheidung
gegründet werden könnte.
Die hier aufgeſtellte Regel iſt alſo namentlich anzuwen-
den auf die exceptio non numeratae pecuniae; denn ob-
gleich in dieſer zunächſt von einer eigenthümlichen Beweis-
regel die Rede iſt, die dem Prozeßrecht anzugehören ſcheint,
ſo iſt dieſelbe dennoch ganz in dem materiellen Recht ge-
wiſſer Arten von Obligationen gegründet. Ferner gehört
dahin die exceptio excussionis; imgleichen die auf das
beneficium competentiae gegründete Einrede. — Dagegen
ſind nicht unter dieſe Regel zu beziehen die exceptio Sc.
(o) S. o. B. 4 § 202. 203.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die
hier aufgeſtellte Regel nur an-
wendbar iſt auf Einreden, die
einen materiellen Rechtsgrund haben
(alſo auf alle peremtoriſche), nicht
auf die, welche blos in Prozeß-
vorſchriften gegründet ſind, und
die ſtets eine nur dilatoriſche Natur
haben. S. o. B. 5 § 227 S. 171.
175. Dieſe letzten richten ſich ge-
wiß nach dem am Ort der Klage
geltenden Recht, und vielleicht hat
die Verwechſelung beider Arten da-
zu beigetragen, die falſche Lehre
zu befeſtigen.
(p) Eichhorn deutſches Recht
§ 36 Note n. Wächter II.
S. 401. 402.
|0294 : 272|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Macedoniani und Sc. Vellejani, da dieſe Einreden nicht
auf der mangelhaften Natur der Obligation an ſich, ſon-
dern auf der unvollſtändigen Handlungsfähigkeit der be-
theiligten Perſonen beruhen, folglich, ſo wie alle dieſen Ge-
genſtand betreffenden Rechtsverhältniſſe, nach dem an dem
Wohnſitz ſolcher Perſonen geltenden Rechte beurtheilt werden
müſſen (§ 364).
Eben ſo, wie mit den Einreden, verhält es ſich auch
mit den Klagen, wodurch eine Obligation angefochten und
entkräftet werden ſoll; ſie ſind zu beurtheilen nach dem
Recht des Ortes, dem die Obligation überhaupt unter-
worfen iſt (q).
Anwendungen dieſer Regel ſind folgende: Die An-
fechtung eines Verkaufs wegen Verletzung über die Hälfte.
— Die Anfechtung eines Kaufs durch die redhibitoriſche
Klage oder die actio quanti minoris. — Ferner jede Re-
ſtitution gegen einen obligatoriſchen Vertrag (r).
(q) Das örtliche Recht der
Obligation iſt alſo allgemeiner und
unbedingter auf die Anfechtungs-
klagen anzuwenden, als der Ge-
richtsſtand der Obligation, indem
dieſer letzte nur zur Aufrechthaltung
und Durchführung der Obligation
beſtimmt iſt (§ 371).
(r) Auch ſelbſt wenn die Re-
ſtitution auf der Minderjährigkeit
beruht, da dieſe, nach ihrer all-
mäligen Entwickelung im Rö-
miſchen Recht, nicht mehr als
reine Folge der Handlungsunfähig-
keit betrachtet werden kann, ſon-
dern als ein die Obligation als
ſolche entkräftendes Rechtsmittel
(§ 365. B. 3).
|0295 : 273|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Unter den hier erwähnten Einreden, wodurch eine Obli-
gation entkräftet werden kann, iſt die allgemeinſte in der
Anwendung, und darum auch die wichtigſte, die Einrede
der Klagverjährung, und dieſe bedarf noch einer ab-
geſonderten Erwägung, weil ſich gerade darüber die Schrift-
ſteller auf ſehr verſchiedene Weiſe ausgeſprochen haben,
jedoch ſo daß der allgemeine Gegenſatz der Meinungen, der
bereits bei den Einreden überhaupt erwähnt worden iſt, hier
nur in etwas ſchärferer Weiſe hervortritt. Wenn nun ins-
beſondere verſchiedene Verjährungszeiten gelten an dem ver-
abredeten Erfüllungsort, wo wir den Sitz der Obligation
annehmen, und an dem Ort der wirklich angeſtellten Klage
(etwa dem Wohnſitz des Schuldners), ſo entſteht die Frage,
welche Verjährungszeit angewendet werden ſoll.
Viele behaupten, die Verjährungsgeſetze ſeyen Prozeß-
geſetze, und müßten daher angewendet werden auf alle in
ihrem Bereiche angeſtellte Klagen, ohne Rückſicht auf das
örtliche Recht der Obligation (s).
Nach der richtigen Lehre muß das örtliche Recht der
Obligation über die Verjährungszeit entſcheiden, nicht das
des Klageorts; und dieſe Regel, die ſo eben für die Ein-
(s) Huber § 7. Weber na-
türliche Verbindlichkeit § 95 S 413
und S. 419. Story § 576 fg.
Foelix p. 147—149. (der ſich
jedoch ſchwankend erklärt). Weber
fügt eine inconſequente Ausnahme
hinzu für den Fall, wenn der
Schuldner aus einem Orte von
langer Verjährung an einen Ort,
wo kurze Verjährung gilt, ſeinen
Wohnſitz verlegt; hier ſoll der
Lauf der kurzen Verjährung erſt
anfangen mit der Gründung des
neuen Wohnſitzes.
VIII. 18
|0296 : 274|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
reden überhaupt aufgeſtellt worden iſt, wird bei der Ver-
jährung noch dadurch beſtätigt, daß die verſchiedenen Gründe,
worauf dieſelbe beruht, mit dem Weſen der Obligation ſelbſt
in Zuſammenhang ſtehen (t). Dieſe Meinung iſt denn
auch zu allen Zeiten von nicht wenigen Schriftſtellern als
richtig anerkannt worden (u).
Dieſe Lehre iſt aber auch nicht blos grundſätzlich richtig,
ſondern ſie empfiehlt ſich zugleich durch eine gewiſſe Billig-
keit, indem durch die aus ihr folgende feſte Beſtimmung
des Verjährungsgeſetzes jede einſeitige Willkür einer Partei
zum Nachtheil des Gegners ausgeſchloſſen wird. So kann
nun nicht etwa bei concurrirenden Gerichtsſtänden der Klä-
ger gerade den Ort zur Klage ausſuchen, an welchem die
längſte Verjährungszeit gilt. Eben ſo kann umgekehrt nicht
der Beklagte durch willkürliche Verlegung des Wohnſitzes
an einen Ort von kurzer Verjährung den Vortheil derſel-
ben ſich zuwenden, indem für die am vorigen Wohnſitz von
ihm contrahirte Schuld das örtliche Recht, ſo wie der be-
ſondere Gerichtsſtand der Obligation, unabänderlich feſtge-
(t) S. o. B. 5 § 237.
(u) Hert. § 65. Schäffner
§ 87. Wächter II. S. 408—412,
wo auch noch andere Schriftſteller
angeführt werden. Es verſteht
ſich von ſelbſt, daß die hier be-
hauptete Uebereinſtimmung nur von
dem Grundſatz gilt, nicht von allen
Anwendungen; denn das örtliche
Recht der Obligation wird ja eben
von dieſen Schriftſtellern nicht auf
gleiche Weiſe beſtimmt. — Der
Grundſatz iſt auch anerkannt in
einem Urtheil des Berliner Revi-
ſionshofs von 1843. Seuffert
Archiv B. 2 Num. 120. — Für das
Preußiſche Recht ſtimmen bei:
Koch I. S. 133 Note 23. Bor-
nemann I. S. 65.
|0297 : 275|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
ſtellt iſt (v). — Man kann auch keine Härte für den Glau-
biger darin finden, daß bei einem verabredeten Erfüllungs-
ort, der vielleicht eine ſehr kurze Verjährungszeit hat, der
Schuldner während dieſer Zeit willkürlich vermeiden kann,
an dieſem Ort zu erſcheinen, wodurch die Klage an
dieſem Ort einſtweilen ausgeſchloſſen wird (§ 371. z).
Denn der Glaubiger iſt ja nicht gehindert, zu jeder Zeit
an dem Wohnſitz des Schuldners zu klagen (§ 371. r).
Wäre freilich der Gerichtsſtand am Erfüllungsort aus-
ſchließend, ſo würde in einem ſolchen Fall dem Glaubiger
nur durch die Mittel zu helfen ſeyn, die überhaupt gegen
die Klagverjährung in Fällen gehemmter Rechtsverfolgung
ſchützen (w).
Die oben aufgeſtellte Regel, nach welcher die Gültig-
keit einer Obligation beurtheilt werden ſoll nach dem Rechte
des Ortes, welchem die Obligation überhaupt unterworfen
iſt (S. 269), muß durch eine wichtige Ausnahme beſchränkt
werden. Wenn nämlich der Gültigkeit der Obligation ein
Geſetz von ſtreng poſitiver, zwingender Natur entgegen-
(v) Vgl. oben § 370 Num. III.
§ 372 Num. III. Wäre dieſes
nicht, ſo brauchte nur der Schuld-
ner während der Dauer jener kurzen
Verjährung das Betreten des
früheren Wohnſitzes zu vermeiden
(§ 371. z), um ſich von der Schuld
ſchneller zu befreien. Wie hier-
gegen Weber helfen will, iſt oben
in der Note s bemerkt worden.
(w) Nämlich durch Reſtitution,
oder auch durch Anſtellung der
Klage vor dem Statthalter, De-
fenſor u. ſ. w. S. o. B. 7 § 328.
18*
|0298 : 276|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
geſetzt wird, ſo iſt nicht das eben erwähnte örtliche Recht,
ſondern vielmehr das am Ort der angeſtellten Klage geltende
Recht, das Recht des jetzt urtheilenden Richters, anzu-
wenden (x).
Dieſe Ausnahme iſt die bloße Folge eines ſehr allge-
meinen Grundſatzes über die Anwendbarkeit zwingender Ge-
ſetze (§ 349. 372. A). Sie iſt anzuwenden ſowohl poſitiv,
als negativ: das heißt, indem der Richter das für ihn gel-
tende zwingende Geſetz anzuwenden hat, auch wenn es am
Sitz der Obligation nicht gilt; eben ſo aber auch, indem
er das anderwärts (am Sitz der Obligation) geltende zwin-
gende Geſetz nicht anzuwenden hat, wenn es für ihn nicht
als Geſetz beſteht.
Die erwähnte Ausnahme kommt vor ſowohl bei Ver-
trägen, als bei Delicten.
Unter die Verträge dieſer Art gehören die durch Wucher-
geſetze verbotene. Wird alſo eine Zinſenſchuld eingeklagt,
die dem für dieſen Richter geltenden Geſetz widerſpricht, ſo
muß er ſie als ungültig behandeln, auch wenn am Sitz
der Obligation ein gleichmäßig einſchränkendes Wuchergeſetz
nicht vorhanden ſeyn mag; denn der Sinn eines ſolchen
Geſetzes geht dahin, daß kein unter ihm lebender Richter
ſeine Amtsgewalt zur Durchführung eines ſo unſittlichen,
gemeinſchädlichen Unternehmens, wie der wucherliche Ver-
trag angeſehen wird, anwenden ſoll. — Eben ſo aber wird
(x) Damit ſtimmt überein Wächter II. S. 389—405.
|0299 : 277|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
auch umgekehrt der Richter, in deſſen Amtsſprengel ein
Verbot der vor ihm eingeklagten Zinſen nicht beſteht, die
Zinſen als gültig anzuſehen haben, ohne Rückſicht auf das
etwa anderwärts (am Sitz der Obligation) geltende Verbot.
Dieſe negative Behauptung wird nicht nur durch die Con-
ſequenz der erſten, poſitiven gefordert, ſondern auch aus
folgendem Grunde. Die Anwendbarkeit eines beſtimmten
örtlichen Rechtes auf eine Obligation gründet ſich überhaupt
auf die anzunehmende freie Unterwerfung; eine ſolche Unter-
werfung kann aber durchaus nicht angenommen werden,
wenn ſie auf ein Geſetz führen würde, welches gerade die
hier vorliegende Obligation entkräften müßte (§ 372. C).
Dieſelbe Behauptung, wie bei den wucherlichen Ver-
trägen, muß auch aufgeſtellt werden für die Spielſchulden,
wenn dieſe nach dem einen Geſetze als gültig, nach dem
anderen als ungültig, anzuſehen ſeyn ſollten. Das Geſetz
des Ortes, an welchem geklagt wird, kann allein über die
Gültigkeit der Obligation entſcheiden.
Eben ſo verhält es ſich mit der Lex Anastasiana bei
Schuldforderungen, die unter ihrem Nominalwerth verkauft
werden. Dieſes Geſetz beruht auf der Vorausſetzung, daß
ein ſolcher Handel für den Schuldner gefährlich und be-
drückend werden könne, und ſucht ihn als unſittlich und
gemeinſchädlich zu verhüten durch die Vorſchrift, daß eine
unter ſolchen Bedingungen erworbene Forderung nur bis
auf die Höhe des bezahlten Kaufpreiſes geltend gemacht
|0300 : 278|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
werden dürfe (y). Die Anwendbarkeit dieſes Geſetzes hängt
davon ab, ob daſſelbe an dem Orte der angeſtellten Klage
gilt oder nicht gilt; das am Ort der entſtandenen Forderung
oder der Ceſſion geltende Recht iſt dabei gleichgültig (z).
Scheinbar gehört dahin auch das Franzöſiſche Geſetz
über die Forderungen der Juden an Chriſten; in der That
aber gehört daſſelbe vielmehr zu der die Handlungsfähigkeit
betreffenden Frage, und iſt auch bei dieſer ſchon oben er-
wähnt worden (§ 365. A. Num. 5). Die praktiſche Be-
handlung des Falles fällt mit der hier angegebenen zu-
ſammen.
Die angegebene Ausnahme iſt nun ferner anzuwenden
auf die Obligationen aus Delicten, und zwar ganz allgemein,
da die auf Delicte bezüglichen Geſetze ſtets unter die zwin-
genden, ſtreng poſitiven, zu rechnen ſind.
Bei dieſen alſo iſt ſtets zu ſehen auf das am Orte der
Klage geltende Geſetz, nicht auf das, unter welchem das
Delict begangen wurde (z¹). Auch hier gilt der Satz, wie
bei den Verträgen, ſowohl poſitiv als negativ, das heißt,
für und wider die Anwendung eines Geſetzes, das eine
(y) L. 22 C. mandati (4. 35).
(z) Abweichend davon wird in
einem Urtheil des Münchener O.
A. G. von 1845 angenommen, es
ſey zu ſehen auf das Recht, unter
welchem die Forderung urſprünglich
entſtanden ſey. Seuffert Archiv
B. 1 N. 402.
(z¹) Dieſes iſt alſo namentlich
anzuwenden auf die poſſeſſoriſchen
Interdicte, jedoch hier in ſehr be-
ſchränkter Weiſe, ſ. o. § 368 am
Ende des §.
|0301 : 279|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Obligation aus einem Delicte anerkennt. Dieſe Frage iſt
bei keiner Art von Obligationen ſo häufig aufgeworfen, be-
zweifelt, beſtritten worden, als bei den aus dem außerehe-
lichen Beiſchlaf abgeleiteten Obligationen. Es wird die
Frage beſonders anſchaulich machen, wenn ich dabei von
der ſehr unbedingten Vorſchrift des Franzöſiſchen bürger-
lichen Geſetzbuchs ausgehe, welches im Art. 340 ſo lautet:
la recherche de la paternité est interdite. Dieſes Geſetz
beruht augenſcheinlich auf der Ueberzeugung, daß im
Intereſſe der Sittlichkeit jeder Anſpruch und Rechtsſtreit,
gegründet auf außerehelichen Beiſchlaf, verhindert werden
müſſe (aa); andere Geſetzgebungen beruhen auf der entgegen-
geſetzten Ueberzeugung. Beide alſo ſind von zwingender,
ſtreng poſitiver Natur. Wird nun vor einem Gericht, das
unter jenem Franzöſiſchen Geſetze ſteht, ein ſolcher Anſpruch
geltend gemacht, ſo iſt er zurückzuweiſen, auch wenn der
angebliche Beiſchlaf vorgekommen ſeyn ſoll an einem Ort,
deſſen Geſetz einen ſolchen Anſpruch zuläßt und begünſtigt.
Umgekehrt aber muß von dem Gericht eines ſolchen Ortes
der Anſpruch zugelaſſen werden, ſelbſt wenn der Beiſchlaf
an einem Orte des Franzöſiſchen Rechts Statt gefunden
haben ſoll. Was nun hier von dem äußerſten Gegenſatz,
der unbedingten Verwerfung oder Zulaſſung, gilt, muß
eben ſo auch behauptet werden, wenn die Geſetze der ver-
(aa) Dieſe Abſicht des Fran-
zöſiſchen Geſetzes iſt unzweideutig
ausgeſprochen in dem an die
Richter gerichteten unbedingten
Verbot aller Procedur.
|0302 : 280|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſchiedenen Orte in geringerem Maaße von einander ab-
weichen, etwa in den Bedingungen oder dem Umfang der
Anſprüche. — Die Entſcheidungen der Gerichte über dieſe
Frage ſind ſehr verſchieden (bb).
Dieſe ganze Frage iſt verwandt mit der Frage des
Strafrechts, ob ein auswärts begangenes Verbrechen von
unſren Gerichten zu beſtrafen iſt, und mit welcher Strafe.
Dennoch dürfen beide Fragen nicht identificirt werden, da
in dem Strafrecht, als einem Beſtandtheil des öffentlichen
Rechts, Rückſichten zu nehmen ſind, von welchen bei den
Obligationen aus Delicten nicht die Rede iſt.
Aus den eben aufgeſtellten Grundſätzen über das örtliche
Recht in den Fällen zwingender Geſetze folgt nun allerdings,
daß in ſolchen Fällen ſehr häufig eine bedeutende Macht in
die Hände des Klägers gelegt wird, indem dieſer oft die
Wahl zwiſchen mehreren Gerichten hat, alſo auch dadurch
beſtimmen kann, welches unter mehreren örtlichen Rechten
zur Anwendung kommen ſoll. Dieſes iſt indeſſen die unver-
meidliche Folge der beſonderen Natur dieſer Klaſſe von Ge-
ſetzen. Auch wird die Gefahr für den Beklagten vermindert
durch die ſehr beſchränkende Bedingungen, an welche
(bb) Für den Ort der Klage
(welcher meiſt zuſammen fallen
wird mit dem Wohnſitz des Be-
klagten): Obertribunal zu Stutt-
gart. Seuffert Archiv für Ent-
ſcheidungen der oberſten Gerichte
in den deutſchen Staaten B. 2
N. 4. — Für den Ort des Bei-
ſchlafs: O. A. G. zu München,
und zwei Urtheile aus Jena.
Seuffert B. 1 N. 153 B. 2
N. 118.
|0303 : 281|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
jeder beſondere Gerichtsſtand der Obligation gebunden iſt
(§ 371. z).
D. Die Wirkung einer Obligation, und insbeſondere
der Umfang dieſer Wirkung, iſt ſtets zu beſtimmen nach
dem Recht des Orts, welcher überhaupt als Sitz der Obli-
gation zu betrachten iſt; ja es iſt dieſes die hauptſächliche
Bedeutung des örtlichen Rechts der Obligation. Gerade
deshalb iſt auch dieſe einzelne Frage am wenigſten Veran-
laſſung zu Zweifel und Streit geworden. Wenige Beiſpiele
werden zur Erläuterung der Frage hinreichen.
Nach manchen örtlichen Geſetzen hat der Verkäufer das
Recht des Rücktritts bis zur vollzogenen Uebergabe, welcher
Satz dem gemeinen Rechte fremd iſt. Hier wird es darauf
ankommen, ob ein ſolches Geſetz an dem Orte gilt, an wel-
chem das Grundſtück liegt, ohne Rückſicht auf den Ort des
geſchloſſenen Vertrags oder den Ort der Klage; denn da
der Verkauf eines Grundſtücks ſtets einen beſtimmten Er-
füllungsort hat, ſo iſt dieſer zugleich der Sitz der Obliga-
tion, der das örtliche Recht derſelben beſtimmt (§ 370. 372).
— Eben ſo verhält es ſich mit einem örtlichen Geſetz,
welches bei Grundſtücken die ſtillſchweigende Wiederverpach-
tung eines Landgutes auf einen Zeitraum von drei Jahren
anſetzt. Auch dieſes Geſetz wird anzuwenden ſeyn auf alle
in ſeinem Bereiche liegende Grundſtücke, und zwar aus dem
bei dem vorigen Fall angeführten Grunde (cc).
(cc) Beide Fälle werden angeführt von Boullenois T. 2 p. 452 fg.
Er entſcheidet den letzten Fall, ſo wie es hier geſchieht, findet aber bei
dem erſten ohne Noth Bedenken.
|0304 : 282|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Die Höhe der Verzugszinſen iſt nach gemeinem Recht
abhängig von dem zu jeder Zeit geltenden Zinsfuße, alſo
von dem thatſächlichen Gebrauche, Wenn aber an manchen
Orten ein geſetzlicher Maaßſtab, und zwar ein verſchiede-
ner, für die Verzugszinſen vorgeſchrieben iſt, ſo wird bei
jeder Obligation das Geſetz des Ortes, der als Sitz der-
ſelben gilt, anzuwenden ſeyn, alſo, bei einem verabredeten
Zahlungsorte, das Geſetz dieſes Ortes (dd).
Oie Obligation kann mit einem ſtillſchweigenden Pfand-
recht (bald einem allgemeinen, bald einem ſpeciellen) ver-
bunden ſeyn. Ob ein ſolcher ſtillſchweigender Pfandvertrag
anzunehmen iſt, das hängt von dem örtlichen Recht ab,
unter welchem überhaupt dieſe Obligation ſteht. Ob dem-
ſelben die Wirkung eines Pfandrechts beizulegen iſt, kann
dagegen nur nach dem Recht des Orts beſtimmt werden,
an welchem die Sache ſich befindet (§ 368).
E. Die Stellung der Obligationen im Concurſe
bedarf einer beſonderen Erwägung, da gerade hierin die
größten Verſchiedenheiten in den einzelnen Geſetzgebungen
vorkommen. Es iſt dabei nöthig, vor Allem die eigenthüm-
liche Natur des Concurſes in’s Auge zu faſſen.
(dd) Voet. Pand. XXII. 1
§ 11. — In L. 1 pr. de usur.
(22. 1) heißt es: „ex more re-
gionis, ubi contractum est“.
Dabei wird der gewöhnlichſte Fall
vorausgeſetzt, daß zwei Einwohner
derſelben Stadt in dieſer Stadt
einen Vertrag ſchließen; von einem
Vertrag außer dem Wohnſitz, oder
von einem anderwärts beſtimmten
Zahlungsort, iſt da nicht die Rede.
|0305 : 283|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Der Concurs ſetzt voraus einen zahlungsunfähigen Schuld-
ner, welchem mehrere Glaubiger gegenüber ſtehen, alſo einen
Fall, in welchem eine vollſtändige Execution aller ausge-
ſprochenen oder noch auszuſprechenden Schuldurtheile nicht
möglich iſt, ſo daß der Zweck darauf beſchränkt bleiben
muß, die Execution theilweiſe, ſo weit ſie möglich iſt, zu
bewirken. Dieſes geſchieht, indem das gerade jetzt vorhan-
dene Vermögen des Schuldners geſammelt, durch Verkauf
in baares Geld verwandelt, und dann nach irgend einer
Regel unter die Glaubiger vertheilt wird. So erſcheint
alſo der Concurs, ſeinem Weſen nach, als ein bloßes Exe-
cutionsverfahren über eine beſtimmte Vermögensmaſſe, und
die Aufgabe des Richters beſteht in der Ausgleichung der
Anſprüche der einzelnen Glaubiger auf dieſe Maſſe. Auf
das endliche Schickſal der Forderungen hat der Concurs
keinen Einfluß, ſo daß jeder Glaubiger, der in demſelben
ganz oder theilweiſe ausfällt, ſein Recht noch immer gegen
den Schuldner geltend machen kann, wenn dieſer etwa ſpä-
terhin neues Vermögen erwirbt.
Da der Concurs eine Ausgleichung unter mehreren
Glaubigern bezweckt, ſo iſt er nur an Einem Orte möglich,
und zwar an dem Wohnſitz des Schuldners, ſo daß hier
der beſondere Gerichtsſtand der Obligation von dem allge-
meinen perſönlichen Gerichtsſtand verdrängt wird.
Die richterliche Thätigkeit bei Gelegenheit eines Concur-
ſes zerfällt in zwei an ſich verſchiedene Theile: vorbereitende
Handlungen, und der Concurs ſelbſt.
|0306 : 284|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Zu den vorbereitenden Handlungen gehört theils die
Feſtſtellung der Forderungen ſelbſt (Liquidation), theils die
Bildung und Feſtſtellung der Concursmaſſe durch Ausſchei-
dung aller zum Vermögen des Schuldners nicht gehören-
den Stücke (Vindicanten, Separatiſten), durch Auf-
ſammlung aller zu dieſem Vermögen wirklich gehörenden
Beſtandtheile, und durch Verwandlung derſelben in baares
Geld vermittelſt des Verkaufs. — Dabei gelten, in Anſe-
hung des anwendbaren örtlichen Rechts, ganz die allge-
meinen Grundſätze über dingliche Rechte und Obligationen.
Die zufällige Veranlaſſung durch einen Concurs macht da-
bei keinen Unterſchied. — Was aber insbeſondere den erſten
Punkt betrifft, die Feſtſtellung der Forderungen, ſo bleibt
es nicht dem Zufall überlaſſen, welche Glaubiger ſich mel-
den wollen, vielmehr werden alle durch öffentliche Vorla-
dung zur Anmeldung bis zu einer beſtimmten Friſt vorge-
laden. Wer dieſe Friſt nicht einhält, wird durch Erkennt-
niß präcludirt, und verliert dadurch nicht etwa ſeine For-
derung ſelbſt, wohl aber den Anſpruch auf Befriedigung
in dieſem Concurſe, aus dieſer Maſſe. Die Vorladung
bindet ſelbſt die Glaubiger, die bereits Schuldklagen ander-
wärts angeſtellt, aber noch nicht zu Ende geführt haben,
ſo daß der Concursprozeß die anderwärts ſchwebenden
Schuldklagen an ſich zieht (ee).
(ee) Wernher Obss. T. 2 P. 10 obs. 297. Leyser Sp. 478
med. 8.
|0307 : 285|
§ 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Der Concurs ſelbſt hat zum Gegenſtand die Ausglei-
chung der einzelnen Glaubiger in ihren Anſprüchen an die
vorhandene Activmaſſe (Claſſification). Da nun dieſe Aus-
gleichung zu dem oben erwähnten Executionsverfahren ge-
hört, welches eine rein prozeſſualiſche Thätigkeit iſt, ſo kann
darauf kein anderes örtliches Recht angewendet werden, als
das am Ort des Concursgerichts geltende: mittelbar alſo
das örtliche Recht am Wohnſitz des Schuldners (ff).
Mit dieſer einfachen Regel könnte die ganze Frage er-
ledigt ſeyn, wenn nicht viele, und meiſt die wichtigſten, An-
ſprüche der Glaubiger eine gemiſchte Natur hätten: gemiſcht
aus Obligation und dinglichem Recht, dem Hypothekenrecht.
Darin liegt die hauptſächliche Schwierigkeit.
Die Sache wird anſchaulicher werden durch die Anwen-
dung auf das gemeine Concursrecht, ſo wie es ſich, gegrün-
det auf die Vorſchriften des neueſten Römiſchen Rechts, in
der Theorie und Praxis der neueren Zeit ausgebildet hat.
Sämmtliche Glaubiger werden nach fünf Klaſſen geord-
net: 1. Abſolut privilegirte, 2. Privilegirte Hypotheken,
3. Gemeine Hypotheken, 4. Perſönlich privilegirte, 5. Alle
übrigen (gg). — Unter dieſen fünf Klaſſen enthalten die
erſte, vierte und fünfte, reine Obligationen, und für dieſe
entſcheidet ausſchließend das am Ort des Concursgerichts
geltende örtliche Recht, ohne Rückſicht auf das vielleicht
(ff) Leyser 478. 10.
(gg) Die genauere Ausführung
dieſer Claſſification liegt außer dem
hier vorliegenden Zweck. Vgl.
Mühlenbruch I. § 173. Göſchen
Vorleſungen II. 2 § 424.
|0308 : 286|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
abweichende Recht des Entſtehungsorts und des Erfüllungs-
orts der Obligation. Es bleiben alſo nur noch die zweite
und dritte Klaſſe, enthaltend die hypothekariſchen Glaubi-
ger, zu näherer Betrachtung übrig.
Jeder hypothekariſche Glaubiger hat in der That ein
zuſammengeſetztes Recht, deſſen beide Beſtandtheile eine
ganz verſchiedene Natur haben; er iſt wahrer Glaubiger,
hat aber daneben zur Sicherheit ſeiner Forderung ein ding-
liches Recht. Um es nun klar zu machen, wie dieſe un-
gleichartigen Rechte in die Einheit des Concurſes eingefügt
werden können, iſt es nöthig, zuvor einen ergänzenden Blick
rückwärts zu werfen auf die oben erwähnte Bildung der
Concursmaſſe, und die hypothekariſchen Glaubiger einſtweilen
noch auf ſich beruhen zu laſſen.
Die Bildung der Concursmaſſe durch Aufſammlung und
Verkauf der Vermögensſtücke macht keine Schwierigkeit,
wenn dieſe ſämmtlich in dem Bezirk des Concursgerichts
ſich befinden. Dagegen iſt die Behandlung der Sache in
hohem Grade beſtritten in Anſehung der Vermögensſtücke,
die in anderen Gerichtsbezirken, oder gar in einem fremden
Lande liegen. Ich will ſogleich dieſen letzten Fall, als den
äußerſten, in’s Auge faſſen. Für denſelben wird von Vie-
len folgende Behauptung aufgeſtellt. Der fremde Landes-
herr und deſſen Richter braucht die Verfügungen unſers
Concursgerichts nicht zu befolgen, entzieht ſich ihnen auch,
|0309 : 287|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
der Erfahrung nach, in der That ganz gewöhnlich (hh).
Daher bleibt nach jener Meinung keine andere Aushülfe
übrig, als daß unſer Concursrichter auf Heranziehung des
auswärts liegenden Vermögens verzichtet, die Glaubiger
aber in jenem fremden Lande gleichfalls gegen den Schuld-
ner klagen können, wodurch dann neben dem erſten Concurs
ein zweiter, eben ſo vielleicht noch ein dritter oder vierter
Concurs, bei einem ſehr zerſtreuten Vermögen, ſoll veran-
laßt werden können.
Ich kann weder die erwähnte Aushülfe, noch die Schwie-
rigkeit ſelbſt, die ihr zum Grund liegen ſoll, als richtig
einräumen. — Was die Aushülfe betrifft, ſo ſetzt ſie vor-
aus, daß jede Schuldklage überall angeſtellt werden könne,
wo ein Schuldner Vermögen beſitzt; oder, mit andern Wor-
ten, ſie nimmt ein allgemeines forum rei sitae an für per-
ſönliche Klagen. Gerade Dieſes nun muß entſchieden ver-
worfen werden, und deshalb iſt auch ein mehrfacher Con-
curs in verſchiedenen Ländern nicht zuläſſig. Inwiefern
etwas dieſem Aehnliches in Folge von Hypotheken vor-
kommen kann, wird ſogleich bemerkt werden. — Aber auch
die Schwierigkeit iſt geringer, als man gewöhnlich an-
nimmt. Indem der gerichtlich beſtellte Curator des Ver-
(hh) Man giebt zu, daß dieſe
Schwierigkeit ſich ſehr vermindert
bei Sachen in einem anderen Ge-
richtsbezirk deſſelben Landes, in-
dem hier geholfen werden kann
theils durch bloße Requiſition unter
gleich ſtehenden Gerichten, theils
durch die bei einer gemeinſamen
Oberbehörde von dem Concurs-
gericht extrahirte Verfügung an
das andere Gericht.
|0310 : 288|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
mögens (ii), unter Aufſicht des Concursrichters, die
Sachen des Schuldners verkauft, beſorgt er nur eine der
Handlungen, die zur Execution eines Urtheils gehören, ſey
es eines ſchon geſprochenen, oder eines bevorſtehenden, noch
zu erwartenden. Nun gehört es zu der oben erwähnten,
ſeit längerer Zeit ſtets fortſchreitenden, Rechtsgemeinſchaft
unabhängiger Staaten unter einander, daß ſie ſich gegen-
ſeitig gleiche Rechtshülfe leiſten (§ 348). Dazu gehört die
Execution der in einem Staate geſprochenen Urtheile inner-
halb jedes anderen Staates (§ 373. B.), alſo auch die
Unterſtützung des Curators bei den ſo eben erwähnten
Maaßregeln, die zum Verkauf der auswärtigen Vermögens-
ſtücke, folglich zur Bildung der Concursmaſſe, führen.
Wollte man ihm dieſe Unterſtützung verſagen, ſo würde
darin eine völlige Rechtsverweigerung liegen, indem ſo
eben bemerkt worden iſt, daß in dieſem fremden Lande ein
Gerichtsſtand gegen den Schuldner für perſönliche Klagen
gar nicht begründet iſt.
Die hier aufgeſtellte Behauptung iſt denn auch ſchon
längſt von mehreren Schriftſtellern als richtig anerkannt
worden (kk). Andere nehmen das Gegentheil an, aber
(ii) Tit. D. de curatore bonis
dando (42. 7), beſonders in L. 2
tit. cit.
(kk) I. Voet. § 17, und Comm.
ad Pand. XX. 4 § 12 (wo er
dieſe Regel gerade aus der oben
erwähnten comitas ableitet).
Pufendorf T. 1 obs. 217 (mit
einer Beſchränkung für den Fall
von Hypotheken, wovon ſogleich
die Rede ſeyn wird). Dabelow
Lehre vom Concurſe S. 746—765
(der nur ſeine richtige Ausführung
durch die Bemerkung am Schluſſe
|0311 : 289|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
nicht in Folge eines juriſtiſchen Grundſatzes, ſondern nur,
weil die fremden Landesherrn ihre Mitwirkung verſagen
ſollen (ll). In den Engliſchen Gerichten werden die aus-
wärts liegenden beweglichen Sachen mit zum Concurſe am
Wohnſitz gezogen, die unbeweglichen nicht; in den meiſten
Amerikaniſchen Gerichten weder die beweglichen, noch die
unbeweglichen Sachen (mm).
Allerdings entſteht nun eine eigenthümliche Verwicklung und
Schwierigkeit in den Fall, wenn die im Ausland befindlichen
Sachen mit einem Pfandrecht behaftet ſind, und die Rück-
ſicht auf dieſen ſehr gewöhnlichen Fall hat ohne Zweifel
auf die eben erwähnte abweichende Anſicht mancher Schrift-
ſteller und Gerichte Einfluß gehabt, obgleich offenbar beide
Fragen an ſich verſchieden ſind, und eine getrennte Be-
handlung derſelben für den Erfolg der Unterſuchung vor-
theilhafter iſt.
Dieſer letzte Fall unterſcheidet ſich von dem vorherge-
henden, in welchem die auswärts befindlichen Sachen als
unverpfändet gedacht wurden, zunächſt darin, daß die
Pfandglaubiger ihre Hypothekarklagen im Gerichtsſtand der
gelegenen Sache anſtellen können. Wird nun die Hypo-
entkräftet, daß die Praxis entge-
genſtehe, und alſo mehrere Con-
curſe nothwendig ſeyen).
(ll) Struben Bedenken I.
118, V. 27.
(mm) Story § 403 fg. Er
ſelbſt zieht die Engliſche Praxis
der Amerikaniſchen vor. Daß er
blos von beweglichen Sachen
ſprechen will, ergiebt ſich ſchon
daraus, daß er dieſe ganze Frage
in dem Chap. IX. personal
property (bewegliches Vermögen)
behandelt.
VIII. 19
|0312 : 290|
Buch III Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
thekarklage gegen einen anderen Pfandglaubiger angeſtellt,
der die Sache beſitzt, oder von zwei Pfandglaubigern gleich-
zeitig gegen einen dritten Beſitzer, ſo hat der Richter über
die Priorität nach denſelben Grundſätzen zu entſcheiden,
wie es auch im Concurſe geſchieht (nn), und dieſe Regel
iſt anwendbar, ohne Unterſchied, ob die verpfändeten
Sachen in denſelben Lande liegen oder nicht Dennoch
wäre es ganz unrichtig, dieſes Verfahren als einen beſon-
deren Concurs aufzufaſſen, indem die Formen des Con-
curſes dabei gar nicht vorkommen. — Indeſſen iſt auch kein
Hinderniß vorhanden, die verpfändeten auswärtigen Sachen
mit in den Concurs am Wohnſitz des Schuldners zu ziehen,
wenn nur dafür geſorgt wird, daß Jeder, der an einer
ſolchen auswärts befindlichen Sache ein Pfandrecht hat,
an dem Kaufpreis dieſer Sache diejenige Priorität erhält,
die ihm nach dem Recht des Orts, wo ſich die Sache zur
Zeit des Verkaufs befindet, gebührt, indem die lex rei
sitae auch über die Priorität entſcheidet (§ 368).
Es mag zuweilen ſchwer ſeyn, dieſen Zweck zu erreichen;
unmöglich iſt es nicht, und es wird beſonders zur Erleich-
terung der Sache dienen, wenn aus dem Kaufpreis der
einzelnen, auswärts aufgefundenen Sachen beſondere
(nn) L. 12 pr. § 7 qui pot.
(20. 4). Vgl. P. Voet. Sect. 10
C. un. § 5. — Die neueſte
Preußiſche Geſetzgebung geſtattet
jedem Pfand- und Hypotheken-
glaubiger, auch wo nicht von
einem Verhältniß zum Ausland die
Rede iſt, ſeine Befriedigung aus
der Sache unmittelbar einzuklagen,
ohne ſich in den Concurs einzu-
miſchen. Geſetzſammlung 1842
S. 4.
|0313 : 291|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Specialmaſſen gebildet werden. Indem Dieſes von dem-
ſelben Richter geſchieht, wird gewiß die Einheit der zu-
ſammentreffenden Anſprüche ſicherer erreicht, als es durch
die Einleitung mehrerer Concurſe in verſchiedenen Gerichten
geſchehen könnte (oo).
Daß nun überhaupt eine ſolche Behandlung der Sache
möglich iſt, ergiebt ſich am ſicherſten aus dem Umſtand,
daß dieſelbe in einer bedeutenden Zahl von Staatsverträgen
der Preußiſchen Regierung mit benachbarten Staaten wirk-
lich feſtgeſetzt iſt. Die Grundlage dieſer Verträge bildet
das Preußiſche Concursgeſetz. Nach dieſem giebt es ſtets
nur Einen Concurs, und zwar am Wohnſitz des Gemein-
ſchuldners. Der Concursrichter veranlaßt die inländiſchen
Gerichte, in deren Sprengel Theile des Vermögens liegen,
durch Requiſition zur Mitwirkung. — Liegen Vermögens-
ſtücke im Auslande, ſo hat der Richter zunächſt zu erforſchen,
ob Staatsverträge vorhanden ſind. In Ermangelung der-
ſelben ſoll er dem ausländiſchen Richter vorſchlagen, auf
ähnliche Weiſe, wie es ſo eben von anderen inländiſchen
Gerichten erwähnt worden iſt, auf die Mitwirkung zu dem
inländiſchen Concurſe einzugehen. Mißlingt Dieſes, ſo hat
der Curator bei dem auswärtigen Specialconcurſe das In-
tereſſe der inländiſchen Glaubiger wahrzunehmen (pp). —
(oo) Pufendorf (Note kk)
erachtet die Feſthaltung der Prio-
rität in einem fremden Gerichte
für ſo ſchwierig, daß er es vorzieht,
einen beſonderen Concurs am Ort
der gelegenen Sache zu eröffnen,
ſobald Dieſes die Pfandglaubiger
verlangen.
(pp) Allg. Ger. Ordnung I.
50 § 25—32 § 647—671.
19*
|0314 : 292|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Alle ſpäterhin wirklich geſchloſſene Verträge beruhen nun
auf dem Grundſatz, daß nur Ein Concurs Statt finden
ſoll, und zwar in der Regel am Wohnſitz des Schuldners.
Die in dem anderen Staate befindlichen Sachen des Ge-
meinſchuldners ſollen veräußert, und der erlöſte Kaufpreis
ſoll an das Concursgericht abgeliefert werden. Bei dieſem
müſſen ſich alle Glaubiger einlaſſen. Die Rangordnung
unter den Glaubigern iſt für die blos perſönlichen For-
derungen nach den Geſetzen des Gerichtsortes zu beſtimmen,
für alle dingliche Rechte nach den Geſetzen des Ortes
der belegenen Sache (qq). Nur darin findet ſich eine
Verſchiedenheit, daß nach den neueren Verträgen (ſeit 1839)
die dinglichen Anſprüche auf die außer dem Land des Con-
curſes liegenden Sachen auch an dem Ort der gelegenen
Sache, vor ihrer Ausantwortung an den Concursrichter,
erhoben werden können. Geſchieht Dieſes von Hypotheken-
glaubigern, ſo ſind die verpfändeten Sachen dort zu ver-
kaufen, das Kaufgeld iſt den Glaubigern auszuzahlen, und
nur der etwa bleibende Ueberſchuß iſt an das Concurs-
gericht abzuliefern.
Was nun hier durch Verträge feſtgeſtellt iſt, darf keines-
weges als eine neue, willkürliche Erfindung angeſehen
werden; es iſt blos der Ausdruck der ohnehin in neuerer
(qq) Vertrag mit Weimar
1824 Art. 18—22. dann gleich-
lautend mit Altenburg, Koburg-
Gotha, Reuß-Gera. — Späterhin
mit Königreich Sachſen 1839
Art. 19—21, und gleichlautend mit
Rudolſtadt, Bernburg, Braun-
ſchweig (S. o. § 348. S. 31).
|0315 : 293|
§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Zeit ſtets wachſenden Rechtsgemeinſchaft (§ 348). Daher
hat es auch kein Bedenken, daß derſelbe Grundſatz auch
anderwärts in Staatsverträgen feſtgeſtellt, ja ſelbſt ohne
ſolche Verträge von den darin übereinſtimmenden Gerichten
verſchiedener Staaten, unter ausdrücklicher oder ſtillſchwei-
gender Genehmigung ihrer Regierungen, geltend gemacht
werden könnte.
Der Inhalt der hier angegebenen Verträge iſt aber nicht
blos unmittelbar wichtig für das Verhältniß zwiſchen Preußen
und den dabei betheiligten Staaten, und mittelbar für das
Verhältniß zu anderen fremden Staaten als Grundlage
einer gütlichen Unterhandlung mit denſelben, wie ſo eben
bemerkt wurde. Vielmehr können dieſe Verträge, indem
ſie Aufſchluß geben über den Sinn unſrer Geſetzgebung,
zugleich dazu dienen, eine auf das innere Verhältniß unſrer
verſchiedenen Landestheile bezügliche Rechtsfrage zu beant-
worten. Wenn in Berlin ein Concurs eröffnet wird, zum
Vermögen des Schuldners aber Grundſtücke und beweg-
liche Sachen gehören, die ſich in Neuvorpommern befinden
(wo das Römiſche Recht gilt), und dort durch bloßen
Vertrag verpfändet ſind, ſo fragt ſich, wie ſich der Werth
dieſer Sachen zu jenem Concurſe verhalte. Ständen die
Richter jenes Landestheils unter der Preußiſchen Gerichts-
ordnung, ſo müßten ſie den Werth der erwähnten Sachen,
(oder die beweglichen Sachen in Natur) dem Berliner
|0316 : 294|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Concursrichter einliefern (rr), der das erlöſte Geld nach
der Preußiſchen Claſſification behandeln würde. Dabei
würden jene Glaubiger ſehr in Nachtheil kommen, indem
ihre Forderungen weder auf die zweite, noch auf die dritte
Klaſſe der Preußiſchen Concursordnung Anſpruch haben.
Allein jene Richter ſind durch die angeführten Geſetze nicht
gebunden, und die erwähnten Forderungen und Pfandrechte
ſind demnach ſo zu behandeln, wie wenn ſie dem Auslande
angehörten, und zwar einem ſolchen Auslande, deſſen Be-
hörden gegen unſre Behörden zu gegenſeitiger Unterſtützung
nach billigen Grundſätzen bereit wären. Dieſes führt nun
dahin, die Grundſätze der oben erwähnten Verträge anzu-
wenden. Hiernach würden die Neuvorpommerſchen Gerichte
die in ihrem Bereiche liegenden Vermögensſtücke zu ver-
kaufen und das Kaufgeld an den Berliner Concursrichter
abzuliefern haben. Die Glaubiger aber, die an jenen
Sachen Pfandrechte hatten, würden in dem Berliner Con-
curs, ſo weit dieſes Kaufgeld reicht, dieſelbe Priorität ver-
langen können, die ihnen zugekommen wäre, wenn der
Concurs in Neuvorpommern Statt gefunden hätte.
(rr) Allg. Ger. Ordnung I. 50 § 648. Geſetz vom 28. Dec.
1840 § 2 (Geſetzſammlung 1841 S. 4).
|0317 : 295|
§ 375. IV. Erbrecht.
§. 375.
IV. Erbrecht.
Wir haben zunächſt für das Erbrecht, ſo wie es für an-
dere Rechtsinſtitute bereits geſchehen iſt, zu unterſuchen,
welchem örtlichen Recht daſſelbe nach ſeiner beſonderen Na-
tur angehört, alſo wo es ſeinen eigentlichen Sitz hat (§ 360).
Um Dieſes zu erkennen, müſſen wir zurückſehen auf die
oben angedeutete Natur des Erbrechts (B. 1 § 57). Es
beſteht in dem Uebergang eines Vermögens, bei dem Tode
des Inhabers, auf andere Perſonen. Darin liegt eine
künſtliche Erſtreckung der Macht, alſo auch des Willens,
eines Menſchen über die Gränze des Lebens hinaus, wel-
cher fortwirkende Wille bald ein ausdrücklicher ſeyn kann
(in dem Teſtament), bald ein ſtillſchweigender (in der In-
teſtaterbfolge) (a). Dieſes Verhältniß nun ſchließt ſich ganz
und unmittelbar an die Perſon des Verſtorbenen an, ge-
rade ſo, wie es oben von der Rechtsfähigkeit bemerkt wor-
den iſt (§ 362), und wie es ſpäterhin bei der Familie ge-
zeigt werden wird. Iſt nun dieſe Auffaſſung der Sache
richtig, ſo muß behauptet werden, daß das Erbrecht ſich
im Allgemeinen richtet nach dem örtlichen Recht des Wohn-
ſitzes, welchen der Verſtorbene zur Zeit ſeines Todes
(a) Dieſe zweite Art des fortwirkenden Willens ſteht zugleich in
Zuſammenhang mit der Fortſetzung der Individualität des Menſchen
durch die Verwandtſchaft, ſ. o. B. 1 § 53.
|0318 : 296|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
hatte (b). — Um dieſe Behauptung an oben erklärte Kunſt-
ausdrücke anzuknüpfen, müſſen wir ſagen, daß die Geſetze
über das Erbrecht zu den Perſonalſtatuten gehören,
indem ſie principaliter die Perſon, und nur mittelbar auch
Sachen, zum Gegenſtand haben (§ 361).
Die Richtigkeit dieſer Behauptung wird noch durch fol-
gende Betrachtungen beſtätigt. Wollte man den Wohnſitz
des Erblaſſers nicht als beſtimmend anſehen für das örtliche
Recht, ſo bliebe kein anderer Ort übrig, an den wir das
Erbrecht anknüpfen könnten, als der Ort, wo ſich das hin-
terlaſſene Vermögen, die Erbſchaft, befindet, ſo daß dann
die lex rei sitae entſcheiden müßte. Wo iſt nun aber dieſer
Ort? Das Vermögen als Ganzes iſt ein ideales Object
von völlig unbeſtimmtem Inhalt (c), möglicherweiſe beſte-
hend aus Eigenthum und anderen Rechten an einzelnen
Sachen, aus Forderungen und Schulden, welche letzte Be-
ſtandtheile ſogar ein völlig unſichtbares Daſeyn haben.
Dieſes Vermögen alſo iſt überall und nirgend, ſo daß ein
locus rei sitae dafür gar nicht aufzufinden iſt. Es wäre
ein ganz willkürlicher Behelf, wenn man den Ort annehmen
wollte, wo der größere Theil der Erbſchaft liegt, denn theils
iſt dieſer Begriff völlig ſchwankend, theils hat der kleinere
(b) S. o. § 359. Nach Rö-
miſchem Recht war vielmehr das
Recht der origo zunächſt ent-
ſcheidend (§ 357). — Bei dem
Tode eines Vagabunden, der keinen
Wohnſitz hat, entſcheidet das Recht
ſeiner Herkunft, und, wenn auch
dieſe nicht zu ermitteln iſt, das
Recht des letzten Aufenthalts, d. h.
des Ortes wo er ſtarb (§ 359).
(c) S. o. B. 1 § 56.
|0319 : 297|
§. 375. IV. Erbrecht.
Theil eben ſo viel Anſpruch auf Beachtung, als der größere.
Geben wir aber Dieſes auf, ſo bliebe dann nur noch übrig,
den Ort der Erbſchaft überall anzunehmen, wo ſich irgend
eine einzelne, zum Vermögen gehörende, Sache befindet.
Dieſes aber würde wieder dahin führen, bei einem ausge-
dehnten und zerſtreuten Vermögen, viele von einander un-
abhängige Erbſchaften anzunehmen, die vielleicht ganz ver-
ſchiedenen Geſetzen unterworfen wären, und damit doch nur
einen Theil der Erbſchaft (die dinglichen Rechte) zu treffen,
den andern Theil aber (die Obligationen) unberührt zu
laſſen. Es iſt einleuchtend, daß dieſes Verfahren völlig
willkürlich und grundſatzlos iſt, ja auf einen leeren Schein,
ohne Wahrheit, führt. Dennoch hat daſſelbe zahlreiche An-
hänger gefunden, wovon ſogleich weiter die Rede ſeyn
wird.
Die Grundlage des Römiſchen Erbrechts iſt die Suc-
cessio per universitatem, die bei jeder Erbfolge angenom-
men werden muß, und neben welcher alle andere Rechts-
verhältniſſe als bloße Nebenſache erſcheinen. Dieſe iſt aber
nur die juriſtiſche Form, unter welche das eben erklärte
Weſen des Erbrechts gebracht wird, und von dieſem Stand-
punkt aus müſſen wir noch beſonders vom Römiſchen Recht
behaupten, daß nach demſelben die hier aufgeſtellte Behaup-
tung über den Sitz des Erbrechts völlig zweifellos erſcheint.
Ganz verwerflich aber iſt die Anſicht mancher neueren
Schriftſteller, nach welcher die Univerſalſucceſſion ein eigen-
thümliches Rechtsinſtitut der Römer ſeyn ſoll, im Gegenſatz
|0320 : 298|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
anderer (germaniſcher) Geſetzgebungen, die davon, wie man
behauptet, Nichts wiſſen wollen. Das wahre Verhältniß iſt
vielmehr ſo aufzufaſſen, daß im poſitiven Recht vieler Staaten
das Erbrecht auf einer niederen Stufe der Entwickelung ſtehen
geblieben iſt, anſtatt daß daſſelbe bei den Römern, in Folge
eines glücklichen Taktes, ſchon von früher Zeit an,
die ſeiner eigenthümlichen Natur allein angemeſſene
Behandlung erfahren hat, wohin dann auch jedes
abweichende poſitive Recht unaufhaltſam hinſtrebt (d).
Es würde auch unrichtig ſeyn, dieſe Verſchiedenheit als
eine blos theoretiſche aufzufaſſen, über deren Werth oder
Unwerth man etwa ſo oder anders denken möchte. Viel-
mehr iſt es gerade das praktiſche Bedürfniß neuerer Zeit,
das nur in der ausgebildeten Univerſalſucceſſion ſeine volle
Befriedigung findet, da in dem ungeheuren Aufſchwung
aller Vermögensverhältniſſe die Obligationen eine ſtets zu-
nehmende Wichtigkeit erlangen.
§. 376.
IV. Erbrecht. (Fortſetzung.)
Ich gehe nun über zur Darſtellung der wichtigſten Mei-
nungsverſchiedenheiten über die auf das Erbrecht anwend-
baren Geſetze, ſo wie ſie ſich unter den Schriftſtellern, und,
damit zuſammenhängend, in der Praxis verſchiedener Län-
(d) S. o. B. 1 § 57. S. 382. 383.
|0321 : 299|
§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
der und Zeiten, allmälig ausgebildet haben. Dieſe Mei-
nungen laſſen ſich auf drei Hauptklaſſen zurück führen.
Die eine iſt die oben dargeſtellte, nach welcher das Erb-
recht allgemein beherrſcht wird von dem Geſetz des Ortes,
an welchem der Erblaſſer zur Zeit des Todes ſeinen Wohn-
ſitz gehabt hat. Sie hält die Geſetze über das Erbrecht
für Perſonalſtatuten.
Eine andere, völlig entgegengeſetzte, die auch ſchon an-
gedeutet worden iſt, geht dahin, daß das Erbrecht ſich rich-
tet nach dem Ort, an welchem die Sachen der Erbſchaft
ſich befinden. Dieſe Meinung führt auf die Möglichkeit,
daß die Beſtandtheile der Erbſchaft nach verſchiedenen Rech-
ten beurtheilt werden; ſie läßt ferner die in dem Vermö-
gen befindlichen Forderungen und Schulden zunächſt unbe-
ſtimmt, mit dem natürlichen Vorbehalt, darüber in jedem
einzelnen Fall das praktiſche Bedürfniß durch irgend eine
beliebige Auskunft zu befriedigen.
Eine letzte Meinung endlich ſteht zwiſchen den beiden
eben angegebenen in der Mitte. Sie nimmt für das un-
bewegliche Eigenthum die lex rei sitae an, für alles übrige
Vermögen (bewegliches Eigenthum und Obligationen) das
am Wohnſitz des Erblaſſers geltende Geſetz. Dieſe Mei-
nung iſt von der praktiſchen Schwäche der vorhergehenden
theilweiſe frei, da man nach ihr beſtimmt weiß, wer die
Forderungen bekommen ſoll; aber auch nur theilweiſe, in-
dem die Schulden in jedem Fall auf dem ganzen Vermö-
gen haften müſſen, auch auf den ausländiſchen Immobilien,
|0322 : 300|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſo daß die Schulden vielleicht von ſehr verſchiedenen Perſo-
nen zu tragen ſind (a). — Man kann dieſe Meinung nach
dem oben erklärten Kunſtausdruck kurz ſo bezeichnen, daß
ſie Geſetze über das Erbrecht für Realſtatuten er-
klärt (§ 361) (b).
Ich werde dieſe drei Meinungen jetzt einzeln darſtellen,
und zwar nach der Zeitfolge ihrer Entſtehung und vorherr-
ſchenden Geltung.
A. Die älteſte Meinung iſt die, nach welcher die
Erbſchaft in alle Sachen, bewegliche und unbewegliche, le-
diglich unter dem Geſetz des Landes ſtehen ſoll, in welchem
die Sache liegt (c); dieſe Meinung iſt eine einzelne An-
wendung des ſtrengen Rechts der Territorialität (§ 348).
Die älteſte und ſchroffſte Geſtalt derſelben ging dahin,
daß alle im Lande befindliche Erbſchaftsſtücke (bewegliche
und unbewegliche) an ausländiſche Erben gar nicht kom-
men, ſondern an deren Stelle dem Landesherrn (oder Vog-
(a) Dieſe ungemeine Schwierig-
keit in der Ausführung wird auch
von den Schriftſtellern nicht ver-
kannt, und es werden Vorſchläge
zur Aushülfe gemacht, die ſich
großentheils willkürlich und unzu-
reichend zeigen. Vgl. Hert. § 29.
Es liegt darin aber nur ein Kenn-
zeichen der inneren Unwahrheit
dieſes ganzen Syſtems. Derſelbe
Vorwurf trifft natürlich auch die
vorhergehende Meinung, nur noch
in weit höherem Grade.
(b) Dieſe Bezeichnung würde
noch in höherem Grade auf die
vorhergehende Meinung paſſen,
wenn es nicht üblich wäre, den
Ausdruck der Realſtatuten auf
Immobilien zu beſchränken.
(c) Schriftſteller für dieſe Mei-
nung ſind in großer Zahl ange-
führt bei Wächter I. 275. 276.
II. 192.
|0323 : 301|
§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
teiherrn) zufallen ſollten (d). Die mildere Form unter-
wirft dieſe Erbſchaftsſtücke nur unbedingt dem inländiſchen
Geſetz, ohne Rückſicht auf den Wohnſitz des Erblaſſers,
aber auch ohne zwiſchen inländiſchen und ausländiſchen
Erbberechtigten zu unterſcheiden.
Die Gründe gegen dieſe Lehre ſind bereits oben ausge-
führt worden; ich will dieſen Gründen aber jetzt noch fol-
gende praktiſche Bemerkung hinzufügen. Wäre dieſer Grund-
ſatz überall anerkannt und durchgeführt, ſo müßte jeder vor-
ſichtige Hausvater, wenn er auswärts Vermögen beſitzt,
irgend einen Schutz ſuchen gegen unerwünſchte Erben, ſo
wie gegen die drohende Verwirrung in Beziehung auf
Schuldverhältniſſe. Dieſen Schutz gegen den Druck jenes
Grundſatzes könnte er nur darin finden, daß er in Zeiten
alles auswärts liegende Eigenthum veräußerte, oder auch
die beweglichen Sachen in das Land ſeines Wohnſitzes
herein brächte. Auch in dieſem natürlichen Bedürfniß und
Beſtreben liegt ein untrügliches Zeichen der aus jenem
Grundſatz hervorgehenden grundloſen Härte.
B. Die vermittelnde Meinung ſchließt ſich ganz der
vorhergehenden an, nur mit Einſchränkung derſelben auf
das zur Erbſchaft gehörende unbewegliche Eigenthum; das
bewegliche Eigenthum überläßt ſie dem am Wohnſitz des
Erblaſſers geltenden Recht, auch wenn es im Ausland ſich
befinden ſollte. Alle Gründe, welche gegen die vorherge-
(d) Droit d’aubaine. Vgl. Eichhorn deutſches Recht § 75.
|0324 : 302|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
hende Meinung aufgeſtellt worden ſind, gelten auch gegen
dieſe Meinung, nur in geringerem Grade, indem ſie in
einem minderen Umfang von der richtigen Behandlung
abweicht.
Dieſe Meinung hat ſich beſonders vom ſechszehnten
Jahrhundert an geltend gemacht (e). In Deutſchland iſt
ſie ſeit dem achtzehnten Jahrhundert mehr und mehr ver-
drängt worden. Dagegen hat ſie ſich bis auf unſere Zeit
erhalten in England und Amerika (f), ſo wie in Frank-
reich (g). Sie ſteht im Zuſammenhang mit dem allgemei-
nen Unterſchied, welcher in den erwähnten Ländern zwiſchen
dem beweglichen und unbeweglichen Vermögen feſt gehalten
zu werden pflegt (§ 360. Num. 3).
C. Die von mir vertheidigte Meinung endlich, nach
welcher der Wohnſitz allgemein entſcheidet, iſt vom achtzehn-
ten Jahrhundert an beſonders in Deutſchland ſtets zuneh-
mend zur allgemeinen Anerkennung gelangt, nachdem ſie zu-
erſt vorzugsweiſe für die Inteſtaterbfolge angenommen wor-
den war (h). Sie wird nicht blos von Romaniſten ver-
(e) Schriftſteller werden in
großer Zahl angeführt bei Wäch-
ter II. S. 188—192. Foelix
p. 72—85.
(f) Story Chap. 11. 12.
(g) Foelix (Note e). —
Daſſelbe erwähnt von Holland
Vinnius sel. quaest. II. 19, na-
türlich für ſeine Zeit.
(h) Schriftſteller in großer
Zahl werden angeführt von
Wächter II. 192—198 und
Schäffner § 130. Auszeichnung
verdienen: Pufendorf I. Obs. 28.
Glück Inteſtaterbfolge § 42.
Martin Rechtsgutachten der Hei-
delberger Fakultät B. 1 S. 175—
186. — Wächter, der ſich ſelbſt
zu dieſer Meinung bekennt, recht-
fertigt dieſelbe II. 198. 199. 363.
|0325 : 303|
§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
theidigt (wie man vielleicht glauben könnte in Beziehung
auf die Univerſalſucceſſion), ſondern auch, im richtigen Ge-
fühl des praktiſchen Bedürfniſſes, eben ſo von Germa-
niſten (i); auch hat ſich die Praxis der höheren Gerichte dafür
entſchieden (k). — Die eigentliche Begründung dieſer Meinung
liegt in der oben entwickelten Natur des Erbrechts über-
haupt, und dieſe Begründung iſt auf Teſtamente eben ſo
anwendbar, wie auf die Inteſtaterbfolge. Bei der Inteſtat-
erbfolge aber kommt noch folgende Rückſicht in Betracht.
Dieſelbe beruht überhaupt auf dem präſumtiven, alſo ſtill-
ſchweigenden, Willen des Verſtorbenen; nicht als ob von
dieſer beſtimmten Perſon für ihre individuellen Verhältniſſe
ein ſolcher Wille als ſichere Thatſache behauptet würde,
ſondern indem jedes poſitive Recht eine allgemeine Vermu-
thung aufſtellt, ſo wie ſie der Natur der Familienverhält-
niſſe angemeſſen erſcheint. Daß nun eine ſolche Präſum-
tion in verſchiedenen Geſetzgebungen ſo oder anders ange-
nommen werden kann, iſt ganz natürlich. Dagegen würde
es ſehr unnatürlich ſeyn, in einem einzelnen gegebenen Fall
ganz richtig auf folgende Weiſe:
der Staat wolle durch die Erbfolge-
geſetze nicht das Schickſal der Ob-
jecte (der Güter) reguliren, ſondern
das der Subjecte, der Perſonen;
daher richte er ſolche Geſetze an
die Staatsangehörigen (die Ein-
wohner), und die Erbfolge in
das Vermögen verſtorbener Aus-
länder ſey ihm gleichgültig. —
Das iſt nur ein anderer Ausdruck
dafür, daß Erbfolgegeſetze als
Perſonalſtatute beabſichtigt werden,
nicht als Realſtatute.
(i) Eichhorn deutſches Recht
§ 35. Mittermaier deutſches
Recht § 32.
(k) O. A. Gericht zu Caſſel
1840. Seuffert Archiv B. 1
N. 92.
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
der Erbfolge, dem Erblaſſer für verſchiedene Vermögens-
ſtücke einen verſchiedenen Willen durch Präſumtion unterzu-
legen, alſo etwa anzunehmen, daß er für ſein Haus eine
andere Perſon, als für ſein Landgut oder ſein baares Geld,
als Erben zu haben wünſche, wenn er ſich nicht darüber
(durch Teſtament) beſonders erklärt hat.
In Beziehung auf die unter B. dargeſtellte vermittelnde
Meinung, welche zwiſchen beweglichem und unbeweglichem
Vermögen unterſcheidet, ſind noch zwei Anſichten zur
Sprache gekommen, deren genauere Prüfung vielleicht zur
Annäherung der Meinungen beitragen kann.
Ein neuerer Schriftſteller tadelt es, daß ſich Andere
überhaupt für die eine oder andere Meinung allgemein aus-
ſprächen, da doch jede derſelben unter gewiſſen Voraus-
ſetzungen richtig ſey (l). In den Ländern, welche das Erb-
recht (nach Römiſchem Grundſatz) als Univerſalſucceſſion
behandelten, ſey der Wohnſitz für das ganze Vermögen ent-
ſcheidend; in den Ländern dagegen, welche das Erbrecht
nicht als Univerſalſucceſſion anſähen (wie England und
Amerika) müſſe die Erbfolge in Immobilien nach der lex
rei sitae beurtheilt werden. — Bei dieſer Anſicht liegt das
Mißverſtändniß zum Grunde, als ob die Annahme oder
Verwerfung der Univerſalſucceſſion etwas für ſich Beſtehen-
des wäre, woraus dann weiter auf den Sitz des Erbrechts
und das bei demſelben geltende örtliche Recht gefolgert werden
(l) Schäffner § 57—59, § 126—152.
|0327 : 305|
§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
könnte. In der That aber iſt Beides identiſch, und die Univer-
ſalſucceſſion iſt nur die juriſtiſche Form und der Kunſtaus-
druck für die Auffaſſung des Erbrechts, die den Sitz deſſel-
ben allgemein (ohne Unterſchied der Beſtandtheile des Ver-
mögens) in den Wohnſitz verlegt. So aufgefaßt, muß alſo
die aufgeſtellte Unterſcheidung unter folgenden Ausdruck ge-
bracht werden: Vom Standpunkte der Länder und der
Schriftſteller aus, die das Erbrecht auf das Vermögen als
Ganzes beziehen, iſt die lex domicilii entſcheidend auch für
Immobilien, von einem anderen Standpunkt aus iſt ſie es
nicht. In dieſem Sinn aber wird die Unterſcheidung auch
gewiß von keiner Seite bezweifelt werden.
Weit wichtiger iſt folgender Grund, der nicht ſelten zur
Rechtfertigung der vermittelnden Meinung (unter B.) gel-
tend gemacht wird. Es giebt gewiſſe Arten von Grund-
ſtücken, ſagt man, von welchen Jeder zugiebt, daß bei ihnen
die Erbfolge nach der lex rei sitae zu beurtheilen iſt; da-
hin gehören namentlich Lehen und Fideicommiſſe. Was nun
bei dieſen allgemein eingeräumt wird, muß conſequenter-
weiſe auch bei allen anderen Grundſtücken gelten. — Be-
trachten wir dieſen Grund etwas genauer.
Mit den Lehen und Fideicommiſſen verhält es ſich auf
ähnliche Weiſe, wie mit dem Römiſchen Niesbrauch: ſie
gehören nicht zum Vermögen, alſo auch nicht zur Erbſchaft.
Der Niesbraucher hat ein lebenslängliches Recht des Frucht-
genuſſes; dieſes allein iſt in ſeinem Vermögen, mit dem Tode
verſchwindet es, alſo iſt in der Erbſchaft keine Spur mehr
VIII. 20
|0328 : 306|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
davon vorhanden. Ganz ähnlich das Fideicommiß, und
eben ſo das Lehen. Der Fideicommißbeſitzer hat ein lebens-
längliches Recht des Fruchtgenuſſes, mit ſeinem Tode ver-
ſchwindet daſſelbe, und das Gut fällt an den Eigenthümer,
die fideicommißberechtigte Familie, zurück; nur nicht ſo, wie
bei dem Niesbrauch, als freies Eigenthum, mit willkürlicher
Verfügung durch Theilung oder Verkauf, ſondern ſo, daß
das durch die Fideicommißſtiftung bezeichnete Familienglied
in den durch den Tod frei gewordenen Fruchtgenuß, wiede-
rum als in ein lebenslängliches Recht, eintritt. Indem
alſo die Lehen und Fideicommiſſe, ihrer Natur nach, gar
nicht zu einer Erbſchaft gehören können, werden ſie auch
gar nicht berührt von den Erbſchaftsgeſetzen, weder des
Landes, worin der jetzt verſtorbene Beſitzer wohnte, noch des
Landes, worin ſie liegen. Es ſind ſpecielle Rechtsinſtitute
an beſtimmten, einzelnen Grundſtücken, und dieſe können
überall nur von der lex rei sitae beherrſcht werden (§ 366.
§ 368. Num. 5). Wir können dieſen Satz auch ſo aus-
drücken: Die Geſetze über die Nachfolge in Lehen und Fidei-
commiſſe ſind Realſtatute. Oder mit anderen Worten:
Jeder Geſetzgeber über Lehen und Fideicommiſſe will Etwas
beſtimmen über die in ſeinem Lande liegenden Güter ſolcher
Art, nicht über die auswärtigen Güter, deren zeitige Be-
ſitzer nur in ſeinem Lande wohnen.
Etwas verſchieden iſt das Verhältniß mancher anderen
Klaſſen von Grundſtücken, und dennoch iſt der Erfolg der-
ſelbe. — Wenn ein Landesgeſetz die Erhaltung eines wohl-
|0329 : 307|
§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
habenden Bauernſtandes dadurch zu befördern ſucht, daß
es, ohne Einſchränkung des Eigenthums und namentlich
des Rechts der Veräußerung, nur die Erbfolge in Bauer-
güter dahin beſtimmt, daß ſtets der älteſte (oder auch der
jüngſte) Sohn als einziger Erbe eintreten ſoll, ſo hat die-
ſes Geſetz folgende Natur. Es ſchließt aus die teſtamen-
tariſche Erbfolge, die Theilung des Gutes, das Erbrecht
der Töchter, ſo lange Söhne vorhanden ſind. Es iſt alſo
zwar ein Erbfolgegeſetz, hat aber einen politiſchen, außer
dem reinen Rechtsgebiet liegenden, Zweck, und iſt daher ein
Geſetz von zwingender, ſtreng poſitiver Natur (§ 349). Ein
ſolches Geſetz iſt ein Realſtatut, und umfaßt alle im Lande
liegenden Bauergüter, ohne Rückſicht auf den Wohnſitz des
gegenwärtigen Eigenthümers. Es bezieht ſich aber gar
nicht auf die Bauergüter, die etwa ein Einwohner des Lan-
des im Ausland beſitzen möchte. Es will daher nicht,
wie gewöhnliche Erbfolgegeſetze, dem Vermögen verſtorbener
Einwohner das angemeſſenſte Schickſal anweiſen, ſondern
es will gewiſſe Staatszwecke fördern durch das einer be-
ſtimmten Klaſſe von Grundſtücken angewieſene Schickſal.
— Aehnliche Beſtimmungen, und mit völlig gleichem Erfolg
kommen auch bei adeligen Gütern vor, zum Zweck der Er-
haltung wohlhabender adeliger Familien. Ein ſolches Ge-
ſetz war im Herzogthum Weſtphalen die Erblandesvereini-
gung von 1590, welche den Töchtern des Beſitzers die Erb-
folge in adelige Güter verſagte. Ueber die Anwendung
dieſes Geſetzes entſtand im J. 1838 ein merkwürdiger
20*
|0330 : 308|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Rechtsſtreit, welcher vom Oberlandesgericht zu Münſter,
und eben ſo vom Obertribunal in Berlin, ganz richtig
dahin entſchieden wurde, daß das Geſetz ein Realſtatut
ſey, anwendbar auf die im Herzogthum liegenden adeligen
Güter, ohne Rückſicht auf den Wohnſitz der betheiligten
Perſonen (m).
Alle hier angeführte Fälle, ſo verſchieden ſie an ſich
ſeyn mögen, kommen darin überein, daß die Geſetze über
die Nachfolge nicht darauf ausgehen, das Vermögen eines
Verſtorbenen einer angemeſſenen Richtung zuzuweiſen, ſon-
dern vielmehr das Schickſal beſtimmter einzelner Grundſtücke,
oder auch Klaſſen von Grundſtücken, zu regeln; daher
müſſen ſie als Realſtatute angeſehen werden, nicht als
Perſonalſtatute (n). Die aufgeſtellte Behauptung ſteht alſo
gar nicht im Widerſpruch mit der oben angegebenen Regel
über die Behandlung reiner Erbfolgegeſetze, und ſie kann
alſo auch nicht dazu benutzt werden, die erwähnte Regel
zweifelhaft zu machen.
Bei den bisher abgehandelten einzelnen Rechtsverhält-
niſſen iſt ſtets hingewieſen worden auf den innigen Zu-
ſammenhang zwiſchen dem beſonderen Gerichtsſtand und
(m) Graf Bocholtz c. Freifrau
von Venningen, in: Ulrich und
Sommer neues Archiv B. 6
S. 476—512. Die entſcheidend-
ſten Stellen der Urtheilsgründe
finden ſich S. 481. 507. 508.
(n) Ganz übereinſtimmend er-
klärt ſich Wächter II.. S. 364.
|0331 : 309|
§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
dem anwendbaren örtlichen Recht (§ 360 Num. 1). Einen
ſolchen Zuſammenhang möchte man nun auch bei dem Erb-
recht erwarten; dennoch muß er hier entſchieden verneint
werden, und zwar deswegen, weil für das Erbrecht über-
haupt keine andere Örtlichkeit aufgefunden werden kann,
als die allgemeine, die in dem Wohnſitz des Erblaſſers
gegründet iſt (§ 375).
Im Römiſchen Recht (o) gab es lange Zeit für die
Erbrechtsklage durchaus keinen anderen Gerichtsſtand, als
im Wohnſitz des Beklagten (p). Nach Juſtinian’s Geſetz-
gebung ſollte ſie auch angeſtellt werden können im forum
rei sitae (q). Das hat aber nur den Sinn, daß Jeder,
der das Recht des Erben dadurch verletzt, daß er irgend
eine Erbſchaftsſache pro herede oder pro possessore beſitzt,
da belangt werden kann, wo gerade die Sache liegt, das
heißt, wo der unrechtmäßige Beſitz, der die Rechtsverletzung
enthält, ausgeübt wird (r). Es iſt aber einleuchtend, daß
(o) Vgl. Bethmann Holl-
weg Verſuche S. 61 — 69.
Arndt’s Beiträge Num. 2.
(p) L. un. C. ubi de hered.
(3. 20). Die Worte: „vel si ibi,
ubi res hereditariae sitae sunt,
degit, ſind ſo zu überſetzen: „die
hereditatis petitio gehört aus-
ſchließend in das forum domicilii
des Beklagten, und dieſe Regel iſt
ſelbſt dann anzuwenden (vel si
ibi etc.), wenn auch der Beklagte
an dem Orte, wo die Erbſchafts-
ſachen liegen, ſich einige Zeit auf-
hält“ (si ibi degit). Arndt’s
Beiträge S. 122—124.
(q) Nov. 69 C. 1, die einen ſehr
allgemeinen Umfang hat. Die
L. 3 C. ubi in rem (3. 19) geht,
nach richtiger Auslegung, nur auf
die Eigenthumsklage, nicht auf
andere Klagen in rem, alſo auch
nicht auf die hereditatis petitio.
(r) Die Nov. 69 C. 1 führt
den Gerichtsſtand ſtets zurück auf
den Ort der Rechtsverletzung. Eben
|0332 : 310|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
durch dieſen Ort nicht auch das örtliche Recht der Erbſchaft
beſtimmt werden kann, da es möglich iſt, daß die Erb-
ſchaftsſachen an vielen Orten zerſtreut liegen, und von
unberechtigten Perſonen beſeſſen werden. Die Erbſchaft im
Ganzen aber, oder auch nur der größere Theil derſelben, kann
auf gar keinen beſtimmten Ort mit irgend einer Sicherheit
zurückgeführt werden (§ 375), und ein ſolcher Ort wird
auch in keinem Geſetz als Grund eines beſonderen Gerichts-
ſtandes angegeben. Für die Fideicommiſſe hat allerdings
das Römiſche Recht einen beſonderen Gerichtsſtand ange-
ordnet, da, wo der größere Theil der Erbſchaft liegt (s);
allein es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſe willkürliche, excep-
tionelle Vorſchrift für ein ganz vereinzeltes Rechtsinſtitut
nicht maaßgebend ſeyn kann für das örtliche Recht der Erb-
ſchaft überhaupt.
Manche neuere Geſetzgebungen haben als Gerichtsſtand
der Erbſchaft den Ort feſtgeſtellt, wo die Erbſchaft eröffnet
iſt (t), welches eben ſo viel ſagt, als den letzten Wohnſitz
des Erblaſſers (u).
ſo ſagt L. 3 C. ubi in rem (wenn
man dieſe überhaupt auf die here-
ditatis petitio anwenden will):
„in locis, in quibus res …
constitutae sunt, adversus pos-
identem moveri.“
(s) S. o. § 370 Noten bb.
bis ee.
(t) Code de procedure
art. 59 „le tribunal du lieu ou
la succession est ouverte.“
(u) Preußiſche Allg. Gerichts-
ordnung I. 2 § 121—125.
|0333 : 311|
§. 377. IV. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen.
§. 377.
VI. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen.
Wie es oben bei den Obligationen geſchehen iſt (§ 374),
ſo ſollen jetzt auch bei dem Erbrecht einzelne Rechtsfragen
aufgeſtellt werden, die in Beziehung auf das örtliche Recht
vorkommen können. Dieſelben bedürfen nur da einer beſon-
deren Erörterung, wo die allgemeine Regel, nach welcher
der Wohnſitz zur Zeit des Todes entſcheidet, nicht aus-
reichend iſt (a).
1. Die perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung
auf deſſen Rechtsverhältniſſe iſt, wie in zwei ver-
ſchiedenen Zeitpunkten (b), ſo auch, im Fall des veränderten
Wohnſitzes, an zwei verſchiedenen Orten erforderlich. Fehlt
ihm alſo dieſe Fähigkeit nach dem Geſetz des Wohnſitzes,
in welchem er das Teſtament errichtet, ſo iſt und bleibt
das Teſtament ungültig, auch nach verändertem Wohnſitz.
Eben ſo iſt es aber auch ungültig, wenn ihm jene Fähig-
keit fehlt nach dem Geſetz, welches in dem letzten Wohnſitz
zur Zeit des Todes beſteht. Der Grund liegt darin, daß
der letzte Wille zu betrachten iſt als ausgeſprochen in zwei
verſchiedenen Zeitpunkten, und möglicherweiſe auch an zwei
(a) Es ſind hierbei zu ver-
gleichen die über die zeitliche Colli-
ſion der Erbrechtsgeſetze unten auf-
zuſtellende Regeln (§ 393. 395).
Die daſelbſt gegebene genauere Er-
örterung über die Natur des Te-
ſtaments iſt auch hier maaßgebend.
(b) Zur Zeit der Errichtung
und zur Zeit des Todes (§ 393).
|0334 : 312|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
verſchiedenen Orten: faktiſch zur Zeit der Errichtung, und
an dem Orte, der in dieſer Zeit der Wohnſitz des Teſtators
iſt; juriſtiſch zur Zeit des Todes, und an dem Orte, der
in dieſer Zeit der Wohnſitz iſt (§ 393).
2. Die perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung
auf deſſen phyſiſche Eigenſchaften (z. B. das Alter)
richtet ſich nach dem zur Zeit des errichteten Teſtaments
am Wohnſitz des Teſtators geltenden Geſetz, ohne Rückſicht
auf ſpätere Veränderungen des Wohnſitzes.
3. Der Inhalt des Teſtaments, insbeſondere die
geſetzliche Gültigkeit oder Ungültigkeit deſſelben, richtet ſich
nach dem am letzten Wohnſitz des Teſtators geltenden Ge-
ſetz. So insbeſondere die Regeln über Enterbung, Präter-
ition und Pflichttheil. Daſſelbe muß behauptet werden
von Legaten und Fideicommiſſen. Zwar beziehen ſich dieſe
auf einzelne, begränzte Gegenſtände, und man könnte daher
annehmen wollen, daß auf ſie die lex rei sitae anwendbar
ſeyn möchte. In der That aber ſind dieſe Rechtsinſtitute
nur einzelne, untergeordnete Modificationen der geſammten
Erbſchaft, die nur von ihrem Standpunkt aus richtig be-
urtheilt werden können. Jede abſondernde Behandlung
würde zu den größten Widerſprüchen führen können.
Ausnahmen können eintreten durch entgegen ſtehende
zwingende Geſetze. Wenn alſo durch Teſtament ein Fami-
lienfideicommiß errichtet wird für ein Gut, das in einem
fremden Lande liegt, deſſen Geſetz Fideicommiſſe nicht aner-
kennt, ſo entſcheidet das für den urtheilenden Richter
|0335 : 313|
§. 377. IV. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen.
geltende Geſetz, welches hier auf die Ungültigkeit der An-
ordnung führt.
Die Auslegung des Teſtaments ſteht unter ähnlichen
Regeln, wie die Auslegung der Verträge (§ 374. B).
Dieſe Regeln werden hier meiſt auf den letzten Wohnſitz
des Erblaſſers zurück weiſen (c).
4. Die perſönliche Fähigkeit der zur Erbſchaft im
Ganzen, oder zu einem einzelnen Stück der Erbſchaft, be-
rufenen Perſonen (Erben oder Legatare) iſt in der Regel
nach ihrem Wohnſitz, nicht nach dem des Erblaſſers zu
beurtheilen, und zwar nach dem Wohnſitz, den ſie zur Zeit
des Todes des Erblaſſers haben, zu welcher Zeit ihnen das
Succeſſionsrecht deferirt wird.
Ausnahmen können eintreten, da wo Geſetze von zwin-
gender Natur in Betracht kommen. Iſt z. B. der einge-
ſetzte Erbe durch den bürgerlichen Tod oder durch Ketzerei
nach dem Geſetz ſeines Wohnſitzes zur Erbfolge unfähig,
welches Hinderniß anderwärts nicht anerkannt wird, oder
ſteht ein beſchränkendes Geſetz über den Erwerb von Seiten
der todten Hand im Wege, ſo iſt nicht das am Wohnſitz
des Erben, ſondern das am Ort des urtheilenden Richters
geltende Geſetz anwendbar, welches ſehr häufig mit dem
Wohnſitz des Erblaſſers zuſammen fallen wird (§ 349. 365).
5. Von der Form des Teſtaments wird unten, bei der
Regel: locus regit actum, die Rede ſeyn (§ 381).
(c) Foelix p. 171.
|0336 : 314|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
6. Wenn das Geſetz des Ortes, an welchem der Teſta-
tor zur Zeit der Errichtung ſeinen Wohnſitz hat, Teſtamente
gar nicht anerkennt, ſo iſt und bleibt das da errichtete Te-
ſtament ungültig. Eben ſo iſt das Teſtament ungültig,
wenn das am letzten Wohnſitz geltende Geſetz Teſtamente
nicht anerkennt. Es gelten alſo in dieſer Hinſicht dieſelben
Regeln, welche oben über die juriſtiſche Fähigkeit der Perſon
des Teſtators aufgeſtellt worden ſind (Num. 1).
7. Die Inteſtaterbfolge richtet ſich nach dem Geſetz,
welches am letzten Wohnſitz des Teſtators zur Zeit des
Erbanfalls beſteht (d). Dieſes gilt namentlich von der
geſetzlichen Reihefolge der berufenen Inteſtaterben. Es gilt
aber eben ſo von den Bedingungen der Verwandtſchaft
überhaupt, alſo von dem Daſeyn ehelicher Verwandtſchaft,
ſo wie von der Legitimation (e).
8. Erbverträge ſind dem Römiſchen Recht fremd. Wo
ſie vorkommen, gelten für ſie ähnliche Regeln, wie für die
Teſtamente.
Der einſeitige Erbvertrag iſt nach dem am Wohnſitz
des Erblaſſers geltenden Geſetz zu beurtheilen. Eben ſo
aber auch gegenſeitige Erbverträge; welcher von beiden
Theilen als Erblaſſer zu betrachten iſt, hängt von dem zu-
fälligen Umſtande ab, wer zuerſt ſtirbt. Dieſe Regel folgt
aus der Analogie der Teſtamente. Sie erſcheint aber nicht
(d) Ueber die nähere Beſtimmung dieſes Zeitpunktes vgl. unten
§ 395.
(e) Wächter II. S. 364.
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§. 377. IV. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen.
minder begründet, wenn man dabei das örtliche Recht der
Verträge als maaßgebend anſehen will. Denn für das
Vermögen als Ganzes kann nur der Wohnſitz des Verſtor-
benen als Erfüllungsort des Erbvertrages angeſehen
werden.
Wenn an einem dieſer Orte die Geſetze über Erbver-
träge geändert werden, ſo entſcheidet lediglich das zur Zeit
des geſchloſſenen Vertrags geltende Geſetz (§ 395).
9. Das Recht auf einen erbloſen Nachlaß (bona va-
cantia) iſt ſtets als Surrogat des Erbrechts anzuſehen, alſo
gleichfalls nach dem Geſetz des Wohnorts des Erblaſſers
zu beſtimmen, ohne Rückſicht auf die Lage der Vermögens-
ſtücke, ſelbſt des auswärtigen unbeweglichen Vermögens.
Insbeſondere nach dem Römiſchen Recht iſt das Succeſ-
ſionsrecht des Fiscus zwar nicht hereditas zu nennen, wohl
aber ganz nach den Grundſätzen derſelben zu behandeln, ſo
daß der Fiscus ſelbſt zu Legataren und Fideicommiſſaren
ganz in daſſelbe Verhältniß, wie ein wahrer Erbe, treten
kann (d). — An ſich verſchieden von dieſer, allein hierher
gehörenden, Frage nach dem anwendbaren örtlichen Recht
über die bona vacantia, iſt die Frage, welchem Fiscus
der Anſpruch auf dieſelben zuſteht, dem Fiscus des Wohn-
ſitzes, oder dem der gelegenen Sache. Denn dieſe Frage
kann unter zwei Ländern entſtehen, die gleichmäßig das
(d) Glück Inteſtaterbfolge § 147. 150. Puchta Pandekten
§. 564.
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Römiſche Recht anerkennen. Auch dieſe Frage muß zum
Vortheil des Fiscus entſchieden werden, in deſſen Ge-
biet der Wohnſitz liegt, aus demſelben Grunde, der für
das örtliche Recht geltend gemacht wurde, nämlich weil
dieſes Recht des Fiscus die juriſtiſche Natur eines Erb-
rechts, und nur nicht den Namen deſſelben, hat (e).
§. 378.
IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.
Schriftſteller:
Bornemann Preußiſches Recht Ausg. 2. B. 1.
S. 54—62.
Rintelen Abhandlung in Kamptz’s Jahrbüchern
B. 30. S. 89 fg.
Koch Preußiſches Recht B. 1. § 40. Num. II.
Ergänzungen ꝛc. von Gräff ꝛc. (Fünfmännerbuch)
Ausg. 2. B. 1. S. 116—121.
Es hat ſich in neuerer Zeit lebhafter Streit erhoben
über die Frage, welches örtliche Recht die Preußiſche Ge-
ſetzgebung dem Erbrecht zum Grund lege: ob allgemein
das Recht des Wohnſitzes des Erblaſſers (wie es die zwei
(e) Glück Inteſtaterbfolge §. 149.
|0339 : 317|
§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.
letzten unter den angeführten Schriftſtellern behaupten),
oder vielmehr bei unbeweglichen Vermögensſtücken das
Recht der gelegenen Sache (nach den zwei erſten Schrift-
ſtellern).
Betrachten wir die Sache blos vom Standpunkt allge-
gemeiner Grundſätze aus, ſo müſſen wir unbedenklich den
Wohnſitz als allgemeine Grundlage annehmen, übereinſtim-
mend mit dem Römiſchen Recht. Denn dieſe Annahme folgt
ſtreng und nothwendig aus dem Römiſchen Begriff der
Univerſalſucceſſion (§ 375); dieſer Begriff aber wird nicht
etwa von uns der Preußiſchen Geſetzgebung untergeſchoben,
ſondern er liegt unzweifelhaft dem geſammten Preußiſchen
Erbrecht zum Grunde. Wäre es alſo anders nach beſtimm-
ten Preußiſchen Geſetzen, ſo könnten wir darin doch höch-
ſtens eine Inconſequenz erkennen.
Der ganze Streit dreht ſich in der That um die Erklä-
rung folgender Stelle des allgemeinen Landrechts (Einlei-
tung § 32):
In Anſehung des unbeweglichen Vermögens gel-
ten, ohne Rückſicht auf die Perſon des Eigen-
thümers, die Geſetze der Gerichtsbarkeit, unter
welcher ſich daſſelbe befindet.
Wenn man dieſer ſehr abſtract gefaßten Vorſchrift die
höchſte Ausdehnung giebt, deren die Worte empfänglich
ſind, ſo kann allerdings der von den Gegnern behauptete
Sinn in dieſelbe gelegt werden. Es fragt ſich aber, wel-
cher Sinn in ihr nach richtiger Auslegung zu finden iſt.
|0340 : 318|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Zunächſt iſt anzunehmen, daß in dieſer Vorſchrift gar nicht
an die Succeſſion von Todes wegen, ſondern nur an den
Verkehr unter Lebenden gedacht worden iſt (a). Dafür
ſpricht folgende Faſſung der entſprechenden Stelle in dem
vorhergehenden gedruckten Entwurf (Einleitung § 30):
Was die Provinzialgeſetze und Statuten in An-
ſehung der liegenden Gründe verordnen, iſt auf
alle in der Provinz oder unter der ordentlichen
Obrigkeit des Orts gelegene Grundſtücke anzu-
wenden; ohne Rückſicht auf den Ort, wo der
Beſitzer wohnt, oder der Vertrag darüber geſchloſ-
ſen worden.
Hier iſt augenſcheinlich blos an den Verkehr unter Le-
benden gedacht. Nun könnte man annehmen wollen, der
veränderte Ausdruck im Landrecht deute gerade auf die Ab-
ſicht einer weiteren Ausdehnung des Objects der Vorſchrift.
Allein wäre dieſer Zweck beabſichtigt worden, ſo hätte man
denſelben gewiß beſtimmter angedeutet. Ohne Zweifel be-
ruht der veränderte Ausdruck nur auf dem überall im Land-
recht ſichtbaren Streben, einen vermeintlich reineren Ge-
ſchmack vermittelſt eines möglichſt abſtracten Ausdrucks an
den Tag zu legen.
Aber ſelbſt wenn wir in der Auslegung der Stelle die
Beſchränkung auf den Verkehr unter Lebenden aufgeben
und das Gebiet der Succeſſion von Todes wegen mit her-
(a) Dieſes iſt auch die Meinung von Koch Preußiſches Recht § 40
Note 12, wo nur durch Druckfehler § 23 anſtatt § 32 ſteht.
|0341 : 319|
§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.
ein ziehen wollten, ſo würde doch noch eine andere, ſelbſt
in ihren Worten liegende, wichtige Beſchränkung übrig
bleiben. Sie ſpricht doch augenſcheinlich nur von „Statuten
in Anſehung der liegenden Gründe“, von Geſetzen, die „in
Anſehung des unbeweglichen Vermögens“ gelten ſollen.
Welche Geſetze ſollen durch dieſen Ausdruck bezeichnet ſeyn?
Ganz offenbar die wahren Realſtatuten, die principaliter
auf unbewegliche Sache ſich beziehen, welcher Begriff dem
Landrecht, wie es auch unſere gegenwärtigen Gegner ein-
räumen, ſehr bekannt und geläufig iſt (§ 361. t). Dieſe
Eigenſchaft aber können wir unmöglich einem Geſetz über
die gewöhnliche Inteſtaterbfolge blos deswegen zuſchreiben,
weil in dem Vermögen unter andern und zufällig auch
Grundſtücke enthalten ſeyn können, woran jenes Geſetz gar
nicht denkt. Dagegen iſt dieſe Eigenſchaft allerdings vor-
handen bei gewiſſen, die Succeſſion von Todes wegen be-
treffenden Geſetzen, nämlich bei den Geſetzen über die Nach-
folge in Lehen, Fideicommiſſe u. ſ. w. (§ 376). Die Ge-
ſetze über dieſe Nachfolge ſind in der That wahre Real-
ſtatuten, und wenn wir auf ſie die vorliegende Stelle be-
ziehen, ſo handeln wir ihrem wahren Sinne gemäß, die
Verfaſſer mögen dabei an dieſen beſonderen Gegenſtand ge-
dacht haben oder nicht. Auch unſer hauptſächlicher Gegner
erklärt, daß er früher die Stelle in dieſer Beſchränkung
aufgefaßt, und erſt ſpäterhin weiter ausgedehnt habe (a¹.
Nur würde es ganz irrig ſeyn, in dieſer Beſchränkung etwa
(a¹ Bornemann S. 61.
|0342 : 320|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
eine dritte, vermittelnde Meinung annehmen zu wollen.
Vielmehr liegt darin eben unſere ganze, vollſtändige Mei-
nung, da Niemand daran denkt, die Nachfolge in Lehen,
Fideicommiſſe u. ſ. w. von der lex rei sitae auszuſchließen.
Die einzige Streitfrage iſt die, ob in Anſehung der gewöhn-
lichen, reinen Inteſtaterbfolge auf die unbeweglichen Theile
des Vermögens die lex rei sitae angewendet werden ſoll
(wie die Gegner wollen) oder nicht (wie wir behaupten).
Ein beſonders wichtiger Grund aber, unſre Auslegung
nicht blos für räthlich und wünſchenswerth in ihren Folgen,
ſondern auch für wahr anzunehmen, liegt in der ungemei-
nen praktiſchen Schwierigkeit der Ausführung, die mit der
entgegengeſetzten Auslegung verbunden ſeyn würde. — Ein
Beiſpiel möge dieſe Schwierigkeit anſchaulich machen. Ein
Einwohner von Berlin ſtirbt ohne Teſtament, und hinter-
läßt eine Wittwe und mehrere nahe Verwandte verſchiede-
ner Art. Das Vermögen beſteht aus einem Landgut bei
Berlin, einem Landgut in Schleſien, einem Hauſe in Ehren-
breitſtein, einem Hauſe in Coblenz; daneben hat er viele
perſönliche Schulden, die natürlich auf allen Theilen des
Vermögens haften. Nach der Meinung der Gegner müß-
ten auf die Erbfolge in die Grundſtücke nicht weniger, als
Vier Geſetze zur Anwendung kommen, die auf ganz ver-
ſchiedene Erben führen können: in der Mark Branden-
burg die Joachimica von 1527 (b), mit dem Anſpruch der
(b) Corpus constitut. Marchicarum von Mylius Th. 2.
Abth. 1 S. 19.
|0343 : 321|
§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.
Wittwe auf die Hälfte des zuſammengeworfenen Vermögens
beider Ehegatten, in Schleſien das allgemeine Landrecht (c),
in Ehrenbreitſtein das Römiſche Recht, in Coblenz das
Franzöſiſche Recht, ſo daß in der That Vier verſchiedene
Erbſchaften entſtehen würden. Den Glaubigern iſt es nun
ganz einerlei, wer Erbe wird, wenn ſie nur befriedigt wer-
den; das iſt aber nicht möglich, bevor durch gerichtliche
Taxen der Werth jedes Grundſtücks, alſo deſſen Verhältniß
zum geſammten Vermögen, feſtgeſtellt iſt. Unſer Gegner
meint zwar, dieſe Schwierigkeiten dürften uns nicht ab-
ſchrecken (d). Das ließe ſich hören, wenn davon die Rede
wäre, dem Richter Mühe und Zweifel zu erſparen; allein
die Schwierigkeiten und Nachtheile treffen die Parteien,
insbeſondere die Glaubiger, und warum ſollen dieſe damit
belaſtet werden? Nicht etwa zur Aufrechthaltung eines
ſicheren Rechtsgrundſatzes, ſondern zum Schutz der buch-
ſtäblichen Auslegung eines Paragraphen des Landrechts,
von welchem die Gegner mindeſtens zugeben müſſen, daß
er auch noch eine andere Auslegung zuläßt. Gerade in
dieſem Umſtand aber ſehe ich den wichtigſten Grund für
die Richtigkeit unſerer Auslegung, da es gewiß nicht wahr-
ſcheinlich iſt, daß der Geſetzgeber die Abſicht gehabt haben
ſollte, einen Grundſatz aufzuſtellen, der die Betheiligten,
(c) Seit dem Geſetz vom 11. Juli 1845, welches alle Schleſiſchen
Provinzialgeſetze über das Erbrecht aufgehoben hat.
(d) Bornemann
S. 62.
VIII. 21
|0344 : 322|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
insbeſondere die Glaubiger, in ganz unnütze Noth ver-
wickeln mußte. Dieſer rein praktiſche Grund ſcheint mir
weit erheblicher, als der von den Gegnern geltend gemachte,
daß zur Zeit, als das Landrecht abgefaßt wurde, die ent-
gegengeſetzte Lehre in der Praxis herrſchend war, ein An-
ſchließen an dieſe Praxis aber in dem Geſetz angenommen
werden müſſe, wo nicht eine Abweichung von derſelben
deutlich ausgeſprochen würde (e).
Es kommen daneben noch folgende einzelne Stellen un-
ſerer Geſetzgebung in Betracht.
1. Ueber die Inteſtaterbfolge unter Ehegatten wird im
Allgemeinen vorgeſchrieben, daß das am Wohnſitz des Ver-
ſtorbenen geltende örtliche Geſetz zur Anwendung kommen
ſoll (f), und ein ſpäterer Zuſatz zu dieſer Stelle lau-
tet ſo:
Anhang § 78. Von dieſer Beſtimmung macht
auch das unbewegliche Vermögen der Eheleute
keine Ausnahme, ob dieſes ſich gleich unter einer
anderen Gerichtsbarkeit befindet.
Nichts iſt einfacher und natürlicher, als dieſes Geſetz
für eine einzelne Anwendung unſers Grundſatzes anzuſehen,
und alſo eine Beſtätigung dieſes Grundſatzes darin zu fin-
den. Unſere Gegner ſehen darin eine beabſichtigte Aus-
(e) Es iſt beſonders zu be-
merken, daß kurz vor Abfaſſung
des Landrechts Pufendorf, der
doch auch ein Praktiker war, die
Verkehrtheit jenes Syſtems ſehr
gründlich dargeſtellt hatte (§ 376.h).
(f) A. L. R. II. 1 § 495.
|0345 : 323|
§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.
nahme der von ihnen angenommenen Regel, ſuchen aber
vergeblich dieſe Abſicht aus der Entſtehungsgeſchichte der
Stelle herzuleiten (g).
2. Nach der Meinung der Gegner müßten oft mehrere
Erbſchaften deſſelben Erblaſſers angenommen werden; in
dem oben angegebenen Beiſpiel Vier Erbſchaften. Dann
wäre es conſequent, für jede derſelben einen beſonderen
Gerichtsſtand anzuordnen, da wo die einzelnen Grundſtücke
liegen. Das Preußiſche Geſetz aber nimmt überall nur
Einen Gerichtsſtand der Erbſchaft an, am letzten Wohnſitz
des Verſtorbenen (h), ohne den Fall auswärts liegender
Grundſtücke auszunehmen. Darin erkennt ſie an, daß ſtets
nur Eine Erbſchaft vorkommen kann.
3. Wenn Jemand einen Erben einſetzt, und demſelben
mehrere Perſonen ohne weitere Beſtimmung ſubſtituirt,
welche die Inteſtaterben des eingeſetzten Erben ſeyn wür-
den, ſo ſoll die Subſtitution ſo ausgelegt werden, daß ſie
ſich nach den Regeln der Inteſtaterbfolge richte, und dieſe
(g) Bornemann S. 58—60.
Der § 78 des Anhangs iſt ent-
nommen aus einer Entſcheidung
der Geſetzcommiſſion von 1794.
Dieſe aber war veranlaßt durch
eine Anfrage der Regierung zu
Cleve, worin beiläufig die irrige
Lehre für andere Fälle als wahr
dargeſtellt wurde. Die Geſetzcom-
miſſion gab ihre Entſcheidung,
ohne auf die Ausführung der
Gründe einzugehen, und dadurch
ſoll ſie ſtillſchweigend die falſche
Meinung der Regierung zu Cleve
gebilligt, und die Entſcheidung
ſelbſt als bloße Ausnahme aner-
kannt haben. Die Aktenſtücke ſind
abgedruckt in Klein’s Annalen
B. 13 S. 3 — 6.
(h) Allg. Gerichtsordnung I.
2 § 121.
21*
|0346 : 324|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Inteſtaterbfolge ſoll beurtheilt werden nach dem am Wohnſitz
des eingeſetzten Erben geltenden Geſetz (i). Dabei iſt au-
genſcheinlich vorausgeſetzt, daß ausſchließend der Wohnſitz
die Inteſtaterbfolge beſtimme, ohne Ausnahme der etwa
auswärts liegenden Grundſtücke (k).
Zum Schluß iſt noch zu bemerken, daß die meiſten
Schriftſteller die hier vertheidigte Lehre annehmen (l), und
eben ſo auch die meiſten Gerichte (m).
§. 379.
V. Familienrecht. A. Ehe.
Das Familienrecht hat am meiſten Aehnlichkeit mit dem
Zuſtand der Perſon an ſich (Rechtsfähigkeit und Handlungs-
fähigkeit § 362), und unterſcheidet ſich weſentlich von den
Verhältniſſen des Vermögens, welche die Perſon mit äußer-
lichen, willkürlich gewählten Gegenſtänden in Verbindung
bringen (a). — Auf der anderen Seite haben theils ſittlich
religiöſe, theils politiſche Rückſichten großen Einfluß auf
(i) A. L. R. I. 12 § 536. 537.
(k) Bornemann S. 60 ſucht
dieſen Grund zu entkräften durch
die dem Teſtator ganz willkürlich
untergeſchobene Abſicht, er habe
nur einen einzigen Subſtituten
zulaſſen wollen.
(l) Dieſe Thatſache wird aner-
kannt von Bornemann S. 54.
(m) Anerkannt von Borne-
mann S. 62. Dahin gehört ein
ſehr gründliches Urtheil aus Glo-
gau von 1828 (Fünfmännerbuch
S. 118. 119). Auch ſtimmt mit
der richtigen Lehre ganz überein
das oben § 376.m angeführte Ur-
theil, obgleich daſelbſt in die Ur-
theilsgründe manches Unrichtige
eingemiſcht worden iſt.
(a) S. o. B. 1 § 53.
|0347 : 325|
§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.
daſſelbe, weshalb vorzugsweiſe in dieſem Gebiete Geſetze
von einem zwingenden, ſtreng poſitiven Charakter vor-
kommen.
A. Ehe.
Ueber den wahren Sitz des ehelichen Verhältniſſes iſt
kein Zweifel; er iſt anzunehmen an dem Wohnſitz des Ehe-
mannes, der nach den Rechten aller Völker und aller Zei-
ten als das Haupt der Familie anerkannt werden muß (b).
Daher muß denn auch das örtliche Recht jeder Ehe hier-
nach beſtimmt werden, und der Ort, wo etwa außer dem
Wohnſitz die Ehe durch Trauung geſchloſſen ſeyn mag, iſt
dabei ganz gleichgültig (c).
Manche haben dieſen letzten Satz deswegen bezweifelt,
weil ſie die Ehe als obligatoriſchen Vertrag betrachteten,
bei ſolchen Verträgen aber den Ort des Abſchluſſes als
maaßgebend für das örtliche Recht zu betrachten gewohnt
waren. Die erſte dieſer beiden Anſichten iſt falſch, da die
Ehe mit den obligatoriſchen Verträgen Nichts gemein hat.
(b) L. 5 de ritu nupt. (23.2)
„.. deductione enim opus
esse in mariti, non in uxoris
domum, quasi in domicilium
matrimonii.“ Darin liegt weder
eine eigenthümlich Römiſche Be-
ſtimmung, noch überhaupt eine
poſitive Vorſchrift, ſondern nur
die gelegentliche Anerkennung eines
aus dem allgemeinen Weſen der
Ehe hervorgehenden Verhältniſſes.
(c) Huber § 10. Story
§ 191 — 199.
|0348 : 326|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Wäre ſie aber auch richtig, ſo würde ſie uns dennoch nicht
auf den Entſtehungsort der Ehe als Beſtimmungsgrund
für das örtliche Recht derſelben führen, ſondern vielmehr
auf den Erfüllungsort (§ 372). Als Erfüllungsort aber
für die aus der Ehe hervorgehenden Verpflichtungen kann
ſicherlich nur der Wohnſitz des Ehemannes gelten.
Von dieſem Standpunkt aus iſt nunmehr eine Reihe
einzelner Rechtsfragen in Beziehung auf die Ehe zu un-
terſuchen.
1. Die Bedingungen der Möglichkeit der Ehe, oder
(von der umgekehrten Seite betrachtet) die Ehehinderniſſe,
gründen ſich theils auf die perſönlichen Eigenſchaften jedes
der beiden Ehegatten für ſich, theils auf das Verhältniß der-
ſelben zu einander. Nach allgemeinen Grundſätzen nun
möchte man annehmen, daß die perſönliche Fähigkeit der
Frau nach dem Geſetz ihrer Heimath zu beurtheilen wäre
(§ 362). Allein gerade die hier einſchlagenden Geſetze, die
auf ſittlichen Rückſichten beruhen, haben eine ſtreng poſitive
Natur, und daher ſind die in dem Wohnſitz des Mannes
geltenden Ehehinderniſſe ſchlechthin bindend, ohne Rückſicht
auf die vielleicht abweichenden Geſetze in der Heimath der
Frau, oder in dem Ort, an welchem die Trauung vorge-
nommen wird. Dieſe Regel gilt namentlich für die verbo-
tenen Verwandtſchaftsgrade, und die in dem religiöſen Ver-
hältniß gegründeten Hinderniſſe (d).
(d) Wächter II. S. 185. 187. Schäffner § 102. 103. Die Praxis
mehrerer Länder iſt über dieſen Punkt ſehr verſchieden. Story § 79 fg.
|0349 : 327|
§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.
2. Die zum Abſchluß der Ehe nöthigen Förmlichkeiten
richten ſich nicht nothwendig nach dem eben erwähnten Orte
Davon wird weiter unten (§ 381) die Rede ſeyn.
3. Beſonders wichtig und beſtritten iſt die Frage, nach
welchem Geſetze das eheliche Güterrecht zu beurtheilen iſt,
indem gerade hierin die Geſetze ſo ſehr von einander ab-
weichen. Es iſt für jeden einzelnen Fall hauptſächlich zu
entſcheiden zwiſchen dem (Römiſchen) Dotalrecht, und der
(Germaniſchen) Gütergemeinſchaft. Das erſte aber findet
ſich bald rein Römiſch, bald mit Modificationen, die in
Deutſchland ſehr verbreitet ſind. Eben ſo kommt die Gü-
tergemeinſchaft in den verſchiedenſten Abſtufungen vor.
Der Grundſatz nun iſt von keiner Seite beſtritten, daß
ſich das eheliche Güterrecht richtet nach dem Wohnſitz des
Ehemannes (e), nicht nach dem Ort, wo die Ehe abge-
ſchloſſen worden iſt. Allein innerhalb dieſes Grundſatzes
finden ſich zwei große Meinungsverſchiedenheiten.
Erſtlich behaupten Viele, daß dieſer Grundſatz nicht
gelte bei auswärts liegenden Grundſtücken, welche vielmehr
nach der lex rei sitae beurtheilt werden müßten (f). Der
richtigern Meinung nach iſt die lex domicilii auch auf die
auswärtigen Grundſtücke zu beziehen (g). — Da hier die
(e) P. Voet. Sect. 9. C. 2
§ 5. 6. Wächter II. S. 47.
Foelix p. 127.
(f) P. Voet. Sect. 4 C. 3
§ 9. I. Voet. in Pand. XXIII.
2 § 60. Hommel rhaps. Obs.
175. 409 N. 15. Story § 186. 454.
(g) Hert. § 46. Wächter II.
S. 48. Foelix p. 127 — 129.
Schäffner § 106. 107. Damit
ſtimmt überein das Preußiſche
Allg. Landrecht II. 1 § 365—369.
|0350 : 328|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Ortliche Gränzen.
Entſcheidung eben ſo ausfällt, wie oben bei dem Erbrecht,
ſo könnte man auf den Gedanken kommen, auch eine ähn-
liche Begründung, vermittelſt der Zurückführung auf eine
Univerſalſucceſſion, zu verſuchen (§ 376). Eine ſolche aber
darf bei keinem der hier einſchlagenden Rechtsinſtitute an-
genommen werden, namentlich nicht bei der auf das ganze
Vermögen der Frau gerichteten Dos. Der wahre Grund
liegt vielmehr darin, daß die Wahl des örtlichen Rechts
vorzugsweiſe auf freie Unterwerfung zurückgeführt werden
muß (§ 360. Num. 2), daß es aber gewiß nicht mit
Wahrſcheinlichkeit angenommen werden kann, die Ehegatten
hätten die Einrichtung ihrer Vermögensverhältniſſe von dem
ganz zufälligen Umſtand abhängig machen wollen, ob etwa
ein Theil des Vermögens in auswärts liegenden Grund-
ſtücken beſtehe. Die daraus möglicherweiſe hervorgehende
Verſchiedenheit des Güterrechts an verſchiedenen Vermö-
genstheilen könnte zu den größten Verwickelungen und Un-
gewißheiten führen, und iſt daher gewiß nicht als die wahr-
ſcheinliche Abſicht der Parteien anzuſehen.
Eine zweite Streitfrage betrifft den Fall, wenn während
der Ehe der Wohnſitz des Ehemannes verändert wird (g¹).
Hier geht eine erſte Meinung dahin, daß das örtliche
Recht des anfänglichen Wohnſitzes für alle Zeiten beſtim-
mend bleibe, und alſo nicht durch die Wahl des neuen
(g¹) Die Erörterung dieſer wichtigen Streitfrage gehört zur
Erledigung des oben § 344e gemachten Vorbehalts.
|0351 : 329|
§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.
Wohnſitzes geändert werden könne. Der Grund wird meiſt
darin geſetzt, daß in der Eingehung der Ehe der ſtillſchwei-
gende Vertrag enthalten ſey, das Güterrecht nach dem an
dem gegenwärtigen Wohnſitz geltenden Geſetz unabänderlich
einrichten zu wollen (h). Dieſe Meinung halte ich für
richtig; der angegebene Grund wird noch näher geprüft
werden.
Eine zweite Meinung verneint die Annahme eines ſtill-
ſchweigenden Vertrags, und läßt das eheliche Güterrecht
lediglich aus dem am Wohnſitz geltenden Geſetz entſtehen.
Daraus wird gefolgert, daß im Fall eines neu gewählten
Wohnſitzes auch das Geſetz dieſes neuen Wohnſitzes ent-
ſcheiden müſſe, daß alſo jeder Wechſel ein anderes Güter-
recht zur Folge haben könne (i).
Eine dritte, vermittelnde Meinung endlich verwirft, ſo
wie die zweite, die Annahme des ſtillſchweigenden Vertrags,
und läßt gleichfalls nur das Geſetz des zu jeder Zeit vor-
handenen Wohnſitzes entſcheiden, jedoch mit der Maaßgabe,
daß das bei der Gründung der Ehe einmal erworbene
Vermögen unverändert bleibe (als jus quaesitum), und nur
(h) P. Voet. Sect. 9 C. 2
§ 7. I Voet. in Pand. XXIII.
2 § 87. Hert. § 48. 49. Pufen-
dorf II. Obs. 121. Wächter II.
S. 49—55. Schäffner § 109—
114. Foelix p. 130—132. Bü-
low und Hagemann Erör-
terungen B. 6 Num 24. Pfeiffer
praktiſche Ausführungen B. 2
Num. 6. Urtheile der Gerichte
von Celle (1836) und München
(1845) bei Seuffert Archiv B. 1
N. 152.
(i) Eichhorn deutſches Recht
§ 35. g. § 307. d. § 310. e. f.
Story § 187. Andere Schriftſteller
werden angeführt von Wächter II.
S. 49.
|0352 : 330|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
der künftige Erwerb durch das Geſetz des neuen Wohnſitzes
geregelt werden ſoll (k).
Prüfen wir etwas näher die Gründe dieſer Meinungen.
— Für die erſte ſpricht unzweifelhaft ein unbefangenes
Rechtsgefühl. Als die Ehe geſchloſſen werden ſollte, ſtand
es ganz ſicher in dem freien Willen der Frau, die Ehe
entweder ganz zu unterlaſſen, oder an gewiſſe, das Ver-
mögen betreffende, Bedingungen zu knüpfen. Sie hat kei-
nen ſolchen Vertrag geſchloſſen, vielmehr das durch das
Geſetz des Wohnſitzes beſtimmte Güterrecht gelten laſſen,
natürlich alſo auf deſſen ſtete Fortdauer gerechnet. Jetzt
verändert der Mann mit einſeitiger Willkür den Wohnſitz,
wozu er unſtreitig berechtigt iſt, und es ſoll nun ein ganz
anderes Güterrecht für dieſe Ehe herbeigeführt werden. Iſt
damit die Frau zufrieden, ſo iſt unſre ganze Streitfrage
weniger wichtig, da ja auch durch Vertrag eine Aenderung
des Güterrechts hätte bewirkt werden können. Die Frage
iſt aber wichtig, wenn die Veränderung der Frau nach-
theilig, und die Frau damit nicht zufrieden iſt. Gerade
um dieſe, durch Nichts zu rechtfertigende, einſeitige Macht
des Mannes über die Rechte der Frau auszuſchließen,
wurde von den Vertheidigern der erſten Meinung das Da-
ſeyn eines ſtillſchweigenden Vertrages angenommen. Daran
(k) Kierulff S. 78. 79. (am
Schluß der ganzen Note). Puchta
Pandekten § 113 und: Vorleſungen
§ 113. Vgl. darüber Wächter II.
S. 50 (Note 264), und S. 54; er
ſelbſt bekennt ſich zu der erſten
Meinung (Note h).
|0353 : 331|
§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.
nahmen die Gegner Anſtoß, und nicht ganz ohne Grund.
Es läßt ſich aber daſſelbe Ziel erreichen, auch wenn man
den ſtillſchweigenden Vertrag aufgiebt. Unter einem Ver-
trag, dem ſtillſchweigenden wie dem ausdrücklichen, verſte-
hen wir eine übereinſtimmende Willenserklärung, die nicht
ohne beſtimmtes Bewußtſein beider Theile denkbar iſt (l).
Fragen wir nun, ob bei der Eingehung einer Ehe ſtets
ein beſtimmtes Bewußtſein beider Theile, beſonders der
Frau, über das Güterrecht Statt gefunden hat, ſo müſſen
wir Das allerdings verneinen, und daher iſt die allgemeine
Annahme eines ſtillſchweigenden Vertrags unbegründet.
Allein eine freie Unterwerfung, als Begründung des ört-
lichen Rechts, die auch auf negative Weiſe, als bloßer
Nichtwiderſpruch, denkbar iſt (§ 360. Nr. 2), müſſen wir
allgemein annehmen; dieſe iſt für das örtliche Recht
des neuen Wohnſitzes in dem oben vorausgeſetzten Fall
der Meinungsverſchiedenheit durchaus nicht vorhanden, und
ſo müſſen wir für dieſen Fall die Aenderung des Gü-
terrechts, zu deren Annahme es an einem hinreichenden
Grunde fehlt, verneinen, ſelbſt von dem Standpunkt der
Gegner aus, die das Geſetz, und nicht den Vertrag, als
Beſtimmungsgrund für das örtliche Recht anſehen. So
kommen wir in der That, nur auf einem anderen Wege,
auf daſſelbe Ziel, worauf die Annahme des ſtillſchweigen-
den Vertrags führen ſollte (m).
(l) S. o. B. 3 § 140.
(m) Dieſe Begründung der
erſten Meinung, die vielleicht den
Widerſpruch mancher bisherigen
|0354 : 332|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Es wurde hierbei der Fall vorausgeſetzt, daß die Aende-
rung des Güterrechts durch Veränderung des Wohnſitzes
zum Nachtheile der Frau gereiche, und daher ihrem Willen
entgegen ſey. Allein dieſer Fall, in welchem die ungerechte
Folge der entgegenſtehenden Meinung freilich am ſchärfſten
hervortritt, iſt keineswegs der einzige. Wenn ein Beamter
in einen Landestheil verſetzt wird, worin ein anderes ehe-
liches Güterrecht gilt, ſo iſt auch für ihn die Veränderung
des Wohnſitzes unfreiwillig, und vielleicht für beide Ehe-
gatten die Aenderung des Güterrechts unerwünſcht. Sie
würden aber dieſe Aenderung, je nach dem Inhalte des
örtlichen Rechts, vielleicht gar nicht, vielleicht nur durch
läſtige und koſtſpielige Verträge abwenden können.
Folgende Betrachtung wird die hier verſuchte Begrün-
dung noch deutlicher hervor treten laſſen. Wenn ein Ge-
ſetz das Güterrecht der Ehegatten beſtimmt, ſo fragt es ſich
zunächſt, für welche Perſonen daſſelbe zu verfügen die Ab-
ſicht hat. Ganz gewiß denkt der Geſetzgeber an alle Ehen,
die in ſeinem Bereich gegründet werden, und für dieſe will
Gegner beſeitigen dürfte, findet
ſich ſchon bei Schäffner § 114.
— Man könnte etwa den Unter-
ſchied der Auffaſſungen, und die
hier dargebotene Vermittlung, ſo
bezeichnen, daß man dem am Ort
des urſprünglichen Wohnſitzes gel-
tenden Recht nicht ſowohl die Natur
eines ſtillſchweigenden, als eines
fingirten Vertrags zuſchriebe,
ähnlich dem pignus tacite con-
tractum, wobei es auch nicht auf
ein beſtimmtes Bewußtſeyn der
Parteien ankommt. Es iſt dieſes
nur ein anderer Ausdruck; das
Weſen der Sache beſteht in dem
beſtimmten Recht jeder Partei, un-
abhängig von der Willkür der
andern.
|0355 : 333|
§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.
er Das vorſchreiben, welches er theils an ſich für das Zu-
träglichſte hält, theils der bisherigen Sitte des Landes ent-
ſprechend findet. Will er aber dieſe Regel auch den an-
derwärts begründeten, bei ihm neu einwandernden Ehen
aufdrängen? Dazu iſt ein hinreichender Grund nicht vor-
handen, beſonders im Widerſpruch mit dem ſo eben näher
entwickelten Bedenken. Wenn aber das Geſetz, ſeiner wahr-
ſcheinlichen Abſicht nach, auf die einwandernden Ehen gar
nicht zu beziehen iſt, ſo hat für dieſe der von den Gegnern
aufgeſtellte Grund alle Kraft verloren.
Giebt man die hier aufgeſtellten Gründe als richtig zu,
ſo iſt damit die zweite der oben aufgeſtellten Meinungen,
und eben ſo auch die dritte, völlig widerlegt. Die zweite
aber erſcheint noch beſonders hart und ungerecht in
Beziehung auf das ſchon erworbene Vermögen. Wenn
an einem Orte, deſſen Geſetz die allgemeine Güter-
gemeinſchaft ausgedehnteſter Art als Regel aufſtellt, eine
Ehe begründet wird von einem reichen Mann mit einer
armen Frau, ſo wird durch den Abſchluß der Ehe das
Vermögen gemeinſchaftlich. Wird nachher von dem Manne
der Wohnſitz an einen Ort verlegt, an welchem das Dotal-
recht als Regel gilt, ſo müßte die Frau, nach der zweiten
Meinung, den ihr bereits erworbenen Antheil am Vermögen
augenblicklich, und wider ihren Willen, verlieren. Gerade
um dieſem ſchreienden Erfolg zu begegnen, iſt die dritte,
vermittelnde, Meinung aufgeſtellt worden. Allein abgeſehen
davon, daß dieſelbe durch die oben aufgeſtellten Gründe
|0356 : 334|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
gleichfalls widerlegt wird, leidet ſie auch an den gewöhn-
lichen Mängeln halber Maaßregeln. Läßt man das eheliche
Güterrecht für das ſchon vorhandene Vermögen durch den
alten Wohnſitz, für den künftigen Erwerb durch den neuen
beherrſchen, ſo können dadurch Verwicklungen und Wider-
ſprüche entſtehen, die ſich gar nicht voraus überſehen laſſen,
und die eben ſo wenig dem Vortheil, als den Wünſchen
der Ehegatten entſprechen möchten.
Allerdings würde die zweite Meinung angenommen
werden müſſen, wenn etwa in dem neuen Wohnſitz ein
eheliches Güterrecht von ſtreng poſitivem, ausſchließendem
Inhalt beſtehen ſollte. Dieſes würde anzunehmen ſeyn, wenn
daſelbſt ein Geſetz des Inhalts gegeben wäre, daß durchaus
nicht geduldet werden ſolle, eine Ehe anders als nach
Dotalrecht zu begründen, oder, wenn ſie anderwärts be-
gründet war, hier fortzuführen; oder auch anders als nach
dem Recht der Gütergemeinſchaft (m). Ob überhaupt ſolche
Geſetze vorhanden ſind, mag dahin geſtellt bleiben.
Das Preußiſche Geſetz erkennt im Allgemeinen die hier
vertheidigte Meinung an, nach welcher das örtliche Recht
des bei dem Anfang der Ehe beſtehenden Wohnſitzes auch
für alle künftige Zeit entſcheiden ſoll, nur mit zwei unter-
geordneten Modificationen für den Fall, wenn eine mit
Dotalrecht angefangene Ehe an einen neuen Wohnſitz, in
welchem Gütergemeinſchaft gilt, verlegt wird (n).
(m) Wächter II. S. 55. 362.
§ 350—355.
(n) Allg. Landrecht II. 1
|0357 : 335|
§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.
4. Eine beſondere Rückſicht verdienen die Geſetze, wo-
durch die Liberalität eines Ehegatten gegen den andern ein-
geſchränkt werden ſoll, wohin insbeſondere das im Römiſchen
Recht enthaltene Verbot aller Schenkungen unter Ehegatten
gehört.
In dieſer Hinſicht entſcheidet das Geſetz des Wohn-
ſitzes; hier aber nicht das des urſprünglichen Wohnſitzes,
ſondern vielmehr des Wohnſitzes, zu deſſen Zeit die Hand-
lung vorgenommen wurde. Der Grund dieſer, von der
vorhergehenden abweichenden, Entſcheidung liegt darin, daß
Geſetze dieſer Art auf Erhaltung der ſittlichen Reinheit der
Ehe abzwecken, alſo einen ſtreng poſitiven Charakter an ſich
tragen (§ 349). Vergleichen wir dieſen Fall mit dem vor-
her (unter Num. 3.) abgehandelten, ſo wird man nicht be-
haupten können, daß die an einem Ort des Römiſchen
Rechts geſchloſſene, nachher an einen anderen Ort verlegte
Ehe nur unter dem ſtillſchweigenden Vertrag geſchloſſen
worden ſey, daß in derſelben zu keiner Zeit eine wirkſame
Schenkung vorkommen werde. Das Verbot der Schenkung
iſt vielmehr eine reine Beſchränkung der Freiheit, der ſich
die Ehegatten fügen müſſen, kein durch freie Unterwerfung
in die Ehe herüber genommenes Rechtsinſtitut.
Dagegen kann nicht eingeräumt werden, daß die hier
erwähnten Geſetze zu beziehen ſeyn ſollten auf alle in ihrem
Bereich liegende Grundſtücke, auch wenn die Ehe in einem
Lande geführt wird, das eine ſolche Beſchränkung der Frei-
|0358 : 336|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
heit nicht kennt (o). Denn der Zweck dieſer Geſetze iſt nicht
der, von den Sachen eine Gefährdung abzuwenden, gleich
als ob dieſelben durch eine Schenkung unter Ehegatten
Schaden leiden könnten, ſondern vielmehr, wie ſchon er-
wähnt, die Erhaltung ſittlicher Reinheit der Ehe. Der
Geſetzgeber redet alſo zu den in ſeinem Bereich lebenden
Ehegatten, ohne Rückſicht auf die Lage ihres Vermögens.
5. Die Inteſtaterbfolge unter Ehegatten richtet ſich, eben
ſo wie bei Fremden, nach dem letzten Wohnſitz des Erb-
laſſers. In manchen Fällen aber kann es zweifelhaft ſeyn,
ob der Anſpruch auf den Nachlaß aus eigentlicher Inteſtat-
erbfolge, oder vielmehr aus der bloßen Fortwirkung der
während der Ehe beſtehenden Güterverhältniſſe (der Güter-
gemeinſchaft) abzuleiten iſt. Im erſten Fall entſcheidet der
letzte Wohnſitz, im zweiten Fall der Wohnſitz, an welchem
die Ehe angefangen hat, wie oben gezeigt worden iſt
(Num. 3).
Ein ſolcher Zweifel wäre namentlich denkbar bei der
ſchon oben erwähnten, in der Mark Brandenburg geltenden,
Joachimica (§ 378. b). Indeſſen iſt der hier angeordnete
Anſpruch des überlebenden Theils auf die Hälfte des zu-
ſammen geworfenen Vermögens beider Ehegatten in der
That als reine Inteſtaterbfolge, nicht als Ausfluß irgend
einer Art von Gütergemeinſchaft, anzuſehen, alſo nach dem
(o) Dieſes iſt die Meinung von Rodenburg Tit. 2 C. 5 § 1.
I. Voet in Pand. XXIV. 1 § 19. Meier p. 44.
|0359 : 337|
§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.
letzten Wohnſitz zu beurtheilen. Dieſes folgt aus der Ver-
bindung, in welche dieſer Anſpruch mit der ganzen übrigen
Inteſtaterbfolge durch das Geſetz gebracht wird. Jener An-
ſpruch hat daher eine ganz ähnliche Natur mit den im
Römiſchen Recht begründeten Inſtituten: der Bonorum
possessio unde vir et uxor, und der Succeſſion des hinter-
laſſenen dürftigen Ehegatten.
6. Die Eheſcheidung unterſcheidet ſich von den eben
abgehandelten, das Vermögen betreffenden, Rechtsinſtituten
dadurch, daß die Geſetze über dieſelbe auf der ſittlichen
Natur der Ehe beruhen, alſo einen ſtreng poſitiven Charakter
an ſich tragen. Daraus folgt, daß der über ſie urtheilende
Richter nur das Geſetz ſeines Landes befolgen darf, ohne
Rückſicht auf andere Verhältniſſe der Ehegatten (p). Dieſer
Grundſatz aber wird in der Regel wieder auf das am
Wohnſitz des Ehemannes geltende Geſetz führen, weil nur
da ein wahrer Gerichtsſtand über die Eheſcheidung begrün-
det ſeyn wird.
Dabei iſt nicht ſo, wie bei dem Güterrecht, der Wohn-
ſitz zur Zeit der geſchloſſenen Ehe zu beachten, ſondern viel-
mehr der gegenwärtige Wohnſitz. Denn das am früheren
Wohnſitz beſtehende Geſetz kann keinem der Ehegatten ein
Recht, oder auch nur eine begründete Erwartung gegeben
haben, nach demſelben Geſetz auch künftig einmal geſchieden
(p) S. o. § 349. Im Ganzen ſtimmt damit überein Schäffner
§ 124 und Wächter II. S. 184—188.
VIII. 22
|0360 : 338|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
zu werden, da der eben erwähnte Charakter der Scheidungs-
geſetze zu einem anderen Erfolge führt.
Ueber dieſen Gegenſtand aber ſind ſowohl die Meinungen
der Schriftſteller, als die Ausſprüche der Gerichte, außer-
ordentlich verſchieden (q).
§. 380.
V. Familienrecht. B. Väterliche Gewalt.
C. Vormundſchaft.
B. Väterliche Gewalt.
Die Entſtehung der väterlichen Gewalt durch Zeugung
in der Ehe, ſo wie deren denkbare Anfechtung, iſt zu be-
urtheilen nach dem Geſetz des Ortes, an welchem der
Vater zur Zeit der Geburt des Kindes ſeinen Wohnſitz
hatte.
Dagegen ſind die Vermögensverhältniſſe zwiſchen dem
Vater und den Kindern zu beurtheilen nach dem Geſetz,
welches an dem jedesmaligen Wohnſitz des Vaters beſteht,
ſo daß alſo eine Veränderung des Wohnſitzes auch eine
Veränderung dieſer Verhältniſſe nach ſich ziehen kann
(§ 396. II.).
Die Legitimation durch nachfolgende Ehe richtet ſich
nach dem Wohnſitz des Vaters zur Zeit der geſchloſſenen
(q) Schäffner § 118—125. Story Chap. 7.
|0361 : 339|
§. 380. V. Familienrecht. B. Väterliche Gewalt.
Ehe, und die Zeit der Geburt des Kindes iſt dabei gleich-
gültig. Zwar iſt behauptet worden, daß dieſer letzte Zeit-
punkt beachtet werden müſſe, weil das Kind durch die Ge-
burt ſchon ein gewiſſes Rechtsverhältniß begründet habe,
das durch die ſpätere Ehe der Eltern nur zu voller Wirk-
ſamkeit gelange; man ſetzt hinzu, daß außerdem der Vater
einen dem Kind nachtheiligen Wohnſitz vor der Ehe will-
kürlich wählen könne (a). Allein von einem Rechte ſolcher
Kinder, alſo auch von einer Verletzung deſſelben, kann gar
nicht die Rede ſeyn, da es in der freien Willkür des
Vaters ſteht, nicht nur die Ehe mit der Mutter des Kindes
zu unterlaſſen, ſondern, ſelbſt wenn er dieſe Ehe ſchließt,
das Kind nicht anzuerkennen. In beiden Fällen aber
erlangt das Kind kein Recht der Legitimität, da ein wahrer
Beweis der außerehelichen Kinderzeugung unmöglich iſt, mit-
hin die freie Anerkennung allein noch neben der Ehe, und
unabhängig von derſelben, dem Kinde die Rechte der ehe-
lichen Geburt verſchaffen kann (b).
(a) Schäffner § 37.
(b) So iſt es nach gemeinem
Recht. Im Römiſchen Recht tritt
dieſer Satz weniger ſichtbar hervor,
da die Legitimation nur auf Con-
cubinenkinder (naturales) ging,
bei welchen die Paternität faktiſch
faſt eben ſo ſicher war, wie bei
den ehelichen. Wir haben keine
naturales, ſondern nur spurii,
und bei dieſen hängt gewiß Alles
allein von der ganz willkürlichen
Anerkennung des Vaters ab. —
Allerdings ſieht das Preußiſche
Recht den Beweis des bloßen Bei-
ſchlafs in einer gewiſſen Zeit vor
der Geburt ſchon als Beweis der
Paternität an (A. L. R. II. 1
§ 1077). Dennoch läßt es bei
der Legitimation durch Ehe die
Rechte der ehelichen Geburt erſt
von der Trauung anfangen (A. L.
R. II. 2 § 598). Daher muß
auch nach dem Sinn des Landrechts
22*
|0362 : 340|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
So weit, als Engliſches Recht gilt, wird wiederum an-
genommen, daß der Einfluß der väterlichen Gewalt und
der Legitimation auf auswärts liegende Grundſtücke nicht
nach der lex domicilii, ſondern nach der lex rei sitae be-
urtheilt werden müßte (c).
C. Vormundſchaft.
Die Vormundſchaft unterſcheidet ſich weſentlich von den
bisher abgehandelten Rechtsinſtituten. Nur im älteſten
Römiſchen Recht konnte ſie als ein rein privatrechtliches
Verhältniß angeſehen werden. Seitdem hat ſie immer mehr
den Charakter angenommen, der im heutigen gemeinen Recht
in Deutſchland, eben ſo, wie in anderen Geſetzgebungen,
ausſchließend wahrzunehmen iſt. Die Vormundſchaft er-
ſcheint nunmehr als Ausübung des Schutzes, welchen der
Staat der häufigſten und wichtigſten Klaſſe von Schutz-
bedürftigen (Unmündige und Minderjährige) zu gewähren
berechtigt und verpflichtet iſt. So aufgefaßt, gehört die
Vormundſchaft, ihrem eigentlichen Weſen nach, dem öffent-
lichen Recht an, und nur einzelne Folgen derſelben fallen
dem Gebiete des Privatrechts anheim. Dieſer Auffaſſung
aber iſt es auch angemeſſen, daß die Vormundſchaft nicht
die Legitimation verneint werden,
wenn der Vater vor der Trauung
den Wohnſitz in ein Land des ge-
meinen Rechts verlegt, und nun
die Anerkennung des Kindes ver-
weigert.
(c) Story § 456 § 87. Mit
Recht erklärt ſich dagegen Schäff-
ner § 39.
|0363 : 341|
§. 380. V. Familienrecht. C. Vormundſchaft.
blos in verſchiedenen Ländern verſchiedenes Recht hat, ſon-
dern auch in einem und demſelben Lande einer freieren Be-
handlung von Seiten öffentlicher Behörden unterliegt, als
die dem reinen Privatrecht angehörenden Rechtsverhältniſſe.
Dieſe Verſchiedenheiten zeigen ſich nicht blos in den Rechts-
regeln ſelbſt, ſondern ſelbſt in der Annahme des ört-
lichen Rechts, von welchem jene Regeln beſtimmt werden
ſollen.
Ich wende mich nun zu den wichtigſten einzelnen Rechts-
fragen.
1. Errichtung der Vormundſchaft.
Als Regel wird ganz richtig angenommen, daß das ört-
liche Recht des Wohnſitzes des Mündels, welcher in der
Regel mit dem letzten Wohnſitz des verſtorbenen Vaters
zuſammen fällt, für die Errichtung der Vormundſchaft be-
ſtimmend iſt, und daß dieſe Vormundſchaft dann auch das
anderwärts liegende Vermögen des Mündels umfaßt (d).
Es kommen dabei aber folgende Abweichungen in Be-
tracht.
Erſtlich, wenn unbewegliches Vermögen des Mündels
unter einer anderen Gerichtsbarkeit, vielleicht in einem frem-
den Lande liegt. Hier kann es geſchehen, daß für dieſe
Vermögenstheile eine beſondere Vormundſchaft errichtet wird,
ſo daß dann derſelbe Mündel mehrere Vormünder von ört-
(d) P. Voet. Sect. 9 C. 2 § 17. I. Voet. in Pand. XXVI. 5
§ 5. Schäffner § 41.
|0364 : 342|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
lich verſchiedenen Sprengeln hat (e). — Eine ſolche Ein-
richtung kommt ſchon im Römiſchen Rechte vor. Zwar
der teſtamentariſche und der geſetzliche Vormund war an
eine ſolche örtliche Verſchiedenheit nicht gebunden. Wenn
dagegen die Obrigkeit Vormünder über ein zerſtreutes Ver-
mögen zu beſtellen hatte, ſo wurden dieſe für jede ſouve-
räne Gerichtsbarkeit beſonders beſtellt, andere für res Itali-
cae, andere für res provinciales (f). — Nach der Preußi-
ſchen Geſetzgebung wird in der Regel Eine Vormundſchaft
für das ganze Vermögen errichtet, und zwar nach dem am
Wohnſitz des Vaters geltenden örtlichen Recht; die ſpätere
Aenderung des Wohnſitzes ſoll darauf nur ausnahmsweiſe
Einfluß haben. Ueber auswärts liegende Vermögenstheile
können beſondere Curatelen errichtet werden, die ſich mit
der eigentlichen Vormundſchaft in Verbindung zu ſetzen
haben (g). In Verträgen der Preußiſchen Regierung mit
Nachbarſtaaten iſt beſtimmt, daß die Vormundſchaft einge-
richtet werden ſoll nach dem Wohnſitz des Mündels; wenn
derſelbe jedoch Grundſtücke in dem andern Lande beſitzt,
ſoll das Gericht dieſes andern Landes die Wahl haben[,]
dieſe Grundſtücke der allgemeinen Vormundſchaft zu unter-
werfen, oder dafür eine beſondere Vormundſchaft zu errich-
(e) Vgl. die in der Note d.
angeführten Schriftſteller.
(f) L. 39 § 8 de admin.
(26. 7), L. 27 pr. de tutor.
et cur. (26. 5).
(g) A. L. R. II. 18 § 56.
81—86.
|0365 : 343|
§. 380. V. Familienrecht. C. Vormundſchaft.
ten (h). — Vorzüglich ſchwankend iſt die Praxis in den
Ländern des Engliſchen Rechts, indem in dieſen theilweiſe
beſondere Vormundſchaften beſtellt werden, nicht blos über
das unbewegliche, ſondern auch über das bewegliche, aus-
wärts liegende Vermögen (i).
Zweitens aber kann, ſelbſt ohne Rückſicht auf die ört-
liche Lage des Vermögens, das individuelle Bedürfniß eine
eingreifende Aenderung in den aufgeſtellten Grundſatz recht-
fertigen, beſonders wenn, nach den Familienverhältniſſen,
dem letzten Wohnſitz des Vaters kein Einfluß zuzuſchreiben
iſt auf den künftigen Zuſtand der Mündel. Ein aus dem
wirklichen Leben entnommener Fall wird dieſe Behauptung
anſchaulich machen. Ein Familienvater ſtarb in ſeinem
Wohnſitz Bonn, wo der Sitz ſeines Vermögens, insbeſon-
dere mehrerer Grundſtücke, war. Die Kinder verlegten ſo-
gleich, nach den Beſtimmungen des väterlichen Teſtaments,
ihren Wohnſitz zu einer entfernten Verwandten außerhalb
des Preußiſchen Staats. Gleichfalls das Teſtament hatte
die Vormundſchaft einem Einwohner von Berlin aus per-
ſönlichem Vertrauen, und mit ſehr freier Verwaltung, über-
tragen. Nach dem oben aufgeſtellten Grundſatz hätte die
Vormundſchaft in Bonn, nach Franzöſiſchem Recht, errich-
tet und geführt werden müſſen. Allein das Juſtizminiſte-
rium, als höchſte vormundſchaftliche Aufſichtsbehörde des
(h) Vertrag mit Königreich Sachſen 1839 Art. 15, gleichlautend
mit anderen Staaten. (S. o. § 348).
(i) Schäffner § 41.
Story §. 492 fg.
|0366 : 344|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ganzen Staats, verlegte die Vormundſchaft nach Berlin,
wodurch die Obervormundſchaft an das Kurmärkiſche Pu-
pillencollegium in Berlin überging, und zugleich die Preußi-
ſche Geſetzgebung anwendbar wurde.
2. Verwaltung der Vormundſchaft.
Daß die Verwaltung der Vormundſchaft in der Regel
ſich richtet nach dem Recht des Gerichts, unter welchem ſie
entſtanden iſt und geführt wird, kann nicht bezweifelt wer-
den. Der Zweifel betrifft hier wiederum den Fall, wenn
zu dem Vermögen auswärts liegende Grundſtücke gehören,
und dieſe nicht von einer beſonderen Vormundſchaft ver-
waltet werden (wie es nach Num. 1 geſchehen kann), ſon-
dern von der allgemeinen Vormundſchaft.
In dieſer Beziehung wird von Manchen behauptet, daß nach
einer allgemeinen Praxis in Anſehung jener Grundſtücke, beſon-
ders der Veräußerung derſelben, die lex rei sitae beobachtet
werden müſſe, ſo daß dann die Verwaltung deſſelben Vor-
mundes nach verſchiedenen Geſetzen zu beurtheilen ſeyn
würde (k). Offenbar nimmt man dabei an, das Geſetz
über die Veräußerung der Pupillengüter ſey ein Realſtatut.
— Ich kann dieſe Behauptung weder grundſätzlich, noch
mit Hinſicht auf die angebliche allgemeine Praxis, ein-
räumen.
(k) Schäffner § 41. —
Etwas vorſichtiger iſt der Ausdruck
von P. Voet. Sect. 9 C. 2 § 17.
Er hält es für räthlich, daß ſich
der Vormund bei der Veräußerung
durch ein Decret beider Gerichts-
behörden ſicher ſtelle.
|0367 : 345|
§. 380. V. Familienrecht. C. Vormundſchaft.
Zuerſt nicht grundſätzlich. Wenn ein Geſetz verordnet,
daß Pupillengüter nur unter gewiſſen Einſchränkungen
(etwa Subhaſtation, gerichtliches Decret u. ſ. w.) ver-
äußert werden ſollen, ſo liegt darin eine vorſorgliche Maaß-
regel — nicht für dieſe Güter, als Gegenſtände eines wün-
ſchenswerthen ſicheren Verkehrs, als Grundlagen vortheil-
hafter Fruchterzeugung (durch dieſe Abſichten würde ſich
das Geſetz als Realſtatut darſtellen), ſondern — für die
ſchutzbedürftige Perſon des Mündels. Zur Sicherheit deſ-
ſelben werden gewiſſe Formen der Veräußerung gefordert,
und nur wenn dieſe beobachtet ſind, ſoll die Handlung des
veräußernden Vormundes gleiche Wirkung haben mit der
Veräußerung eines volljährigen Eigenthümers. Ein ſolches
Geſetz alſo zweckt ab auf die Ergänzung der Handlungen
des Vormundes, es iſt ein Perſonalſtatut, kein Realſtatut.
Mit anderen Worten: Der Geſetzgeber verfügt über die
unter ſeinem Schutze ſtehenden Minderjährigen, nicht über
die in ſeinem Lande liegenden Güter.
Aber auch die allgemeine Praxis möchte leichter zu be-
haupten, als zu beweiſen ſeyn, wie es denn überhaupt mit
allgemeinen Angaben ſolcher Art ſehr mißlich iſt. Ich will
einen hierher gehörenden, ſehr erläuternden Rechtsfall an-
führen (l). Ein Mündel aus ſtandesherrlicher Familie
lebte in Baiern, und hatte daſelbſt ſeine Vormundſchaft.
(l) Urtheil des Caſſationshofes zu Berlin von 1847 in Sachen
Baſſenheim contra Raffauf. S. Seuffert Archiv B. 2 N. 2.
|0368 : 346|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Er beſaß Grundſtücke in der Preußiſchen Rheinprovinz,
über welche daſelbſt keine beſondere Vormundſchaft errichtet
worden war. Die Bairiſchen Vormünder verkauften die
Grundſtücke aus freier Hand, ohne Subhaſtation. Nach
erlangter Volljährigkeit griff der vormalige Eigenthümer
den Verkauf als nichtig an, weil die Franzöſiſchen Geſetze
über Veräußerung der Pupillengüter nicht beobachtet wor-
den ſeyen (m). In allen Inſtanzen wurde dieſer Grund
zurückgewieſen, weil die angeführten geſetzlichen Einſchrän-
kungen ein unzertrennliches Ganze bildeten, und mehrere
Beſtandtheile derſelben (Familienrath und subrogé tuteur)
auf Vormundſchaften des Auslandes völlig unanwendbar
wären. Dieſe Geſetze alſo ſeyen überhaupt nur anzuwen-
den auf die im Bereich der Franzöſiſchen Geſetzgebung ſte-
henden Vormundſchaften, nicht auf alle daſelbſt liegende
Grundſtücke.
Die oben angeführten Verträge der Preußiſchen Regie-
rung mit Nachbarſtaaten (Note h) geben dem Perſonal-
vormund, der Grundſtücke im Auslande zu verwalten hat,
folgende Vorſchrift: „welcher letztere jedoch, bei den auf
das Grundſtück ſich beziehenden Geſchäften, die am Orte
des gelegenen Grundſtücks geltenden geſetzlichen Vorſchriften
zu beobachten hat.“ Nimmt man dieſe Stelle in der größten
(m) Code civil art. 457—460.
Es wird erfordert: 1) Beſchluß
eines Familienraths unter Mit-
wirkung des Gerichts erſter Inſtanz,
2) Subhaſtation in Gegenwart des
subrogé tuteur (erwählt vom
Familienrath art. 420) und unter
Mitwirkung des Gerichts oder eines
Notars.
|0369 : 347|
§. 380. V. Familienrecht. C. Vormundſchaft.
Ausdehnung, deren die Worte empfänglich ſind, ſo müſſen
ſie auch auf die Einſchränkungen vormundſchaftlicher Ver-
äußerungen bezogen werden, und beſtimmen dann das Ge-
gentheil von der ſo eben angeführten und gebilligten rich-
terlichen Entſcheidung. Ich würde aber geneigt ſeyn, in
der Stelle eine etwas ungenaue Faſſung voraus zu ſetzen,
und ſie gar nicht auf die geſetzlichen Vorſchriften über die
Vormundſchaft zu beziehen, ſondern nur auf die den
allgemeinen Verkehr mit Grundſtücken betreffenden Vor-
ſchriften, wie Hypothekenbeſtellung, gerichtliche Confirmation,
Verlautbarung u. ſ. w.
3. Zuletzt ſind noch die perſönlichen Rechtsverhältniſſe
des Vormundes zu erwähnen.
Ueber die Verpflichtung zur Uebernahme der Vormund-
ſchaft, und die dagegen zuläſſigen Excuſationen, kann
nur das am Wohnſitz des Vormundes geltende Geſetz ent-
ſcheiden.
Auf die Obligationen, in die der Vormund eintritt durch
Führung der Vormundſchaft, ſind die oben aufgeſtellten
Grundſätze über den Gerichtsſtand und das damit zuſam-
menhängende örtliche Recht zu beziehen (§ 370. Num. 2.
§ 372).
Wo das obervormundſchaftliche Gericht verſchieden iſt
von dem perſönlichen Richter des Vormundes, und auch
von dem Gericht, dem das beſondere forum gestae admi-
nistrationis zuzuſchreiben ſeyn würde, iſt neuerlich aus
Gründen der Zweckmäßigkeit behauptet worden, das ober-
|0370 : 348|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
vormundſchaftliche Gericht müſſe ſtets als competent ange-
ſehen werden (n). Eine ſolche allgemeine Behauptung iſt
ſchon deswegen bedenklich, weil ſtets die Gerichtsverfaſſung
jedes Landes zu beachten ſeyn wird. Sie iſt aber auch
an manchen Orten als unmöglich zu verwerfen, nämlich
da, wo die obervormundſchaftliche Gerichtsbehörde gar keine
gewöhnliche Civiljurisdiction hat.
§. 381.
VI. Formen der Rechtsgeſchäfte. (Locus regit actum.)
Nachdem die einzelnen Rechtsverhältniſſe, in Beziehung
auf das anwendbare örtliche Recht, der Reihe nach geprüft
worden ſind, bleibt noch die Darſtellung einer beſonderen
Rechtsregel übrig, die deswegen abgeſondert und an das
Ende der ganzen Unterſuchung geſtellt werden mußte, weil
ſie auf die meiſten und wichtigſten der abgehandelten Rechts-
verhältniſſe Anwendung findet.
Dieſe Regel bezieht ſich auf die für Rechtsgeſchäfte nicht
ſelten vorgeſchriebenen poſitiven Formen der Willens-
erklärung (a). Hierin gerade kommen ſehr häufig Colli-
ſionen verſchiedener örtlichen Rechte vor, und zwar in
mancherlei Weiſe. Das eine Geſetz kann eine poſitive Form
als nothwendig vorſchreiben, das andere nicht; eben ſo
können auch in beiden Geſetzen Formen vorgeſchrieben ſeyn,
(n) Mühlenbruch Archiv B. 19 S. 362—365.
(a) Ueber die Natur dieſer Formen vgl. oben B. 3 § 130. 131.
|0371 : 349|
§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).
jedoch verſchiedene Formen. In allen Fällen ſolcher Art
entſteht nun die Frage, welches örtliche Recht auf ein be-
ſtimmtes Rechtsgeſchäft, in Beziehung auf deſſen Form,
anwendbar iſt; daraus allein wird in vielen Fällen die
Gültigkeit oder Ungültigkeit des Geſchäfts zu erkennen ſeyn.
Faſſen wir dieſe Frage von dem allgemeinen Stand-
punkt auf, von welchem aus die ganze bisherige Unter-
ſuchung geführt worden iſt, ſo können wir über die Ant-
wort kaum zweifelhaft ſeyn. Wir müſſen, ſo ſcheint es,
die erforderliche Form nach demjenigen örtlichen Recht ab-
meſſen, dem das Rechtsgeſchäft überhaupt nach den bisher
aufgeſtellten Regeln unterworfen iſt. Demnächſt müßten
Verträge geſchloſſen werden nach den geſetzlichen Formen
des verabredeten Erfüllungsortes, Teſtamente errichtet nach
den Formen, die im Wohnſitz des Teſtators gelten, Ehen
geſchloſſen nach den im Wohnſitz des Ehemannes vorge-
ſchriebenen Formen. Die Beobachtung dieſer Regel hat
auch weder Zweifel, noch Schwierigkeit, wenn das Rechts-
geſchäft gerade an dieſen Orten zu Stande kommt. Allein
es geſchieht ſehr oft, daß die Gründung des Geſchäfts an
einem ganz anderen, vielleicht weit entfernten, Orte vorge-
nommen wird, und dieſer Umſtand kann die größten
Schwierigkeiten zur Folge haben.
An dem Orte, wo das Rechtsgeſchäft zu Stande kommen
ſoll, wird es oft ſehr ſchwer ſeyn, die geſetzlichen Formen
jenes anderen, eigentlich maaßgebenden, Ortes mit Sicher-
heit zu erfahren, oder, wenn man ſie kennt, zur Anwen-
|0372 : 350|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
dung zu bringen; ja dieſes Letzte wird oft völlig unmöglich
ſeyn, wie es in dem folgenden Beiſpiel anſchaulich werden
muß. Wenn ein Preuße in Frankreich erkrankt, und ein
Teſtament zu machen wünſcht, ſo müßte er dazu, nach der
oben vorläufig aufgeſtellten Regel, die Mitwirkung eines
Gerichts gebrauchen, da das Preußiſche Recht keine anderen
Teſtamente, als gerichtliche, anerkennt. In Frankreich aber
hat kein Gericht die Befugniß, bei einem Teſtamente thätig
zu ſeyn, da dieſes Geſchäft lediglich den Notarien zu-
kommt (b). Daher würde jener Preuße genöthigt ſeyn, die
Errichtung eines Teſtaments völlig zu unterlaſſen, vielleicht
zum größten Nachtheil der Familie.
Die nahe liegende Erwägung der in dieſen Umſtänden
liegenden großen Härte, wodurch Rechtsgeſchäfte zuweilen
ganz unmöglich werden, noch öfter in die Gefahr der Un-
gültigkeit durch mangelhafte Ausführung kommen, und
zwar beides nur in Folge von geſetzlichen Formen, die ge-
wiß nicht zur Hemmung und Erſchwerung des Verkehrs
eingeführt ſind, — dieſe Erwägung hat ſchon ſeit dem
ſechszehenten Jahrhundert mit ſtets ſteigender Ueberein-
ſtimmung ein allgemeines Gewohnheitsrecht herbeigeführt,
welches an die Stelle der oben vorläufig aufgeſtellten Re-
gel tritt, und die eben dargeſtellten Schwierigkeiten beſeitigt.
Die neu gebildete Regel wird ſo ausgedrückt: Locus regit
actum, und hat den Sinn, daß die Form eines Rechtsge-
(b) Code civil art. 971—979.
|0373 : 351|
§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).
ſchäfts als genügend angeſehen werden ſoll, wenn ſie dem
Geſetz des Ortes entſpricht, an welchem das Geſchäft vor-
genommen wird, ſelbſt wenn an dem Ort, wo das Rechts-
verhältniß ſelbſt ſeinen Sitz hat, eine andere Form geſetzlich
vorgeſchrieben iſt. Dieſe Regel wird von den Schriftſtellern
verſchiedener Zeiten und Nationen übereinſtimmend aner-
kannt (c).
Wir haben zunächſt die Anwendung dieſer wichtigen
Regel auf die einzelnen Arten der Rechtsverhältniſſe genauer
zu betrachten. Bei dem üblichen allgemeinen Ausdruck der-
ſelben möchte man leicht annehmen, daß ſie auf alle Ver-
hältniſſe anwendbar, und bei allen von gleich wichtiger
und häufiger Anwendung wäre. Die genauere Erwägung
wird dieſe Annahme einigermaßen beſchränken.
I. Bei dem Zuſtand der Perſon an ſich wird ſich kaum
eine Anwendung jener Regel finden, da hier die bloße
Willenserklärung, auf deren geſetzliche Form allein die
Regel ſich bezieht, wenig Einfluß hat. So würde es ganz
irrig ſeyn, anzunehmen, daß ein Minderjähriger die Voll-
jährigkeit, oder ein Ehrloſer die Herſtellung der Ehre, in
einem fremden Lande erlangen könnte durch einen Ausſpruch
der höchſten Gewalt in jenem Lande, nach der Regel:
locus regit actum. Denn dieſe Veränderungen des Zu-
(c) P. Voet. Sect. 9 C. 2 Foelix p. 97 fg. Schäffner
§ 9. I. Voet. §. 13—15. Hert. § 73—85. Wächter II. S. 368
§ 10. 23. Eichhorn deutſches bis 380 und S. 405 fg.
Recht § 37. Story § 260. 261.
|0374 : 352|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
ſtandes werden gar nicht bewirkt durch eine Willenserklärung
der betheiligten Perſon, für deren gehörige Form nur zu
ſorgen wäre. Sie können vielmehr nur hervorgehen aus
einer freien Entſchließung der höchſten Staatsgewalt, und
zwar derjenigen Gewalt, welcher die betheiligte Perſon als
Unterthan unterworfen iſt.
II. Auch auf die das Sachenrecht betreffenden Rechts-
geſchäfte kann jener Regel kein bedeutender Einfluß zuge-
ſchrieben werden, und zwar hier aus folgendem Grunde.
Es muß erinnert werden an einen, oben zu einem andern
Zweck bemerklich gemachten, durchgreifenden Unterſchied
unter den menſchlichen Handlungen (S. 212). Es giebt
Handlungen, die an ſich überall gleich möglich ſind, ſo
daß es nur von zufälligen Umſtänden abhängt, ob ſie hier
oder dort vorkommen. Dahin gehören die obligatoriſchen
Verträge, die Errichtung eines Teſtaments u. ſ. w. Es
giebt aber andere Handlungen, die ihrer Natur nach nur
an Einem Orte vorkommen können. Dahin gehören die
meiſten und wichtigſten in das Gebiet des Sachenrechts
einſchlagenden Handlungen. In demſelben iſt überall die
lex rei sitae herrſchend (§ 366), und auch die einflußreichen
Handlungen ſtehen darin meiſt in ſo naher Beziehung zu
der Sache ſelbſt, daß ſie nur da, wo ſich die Sache eben
befindet, gedacht werden können. Dahin gehört vor Allem
die Tradition; eben ſo aber auch eine Reihe blos förmlicher
Handlungen, wie die gerichtliche Auflaſſung, die Eintragung
in Hypothekenbücher u. ſ. w., die nur bei einer an einen
|0375 : 353|
§. 381. IV. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).
beſtimmten Ort gebundenen Behörde möglich ſind. — Die
Regel: locus regit actum, bezieht ſich nun, ihrer Natur
nach, lediglich auf Handlungen der erſten Art, weil nur
bei dieſen der Ort, wo die Handlung vorgenommen wird,
von dem wahren Sitz des Rechtsverhältniſſes zufällig ver-
ſchieden ſeyn, und dadurch eine künſtliche Aushülfe nöthig
machen kann. Eben daher aber iſt dieſelbe auf die meiſten
und wichtigſten, das Sachenrecht betreffenden, Handlungen
ohne Anwendung. Dieſe Bemerkung beſchränkt ſich auch
nicht auf unbewegliche Sachen, ſie iſt vielmehr an ſich
wahr auch bei beweglichen, bei welchen gleichfalls die Tra-
dition nur da geſchehen kann, wo ſie gerade ſind. Nur iſt
bei den beweglichen Sachen dieſer Umſtand wenig erheblich
und bemerklich, weil der Beſitzer den Ort derſelben jederzeit
willkürlich verändern kann, wodurch ſie augenblicklich einer
neuen lex rei sitae unterworfen werden.
Der Grund der Unanwendbarkeit jener Regel auf die
dinglichen Rechte iſt alſo weſentlich derſelbe mit dem bei
dem Zuſtand der Perſon an ſich geltend gemachten Grunde.
Er liegt darin, daß bei den dinglichen Rechten der Wille
an ſich nicht das Entſcheidende iſt, ſondern daß es auf die
Beziehung ankommt, in welche die Perſon mit der Sache,
als dem Gegenſtand des dinglichen Rechts, tritt. Dieſe
Beziehung kann nun unter Anderem, nach der Beſtimmung
mancher poſitiven Rechte, in einer bloßen Willenserklärung
beſtehen, dieſer Umſtand aber iſt an ſich zufällig, dem
Weſen des dinglichen Rechts fremd.
VIII. 23
|0376 : 354|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
III. Auf Obligationen, vorzüglich auf obligatoriſche
Verträge, ſteht der ausgedehnteſten Anwendung unſrer
Regel Nichts im Wege (d), obgleich dieſe Art der An-
wendung weniger häufig zur Sprache kommt. Einige Bei-
ſpiele werden dieſelbe anſchaulich machen.
In manchen Geſetzen ſind für die obligatoriſchen Ver-
träge über Grundſtücke beſondere Formen erforderlich (welche
von der Uebertragung des Eigenthums ganz verſchieden
ſind), anſtatt daß das Römiſche Recht ſolche Formen nicht
kennt. Nach unſrer Regel nun hat es kein Bedenken, daß
die Gültigkeit einer ſolchen Handlung abgemeſſen werden
muß nach dem Geſetz des Ortes, wo der Vertrag geſchloſſen
wird, ohne Rückſicht auf die lex rei sitae. Ich habe dieſen
Fall beſonders hervor, um darauf aufmerkſam zu machen,
daß im Preußiſchen Recht das Gegentheil ausdrücklich vor-
geſchrieben iſt (e). Darin liegt alſo eine entſchiedene, mit
Abſicht und Bewußtſeyn vorgeſchriebene einzelne Ausnahme
der Regel: locus regit actum.
(d) Wächter II. S. 405.
(e) Allg. Landrecht I. 5 § 115.
„In allen Fällen, wo unbeweg-
liche Sachen, deren Eigenthum,
Beſitz oder Nutzung, der Gegen-
ſtand eines Vertrages ſind, müſſen
wegen der Form die Geſetze des
Ortes, wo die Sache liegt, beob-
achtet werden:“ Das Preußiſche
Recht fordert aber für alle Ver-
träge über Grundſtücke ſchriftliche
Abfaſſung, welches freilich nicht
ganz ausdrücklich geſagt iſt, aber
doch unzweifelhaft folgt aus I. 5
§ 135, I. 10 § 15—17, I. 21
§ 233, und auch ſchon daraus,
daß der Gegenſtand ſolcher Ver-
träge faſt immer mehr, als Funfzig
Thaler (I. 5 § 131), werth ſeyn
wird. Als Regel für Verträge
überhaupt gilt dagegen der Satz:
locus regit actum (I. 5 § 111),
und dieſe Regel wird bei den außer
Landes geſchloſſenen Verträgen über
|0377 : 355|
§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).
Die Beweiskraft eines Handelsbuches iſt zu beurtheilen
nach dem Geſetz des Ortes, an welchem das Buch geführt
wird (f). Zwar ſcheint dieſe Beweiskraft dem Prozeßrecht
anzugehören, und daher dem Geſetz des Gerichtsortes unter-
worfen werden zu müſſen. Allein die Beweiskraft iſt hier
unzertrennlich verbunden mit der Form und Wirkſamkeit des
Rechtsgeſchäfts ſelbſt, welche hierin als das Ueberwiegende
betrachtet werden muß. Der Fremde, der ſich mit dem
Kaufmann eines Ortes, an welchem Handelsbücher gelten,
einläßt, unterwirft ſich dem örtlichen Recht derſelben.
Die formelle Gültigkeit jeder einzelnen, unter einem
Wechſel ſtehenden Unterſchrift iſt zu beurtheilen nach dem
Recht des Ortes, an welchem dieſe Unterſchrift darunter ge-
ſetzt wird (g).
IV. Die wichtigſte, und von jeher am meiſten be-
ſprochene, Anwendung unſrer Regel iſt die auf die Ab-
faſſung eines Teſtaments, wenn ſich der Teſtator zufällig
außer ſeinem Wohnſitze befindet. Hierüber iſt, was die
Regel ſelbſt betrifft, ſchon längſt allgemeine Uebereinſtimmung
vorhanden (h).
bewegliche Sachen anerkannt, auch
wenn vor Preußiſchen Gerichten
geklagt wird. I. 5 § 148.
(f) Urtheil des Ober-Apella-
tionsgerichts zu Caſſel 1826.
Seuffert Archiv B. 1 Num. 132.
(g) Urtheil des Reviſionshofes
zu Berlin 1844. Seuffert Archiv
B. 2 Num. 121.
(h) Rodenburg Tit. 2 C. 3
§ 1—3. Vinnius selectae quaest.
II. 19. Hert. § 23. Wächter
II. S. 368—380. Zur Zeit des
Durantis war die Frage noch
ſehr beſtritten. Speculum II.
tit. de instrum. edit. § 12
Num. 16.
23*
|0378 : 356|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Zwei Abweichungen aber kommen bei dieſer Anwendung
vor. — Im Bereiche des Engliſchen Rechts ſoll die Regel
zwar gelten, jedoch ſoll das Teſtament nicht einwirken auf
auswärts liegende Grundſtücke (i). Die Unterſcheidung des
beweglichen und unbeweglichen Vermögens ſcheint jedoch
für die Anwendung der hier vorliegenden Regel noch
weniger Sinn und Grund zu haben, als in anderen Be-
ziehungen. — Ein neuerer Schriftſteller fügt folgende Ein-
ſchränkung hinzu. Das Teſtament ſoll gültig ſeyn, wenn
der Teſtator im Ausland ſterbe. Kehre er aber in die
Heimath zurück, ſo verliere es ſeine Gültigkeit, wenigſtens
in dem Fall, wenn dieſe Art der Teſtamente in dem ein-
heimiſchen Rechte unbekannt ſey (k). Ich glaube nicht, daß
dieſe Einſchränkung grundſätzlich gerechtfertigt werden kann,
und ſie ſcheint auch bei Anderen keinen Anklang gefunden
zu haben. Indeſſen würde allerdings ein vorſichtiger Haus-
vater wohl thun, in der Heimath ein neues Teſtament zu
errichten, um jedem, von dieſer Seite aus möglichen, künf-
tigen Einwand ganz ſicher vorzubeugen.
V. Für den Abſchluß der Ehe wird allgemein ange-
nommen, daß unſere Regel anzuwenden ſey (l). Indeſſen
ſcheint mir die Sache nicht ohne Bedenken. Wenn die Ein-
(i) Story § 474. 478.
(k) Eichhorn deutſches Recht
§. 37.
(l) Hert. § 10. Schäffner
§ 100. 101. Story § 121 fg. Es
iſt bemerkenswerth, daß die Theorie
und Praxis des Engliſchen Rechts
gerade in dieſer Anwendung ſehr
unbedenklich zu ſeyn ſcheint.
|0379 : 357|
§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum.)
wohner eines Landes, deſſen Geſetz blos juriſtiſche Formen
zum Abſchluß einer Ehe erfordert, im Ausland eine Ehe
ſchließen, ſo hat die Sache keinen Zweifel. Anders aber
verhält es ſich mit den Einwohnern eines Landes, deſſen
Geſetz die Ehe an die kirchliche Trauung bindet. Denn
ein ſolches Geſetz hat einen ſittlich religiöſen Grund, alſo
einen zwingenden Charakter (§ 349). Aus dieſem Grunde
würde ich die nachzuholende Trauung im Inlande für nöthig
halten, nicht aber deswegen, weil angenommen werden
müßte, daß die Ehegatten in fraudem legis im Ausland
ihre Ehe geſchloſſen hätten, welche Abſicht vielleicht gar
nicht vorhanden, oder doch nicht erweislich ſeyn wird.
Wenn aber auch die Trauung erſt nachgeholt wird, ſo
muß doch, ſelbſt nach den Grundſätzen des gemeinen Rechts,
die Ehe für die bereits vergangene Zeit als gültig und
wirkſam angeſehen werden. — Auf die ſchon beſtehende
Ehe fremder Perſonen, die in das Land einwandern, kann
indeſſen jener ſtrengere Grundſatz in keinem Fall bezogen
werden. Denn ein Geſetz des hier erwähnten Inhalts, mit
ſeinem zwingenden Charakter, bezieht ſich nur auf die Ein-
gehung von Ehen, nicht auf die Fortführung der ſchon
beſtehenden.
Zum Schluß ſind noch einige allgemeine Bemerkungen
nachzutragen.
|0380 : 358|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
Manche haben behauptet, unſere Regel gelte nicht, wenn
ein Geſchäft im Ausland, zur Umgehung der einheimiſchen
Geſetze (in fraudem legis), vorgenommen werde, etwa um
den größeren Geſchäftskoſten im Inland, dem Gebrauch
des Stempelpapiers u. ſ. w. auszuweichen (m). Mit Recht
haben Andere dieſe Einſchränkung verworfen (n). Solchen
Umgehungen kann auf anderem Wege, beſonders durch
Geldſtrafen, vorgebeugt werden; die Gültigkeit der Rechts-
geſchäfte davon abhängig zu machen, iſt kein hinreichender
Grund vorhanden, und es würde dazu wenigſtens eines
poſitiven Geſetzes bedürfen.
Eine ſehr wichtige Frage betrifft die eigentliche Stellung
unſrer Regel. Iſt die Beobachtung der am Orte der
Handlung geltenden Form unbedingt nöthig, oder iſt ſie
blos facultativ, ſo daß der Handelnde die Wahl hat, ent-
weder dieſe Form zu beobachten, oder die Form des Ortes,
dem das Rechtsgeſchäft eigentlich angehört (o)? Sieht man
auf den Grund der Einführung unſrer beſonderen Regel,
als einer bloßen Begünſtigung und Erleichterung, ſo kann
man nicht zweifelhaft ſeyn, ſie für facultativ zu halten,
alſo ein Wahlrecht zu geſtatten. Dieſes iſt denn auch
meiſt anerkannt worden (p).
(m) I. Voet. § 14. Foelix
p. 105.
(n) Schäffner § 85.
(o) So allein darf die Frage
geſtellt werden, ſo daß nicht davon
die Rede ſeyn kann, eine völlig
willkürliche Wahl zu geſtatten
zwiſchen lex domicilii, rei sitae
u. ſ. w. So ſcheint es jedoch an-
zuſehen I. Voet. § 15.
(p) Rodenburg Tit. 2 C. 3
§ 2. 3. Hert. § 10. 23 (etwas
|0381 : 359|
§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).
Wenn alſo der Einwohner eines unter dem Römiſchen
Recht lebenden Landes in Paris ein Teſtament machen will,
ſo kann er eine der mehreren Formen des Franzöſiſchen
Rechts anwenden; er kann aber auch vor Sieben Zeugen
das Teſtament errichten. Auch in dieſem letzten Fall iſt
in der Heimath das Teſtament gültig, wobei es ſich nur
von ſelbſt verſteht, daß es an dem Beweiſe der gehörig
beobachteten Form nicht fehlen darf. — Wenn von Ein-
wohnern eines Landes, das zur Ehe die kirchliche Trauung
fordert, die Ehe geſchloſſen wird in einem Lande, das eine
juriſtiſche Form und nicht die Trauung vorſchreibt, und
wenn ſie ſich hier kirchlich trauen laſſen, ohne die juriſtiſche
Form des Landes zu beobachten, ſo iſt die Ehe gültig,
weil ſie die Form der Heimath, alſo des eigentlichen,
bleibenden Sitzes der Ehe, angewendet haben (q).
§. 382.
VI. Formen der Rechtsgeſchäfte. (Locus regit actum.)
(Fortſetzung.)
Bisher iſt die beſondere Rechtsregel über die anwend-
bare Form der Rechtsgeſchäfte vom Standpunkt eines allge-
meinen Gewohnheitsrechts aus betrachtet worden, welches
ſchwankend). Foelix p. 107 fg.
Schäffner § 83 (ſchwankend).
Wächter II. S. 377—380.
(q) Anerkannt in einem Urtheil
des Ober-Appellationsgerichts zu
Dresden 1845. Seuffert Archiv
B. 2 Num. 5.
|0382 : 360|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
aus einem anerkannten Bedürfniß hervorgegangen, und von
den Rechtslehrern weiter ausgebildet worden iſt. Es bleibt
noch die Frage zu beantworten übrig, wie ſich die poſitive
Geſetzgebung zu jener Regel verhält. Zuerſt die dem ge-
meinen Recht zum Grunde liegende (Römiſches und cano-
niſches Recht), dann einige neuere Geſetzgebungen.
Von jeher haben mehrere Schriftſteller verſucht, jene
Regel aus den Quellen des geſchriebenen gemeinen Rechts
abzuleiten; von Anderen aber iſt mit Recht bemerkt worden,
daß dieſe Verſuche mißlungen ſind (a). Eine Ueberſicht
der für die erwähnte Regel angeführten Geſetzſtellen wird
dieſes Urtheil beſtätigen, wodurch übrigens der Wahrheit
und Gewißheit der Regel ſelbſt durchaus Nichts entzogen
werden ſoll.
1. L. 9. C. de testamentis (6. 23). Dieſes iſt die
ſcheinbarſte unter den angeführten Stellen, dennoch begrün-
det ſie unſere Regel nicht.
Es war ein Teſtament gemacht worden ohne Beobach-
tung der bekannten Regel des Römiſchen Rechts, nach wel-
cher die Zeugen in unmittelbarer Gegenwart des Teſtators
ſeyn müſſen (b). Auf eine Anfrage der Patroclia (wahr-
(a) Wächter I. S. 246.
(b) L. 9 cit. „in conspectu
testatoris“ L. 30. C. eod. „sub
praesentia ipsius testatoris“.
L. 3 C. Th. de test. (4. 4)
„praesentes videant subscrip-
tores“. — Vgl. Glück B. 34
S. 292.
|0383 : 361|
§. 382. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte ꝛc. (Fortſ.)
ſcheinlich der eingeſetzten Erbin) reſcribiren die Kaiſer, das
Teſtament ſey nichtig „si non speciali privilegio (c) pa-
triae tuae juris observatio relaxata est.“ — Ein ſchwa-
cher Schein für die Beziehung dieſer Stelle auf unſere
Rechtsregel liegt in den Worten patriae tuae, die eine Colli-
ſion zwiſchen verſchiedenen örtlichen Rechten anzudeuten
ſcheinen. Allein dieſer Schein verſchwindet wieder, wenn
man erwägt, daß doch unmöglich die patria der Erbin ent-
ſcheidend ſeyn könnte; wo das Teſtament gemacht war,
wird gar nicht geſagt. Wahrſcheinlich hatte der Verſtor-
bene in ſeiner Heimath teſtirt, die auch die Heimath der
Erbin war. Dann iſt von einer Anwendung unſerer Regel
gar nicht die Rede, vielmehr enthält die Stelle dann nur
den ohnehin unzweifelhaften Satz, daß in der Colliſion das
Particularrecht dem gemeinen Recht vorgeht.
2. L. 2. C. quemadm. test. aper. (6. 32). Ein Vater,
der von dem Wohnſitz abweſend war, hatte vor dem Tod
ſeinem Sohne ein Teſtament übergeben, mit dem Auftrag,
daſſelbe in die Heimath zu überbringen. Die Kaiſer reſcri-
biren, bei der Eröffnung des Teſtaments vor der ſtädtiſchen
Curie müßten die daſelbſt geltenden Geſetze und Gewohn-
heiten beobachtet werden. — Dabei iſt von einer Colliſion
örtlicher Rechte nicht die Rede, ſondern nur der unzweifel-
(c) Privilegium heißt hier ein Stadtrecht oder einzelnes Stück
eines Stadtrechts, das durch eine Kaiſerconſtitution der hier in Frage
ſtehenden Stadt ertheilt war.
|0384 : 362|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
hafte Satz ausgedrückt, daß bei einer gerichtlichen Handlung
das Geſetz dieſes Orts zu beobachten ſey.
3. L. 1. C. de emanc. (8. 49). Vor den Duumvirn
einer Stadt hatte ein Mann, der nicht dieſer Stadt ange-
hörte, ſeinen Sohn emancipirt, und die Gültigkeit dieſer
Handlung wurde bezweifelt. Der Zweifel gründete ſich
darauf, daß überhaupt in der Regel die Municipalmagiſtrate
keine legis actio hatten, ſondern ſie nur ausnahmsweiſe
durch Privilegium erlangen konnten (d). Die Kaiſer re-
ſcribiren, die Gültigkeit der Handlung hänge ab von dem
Inhalt des Stadtgeſetzes. Gebe dieſes die legis actio den
Duumvirn, und zwar auch in der Ausdehnung, daß ſie
dieſelbe ſelbſt über Fremde ausüben könnten, ſo ſey die
Handlung gültig. — Von einer Colliſion örtlicher Rechte
iſt hier keine Spur.
4. C. 1. X. de spons. (4. 1). Ein Sachſe hatte eine
Fränkiſche Frau zur Ehe genommen, und dabei nicht die
Sächſiſchen, ſondern die Fränkiſchen Gebräuche beobachtet.
Nachdem er mit ihr viele Jahre gelebt, und Kinder erzeugt
hatte, berief er ſich auf den erwähnten Fehler im Abſchluß
der Ehe, verſtieß die Frau, und nahm eine andere. Eine
Kirchenverſammlung erklärt dieſes Verfahren für ſtrafbar,
die verſuchte zweite Ehe für nichtig, und verfügt die Her-
ſtellung der früheren Ehe. — Auch hier iſt von einer Colli-
ſion örtlicher Rechte nicht die Rede, und beſonders wird
(d) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 1 § 27.
|0385 : 363|
§. 382. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte ꝛc. (Fortſ.)
der Ort des Abſchluſſes gar nicht erwähnt. Die Entſchei-
dung beruht darauf, daß die erſte Ehe im Sinne des cano-
niſchen Rechts gültig und unauflöslich war, und daß da-
bei die Beobachtung dieſer oder jener Gebräuche des bür-
gerlichen Rechts als ganz gleichgültig angeſehen werden
mußte.
Das Franzöſiſche Geſetzbuch hatte in dem Entwurf fol-
genden Satz: „La forme des actes est reglée par les lois
du lieu, dans lequel ils sont faits ou passés”. Dieſe Stelle
wurde im Geſetzbuch ſelbſt weggelaſſen, nicht weil man ſie
für falſch oder zweifelhaft hielt, ſondern gerade umgekehrt,
weil ſie ſo gewiß und bekannt ſchien, daß ihre Aufnahme
für überflüſſig gehalten wurde (e). Einzelne Anwendun-
gen, worin unſere Rechtsregel als geltend vorausgeſetzt
wird, ſind folgende:
1. Wenn ein Franzoſe oder ein Fremder einen acte de
l’état civil im Auslande nach den in dieſem Lande
üblichen Formen aufnehmen läßt, ſo muß jener acte
auch in Frankreich als gültig anerkannt werden (f).
2. Franzoſen können im Auslande eine gültige Ehe
ſchließen nach den üblichen Formen des Ortes, wo ſie
ſich befinden (g). Die Geſetze über das vorherge-
(e) Foelix p. 111.
(f) Code civil art. 47.
(g) Code
civil art. 170.
|0386 : 364|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
hende Aufgebot und über die Bedingungen einer
gültigen Ehe werden durch dieſe Beſtimmung nicht
berührt.
3. Der Franzoſe, der im Auslande teſtiren will, kann
dieſes nach ſeiner Wahl auf zweierlei Weiſe thun:
entweder durch eigenhändige Schrift und Unterſchrift
(ſo wie in Frankreich), oder durch acte authentique
nach den am Orte des errichteten Teſtaments üblichen
Formen (h).
Das Preußiſche Recht enthält eine allgemeine Anerken-
nung der Regel: locus regit actum, gar nicht. Eine blos
ſcheinbare Abweichung von der Regel enthält das allgem.
Landrecht Einl. §. 33. Dieſe Stelle will nicht ſagen, daß
Fremde die durch ein einzelnes Statut eingeführte Form
nicht beobachten dürfen, oder daß eine ſo vorgenommene
Handlung nicht gültig wäre; ſondern, daß nur die Einhei-
miſchen, nicht die Fremden, zur Beobachtung des Statuts
verpflichtet ſeyen (i).
Bei den Verträgen erkennt es dieſe Regel als gültig
an, und läßt ſie allgemein gelten in Anſehung beweglicher
(h) Code civil art. 999 vgl.
art. 1317.
(i) Die Zweideutigkeit liegt in
den Worten: „gelten nur bei
Handlungen“ u. ſ. w. nämlich:
gelten als verpflichtend nur
bei ſolchen Handlungen. Denn als
zuläſſig und in ihrer Anwendung
hinreichend gelten ſie auch für
Fremde.
|0387 : 365|
§. 382. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte ꝛc. (Fortſ.)
Sachen; bei unbeweglichen aber läßt es ſie ausnahmsweiſe
nicht gelten, fordert vielmehr die ausſchließende Beobachtung
der durch die lex rei sitae gebotenen Form (§ 381. e).
Ueber die Formen der im Ausland errichteten Teſta-
mente enthält das Landrecht gar keine Beſtimmung. Da-
raus ſchließt ein neuerer Schriftſteller, es müſſe die allge-
meine Vorſchrift des gerichtlichen Teſtaments zur einzigen
Richtſchnur dienen, und unſere Rechtsregel dürfe nicht zur
Anwendung kommen (k), welches eben ſo viel heißt, als
daß ein Preuße in manchen fremden Ländern, z. B. in
Frankreich, gar kein Teſtament machen könne. Ich muß
dieſe Behauptung aus folgenden Gründen durchaus beſtrei-
ten. Als das allgemeine Landrecht abgefaßt wurde, gehörte
unſere Rechtsregel unter den deutſchen Juriſten, und zwar
gerade in Anwendung auf Teſtamente, zu den bekannteſten
und gewiſſeſten Sätzen. Es iſt aber ſehr unwahrſcheinlich,
daß man eine Regel von ſolchem Charakter durch bloßes
Stillſchweigen zu beſeitigen die Abſicht gehabt haben ſollte.
Im Jahr 1823 wurde zur Bequemlichkeit des im Aus-
land befindlichen Preußiſchen Geſandtſchaftsperſonals eine
neue Form von Teſtamenten eingeführt (l). Dieſe Be-
ſtimmung kündigt ſich durch Inhalt und Ausdruck, ſo wie
durch den Eingang des Geſetzes, als eine ganz neue, poſi-
tive Vorſchrift an. Es geht ihr aber folgende einleitende
Stelle voran:
(k) Koch Preußiſches Recht § 40 Note 18.
(l) Geſetz vom
3. April 1823 § 2, Geſetzſamml. 1823 S. 40.
|0388 : 366|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
§ 1. „Die letztwilligen Verordnungen Unſerer Ge-
ſandten ..... ſollen auch ferner, wie
bisher, in ihrer äußeren Form alsdann
gültig ſeyn, wenn ſie die Geſetze des Orts,
wo ſie errichtet werden, erfüllen.“
Ich frage nun, was heißen die Worte: auch ferner,
wie bisher? Das Landrecht enthält ja gar Nichts über
die Form der Teſtamente im Ausland. Dagegen enthielt
von jeher das gemeine Recht in Deutſchland unſere Rechts-
regel, und zwar nicht beſonders für Geſandte, ſondern für
alle Inländer, die im Ausland teſtiren wollten. Der Sinn
der ganzen Stelle iſt alſo folgender. Die Geſandten, ſo
wie alle andere Einwohner, können im Auslande teſtiren
nach den Formen des Orts, wo ſie ſich aufhalten. Dieſes
Recht nun, das ſie ohnehin mit allen andern Inländern theilen,
ſollen ſie auch ferner, wie bisher, ausüben dürfen (§ 1).
Zu ihrer Bequemlichkeit aber ſoll gegenwärtig noch eine
neue Form von Teſtamenten eingeführt und ihnen mit jener
früheren zur freien Auswahl anheim geſtellt werden (§ 2).
Im J. 1824 wurde mit Weimar ein Vertrag über die
gegenſeitigen Rechtsverhältniſſe der Unterthanen geſchloſſen,
und gleiche oder ganz ähnliche Verträge mit anderen Nach-
barſtaaten folgten darauf in großer Anzahl (§ 374. qq).
In dem Art. 34 jenes Vertrags (m) wird nun geſagt:
„Alle Rechtsgeſchäfte unter Lebenden, und auf den Todes-
(m) Geſetzſammlung 1824 S. 154.
|0389 : 367|
§. 382. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte ꝛc. (Fortſ.)
fall, werden, was die Gültigkeit derſelben rückſichtlich
ihrer Form betrifft, nach den Geſetzen des Orts beurtheilt,
wo ſie eingegangen ſind.“ Dieſe Beſtimmung iſt nun
offenbar keine Gefälligkeit, keine Conceſſion für die Nach-
barſtaaten, auch ſoll ſie ja gegenſeitig gelten. Sie war
ferner nicht gedacht als eine neue Erfindung, ſondern als
Anſchluß an ein allgemeines Rechtsprincip, welches auch
ſchon aus der häufigen gleichlautenden Wiederholung
folgt. Dieſes Rechtsprincip aber konnte kein anderes ſeyn,
als die uralte, in ganz Deutſchland von jeher geltende
Regel: locus regit actum, die alſo dadurch von Seiten
unſerer Geſetzgebung die unzweifelhafteſte Anerkennung
erhält.
|0390 : 368|
Buch III Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Zweites Kapitel.
Zeitliche Gränzen der Herrſchaft der Rechtsregeln
über die Rechtsverhältniſſe.
§. 383.
Einleitung.
Schriftſteller:
Chabot de l’Allier questions transitoires sur le code
Napoléon. Paris 1809. 2 Voll. in 4.
Weber über die Rückanwendung poſitiver Geſetze.
Hannover 1811.
Meyer principes sur les questions transitoires. Am-
sterdam 1813.
Bergmann das Verbot der rückwirkenden Kraft neuer
Geſetze im Privatrecht. Hannover 1818.
Struve über das poſitive Rechtsgeſetz rückſichtlich
ſeiner Ausdehnung in der Zeit. Göttingen 1831 (a).
Die Aufgabe des dritten Buchs dieſes Rechtsſyſtems
iſt dahin angegeben worden, das Gebiet, in welchem die
Rechtsregeln über Rechtsverhältniſſe herrſchen ſollen, und
(a) Viele andere Schriften finden ſich angeführt bei Bergmann
S. XXI—XXIV.
|0391 : 369|
§. 383. Einleitung.
die Gränzen dieſes Gebietes, zu beſtimmen (§ 344). Eine
ſolche Gränzbeſtimmung kann nach zwei Seiten hin nöthig
ſeyn, je nachdem neben einander, oder nach einander, ver-
ſchiedene Rechtsregeln als geltend gedacht werden. Von
der erſten Art, der Beſtimmung der örtlichen Gränzen, iſt
bisher gehandelt worden (Kap. I.). Es bleibt nun noch
die zweite Art der Gränzbeſtimmung übrig, die ſich auf die
zeitlichen Gränzen bezieht.
Dabei wird vorausgeſetzt, daß an demſelben Orte in
zwei verſchiedenen Zeiträumen verſchiedene Rechtsregeln
gelten, zu welchen ein gegebenes Rechtsverhältniß, oder eine
einzelne Rechtsfrage, in ſolche Beziehung kommt, daß es
zweifelhaft wird, welche unter jenen beiden Rechtsregeln die
Entſcheidung der Frage beherrſchen ſoll. Ein ſolcher Streit
zweier Rechtsregeln um die Herrſchaft ſetzt alſo ſtets eine
eingetretene Veränderung voraus. Dieſe Veränderung aber,
ſofern ſie dem Gebiet der nun folgenden Unterſuchung ange-
hören ſoll, muß noch näher dahin beſtimmt werden, daß
es eine Veränderung in den Rechtsregeln ſelbſt (dem objec-
tiven Recht) ſeyn muß, nicht eine bloße Veränderung in
den thatſächlichen Bedingungen des Rechtsverhältniſſes (dem
ſubjectiven Recht), indem nämlich die Veränderungen dieſer
letzten Art bereits in Verbindung mit den örtlichen Gränzen
der Herrſchaft abgehandelt worden ſind (b). Wir ſetzen
alſo im Laufe der jetzt folgenden Unterſuchung voraus ein
(b) S. o. § 344 am Schluß des §.
VIII. 24
|0392 : 370|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Rechtsverhältniß, das in ſich ſelbſt unverändert geblieben
iſt, dem aber zwei, der Zeit nach verſchiedene, Rechtsregeln
gegenüber treten, die um die Herrſchaft über das Rechts-
verhältniß ſtreiten.
Eine Veränderung in den Rechtsregeln aber, wie ſie
hier als Grund und Bedingung aller zeitlichen Colliſions-
fragen gedacht werden muß, kann in folgenden verſchiedenen
Geſtalten eintreten:
1. Erlaß eines einzelnen neuen Geſetzes, welches
gerade das jetzt vorliegende Rechtsverhältniß zum
Gegenſtand hat.
2. Abfaſſung eines neuen Geſetzbuches, alſo einer Ge-
ſammtheit von Rechtsregeln, worin auch das vor-
liegende Rechtsverhältniß neue Beſtimmungen er-
hält (c).
3. Aufnahme eines fremden Geſetzbuches im Ganzen,
anſtatt des bisher geltenden Rechts (d).
4. Losreißen des Ortes, welcher den Sitz eines Rechts-
verhältniſſes bildet, aus ſeinem bisherigen Staats-
verband, und Aufnahme in einen anderen, mit
Unterwerfung unter das geſammte Recht dieſes
anderen Staates, in welchem Fall dieſes neu über-
(c) Dieſer Fall trat ein in
Conſtantinopel vom J. 529 bis 534,
in Preußen 1794, in Frankreich
1804, in Oeſterreich 1812.
(d) So wie es unter dem Ein-
fluß der Franzöfiſchen Uebermacht
in mehreren Ländern in und außer
Deutſchland mit dem code Napo-
léon geſchah.
|0393 : 371|
§. 383. Einleitung.
nommene Recht in einem ganzen Geſetzbuch, oder
auch (und vielleicht neben dem Geſetzbuch) in ein-
zelnen Geſetzen, ſelbſt in einzelnen Regeln des Ge-
wohnheitsrechts, beſtehen kann (e).
Wie verſchieden dieſe Fälle von einander ſeyn mögen
in ausgedehnter und wichtiger Anwendung, ſo ſtehen ſie
doch einander grundſätzlich ganz gleich in Anſehung der
hier vorliegenden Colliſionsfrage. In allen dieſen Fällen
iſt es möglich, die Colliſionsfrage durch beſondere geſetz-
liche Beſtimmungen voraus zu entſcheiden, und in den drei
letzten Fällen iſt dazu beſondere Veranlaſſung vorhanden.
Solche Geſetze werden tranſitoriſche genannt, indem
ſie den Uebergang aus einer Rechtsregel in eine andere
zum Gegenſtand haben.
Als Juſtinian die Inſtitutionen und die Digeſten
bekannt machte, legte er denſelben rückwirkende Kraft bei (f).
Darin lag jedoch nicht der Ausdruck eines bleibenden Grund-
ſatzes über Rückwirkung, noch die Aufſtellung einer wahren
Ausnahme, indem dieſe Rechtsbücher nicht dazu beſtimmt
waren, neues Recht zu ſchaffen, ſondern das beſtehende
(e) Wichtige Fälle dieſer Art
ſind eingetreten bei der Abtretung
vieler Länder an Frankreich; ſpäter-
hin, als Preußen theils frühere
Provinzen zurück erhielt, theils
neue Landestheile erwarb; nicht
bei der Abtretung des linken Rhein-
ufers an deutſche Staaten, weil
damals das Franzöſiſche Recht
aufrecht erhalten wurde.
(f) L. 2 § 23, L. 3 § 23
C. de vet. j. enucl. (1. 17). Etwas
anders lautet die Const. Summa
§ 3 über den Codex. Vgl. Berg-
mann § 14.
24*
|0394 : 372|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Recht zu ſichern und zu reinigen. Man konnte darin eine
Art von authentiſcher Auslegung des beſtehenden Rechts
im Großen ſehen, welche von ſelbſt rückwirkend ſeyn mußte
(§ 397).
In keiner Geſetzgebung iſt für dieſe Colliſionsfrage ſo
viel Vorſorge getroffen worden, als in der Preußiſchen (g),
und ich will gleich hier eine Ueberſicht über die Preußiſchen
tranſitoriſchen Geſetze geben, um in der Folge darauf
leichter zurück weiſen zu können. — Das älteſte derſelben
iſt das Publikationspatent des allgemeinen Landrechts vom
5. Februar 1794 (h), welches in den §§ 8 bis 18 ausführ-
liche tranſitoriſche Beſtimmungen enthält. Daran ſchließen
ſich folgende Geſetze an, wodurch die Preußiſche Geſetzge-
bung theils in neu erworbene Landestheile zuerſt eingeführt,
theils in wiedergewonnene Landestheile zurückgeführt wurde.
1803. Fürſtenthum Hildesheim und Stadt Goslar
(Stengel’s Beiträge Band 17 S. 194).
1803. Paderborn und Münſter (Stengel Band 17
S. 235).
1803. Eichsfeld, Erfurt, Mühlhauſen, Nordhauſen
(Stengel Band 17 S. 253).
(g) Das Oeſterreichiſche Ein-
führungspatent enthält über dieſen
Gegenſtand nur wenige Beſtim-
mungen. Im Franzöſiſchen Ge-
ſetzbuch finden ſich bei einzelnen
Artikeln tranſitoriſche Beſtimmun-
gen (z. B. art. 2281); außerdem
aber wurden einige abgeſonderte
tranſitoriſche Geſetze erlaſſen, gleich-
zeitig mit dem code, namentlich
über Adoption, Eheſcheidung, un-
eheliche Kinder.
(h) Abgedruckt vor allen Aus-
gaben des Landrechts.
|0395 : 373|
§. 384. Zweierlei Rechtsregeln.
1814. Frühere Preußiſche Provinzen jenſeits der
Elbe (Geſ. Samml. 1814, S. 89).
1816. Weſtpreußen (Geſ. Samml. 1816, S. 217).
1816. Poſen (Geſ. Samml. 1816, S. 225).
1816. Herzogthum Sachſen (Geſ. Samml. 1816,
S. 233).
1818. Enklaven (Geſ. Samml. 1818, S. 45).
1825. Herzogthum Weſtphalen (Geſ. Samml. 1825,
S. 153).
Es iſt dabei zu bemerken, daß die Einführungspatente
von 1803 faſt nur abgekürzte Wiederholungen des Patents
von 1794 ſind, anſtatt daß die ſeit dem Jahre 1814 er-
laſſene Patente manche eigenthümliche und abweichende
Beſtimmungen enthalten.
§. 384.
Zweierlei Rechtsregeln.
An die Spitze dieſer Lehre wird gewöhnlich ein Grund-
ſatz mit dem Anſpruch auf Allgemeingültigkeit geſtellt, der
bei den einzelnen Schriftſtellern unter verſchiedenen Wen-
dungen erſcheint, die ſich jedoch meiſt auf folgende zwei
Ausdrücke zurückführen laſſen:
Neuen Geſetzen iſt keine rückwirkende Kraft bei-
zulegen.
Neue Geſetze ſollen erworbene Rechte unberührt
laſſen.
|0396 : 374|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Dieſem Grundſatz ſoll weder ſeine Wahrheit, noch ſeine
Wichtigkeit beſtritten werden. Dennoch kann die herrſchende
Auffaſſung und Darſtellung deſſelben als befriedigend nicht
anerkannt werden, indem man ihn als allgemein anwendbar
zu behandeln pflegt, während er nur für Eine Gattung von
Rechtsregeln wahr, für eine andere Gattung aber völlig
unwahr iſt.
Auf den erſten Blick möchte man geneigt ſeyn, dem
hier angedeuteten Gegenſatz der Auffaſſungen eine größere
Wichtigkeit beizulegen, als ihm in der That gebührt, indem
man glauben könnte, die hier getadelte Behandlung der
Sache müßte dahin führen, die vorkommenden praktiſchen
Rechtsfragen großentheils irrig zu entſcheiden. Dem iſt
aber nicht alſo. Wo ein ſo bedenklicher, einſchneidender
Erfolg zu erwarten wäre, der ſich dann durch den Verſuch
einer ſtrengen Durchführung von ſelbſt als unmöglich dar-
ſtellen würde, pflegt man dadurch abzuhelfen, daß man
Ausnahmen des angeblich allgemeinen Grundſatzes behaup-
tet. Aber eben dieſe Aushülfe durch bloße Ausnahmen iſt
es, die hier völlig verworfen werden muß, welches unten
ausführlich dargethan werden wird (§ 398). Und ſo muß
ich bei dem erhobenen Widerſpruch gegen die gewöhnlich
angenommene Allgemeingültigkeit jenes Grundſatzes beharren,
wenngleich dieſe irrige Annahme eine geringere Gefahr
praktiſcher Folgen mit ſich führt, als man glauben möchte.
Um nun das Gebiet, in welchem der angegebene Grund-
ſatz in der That anzuerkennen iſt, näher zu begränzen,
|0397 : 375|
§. 384. Zweierlei Rechtsregeln.
muß ich auf den verſchiedenen Inhalt der Rechtsregeln
eingehen, mit deren möglichen Veränderungen wir uns in
der ganzen hier vorliegenden Unterſuchung zu beſchäftigen
haben (§ 383).
Eine erſte Gattung von Rechtsregeln bezieht ſich auf
den Erwerb der Rechte, das heißt, auf die Verbindung
eines Rechts mit einer einzelnen Perſon, oder auf die Ver-
wandlung eines (abſtracten) Rechtsinſtituts in ein (perſön-
liches) Rechtsverhältniß (a). — Die Natur dieſer Rechts-
regeln und ihrer möglichen Veränderungen wird durch fol-
gende Beiſpiele anſchaulich werden. Wenn in einem Lande
bisher das Eigenthum durch bloßen Vertrag veräußert und
erworben werden konnte, ein neues Geſetz aber zur Ver-
äußerung die Tradition fordert, ſo betrifft die Veränderung
der Rechtsregel lediglich die Frage, unter welchen Bedin-
gungen der Einzelne Eigenthum einer Sache erwerben, alſo
zu ſeinem Rechte machen kann. Eben ſo, wenn bisher
alle obligatoriſche Verträge mündlich mit voller Wirkung
geſchloſſen werden konnten, ein neues Geſetz aber vor-
ſchreibt, daß bei einem Gegenſtand, deſſen Werth mehr als
Funfzig Thaler beträgt, nur ein ſchriftlicher Vertrag klag-
bar ſeyn ſoll.
Eine zweite Gattung von Rechtsregeln bezieht ſich auf
das Daſeyn der Rechte, alſo auf die Anerkennung eines
Rechtsinſtituts im Allgemeinen, welche ſtets vorausgeſetzt
(a) S. o. B. 1 § 4. 5.
|0398 : 376|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
werden muß, bevor von der Beziehung auf eine einzelne
Perſon, oder von der Verwandlung eines Rechtsinſtituts
in ein Rechtsverhältniß, die Rede ſeyn kann. — Auch die
Regeln dieſer Gattung ſind wieder von zweierlei Art, die
in ihrem Umfang verſchieden, in ihrem inneren Weſen gleich
ſind, und daher in Beziehung auf unſere gegenwärtige Un-
terſuchung völlig auf gleicher Linie ſtehen.
Einige dieſer Rechtsregeln betreffen das Seyn oder
Nichtſeyn eines Rechtsinſtituts. — Beiſpiele ſind dieſe.
Wenn in einem Staate bisher die Römiſche Sklaverei an-
erkannt war, oder die Germaniſche Leibeigenſchaft, oder das
Zehentrecht, und ein neues Geſetz eines dieſer Rechtsinſti-
tute aufhebt, für unmöglich erklärt, ihm alſo den Rechts-
ſchutz entzieht.
Andere unter dieſen Rechtsregeln betreffen zwar nicht
das Seyn oder Nichtſeyn, wohl aber das So oder An-
dersſeyn eines Rechtsinſtituts, alſo, neben der allgemei-
nen Fortdauer, eine innere Umwandlung deſſelben. — Da-
hin gehören folgende Fälle. Anſtatt des Eigenthums mit
ſtrenger Vindication (nach Römiſchem Recht) verordnet ein
neues Geſetz, daß das Eigenthum gar nicht mehr durch
Vindication, ſondern nur durch Beſitzklagen und Obliga-
tionen geſchützt werden ſoll. Anſtatt des bisher unab-
löslichen Zehentrechts, verordnet ein neues Geſetz, daß jede
Partei einſeitig die Ablöſung des Zehentrechts verlangen
könne. Eben dahin gehört das bekannte Geſetz Juſtinian’s
über das Eigenthum. Seit Jahrhunderten hatte ein dop-
|0399 : 377|
§. 384. Zweierlei Rechtsregeln.
peltes Eigenthum beſtanden, ex jure quiritium und in bo-
nis. Durch ein neues Geſetz hob Juſtinian dieſe zwei
Arten auf, ſo daß künftig nur Ein Eigenthum, und zwar
mit vollſtändiger Wirkung, beſtehen ſollte; in Verbindung
damit hörte auch die bisherige Eigenthümlichkeit der res
mancipi und des fundus Italicus auf.
Es muß aber wiederholt werden, daß beide zuletzt er-
wähnte Arten der Rechtsregeln das Daſeyn der Rechte
betreffen, unter ſich alſo ganz gleichartig ſind, und daß wir
keine Veranlaſſung haben, im Laufe der gegenwärtigen Un-
terſuchung ſie zu unterſcheiden. Ihr natürlicher Unterſchied
wurde nur erwähnt, um es anſchaulich zu machen, in wel-
chem Umfang und wie mannichfaltig die das Daſeyn der
Rechte betreffenden Rechtsregeln zu denken ſind, und um
jedem möglichen Zweifel über dieſen Umfang vorzubeugen.
Zu der hier dargeſtellten Unterſcheidung von zweierlei
Rechtsregeln, die den Erwerb, oder das Daſeyn der
Rechte betreffen, ſind noch einige zuſätzliche Bemerkungen
nöthig (b).
(b) Damit nicht dieſe Klaſſi-
ſication der Rechtsregeln, auf
welcher die ganze folgende Unter-
ſuchung beruht, für unvollſtändig
und unzureichend gehalten werde,
iſt gleich hier zu bemerken, daß
die gegenwärtige Unterſuchung be-
ſchränkt iſt auf das materielle Pri-
vatrecht, alſo das öffentliche Recht
(insbeſondere das Strafrecht), und
das Prozeßrecht nicht in ſich auf-
nimmt. Dieſe Einſchränkung iſt
dieſelbe, welche ſchon oben ange-
geben worden iſt für die örtlichen
Gränzen (§ 361. a), ja für das
ganze gegenwärtige Rechtsſyſtem
(B. 1 § 1).
|0400 : 378|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Was zuerſt die Bezeichnung dieſer zwei Gattungen von
Regeln betrifft, ſo habe ich diejenige gewählt, welche vor-
zugsweiſe durch ſich ſelbſt verſtändlich zu ſeyn ſchien.
Man könnte ſie auch dadurch zu unterſcheiden ſuchen, daß
man die eine Gattung auf das Recht im ſubjectiven, die
andere auf das Recht im objectiven Sinn bezöge (c).
Oder ſo, daß die eine Gattung auf die bleibende Natur
(das Permanente) der Rechtsverhältniſſe bezogen würde,
die andere auf das Bewegliche in denſelben.
Die Gränze der beiden Gattungen von Rechtsregeln iſt
nicht überall unzweifelhaft, indem es bei manchen ungewiß
erſcheinen kann, ob ſie der einen oder der andern Gattung
angehören. Solche Zweifel ſind nur durch genaue Erwä-
gung des Sinnes und der Abſicht neuer Geſetze zu löſen
(§ 398).
Die erſte Gattung von Rechtsregeln wurde bezogen auf
den Erwerb der Rechte; indeſſen iſt darin auch der Verluſt
derſelben, die Auflöſung der Rechtsverhältniſſe (ihre Abtren-
nung von der Perſon des bisherigen Inhabers) mit inbe-
griffen, und nur der Kürze wegen nicht mit ausgedrückt (d).
In den meiſten und wichtigſten Anwendungen fällt ohne-
hin Beides völlig zuſammen; ſo bei der Veräußerung, der
Uſucapion, der Klagverjährung, der Auflöſung einer
(c) S. o. B. 1 § 4. 5.
(d) Es hätte daher dieſe Gat-
tung auch bezeichnet werden können
als: Regeln für die juriſti-
ſchen Thatſachen (B. 3 § 104).
Ich habe dieſen Ausdruck als zu
abſtract lautend vermieden.
|0401 : 379|
§. 384. Zweierlei Rechtsregeln.
Obligation, in welchen Fällen ſtets der eine Theil gerade
Das erwirbt, welches der andere Theil verliert. Aber
auch in den ſeltneren und weniger wichtigen Fällen,
worin der Verluſt eines Rechts allein für ſich eintritt, wie
bei der Dereliction, hat es keinen Zweifel, daß die zeitliche
Colliſion der Geſetze völlig eben ſo, wie bei dem Erwerb,
zu beurtheilen iſt.
Die Natur mancher Rechte iſt auf eine endloſe Dauer
eingerichtet, wie das Eigenthum vermittelſt des Erbrechts,
die Sklaverei, die ſich durch die Geburt fortgeſetzt, ſo daß
ein völliges Aufhören dieſer Rechte nur durch zufällige Um-
ſtände eintreten kann; im Gegenſatz anderer Rechte, die
ſchon durch ihre Natur auf ein vorübergehendes Daſeyn
angewieſen ſind, ſo wie faſt alle Obligationen, der Nieß-
brauch, die Familienverhältniſſe. Bei beiden iſt an ſich die
Colliſionsfrage auf gleiche Weiſe zu entſcheiden. Nur iſt
nicht zu verkennen, daß die das Daſeyn der Rechte betref-
fenden Regeln, und daher auch die Grundſätze für die Col-
liſion derſelben, von ungleich größerer Wichtigkeit ſind bei
den Rechten von endloſer Dauer, als bei den vorübergehenden.
Wenn man die Frage aufwirft, welche von jenen beiden
Gattungen von Rechtsregeln an ſich ſelbſt, und ſo auch in
Anſehung möglicher Colliſionen, wichtiger iſt, ſo wird die
Antwort verſchieden ausfallen, je nach verſchiedenen Ge-
ſichtspunkten, die man dabei wählen kann. Auf der einen
Seite ſind neue Geſetze über das Daſeyn der Rechte wich-
tiger, inſofern ſie tiefer in den geſammten Rechtszuſtand
|0402 : 380|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
eingreifen, und insbeſondere das jetzt Beſtehende umwan-
deln. Auf der anderen Seite aber erſcheinen neue Geſetze
über den Erwerb der Rechte in der Hinſicht wichtiger, als
ſie häufiger zur Sprache und zum Bewußtſeyn kommen.
Sie bilden nämlich die Grundlage der juriſtiſchen Handlun-
gen, der Rechtsgeſchäfte (e), alſo des geſammten Verkehrs.
Daher iſt gerade die Colliſionsfrage bei ihnen ſowohl erheb-
licher, als verwickelter, welcher Grund beſonders mich
beſtimmt hat, dieſe Gattung der Rechtsregeln der anderen
in der folgenden Unterſuchung voran zu ſtellen.
Aus der bisher angeſtellten Betrachtung ergiebt ſich für
die Löſung der hier vorliegenden Aufgabe folgende Anord-
nung als natürlich und zweckmäßig.
Die Aufgabe geht dahin, die zeitlichen Gränzen der
Herrſchaft für zweierlei Rechtsregeln zu beſtimmen.
A. Erſtlich für die Rechtsregeln, welche den Erwerb
der Rechte zum Gegenſtand haben.
(e) Bei Weitem die meiſten
und wichtigſten juriſtiſchen That-
ſachen beſtehen in freien Handlun-
gen; allerdings nicht alle, viel-
mehr kommen darunter auch zu-
fällige Ereigniſſe vor, die aber mit
den freien Handlungen in der
Colliſionsfrage unter völlig gleichen
Regeln ſtehen. Dahin gehören
z. B. als Gründe des Eigenthums-
erwerbs die verſchiedenen Formen
der Acceſſion; als Grund eines
deferirten Inteſtaterbrechts der Tod
einer beſtimmten Perſon.
|0403 : 381|
§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.
Dabei iſt vor Allem der Grundſatz in ſeiner wahren
Bedeutung darzuſtellen, und zugleich das Verhältniß alter
und neuer Geſetzgebung, ſo wie der Meinungen der Schrift-
ſteller, zu dieſem Grundſatz anzugeben.
Ferner iſt dieſer Grundſatz auf einzelne Rechtsverhält-
niſſe und Rechtsfragen anzuwenden.
Endlich iſt die Natur der Ausnahmen darzuſtellen, die
neben dieſem Grundſatz nicht ſelten vorkommen.
B. Zweitens für die Rechtsregeln, welche das Daſeyn
der Rechte zum Gegenſtande haben. Die Anordnung der
einzelnen Fragen iſt der für die erſte Klaſſe angegebenen
ähnlich, nur daß dieſe Fragen hier eine einfachere Geſtalt
annehmen.
§. 385.
A. Erwerb der Rechte. — Grundſatz.
Es iſt nunmehr der Grundſatz der zeitlichen Colliſion
für diejenigen Rechtsregeln feſtzuſtellen, welche den Erwerb
der Rechte zum Gegenſtand haben. In dieſem Gebiete iſt
in der That der Grundſatz als wahr anzunehmen, deſſen
Allgemeingültigkeit oben (§ 384) verneint werden mußte.
Ich will denſelben in den beiden vorläufig angegebenen
Formeln genauer feſtzuſtellen ſuchen, wodurch zugleich das
innere Verhältniß beider Formeln zu einander anſchaulich
werden wird.
|0404 : 382|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Die erſte Formel lautete ſo:
Neuen Geſetzen iſt keine rückwirkende Kraft
beizulegen.
Zunächſt iſt die wahre Bedeutung der Rückwirkung
aufzuſuchen, die durch dieſe Formel abgewieſen wer-
den ſoll.
Es iſt augenſcheinlich, daß dieſelbe nicht in einem buch-
ſtäblichen, materiellen Sinn aufzufaſſen iſt. Dieſer Sinn
würde dahin gehen, daß das Geſchehene ungeſchehen ge-
macht werden ſolle. Da nun Dieſes an ſich unmöglich iſt,
ſo bedarf es keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. —
Vielmehr iſt alſo die Rückwirkung in einem juriſtiſchen
oder formellen Sinn aufzufaſſen, wodurch ſie die Bedeu-
tung erhält, daß das rückwirkende Geſetz die Folgen der
vergangenen juriſtiſchen Thatſachen unter ſeine Herrſchaft
ziehen, alſo auf dieſe Folgen einwirken würde. Eine ſolche
Rückwirkung aber auf die Folgen der vergangenen That-
ſachen läßt ſich noch in folgender Abſtufung denken:
A. Auf die Folgen allein, die von der Zeit des neuen
Geſetzes künftig eintreten würden.
B. Auf dieſe Folgen, und zugleich auf die, welche in
die Zwiſchenzeit zwiſchen der juriſtiſchen Thatſache und dem
neuen Geſetze fallen.
Zwei Beiſpiele werden dieſe Rückwirkung anſchaulich
machen. — Wenn in einem Lande, das den Zinsvertrag
ohne Einſchränkung zuläßt, ein Gelddarlehen zu zehn Pro-
zent Zinſen gegeben wird, nach drei Jahren aber wird das
|0405 : 383|
§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.
Römiſche Recht in dieſem Lande eingeführt, welches höhere
Zinſen, als zu ſechs Prozent, verbietet, ſo würde die Rück-
wirkung der erſten, geringeren Abſtufung dahin führen, daß
von der Zeit des neuen Geſetzes an die überſchießenden
vier Prozente nicht mehr gefordert werden könnten, anſtatt
daß die in den verfloſſenen drei Jahren fällig gewordenen
gültig bleiben würden und noch ferner eingeklagt werden
könnten. Die zweite, weiter gehende Abſtufung der Rück-
wirkung würde dahin gehen, daß die überſchießenden vier
Prozente weder für die vergangenen drei Jahre, noch für
die künftige Zeit, gefordert werden könnten. — Wenn fer-
ner in einem Lande, das die Veräußerung des Eigenthums
durch bloßen Vertrag zuläßt, ein Landgut in dieſer Weiſe
an einen Käufer veräußert wird, nach fünf Jahren aber
ein neues Geſetz die Tradition zur Veräußerung erfordert,
ſo würde die Rückwirkung der erſten Abſtufung dahin füh-
ren, daß der Käufer in den vergangenen fünf Jahren Ei-
genthümer geweſen wäre, und die Früchte als Eigenthümer
bezogen hätte, anſtatt daß er von jetzt an Eigenthümer zu
ſeyn aufhören müßte. Nach der zweiten Abſtufung würde
er auch in den vergangenen Jahren Nichteigenthümer gewe-
ſen ſeyn, und die Früchte mit Unrecht bezogen haben.
Die oben aufgeſtellte Formel nun (der Grundſatz der
Nichtrückwirkung) verneint ſchlechthin die Einwirkung des
neuen Geſetzes auf die Folgen der vergangenen Thatſachen,
und zwar in jeder denkbaren Abſtufung. Sie erhält alſo
den Zinsvertrag zu zehen Prozent aufrecht, ſowohl für die
|0406 : 384|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
vergangenen drei Jahre, als für die ganze Zukunft (a).
Sie läßt das durch bloßen Vertrag erworbene Eigenthum
fortwirken, nicht blos für die vergangenen fünf Jahre, ſon-
dern auch für alle Zukunft.
Ich gehe nun zur zweiten Formel über, die alſo
lautet:
Neue Geſetze ſollen erworbene Rechte unberührt
laſſen.
Damit wird gefordert die Schonung der bereits erwor-
benen Rechte, oder, in genauerem Ausdruck, die Erhaltung
der Rechtsverhältniſſe in der ihnen einmal gegebenen Na-
tur und Wirkſamkeit.
Manche haben dieſe zweite Formel ſo aufgefaßt, als ob
darin ein neuer, ſelbſtſtändiger Grundſatz enthalten wäre,
verſchieden von dem in der erſten Formel ausgedrückten (b).
In der That aber erſcheint in beiden Formeln ein und
derſelbe Grundſatz, nur von verſchiedenen Seiten angeſehen
und bezeichnet. Die Anwendung auf die bereits bei der
erſten Formel benutzten Beiſpiele wird Dieſes anſchaulich
machen. — Der Glaubiger hat durch den auf zehen Pro-
zent geſchloſſenen Zinsvertrag das Recht erworben, Zinſen
in dieſem Betrag zu fordern, ſo lange das Darlehen
(a) Dieſe Aufrechthaltung für
die Zukunft wird meiſt unerheblich
ſeyn, weil der Schuldner das Dar-
lehen kündigen kann, und in Folge
des neuen Geſetzes leicht Geld zu
geringeren Zinſen finden wird.
Sie iſt in den ſeltneren Fällen
wichtig, wenn die Unkündbarkeit
der Schuld auf längere Zeit be-
dungen ſeyn ſollte.
(b) Bergmann S. 92.
Puchta Vorleſungen S. 223.
|0407 : 385|
§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.
beſteht (c), und dieſes erworbene Recht ſoll erhalten wer-
den, obgleich ein neues Geſetz die Zinsverträge auf ein ge-
ringeres Maaß beſchränkt. — Durch den bloßen Vertrag
hat der Käufer des Landgutes Eigenthum erworben, und
dieſes erworbene Recht ſoll ihm erhalten werden, obgleich
ein neues Geſetz die Veräußerung an die Bedingung der
Tradition knüpft.
Die auf die Erhaltung der erworbenen Rechte gerichtete
Formel bedarf nach zwei Seiten einer näheren Beſtimmung,
um gegen mögliche, ſehr bedenkliche, Mißverſtändniſſe ge-
ſchützt zu werden.
Erſtlich ſind unter erworbenen Rechten, welche nach
jener Formel erhalten werden ſollen, nur die Rechtsverhält-
niſſe einer beſtimmten Perſon zu verſtehen, alſo die Be-
ſtandtheile eines Gebietes unabhängiger Herrſchaft des indi-
viduellen Willens (d), nicht die abſtracten Befugniſſe aller
Menſchen oder ganzer Klaſſen von Menſchen (e). Einige
Beiſpiele werden dieſen Gegenſatz, und die aus demſelben
hervorgehende Beſchränkung für die Anwendung der aufge-
ſtellten Formel, anſchaulich machen. — Wenn in einem
Staate der bisher ſtrafloſe Zweikampf unter Strafe geſtellt
wird, ſo iſt dadurch allen jetztlebenden Einwohnern die
(c) Es würde ganz unrichtig
ſeyn, nur den Anſpruch auf ſchon
fällige Zinſen ein erworbenes Recht
zu nennen. Auch der Anſpruch
auf künftige iſt ein ſolches, jedoch
darin von dem erſten verſchieden,
daß die Ausübung von dem Ein-
tritt eines in der Zukunft liegen-
den Zeitpunktes abhängt.
(d) S. o. B. 1 § 52. 53.
(e) Bergmann § 20.
VIII. 25
|0408 : 386|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
bisher genoſſene Befugniß, den Zweikampf ungeſtraft vorzu-
nehmen, entzogen. Die augenblickliche Einwirkung dieſes
neuen Geſetzes aber wird durch unſere Formel nicht ausge-
ſchloſſen, weil die bisher vorhandene abſtracte Befugniß
aller Menſchen zum ſtrafloſen Zweikampf nicht die Natur
eines erworbenen Rechtes hat. — Auf gleiche Weiſe verhält
es ſich, wenn in einem Staate, der bisher Bürgſchaften
der Frauen mit voller Wirkung anerkannte, das Römiſche
Recht, und mit dieſem das Sc. Vellejanum, eingeführt wird,
wodurch alle Frauen die bisherige Befugniß zu vollgültigen
Bürgſchaften verlieren. — Und ganz Daſſelbe muß behauptet
werden, wenn da, wo bisher die Volljährigkeit mit
21 Jahren eintrat, das Römiſche Recht mit der auf
25 Jahre beſtimmten Volljährigkeit eingeführt wird. Alle,
die zur Zeit dieſes neuen Geſetzes noch nicht 21 Jahre
vollendet haben (f), verlieren durch daſſelbe die Befugniß,
mit dieſem Alter volljährig zu werden, und werden alſo
Vier Jahre länger in der Minderjährigkeit erhalten.
Zweitens ſind erworbene Rechte nicht zu verwechſeln
mit bloßen Erwartungen, die durch das bisher beſtehende
Geſetz begründet waren, durch das neue Geſetz aber zerſtört
werden. Dieſe Zerſtörung wird durch den auf die Er-
haltung der erworbenen Rechte gerichteten Grundſatz keines-
(f) Anders verhält es ſich mit Denen, die zur Zeit des neuen Ge-
ſetzes ſchon 21 Jahre zurückgelegt hatten, denn für jeden Einzelnen
unter dieſen war die Volljährigkeit bereits ein perſönliches erworbenes
Recht geworden, ſ. u. §. 389.
|0409 : 387|
§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz,
weges ausgeſchloſſen. — So konnte ein beſtehendes Erb-
folgegeſetz in beſtimmten Perſonen einer Familie die Er-
wartung erregen, daß ſie die Inteſtaterben eines anderen
Familiengliedes werden würden, und ſie mögen vielleicht
ihren Lebensberuf nach dieſer Erwartung eingerichtet haben.
Wenn nun ein neues Erbfolgegeſetz dieſe Erwartung ver-
nichtet, ſo mag ihnen dieſe Aenderung des Rechts ſehr
ſtörend werden, aber unſer Grundſatz ſchließt dieſen Erfolg
nicht aus, da derſelbe nur erworbene Rechte, nicht erregte
Erwartungen, in Schutz nimmt. — Eben ſo verhält es
ſich, wenn Jemand von einem reichen kinderloſen Mann
das Verſprechen erhält, daß dieſer ihn zum einzigen Erben
einſetzen werde, wenn ſogar das Teſtament wirklich gemacht
und ihm gezeigt worden iſt. Dieſe bloße Erwartung kann
durch ein, bei dem Leben des Teſtators, erlaſſenes neues
Geſetz, das die Teſtamente verbietet, eben ſo gut vereitelt
werden, wie durch den veränderten Willen des Teſtators (g).
— Dagegen würde es unrichtig ſeyn, hierin den bloßen
Erwartungen gleich zu ſtellen die Rechte, die nur noch nicht
ausgeübt werden können, weil ſie an eine Bedingung
oder Zeitbeſtimmung geknüpft ſind. Dieſes ſind wirkliche
Rechte, iudem ſelbſt bei der Bedingung die eingetretene
Erfüllung retrotrahirt wird. Der Unterſchied liegt darin,
daß bei der Erwartung aller Erfolg von der bloßen
(g) Meyer p. 32. 33.
25*
|0410 : 388|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Willkür einer fremden Perſon abhängt, anſtatt daß bei
conditio und dies Dieſes nicht anzunehmen iſt (h).
Der hier aufgeſtellte Grundſatz, der aus beiden angege-
benen Formen hervorgeht, hat aber zwei an ſich verſchiedene
Bedeutungen, deren jede wahr und wichtig iſt; die eine
bezieht ſich auf den Geſetzgeber, die andere auf den Richter.
Für den Geſetzgeber hat jener Grundſatz die Bedeutung,
daß er neue Geſetze nicht mit rückwirkender Kraft, nicht
mit Gefährdung erworbener Rechte, erlaſſen ſoll (i).
Für den Richter geht die Bedeutung des Grundſatzes
dahin, jedes neue Geſetz, auch wenn es hierüber unbeſtimmt
lautet, ſo auszulegen und anzuwenden, daß ihm keine
rückwirkende Kraft beigelegt, daß kein erworbenes Recht
geſtört werde.
Wird alſo in einem Staat, der bisher die Veräußerung
durch bloßen Vertrag zuließ, die Tradition als Bedingung
der Veräußerung vorgeſchrieben, ſo wird dieſes neue Geſetz
der eben geſtellten Anforderung dadurch genügen, daß es
in folgendem Sinn gedacht wird: „Wer künftig Eigenthum
veräußern will, ſoll ſich dazu der Tradition bedienen.“ In
(h) S. o. B. 3 § 116. 117.
120. — Chabot T. 1 p. 128.
Meyer p. 30—32 p. 172.
(i) Darauf geht der Ausdruck
der L. 65 C. de decur. (10. 31)
„cum conveniat leges futuris
regulas imponere, non praeter-
itis calumnias excitare.“ Die
meiſten anderen Stellen faſſen mehr
den Standpunkt der Belehrung für
den Richter auf. So unter anderen
auch die Stelle, aus welcher außer-
dem die L. 65 cit. größtentheils
wörtlich entnommen iſt. L. 3 C.
Th. de const. (1. 1) „Omnia
constituta non praeteritis ca-
lumniam faciunt, sed futuris
regulam imponunt.“
|0411 : 389|
§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.
dieſem Sinn ſoll der Geſetzgeber die neue Vorſchrift denken
(wenn auch nicht wörtlich ausdrücken), und der Richter
ſie anwenden.
Bisher iſt verſucht worden, den Grundſatz in ſeiner
eigentlichen Bedeutung und in ſeinen verſchiedenen Be-
ziehungen klar zu machen, ſo wie in gehörige Gränzen ein-
zuſchließen. Die Hauptfrage aber iſt dabei noch nicht be-
rührt worden: ob wir ihn überhaupt für wahr zu halten
haben, und aus welchen Gründen.
Man möchte vielleicht verſucht ſeyn, Folgendes dagegen
einzuwenden. Ein neues Geſetz wird ſtets gegeben in der
Ueberzeugung, daß es beſſer ſey, als das frühere. Daher
müſſe man deſſen Wirkſamkeit ſo weit, als möglich, aus-
dehnen, um den zu erwartenden beſſeren Zuſtand dem
weiteſten Kreiſe mitzutheilen. — Dieſe Auffaſſung hat einige
Verwandtſchaft mit der oben bei dem territorialen Rechte
erwähnten (§ 348), nach welcher bei jeder örtlichen Colliſion
dex Geſetze nur immer das Geſetz des eigenen Landes feſt-
gehalten werden ſollte. Wie aber damals dieſem ſcheinbaren
Grundſatz der wahre entgegen geſetzt werden mußte, nach
welchem jedes Rechtsverhältniß vielmehr nach dem Geſetz
des ihm naturgemäß zukommenden Rechtsgebietes zu beur-
theilen war, ſo wird auch hier unſre Aufgabe dahin gehen,
für die zeitliche Wirkſamkeit eines jeden neuen Geſetzes das
Gebiet der Herrſchaft feſtzuſtellen, welches ihm naturgemäß
zukommt. Die Gränzen dieſes natürlichen Gebietes nun
für die Herrſchaft eines neuen Geſetzes ſind es, welche
|0412 : 390|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
durch den oben aufgeſtellten Grundſatz der nichtrückwirken-
den Kraft, der Erhaltung erworbener Rechte, bezeichnet
werden. Die Wahrheit dieſer Behauptung aber geht aus
folgenden Betrachtungen hervor.
Erſtlich iſt höchſt wichtig und wünſchenswerth das
unerſchütterliche Vertrauen in die Herrſchaft der beſtehenden
Geſetze. Damit iſt nicht gemeint das Vertrauen in ihre
ſtete Fortdauer, da vielmehr nach Umſtänden die Erwartung
und der Wunſch eines beſſernden Fortſchrittes wohl begründet
und heilſam ſeyn kann. Wohl aber iſt gemeint das Ver-
trauen, daß ihre Herrſchaft und Wirkſamkeit, ſo lange ſie
beſtehen, unanfechtbar ſeyn werde. Es ſoll alſo Jeder
darauf ſicher rechnen dürfen, daß die Rechtsgeſchäfte, die
er zum Erwerb von Rechten nach den beſtehenden Geſetzen
eingerichtet hat, auch in Zukunft wirkſam bleiben werden.
Zweitens iſt gleichfalls wichtig und wünſchenswerth die
Erhaltung des jederzeit beſtehenden Rechts- und Vermögens-
Beſtandes. Dieſe Erhaltung aber wird, ſo weit die Geſetz-
gebung darauf einwirken kann, befördert durch den oben
aufgeſtellten Grundſatz, gefährdet durch den entgegen-
geſetzten.
Drittens iſt der entgegengeſetzte Grundſatz ſchon deshalb
verwerflich, weil eine conſequente Durchführung deſſelben
ganz unmöglich iſt, ſo daß er nur zufällig und inconſequen-
terweiſe (alſo ſchon deshalb ungerecht), auf einzelne Arten
von Rechtsgeſchäften einwirken würde, während alle anderen
davon frei bleiben müßten. Wollte man jenen entgegen-
|0413 : 391|
§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.
geſetzten Grundſatz ſtrenge durchführen, ſo müßte ein neues
Geſetz, welches zur Veräußerung des Eigenthums, anſtatt
des bisher genügenden bloßen Vertrags, die Tradition er-
forderte, die Folge haben, daß nun auch alle vergangene
Veräußerungen unwirkſam würden, oder durch nachgeholte
Traditionen ergänzt werden müßten. Die völlige Unmöglich-
keit eines ſolchen Rechtszuſtandes iſt ſo einleuchtend, daß
gewiß Niemand daran gedacht hat, in die Annahme einer
rückwirkenden Kraft, die von Manchen nach der Natur der
Sache als richtig angeſehen, und nur nach poſitiven Ge-
ſetzen verworfen wird, auch dieſe Folgen mit aufzunehmen.
Man glaubte alſo die Rückwirkung allgemein in Frage zu
ſtellen, dachte aber dabei in der That nur an eingeleitete,
noch unerledigte Rechtsgeſchäfte, namentlich an früher ge-
ſchloſſene obligatoriſche Verträge, deren Erfüllung erſt nach
dem Erlaß des neuen Geſetzes gefordert wird (k). In
dieſer beſchränkten Anwendung iſt es allerdings denkbar,
die Rückwirkung durchzuführen; aber eben dieſe ganz zu-
fällige und willkürliche Beſchränkung beweiſt, daß die An-
nahme der Rückwirkung zu einem allgemeinen Grundſatz
ganz untauglich, und in der zufällig beſchränkten Anwen-
dung, worin ſie möglich wäre, ungerecht iſt.
(k) Dieſes iſt namentlich die
Anſicht von Weber, S. 108, der
das unter dem früheren Geſetz durch
bloßen Vertrag erworbene Eigen-
thum fortwirken läßt, auch wenn
ein neues Geſetz die Tradition
zur Veräußerung erfordert. Er
wird aber dadurch ſeinem Grund-
ſatz in der That untreu, indem er
unvermerkt die Anwendung deſſelben
inconſequent und willkürlich be-
ſchränkt.
|0414 : 392|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
§. 386.
A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſetzung.)
Der Grundſatz für die den Erwerb der Rechte betreffen-
den Regeln iſt bisher nur von dem Standpunkt einer
allgemeinen Betrachtung über die Natur und Beſtimmung
der Geſetze erwogen worden; ich wende mich nun zu
den Ausſprüchen der Geſetzgebung über dieſe wichtige
Frage.
Hier tritt uns zunächſt entgegen eine für den Orient
von K. Theodoſius II. im J. 440 erlaſſene Verord-
nung (a), die auf alle ſpätere Zeiten, ſowohl in der Ge-
ſetzgebung, als in der Praxis, und in der Lehre der Schrift-
ſteller, den entſchiedenſten Einfluß ausgeübt hat. Sie
lautet alſo:
Leges et constitutiones futuris certum est dare
formam negotiis, non ad facta praeterita revo-
cari, nisi nominatim et de praeterito tempore
et adhuc pendentibus negotiis cautum sit.
Der wichtige Inhalt dieſer Berordnung, der die bisher
vorgetragene Lehre völlig beſtätigt, läßt ſich auf folgende
Hauptſätze zurückführen.
Sie unterſcheidet nicht zwiſchen vergangenen und künf-
tigen Wirkungen juriſtiſcher Thatſachen, ſondern zwiſchen
(a) L. 7 C. de legibus (1. 14). — Die Stelle wird wörtlich wieder-
holt in einer Decretale von Gregor IX., C. 13 X. de constit.
(1. 2). Dem Inhalt nach ſtimmt damit überein C. 2 X. eod.
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§. 386. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)
vergangenen und künftigen Thatſachen ſelbſt. Neue Ge-
ſetze, ſagt ſie, ſind anzuwenden auf alle ſpäterhin vorzu-
nehmende Rechtsgeſchäfte (futuris … negotiis), nicht an-
zuwenden auf vergangene Rechtsgeſchäfte (non ad facta
praeterita revocari), auch wenn deren Wirkungen erſt
noch in der Zukunft liegen ſollten (adhuc pendentibus ne-
gotiis) (b).
Sie macht den Vorbehalt, daß ein künftiges Geſetz
ausnahmsweiſe auch wohl eine rückwirkende Kraft ſich bei-
legen könne, die alsdann anerkannt werden müſſe. Hieraus
erhellt, daß dieſe Verordnung gedacht iſt als eine Anwei-
ſung (Auslegungsregel) für die Richter, nicht für den Ge-
ſetzgeber, welchem vielmehr für jeden einzelnen Fall freie
Hand ausdrücklich vorbehalten wird. Wäre aber auch
dieſer Vorbehalt nicht hinzugefügt, ſo würde er ſich von
(b) Denn die Beziehung auf
die pendentia negotia iſt der
Ausnahme vorbehalten, für die
regelmäßigen Fälle alſo unterſagt.
Pendens negotium iſt ein Ver-
trag, der zur Zeit des neuen Ge-
ſetzes ſchon geſchloſſen, aber ganz
oder theilweiſe noch unerfüllt iſt,
ſo daß deſſen Wirkungen in der
Zukunft liegen. — Der Ausdruck
negotium iſt in der Stelle a po-
tiori gebraucht, indem die meiſten
juriſtiſchen Thatſachen (wenn auch
nicht alle) wahre Rechtsgeſchäfte
ſind (§ 384. e). Auch anderwärts
kommt einmal der Ausdruck ne-
gotium für eine ſolche Thatſache
vor, die gewiß kein Rechtsgeſchäft
iſt, nämlich die Eröffnung einer
Inteſtaterbfolge. L. 12 in f. C.
de suis (6. 55). — Unter die
pendentia negotia gehören nun
unſtreitig auch diejenigen, worüber
bereits ein Rechtsſtreit erhoben,
aber noch nicht entſchieden iſt; je-
doch glaube ich nicht, daß der hier
gebrauchte Ausdruck gerade dieſen
Fall beſonders hat bezeichnen ſollen.
Anders verhält es ſich mit den
causis … quae in judicii
adhuc pendent in der const.
Tanta § 23.
|0416 : 394|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
ſelbſt verſtanden haben, da dieſe Vorſchrift künftig, wie im
Ganzen, ſo auch in der Anwendung auf jeden einzelnen
künftigen Fall, wieder aufgehoben werden konnte.
Wichtig iſt noch der Standpunkt, von welchem aus die
Verordnung erlaſſen wird. Sie iſt nicht gemeint als eine
aus neuer Erfindung hervorgehende Vorſchrift, vor welcher
alſo etwa das Gegentheil anzunehmen geweſen wäre. Viel-
mehr will ſie nur ausſprechen, Was aus der Natur und
Beſtimmung der Geſetzgebung als Regel nothwendig folge
(certum est), alſo eine Belehrung geben zur Abwendung
möglicher Irrthümer der Richter über dieſe Frage. Auch
dürfen wir nicht zweifeln, daß jene Regel von jeher von
den Römiſchen Juriſten als wahr anerkannt worden iſt,
und es iſt nur zufällig, daß uns nicht Ausſprüche derſelben
aus älterer Zeit aufbewahrt ſind (b¹).
Endlich iſt oben bemerkt worden, daß neue Geſetze auf
zweierlei Weiſe vorkommen können: als einzeln ſtehende,
beſondere Vorſchriften (§ 383. Num. 1), oder im Zuſam-
menhang eines ganzen Geſetzbuchs, alſo eines mit Geſetzes-
kraft verſehenen Syſtems von Rechtsregeln (§ 383. Num. 2.
3. 4.). In der hier vorliegenden Verordnung iſt augen-
ſcheinlich nur an den erſten Fall gedacht, der Inhalt der-
ſelben paßt aber ganz eben ſo auch auf den zweiten.
(b¹) Sehr beſtimmt findet ſich die Regel anerkannt bei Cicero in
Verrem I. 42, und zwar als Etwas, das von jeher als unzweifelhaft
angeſehen worden ſey.
|0417 : 395|
§. 386. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)
Derſelbe Grundſatz nun, den die angeführte Verordnung
in allgemeiner Geſtalt ausſpricht, findet ſich anerkannt in
einer Reihe von Conſtitutionen, welche als neue Geſetze
über einzelne Rechtsfragen erlaſſen wurden, mit dem Zuſatz,
daß ſie nur für die Zukunft gelten, nicht rückwirkend ſeyn
ſollten; dieſer Zuſatz hat dabei die Natur eines tranſitori-
ſchen Geſetzes (§ 383). — Einige dieſer Conſtitutionen
ſind dadurch bemerkenswerth, daß ſie ſehr beſtimmt die oben
erklärte Natur unſres Grundſatzes ausſprechen, nach wel-
cher derſelbe beſtimmt iſt, die künftigen Wirkungen
der vergangenen Thatſachen aufrecht zu halten (c).
— Andere drücken den Grund unſerer Regel ganz richtig
dahin aus, daß Der, welcher im Vertrauen auf das beſte-
hende Geſetz ſeine Rechtsgeſchäfte einrichte, keinen Tadel
verdiene, indem er das künftige Geſetz nicht habe vorher-
ſehen und beachten können (d).
Wir haben nun zunächſt zu unterſuchen, welche Bedeu-
tung dieſe Ausſprüche des Römiſchen Rechts für uns, auf
dem Standpunkte des gemeinen Rechts, haben, und wir
(c) L. un. § 16 C. de rei
ux. act. (5. 13) „instrumenta
enim jam confecta viribus ca-
rere non patimur, sed suum
exspectare eventum”. — L. un.
§ 13 C. de latina libert. toll.
(7. 6). „Sed si quidem liberti
jam mortui sunt et bona eorum
quasi Latinorum his, quorum
intererat, aggregata sunt, vel
adhuc vivunt, nihil ex hac lege
innovetur, sed maneant apud
eos jure antiquo firmiter deten-
ta et vindicanda”.
(d) L. 29 C. de test. (6. 23),
Nov. 22 C. 1. — Andere Con-
ſtitutionen, die denſelben Grund-
ſatz anerkennen, ſind dieſe: L. 65
C. de decur. (10. 31), L. 18
C. de testibus (4. 20), Nov. 66
C. 1 § 4. 5.
|0418 : 396|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
können dieſe Frage ſogleich auch auf die im Römiſchen
Recht vorkommenden Ausnahmen erſtrecken, die eine rück-
wirkende Kraft mit ſich führen, und deren allgemeiner Vor-
behalt bereits erwähnt worden iſt, während die Erwähnung
der einzelnen Fälle erſt weiter unten ihre Stelle finden
kann. Unſere Schriftſteller ſind darüber ganz einverſtanden,
daß alle dieſe Ausſprüche des Römiſchen Rechts, ſie mö-
gen die Regel oder die Ausnahme betreffen, ſo weit über-
haupt Römiſches Recht anerkannt wird, die Kraft wahrer
Geſetze mit ſich führen. Ich kann mich von der Wahrheit
dieſer Behauptung nicht überzeugen.
Zuerſt muß ich dieſelbe grundſätzlich verwerfen. Wir
mögen jene Ausſprüche anſehen als Anweiſungen für den
Geſetzgeber oder für den Richter, welche beide Auffaſſungen
an ſich richtig ſind (§ 385), ſo haben ſie für uns, auch da,
wo das Römiſche Recht anerkannt wird, die Kraft binden-
der Geſetze nicht (e).
Zweitens muß ich jene Behauptung verwerfen mit
Rückſicht auf den beſonderen Inhalt der Ausſprüche, von
welchen hier die Rede iſt. Der allgemeine Ausſpruch,
welcher die rückwirkende Kraft verneint, ſo wie die einzel-
nen Wiederholungen deſſelben (Note a. c. d.), ſollten gar
nicht neues Recht aufſtellen, und ſind auch in der That
nur Belehrungen, worin die richtige Behandlung neuer
Geſetze naturgemäß anerkannt wird. Bei dieſen Ausſprüchen
(e) S. o. B. 1 § 27. 49.
|0419 : 397|
§. 386. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)
alſo iſt die ganze Frage ohnehin eine völlige müſſige. —
Anders verhält es ſich mit den einzelnen Ausnahmen jenes
Grundſatzes, die allerdings einen völlig poſitiven Charakter
an ſich tragen. Und dennoch muß auch hier eine genauere
Betrachtung zu demſelben Erfolg führen. Um Dieſes an-
ſchaulich zu machen, will ich Juſtinian’s Geſetze über den
Zinsvertrag prüfen. Im J. 528 hatte er verordnet, daß
anſtatt der ſeit Jahrhunderten erlaubten Zwölf Prozente
künftig in der Regel nur Sechs Prozente an Zinſen be-
dungen werden dürften (f). Da nun bald darauf Zweifel
entſtanden wegen der vor dem J. 528 geſchloſſenen Zins-
verträge, erließ er im J. 529 ein tranſitoriſches Geſetz (g)
des Inhalts, daß die vor dem J. 528 verfallenen Zinſen
nach dem alten Geſetz, die ſeitdem verfallenen, ſo wie die
künftigen, nach dem neuen Geſetz beurtheilt werden ſoll-
ten (h). Nun wird wohl Jeder zugeben, daß von dem
unmittelbaren Inhalt des Geſetzes nicht mehr die Rede ſeyn
kann, da ganz gewiß keinem Richter ein vor 528 geſchloſ-
ſener Zinsvertrag zur Entſcheidung vorgelegt werden wird.
Eben ſo kann nicht von einer Anwendung des Geſetzes in
den Ländern die Rede ſeyn, in welchen ſeit Jahrhunderten
das Römiſche Recht herrſchend iſt, da auch hier die that-
ſächliche Veranlaſſung zu einer ſolchen Anwendung durch-
(f) L. 26 C. de usuris (4. 32).
(g) L. 27 C. de usuris (4. 32).
(h) Die letzte Beſtimmung geht auf rückwirkende Kraft, enthält
alſo eine Ausnahme unſeres Grundſatzes (§ 385).
|0420 : 398|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
aus fehlen muß. Der einzige Fall einer möglichen Anwen-
dung wäre der, wenn etwa eine Gegend, die bisher kein
Zinsverbot gekannt hätte, einem Staate einverleibt würde,
in welchem Römiſches Recht, mit dem Verbot höherer Zin-
ſen, als zu 6 Prozent, gilt. Hier könnte man daran den-
ken, das angeführte tranſitoriſche Geſetz auf die in jener
Gegend geſchloſſenen früheren Zinsverträge anzuwenden.
Allein auch dieſe Anwendung würde ich als eine ungehö-
rige, blos buchſtäbliche, dem Geiſt des Geſetzes wider-
ſprechende, verwerfen müſſen. Denn jedes tranſitoriſche
Geſetz, ſo weit es über die Gränzen bloßer Belehrung hin-
aus geht, und, ſo wie jenes Geſetz Juſtinian’s, eine Rück-
wirkung anordnet, iſt von ſtreng poſitiver Natur, alſo ganz
abhängig von den Umſtänden und Bedürfniſſen ſeiner Zeit,
und nicht der Ausdruck einer für alle Zeiten und Verhält-
niſſe gültigen Rechtsregel. Juſtinian kann alſo die hier
erwähnte Rückwirkung verordnet haben, weil er (mit Recht
oder Unrecht) annahm, ſie ſey nach dem Bedürfniß ſeiner
Zeit nöthig oder nützlich. Wollten wir dieſelbe aber jetzt
anwenden, ſo würden wir über den Sinn derſelben hinaus-
gehen, indem wir ohne allen Grund vorausſetzen müßten,
er habe dieſe Vorſchrift auch für alle künftige Zeiten, deren
Bedürfniſſe er unmöglich vorherſehen konnte, gelten laſſen
wollen.
Wenngleich nun aus dieſen Gründen hervorgeht, daß
wir den erwähnten Ausſprüchen des Römiſchen Rechts die
Kraft bindender Geſetze, ſelbſt in dem Gebiete unſeres ge-
|0421 : 399|
§. 386. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)
meinen Rechts, abſprechen müſſen, ſo darf dieſe Behaup-
tung keinesweges ſo verſtanden werden, als wollten wir
dieſelben für gleichgültig oder unwichtig erklären. Sie ſind
vielmehr dadurch höchſt wichtig geworden, daß ſie als eine
mächtige Autorität ſeit Jahrhunderten auf die Geſetzgebung,
die gerichtliche Praxis, und die Lehre der Schriftſteller ein-
gewirkt haben, wodurch, neben mancher Verſchiedenheit im
Einzelnen, dennoch im Ganzen eine ſo große Uebereinſtim-
mung entſtanden iſt, wie ſie ohne dieſe gemeinſame Grund-
lage gewiß nicht zu erwarten geweſen wäre.
§. 387.
A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſetzung).
Der Ausſpruch des Römiſchen Rechts über die Nicht-
rückwirkung (§ 386) iſt in die wichtigſten neueren Geſetz-
gebungen übergegangen.
I. Preußiſche Geſetzgebung.
Die Einleitung zum allgemeinen Landrecht enthält die-
ſen Grundſatz in folgenden Worten.
§ 14. Neue Geſetze können auf ſchon vorhin
vorgefallene Handlungen und Begeben-
heiten nicht angewendet werden.
Dieſe Vorſchrift iſt augenſcheinlich gemeint als Anwei-
ſung für die Handlungsweiſe der Richter, ſo daß das
Wort können eigentlich den Sinn von ſollen mit ſich
führt.
|0422 : 400|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II Zeitliche Gränzen.
Was den Geſetzgeber betrifft, ſo war in dem Entwurf
eine Stelle aufgenommen, welche den Vorbehalt von Aus-
nahmen, übereinſtimmend mit dem Römiſchen Recht, aus-
drücken ſollte (a). Dieſer Vorbehalt iſt in dem Landrecht
weggelaſſen worden, und es iſt an die Stelle deſſelben die
allgemeine Ausnahme getreten, daß neue Strafgeſetze, ſo-
fern ſie milder ſeyen, als die alten, auch auf frühere Ver-
brechen angewendet werden ſollen (b). — Dieſe Weglaſ-
ſung iſt jedoch ganz unerheblich, indem es ſich ohnehin von
ſelbſt verſteht, daß in jedem einzelnen künftigen Fall der
Geſetzgeber berechtigt iſt, einem neuen Geſetze ausnahms-
weiſe die rückwirkende Kraft beſonders beizulegen.
Die oben angeführte Vorſchrift ſtimmt mit dem Römi-
ſchen Recht auch darin überein, daß ſie ausdrücklich die
juriſtiſchen Thatſachen der früheren Zeit („Handlungen
und Begebenheiten“) der Einwirkung des neuen Geſetzes
entzieht, alſo ſowohl die vergangenen als die zukünftigen
Wirkungen dieſer früheren Thatſachen davon unabhängig
erhält.
Neben dieſer allgemeinen Beſtimmung, die für alle ge-
genwärtige und künftige Geſetze die zeitliche Gränze ihrer
(a) Entwurf eines Geſetzbuchs
Einleit. § 20. „Nur der Landes-
herr kann, aus überwiegenden
Gründen des gemeinen Beſten,
ein neues Geſetz auch auf ver-
gangene Fälle zurückerſtrecken.“
(b) Einleitung zum A. L. R.
§ 18—20. Eine andere, die Form
der Rechtsgeſchäfte betreffende Aus-
nahme (§ 16. 17) wird weiter
unten (§ 388. c) erwähnt werden.
|0423 : 401|
§. 387. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)
Wirkſamkeit feſtſtellt, kommt nun aber noch in Betracht eine
Anzahl tranſitoriſcher Vorſchriften, veranlaßt durch die
Einführung der gegenwärtigen Preußiſchen Geſetzgebung,
bald in das geſammte Land, bald in einzelne Landestheile
(§ 383). In dieſen iſt derſelbe Grundſatz anerkannt, und
nur in näheren Beſtimmungen einzeln angewendet.
II. Franzöſiſche Geſetzgebung.
Hier iſt unſer Grundſatz für das Privatrecht in folgen-
den wenigen Worten anerkannt (c).
La loi ne dispose que pour l’avenir; elle n’a
point d’effet rétroactif.
Sowohl dieſe Kürze, als der gebrauchte gangbare Kunſt-
ausdruck (effet rétroactif) läßt keinen Zweifel, daß hier
lediglich die aus dem Römiſchen Recht herrührende, und
durch das wiſſenſchaftliche Recht aller Länder längſt ge-
nauer ausgebildete Lehre ganz und vollſtändig anerkannt
werden ſollte; und ſo hat es auch die Franzöſiſche Praxis
aufgefaßt.
Ganz in demſelben Sinn iſt die Regel im Strafrecht
ausgeſprochen (d). Die rückwirkende Kraft der neuen
Strafgeſetze, wenn ſie milder ſind als die früheren, iſt hier
nicht, wie im Preußiſchen Recht, durch das Geſetz ſelbſt
hinzugefügt, wohl aber durch die Praxis anerkannt.
III. Oeſterreichiſche Geſetzgebung.
Auch hier findet ſich blos folgende kurze Vorſchrift (e).
(c) Code civil art. 2.
(d) Code pénal art. 4.
(e) Geſetzbuch § 5.
VIII. 26
|0424 : 402|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Geſetze wirken nicht zurück; ſie haben daher auf
vorhergegangene Handlungen und auf vorher er-
worbene Rechte keinen Einfluß.
Es gilt hier dieſelbe Bemerkung, welche bereits für
das Franzöſiſche Geſetz gemacht worden iſt. Ja es iſt
aus den gebrauchten Ausdrücken noch unzweifelhafter, daß
der Geſetzgeber die geſammte im gemeinen Recht anerkannte
und ausgebildete Theorie ſich hat aneignen wollen.
Bei der geringen Einwirkung der Geſetzgebung auf die
vorliegende Lehre iſt dem wiſſenſchaftlichen Recht ein um
ſo größerer Einfluß zugefallen, und es ſcheint daher nöthig,
einige allgemeine Bemerkungen über die Stellung unſerer
Schriftſteller zu dieſer Lehre voraus zu ſchicken. Im
Großen und Ganzen findet ſich eine größere Uebereinſtim-
mung, als man erwarten möchte; theils durch die große
Autorität, die ſeit Jahrhunderten die Ausſprüche des Rö-
miſchen Rechts ausgeübt haben (§ 386), theils durch die
gerade hierin oft unverkennbare innere Macht der Dinge
ſelbſt. Die dennoch vorhandenen Verſchiedenheiten haben eine
zweifache Natur. Einige gründen ſich auf die mehr oder
weniger richtige Auffaſſung der einzelnen Rechtsverhältniſſe
in Beziehung auf unſere Frage, und von dieſen wird erſt
unten, bei dieſen Rechtsverhältniſſen ſelbſt, die Rede ſein
können. Andere ſind entſtanden aus den verſchiedenen Ver-
|0425 : 403|
§. 387. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)
ſuchen, das mehr oder weniger deutlich Gedachte in allge-
meinen Grundſätzen zu formuliren; dieſe Verſchiedenheiten
haben eine überwiegend theoretiſche Natur. Eine ſehr in
das Einzelne gehende Vergleichung und Kritik dieſer Ver-
ſuche würde nicht in rechtem Verhältniß ſtehen zu der da-
von zu erwartenden Frucht. Es wird genügen, bei einigen
Schriftſtellern, die auf dieſe allgemeine Formulirung mehr
als Andere, Kraft verwendet haben, auf das Eigenthümliche
derſelben hinzuweiſen.
Weber legt beſonderes Gewicht auf folgende Unter-
ſcheidung (f). Man könne ein neues Geſetz erſtlich ver-
ſuchen ſo zu behandeln, als wenn es ſchon in einer frü-
heren Zeit vorhanden geweſen wäre, ſo daß es auch auf
die in die Vergangenheit fallenden Wirkungen älterer Rechts-
geſchäfte bezogen würde. Darin liege eine rückwirkende
Kraft, und dieſe ſey verwerflich. Man könne aber auch
zweitens ſich darauf beſchränken, die künftigen Wirkungen
älterer Rechtsgeſchäfte nach dem neuen Geſetze zu beurthei-
len, und Dieſes ſey richtig. — Er glaubt, dieſe Unterſchei-
dung, als Grundlage der ganzen Lehre, aus der Natur der
Sache abgeleitet zu haben, ſteht aber in der That unter
dem Einfluß der L. 27 C. de usuris (§ 386. g), deren
ſehr eigenthümliche und willkürliche Vorſchrift ſich ihm un-
vermerkt in einen allgemeinen Grundſatz verwandelt. Wie
ſehr er auf dieſem Wege zu einer inconſequenten Anwen-
(f) Weber § 21. a bis § 27.
26*
|0426 : 404|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
dung ſeines Grundſatzes unvermerkt genöthigt wird, um
der völligen Unausführbarkeit zu entgehen, iſt ſchon oben
bemerkt worden (g).
Bergmann legt eine allgemeinere Unterſcheidung zum
Grunde (h). Ein Anderes ſoll gelten nach der Natur der
Sache, ein Anderes nach den ganz poſitiven Vorſchriften
des Römiſchen Rechts. — Nach der Natur der Sache ſoll
Das wahr ſeyn, welches Weber für den Inhalt des Rö-
miſchen Rechts ausgiebt. Das neue Geſetz ſoll nur nicht
retrodatirt, das heißt, auf die in die Vergangenheit fallen-
den Wirkungen bezogen werden; die Beziehung auf die
künftigen Wirkungen älterer Rechtsgeſchäfte ſoll gültig ſeyn.
— Die poſitive Vorſchrift des Römiſchen Rechts ſoll da-
von auf zweierlei Weiſe abweichen. Erſtlich, indem es auch
die künftigen Wirkungen älterer Rechtsgeſchäfte in Schutz
nehme; zweitens, indem es nicht blos die rechtlichen Wir-
kungen (erworbene Rechte) ſchütze, ſondern auch bloße Er-
wartungen.
Bei dieſem letzten Schriftſteller iſt beſonders zu tadeln,
daß er den Inhalt des Römiſchen Rechts in einen grund-
ſätzlichen Gegenſatz bringt mit dem aus der Natur der
Sache hervorgehenden Recht, welches der Abſicht der von
Theodoſius II. herrührenden, und von Juſtinian in ſeine
Geſetzſammlung aufgenommenen Hauptſtelle geradezu wider-
ſpricht (§ 386. a), alſo nur vertheidigt werden kann durch
(g) S. o. § 385. k.
(h) Bergmann § 4 § 22 § 30.
|0427 : 405|
§. 387. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)
die Vorausſetzung, die Römiſchen Geſetzgeber hätten ſich
über die Natur der Sache völlig getäuſcht, nicht durch die
Annahme, ſie hätten abſichtlich neues, poſitives Recht vor-
ſchreiben wollen. — Uebrigens ſchlägt Bergmann weſentlich
daſſelbe Verfahren ein, wie Weber. Dieſer ſteht, wie ſchon
bemerkt, ohne es ſich recht deutlich zu machen, unter dem
Einfluß der L. 27 C. de usuris; eben ſo Bergmann unter
dem Einfluß von zwei Novellen Juſtinian’s (N. 66 und N. 22
C. 1). Unter dem falſchen Schein eines kritiſch-hiſtoriſchen
Verfahrens bildet er aus einigen allgemeinen Redensarten
dieſer Novellen, und aus ſehr willkürlichen Vorſchriften
derſelben, eine allgemeine Theorie der erlaubten und uner-
laubten rückwirkenden Kraft der Geſetze aus, unter der
ganz unkritiſchen ſtillſchweigenden Vorausſetzung, Juſtinian
habe in dieſe Novellen eine ſolche Theorie niederlegen wol-
len, ſie ſollten alſo den allgemeinen Maaßſtab abgeben für
die Anwendung neuer Geſetze überhaupt.
Struve endlich zeichnet ſich nicht aus durch eine be-
ſondere Auffaſſung der rückwirkenden Kraft überhaupt, in-
dem er hierin vielmehr von der Auffaſſung Anderer mehr
im Ausdruck, als im Weſen, abweicht. Dagegen ſteht er
ganz allein in der Behauptung, daß die Regeln über die
Anwendung neuer Geſetze auf Vergangenheit und Zukunft
ausſchließend aus der vom Richter zu erkennenden Natur
der Sache, niemals aus poſitiven Geſetzen, hergenommen
werden dürften. Jeder Verſuch, dieſen Gegenſtand geſetz-
lich zu regeln, ſoll gänzlich nichtig ſein, und vom Richter
|0428 : 406|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
gar nicht beachtet werden dürfen; weshalb er denn auch
alle tranſitoriſche Geſetzgebung völlig verwirft (i). — Bei
dieſer Auffaſſung der Sache iſt hauptſächlich die Beſchei-
denheit zu verwundern, womit dieſer Schriftſteller ſeine Be-
hauptung über das Verhältniß des Richters zu den Ge-
ſetzen auf den engen Kreis der die Rückwirkung betreffen-
den Rechtsfragen einſchränkt. Bei unbefangener Betrach-
tung wird man ſich überzeugen müſſen, daß dieſelbe Be-
hauptung, wenn ſie überhaupt wahr iſt, auch auf das
ganze übrige Gebiet aller Rechtsfragen ausgedehnt wer-
den müſſe.
§. 388.
A. Erwerb der Rechte. Anwendungen des Grundſatzes.
Indem ich jetzt zur Anwendung des aufgeſtellten Grund-
ſatzes übergehe, muß ich zuvor auf einen, für unſere Un-
terſuchung wichtigen, Unterſchied in der Beſchaffenheit der
juriſtiſchen Thatſachen aufmerkſam machen. Die meiſten
dieſer Thatſachen ſind einfache, einem einzelnen Zeitpunkt
angehörende, Ereigniſſe, ſo wie die Verträge, deren Weſen
in einer übereinſtimmenden Willenserklärung beſteht, alſo
in einer augenblicklichen Handlung, bei welcher die vielleicht
lange dauernde Vorbereitung ganz gleichgültig iſt. Bei die-
ſer Art der Thatſachen iſt es leicht zu beſtimmen, ob ein
(i) Struve S. 6. S. 30—34 S. 153—154.
|0429 : 407|
§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.
neues Geſetz vor oder nach einer ſolchen Thatſache erlaſſen
ſeyn mag.
Dagegen giebt es manche andere Thatſachen, die ſich
über einen ganzen Zeitraum verbreiten, entweder indem ſie
einen gleichmäßig fortgeſetzten Zuſtand vorausſetzen (wie
die Uſucapion und die Klagverjährung), oder indem ſie aus
mehreren, der Zeit nach auseinander liegenden, einzelnen
Ereigniſſen zuſammengeſetzt ſind (wie die Teſtamente). Bei
dieſen iſt die Beſtimmung des Zeitverhältniſſes zu einem
neuen Geſetze ſchwierig und verwickelt, ſo daß ſie nur durch
ſorgfältige Beachtung und Unterſcheidung der einzelnen Um-
ſtände gelingen kann, indem das neue Geſetz oft erlaſſen
wird zu einer Zeit, welche zwiſchen dem Anfang und der
Vollendung einer ſolchen Thatſache liegt.
In den juriſtiſchen Thatſachen der erſten, einfacheren Art
(den augenblicklichen Ereigniſſen) verdienen beſonders zwei
Momente unſere Aufmerkſamkeit, worüber eine gemeinſame
Vorbemerkung hier ihre rechte Stelle finden wird: die
Handlungsfähigkeit der betheiligten Perſonen, und die juri-
ſtiſche Form der Rechtsgeſchäfte.
Die Handlungsfähigkeit iſt ausſchließend zu beurtheilen
nach der Zeit der juriſtiſchen Thatſache, ſowohl was den
faktiſchen Zuſtand, als was das beſtehende Geſetz betrifft.
Schließt alſo ein Minderjähriger ohne Vormund einen Ver-
trag, ſo iſt und bleibt dieſer Vertrag ungültig, auch nach-
dem das volljährige Alter erreicht iſt; eben ſo aber auch,
wenn ein ſpäteres Geſetz den Zeitpunkt der Volljährigkeit
|0430 : 408|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
früher, als bisher, eintreten läßt. Daſſelbe gilt aber auch
umgekehrt; ſchließt alſo unter der Herrſchaft des Franzöſi-
ſchen Rechts ein Einundzwanzigjähriger einen Vertrag, ſo
iſt und bleibt der Vertrag gültig, auch wenn bald nachher
dieſer Ort unter die Herrſchaft des Römiſchen Rechts tritt,
welches Fünf und zwanzig Jahre für die Volljährigkeit er-
fordert. — Ueber dieſen Gegenſtand iſt auch, ſo viel ich
weiß, niemals ein Zweifel erhoben worden. — Daſſelbe
muß behauptet werden, wenn eine Frau Bürgſchaft leiſtet,
während das Römiſche Recht (mit dem Sc. Vellejanum) gilt,
welches Geſetz nachher aufgehoben wird, oder umgekehrt.
Im erſten Fall iſt und bleibt die Bürgſchaft ungültig, im
zweiten Fall iſt und bleibt ſie gültig, auch nach dem abän-
dernden neuen Geſetz (a).
Auf gleiche Weiſe muß die juriſtiſche Form eines Rechts-
geſchäfts beurtheilt werden ausſchließend nach dem zur Zeit des
vorgenommenen Geſchäfts beſtehenden Geſetz, ſo daß ein
ſpäteres Geſetz keinen Einfluß auf die Gültigkeit hat, ohne
Unterſchied, ob daſſelbe die frühere Form erleichtert oder
erſchwert. Man kann dieſen Satz ſo ausdrücken: tempus
regit actum, übereinſtimmend mit der Regel des örtlichen
Rechts: locus regit actum (§ 381), ja er führt ſogar
noch einen höheren Grad von Gewißheit und Nothwendig-
keit mit ſich, als dieſe Regel, welche man als eine, durch
(a) Von einer abweichenden Meinung von Meyer über das
Sc. Vellejanum wird unten bei den Verträgen § 392 die Rede
ſeyn.
|0431 : 409|
§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.
allgemeine Rechtsgewohnheit begründete, Begünſtigung der
Rechtsgeſchäfte anſieht. Denn bei dieſer Regel des ört-
lichen Rechts iſt es oft (wenngleich nicht immer) den Par-
teien möglich, eine andere Form zu beobachten, und darum
wird ihnen billigerweiſe die Wahl gelaſſen, welches Geſetz
ſie in Anſehung der Form beobachten wollen: das am Ort
der Handlung geltende, oder vielmehr das Geſetz des Ortes,
welchem in anderer Hinſicht dieſes Rechtsgeſchäft angehört,
z. B. das Geſetz des Wohnſitzes. Eine ſolche Möglichkeit,
und das darauf gegründete Wahlrecht der Parteien zwiſchen
verſchiedenen Geſetzen, iſt neben der Regel: tempus regit
actum, gar nicht vorhanden, da Niemand vorherſehen kann,
daß ein künftiges Geſetz die Form abändern werde, und
worin die Aenderung beſtehen werde. Daher iſt denn auch
von Schriftſtellern dieſe Regel ohne Widerſpruch anerkannt
worden (b).
Nur in Einer Beziehung könnte man einen Zweifel an
der Allgemeingültigkeit dieſer Regel geltend machen wollen,
wenn nämlich das neue Geſetz die Form eines Rechtsge-
ſchäfts nicht erſchwert, ſondern erleichtert. Hier könnte man
aus ſcheinbarer Milde und Schonung, aus dem unbedingten
Beſtreben nach der Aufrechthaltung der Rechtsgeſchäfte, an-
nehmen wollen, das Geſchäft ſey auch dann gültig, wenn
die dabei angewendete, damals unzureichende, Form zu-
fälligerweiſe den Forderungen des neuen Geſetzes genüge.
(b) Weber S. 90 u. fg. Meyer p. 19. 29. 43. 61. 89.
|0432 : 410|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Dieſen Weg hat in der That das Preußiſche Geſetz einge-
ſchlagen (c). Ich halte aber dieſe Vorſchrift für einen
Mißgriff, und glaube, daß, wo ein ſolches Geſetz nicht
beſteht, gerade das Gegentheil nach allgemeinen Grundſätzen
angenommen werden muß.
Der erwähnten Vorſchrift ſcheint die Anſicht zum Grunde
zu liegen, die poſitiven Formen der Rechtsgeſchäfte ſeyen
Beſchränkungen der individuellen Freiheit zum Vortheil des
öffentlichen Wohls, etwa ſo, wie die Staatsabgaben, die
der Staat, ohne Rechtsverletzung, nicht blos im Allge-
meinen herabſetzen, ſondern auch dem Einzelnen ſchenkungs-
weiſe erlaſſen kann. Dieſe Anſicht kann nur etwa zugegeben
werden für die mit manchen Rechtsgeſchäften verbundene
Stempelabgabe, und auch da nur, in ſofern der Gebrauch
des Stempelpapiers als Bedingung der Gültigkeit des Ge-
ſchäfts vorgeſchrieben ſeyn ſollte; für alle andern Formen
iſt dieſe Anſicht unwahr, wie ſich aus folgendem Beiſpiel
ergeben wird.
Wenn gegenwärtig in Berlin ein eigenhändig geſchrie-
benes Privatteſtament errichtet wird, ſo iſt Dieſes eine
unwirkſame Handlung, aus welcher, bei dem Tode des
Teſtators, keine Rechte entſpringen. Wird aber vor ſeinem
Tode die Franzöſiſche Teſtamentsform eingeführt, nach
(c) Allg. L. R. Einleit. § 17.
„Frühere Handlungen, welche, we-
gen eines Mangels an Förmlich-
keit, nach den alten Geſetzen un-
gültig ſeyn würden, ſind gültig,
in ſofern nur die nach den neu-
ern Geſetzen erforderlichen Förm-
lichkeiten, zur Zeit des darüber
entſtandenen Streites, dabei ange-
troffen werden.“
|0433 : 411|
§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.
welcher das eigenhändige Privatteſtament vollgültig iſt,
ſo würde dadurch, nach der angeführten geſetzlichen Vor-
ſchrift (Note c), jenes Teſtament gültig werden und die
künftige Erbfolge beſtimmen. Darin ſcheint eine humane
Begünſtigung des Teſtators zu liegen, deren Richtigkeit
jedoch ſehr bezweifelt werden muß. Ein Geſetz, welches,
wie das jetzt in Preußen beſtehende, ſchlechthin die gericht-
liche Abfaſſung der Teſtamente erfordert, wird dabei un-
zweifelhaft von mehreren zuſammen wirkenden, in ſich ver-
wandten, Beweggründen geleitet, die insgeſammt auf der
beſonderen Wichtigkeit der Teſtamente, in Vergleichung mit
anderen Rechtsgeſchäften, beruhen. Durch die nothwendige
Mitwirkung des Richters wird der Unterſchiebung eines
falſchen Teſtaments vorgebeugt; ferner der unbeſonnenen
Uebereilung, die aus augenblicklicher Zuneigung oder Ab-
neigung gegen beſtimmte Perſonen hervorgehen kann; endlich
dem eigennützigen Einfluß mancher Perſonen, dem ſich der
unbewachte, unberathene Teſtator aus Schwäche nicht zu
entziehen vermag. Alle dieſe Beweggründe beziehen ſich auf
das Privatwohl, nicht auf den Vortheil des Staats, und
wenn auch das neue Geſetz dieſe Gründe nicht mehr ſo
hoch anſchlägt, ſo iſt es doch eine große Frage, ob der
wahre Vortheil des Teſtators, nämlich die Aufrechthaltung
des wahren, ernſten, beſonnenen Willens, befördert wird
durch die, dem juriſtiſchen Grundſatz widerſprechende, rück-
wärts gehende Bekräftigung eines bis dahin unwirkſamen
Teſtaments. Dieſes wird beſonders einleuchtend, wenn
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
man ſich klar zu machen ſucht, warum denn der Teſtator
die zur Zeit des errichteten Teſtaments beſtehende geſetzliche
Form unbeachtet gelaſſen hat. Es kann Dieſes geſchehen
ſeyn aus bloßer Rechtsunkunde, während ein ernſter, be-
ſonnener Wille in der That vorhanden war; auf dieſer
Vorausſetzung beruht ohne Zweifel die angeführte Vorſchrift
des Landrechts, die als reine Wohlthat gedacht wird. Aber
es kann auch geſchehen ſeyn mit vollem Bewußtſeyn des
beſtehenden Rechts, ſo daß das eigenhändige Privatteſta-
ment eine bloße Vorbereitung ſeyn ſollte zu einem gericht-
lichen Akt, deſſen Vornahme der Teſtator noch einer weitern
Ueberlegung vorbehalten wollte. Dann bekräftigen wir,
in Folge jenes Geſetzes, ein Teſtament, wozu der wahre,
letzte Entſchluß vielleicht niemals vorhanden war. Auf der
anderen Seite kann man ſagen, daß der Teſtator, indem
er das Privatteſtament nach Erſcheinung des neuen Ge-
ſetzes aufbewahrte, ſo zu betrachten iſt, als hätte er es
jetzt neu geſchrieben, wozu er doch unſtreitig befugt war.
Allein gerade bei Teſtamenten iſt Nichts gewöhnlicher, als
das unbeſtimmte Hinausſchieben, und ſo iſt Nichts unſicherer,
als irgend eine Vorausſetzung, die hierauf über den wahren,
endlichen Willen gebaut werden möchte. Man verwickelt
ſich dabei in die Erwägung zufälliger, blos möglicher Um-
ſtände, und bei unbefangener Betrachtung wird man ein-
räumen müſſen, daß es durchaus an einem befriedigenden
Grunde fehlt, von der reinen juriſtiſchen Regel: tempus
regit actum, abzugehen, und daß man dabei in Gefahr
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§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.
kommt, aus vermeintlicher Humanität einen Erfolg eintreten
zu laſſen, der dem wirklichen Willen vielleicht geradezu
widerſpricht.
Bei der Anwendung auf die einzelnen Rechtsverhält-
niſſe ſoll nunmehr dieſelbe Anordnung befolgt werden, welche
ſchon im erſten Kapitel befolgt worden iſt (d).
I. Zuſtand der Perſon an ſich.
II. Sachenrecht.
III. Obligationenrecht.
IV. Erbrecht.
V. Familienrecht.
Eines beſonderen Abſchnittes über die Formen der
Rechtsgeſchäfte bedarf es nicht, da dieſe Frage ſchon in
den gegenwärtigen einleitenden Paragraphen aufgenommen
worden iſt.
(d) Es verſteht ſich von ſelbſt,
daß hier dieſelbe Beſchränkung
auf das Privatrecht, und zwar
auf das materielle Privatrecht, zu
beobachten iſt, wie oben bei den
Gränzen des örtlichen Rechts
(§ 361. a. § 384. b).
|0436 : 414|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
§ 389.
A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. I. Zuſtand der
Perſon an ſich.
Die neuen Geſetze, welche den Zuſtand der Perſon an
ſich, insbeſondere die Handlungsfähigkeit, zum Gegenſtand
haben, ſind hier in zwei verſchiedenen Rückſichten zu er-
wägen. Erſtlich wegen der denkbaren Einwirkung des
neuen Geſetzes auf die vor demſelben von der betheiligten
Perſon vorgenommenen Rechtsgeſchäfte; zweitens in Be-
ziehung auf den perſönlichen Zuſtand ſelbſt, der durch das
neue Geſetz beherrſcht werden ſoll. — Die erſte Frage iſt
bereits beantwortet worden (§ 388); es bleibt alſo nun die
zweite Frage übrig, wie ein neues, den perſönlichen Zu-
ſtand betreffendes, Geſetz auf die zu ſeiner Zeit beſtehenden
Rechtsverhältniſſe dieſer Art einwirkt, und ob dabei insbe-
ſondere unſer Grundſatz, der die Rückwirkung ausſchließen
ſoll, zur Anwendung kommt.
Dieſer Grundſatz findet auf den Zuſtand der Perſon
an ſich nur geringe Anwendung, indem die meiſten Zu-
ſtände dieſer Art eine ſo abſtracte Natur haben, daß ſie als
erworbene Rechte nicht angeſehen werden können; unter
beſonderen Vorausſetzungen jedoch, alſo ausnahmsweiſe,
haben wir auch hier erworbene Rechte anzuerkennen (§ 385.
d. e. f.). Nur in dieſen beſonderen Fällen alſo iſt die Ein-
wirkung des neuen Geſetzes auf vorgefundene Zuſtände
|0437 : 415|
§. 389. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. I. Perſon an ſich.
durch unſren Grundſatz zu beſchränken; in allen übrigen
Fällen dagegen kommt das neue Geſetz augenblicklich zu
ganz unbeſchränkter Wirkſamkeit. Dieſes ſoll nunmehr in
Anwendung auf die wichtigſten Fälle des Zuſtandes der
Perſon an ſich dargethan werden.
1. Wegen des Alters ſind folgende Regeln anzu-
nehmen. Wird die Minderjährigkeit durch ein neues Ge-
ſetz verlängert oder verkürzt, ſo iſt daſſelbe ſofort anzuwen-
den auf alle Minderjährige, die es eben vorfindet, ſo daß
keiner derſelben behaupten kann, er habe durch das alte
Geſetz das Recht erworben, gerade in dem durch daſſelbe
beſtimmten Zeitpunkt volljährig zu werden.
Anders verhält es ſich jedoch mit Denen, welche nach
dem alten Geſetz bereits volljährig geworden waren, wenn-
gleich ſie nach dem Inhalt des neuen Geſetzes noch minder-
jährig ſeyn würden. Denn für dieſe beſtimmte Perſonen
iſt die Volljährigkeit, und die mit derſelben verbundene
Selbſtſtändigkeit, ein erworbenes Recht, begründet durch
den unter der Herrſchaft des alten Geſetzes eingetretenen
beſtimmten Zeitpunkt. Wollte man ſie wieder minderjährig
machen, und unter Vormundſchaft ſtellen, ſo läge darin
eine, unſrem Grundſatz widerſprechende, Rückwirkung, die
ſelbſt durch ausdrückliche Vorſchrift des Geſetzes nur als
eine (nicht zu billigende) Ausnahme des Grundſatzes geltend
gemacht werden könnte (a).
(a) Es iſt alſo für dieſen Fall des neuen Geſetzes dieſelbe Regel
anzuwenden, welche für den Fall des veränderten Wohnſitzes ſchon
oben aufgeſtellt worden iſt (§ 365 p. q.).
|0438 : 416|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Die Richtigkeit dieſer Behauptung wird durch die Ver-
gleichung mit folgendem Fall beſtätigt. Wenn ein Minder-
jähriger für volljährig erklärt wird, ſey es durch den Lan-
desherrn (nach Römiſchem Recht), oder durch ein Vormund-
ſchaftsgericht (nach Preußiſchem Recht), ſo wird Niemand
zweifeln, daß für ihn die Volljährigkeit mit ihren Folgen
die Natur eines erworbenen Rechts hat. Geſetzt nun, daß
bald nachher, und ehe dieſe beſtimmte Perſon das geſetzliche
Alter erreicht hat, in dieſem Lande die Volljährigkeits-
erklärung überhaupt abgeſchafft würde, ſo müßte doch dieſe
Perſon fortwährend als volljährig anzuſehen ſeyn. Was
aber in einem ſolchen Fall der Ausſpruch des Landesherrn
oder des Gerichts gewährt, darf auch Dem nicht verſagt
werden, der unter der Herrſchaft des alten Geſetzes das
von dieſem vorgeſchriebene Alter erreicht hat.
Die hier aufgeſtellte Anſicht hat in der Preußiſchen
Geſetzgebung vielfache Anerkennung gefunden.
Das Einführungspatent des A. L. R. in die Provinzen
jenſeits der Elbe vom 9. Septbr. 1814 enthält im § 14
folgende Worte (b):
Die Volljährigkeit tritt in Anſehung aller derjenigen
Perſonen, welche ſolche vor dem 1. Januar
1815 (c) nach den bisherigen Geſetzen noch
nicht erreicht haben, erſt mit dem vollendeten
vier und zwanzigſten Jahre ein.
(b) Geſetzſammlung 1814 S. 93.
(c) Der 1. Jan. 1815
war der Tag, an welchem das Landrecht Geſetzeskraft erhalten ſollte.
|0439 : 417|
§. 389. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. I. Perſon an ſich.
Eine gleichlautende Beſtimmung enthalten die übrigen
tranſitoriſchen Geſetze der nachfolgenden Jahre (§ 383),
und eben ſo eine beſondere für Erfurt und Wandersleben
über die Volljährigkeit im J. 1817 erlaſſene Verordnung (d).
Eine abweichende Anſicht über dieſe Frage vertheidigt
ein Schriftſteller des Franzöſiſchen Rechts, indem er be-
hauptet, daß in einem ſolchen Fall der bereits volljährig
Gewordene, in Folge des neuen Geſetzes, wieder als min-
derjährig behandelt werden müſſe, und zur Beſtätigung
dieſer Behauptung übereinſtimmende Urtheile der Gerichts-
höfe von Nismes und Turin anführt (e).
2. Aehnliche Fragen können in Anſehung des Ge-
ſchlechts vorkommen, nur mit dem Unterſchied, daß dabei
der Fall eines perſönlich erworbenen Rechts, wie bei der
Minderjährigkeit, nicht eintreten kann.
Wenn in einem Lande, das bisher die Geſchlechtsvor-
mundſchaft nicht kannte, eine ſolche in irgend einer ihrer
vielen Abſtufungen (f) durch neues Geſetz eingeführt wird,
ſo ſind derſelben augenblicklich alle jetzt lebende Frauen un-
terworfen. Eben ſo verhält es ſich umgekehrt, wenn die
bisher beſtehende Geſchlechtsvormundſchaft durch neues Ge-
ſetz abgeſchafft wird (g).
Wenn da, wo die Frauen, gleich den Männern, gültige
Bürgſchaften übernehmen können, das Sc. Vellejanum ein-
(d) Geſetzſammlung 1817 S. 201.
(e) Meyer p. 97. 98.
(f) Eichhorn deutſches Recht § 324—326.
(g) Chabot T. 1
p. 29—36.
VIII. 27
|0440 : 418|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
geführt wird, ſo wirkt dieſe neue Beſchränkung augenblicklich
auf alle jetzt lebende Frauen, wenn dieſe künftig in Bürg-
ſchaften eintreten möchten. Ganz Daſſelbe aber muß be-
hauptet werden, wenn das bisher beſtehende Sc. Vellejanum
durch neues Geſetz aufgehoben wird (h).
In allen dieſen Fällen alſo würde es ganz unbegründet
ſeyn, wenn man etwa den jetztlebenden Frauen ein erwor-
benes Recht auf die bisher beſeſſene ausgedehntere Hand-
lungsfähigkeit zuſchreiben, und die Wirkſamkeit des beſchrän-
kenden neuen Geſetzes auf die künftige weibliche Generation
einſchränken wollte.
3. Bei der Infamie iſt die hier behandelte Frage
gleichfalls aufgeworfen worden (i).
Die meiſten und wichtigſten Fälle derſelben gehören
nicht in den Kreis unſerer Unterſuchung, die ſich auf das
Privatrecht beſchränkt und das Strafrecht ausſchließt; ich
meine alle die Fälle, in welchen die Infamie als Criminal-
ſtrafe erſcheint, ſey es allein, oder in Verbindung mit an-
deren Strafen, vielleicht auch als Folge anderer Strafen.
Es könnte hier davon die Frage ſeyn etwa in Anwen-
dung auf manche Fälle der ſogenannten infamia immediata,
wohin das Römiſche Recht mehrere Arten von unzüchtigen
(h) Chabot T. 2 p. 350—
353.
(i) Ich habe oben, B. 2 § 83,
zu zeigen geſucht, daß die Infamie
für unſer heutiges gemeines Recht
keine Geltung mehr habe. Die
gegenwärtige Erwähnung derſel-
ben bezieht ſich alſo theils auf
die abweichende Meinung Anderer
über dieſen Punkt, theils auf
neuere Geſetzgebungen, worin die
Infamie anerkannt iſt.
|0441 : 419|
§. 389. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. I. Perſon an ſich.
Gewerben rechnet (k). Wenn nun ein neues Geſetz für
ſolche Fälle die bisher nicht geltende Infamie einführt, ſo
hat es keinen Zweifel, daß daſſelbe auf Alle angewendet
werden muß, die ſich von jetzt an in dieſer Lage befinden,
und daß dieſe kein erworbenes Recht in Anſpruch nehmen
können, eine ſolche Lebensweiſe, frei von Infamie, zu
führen.
4. Endlich kann unſere Frage noch vorkommen bei
der gerichtlich erklärten Verſchwendung, und
den mit einer ſolchen Erklärung verbundenen Nachthei-
len, insbeſondere der Interdiction eigener Vermögens-
verwaltung.
Was in dieſer Hinſicht durch neues Geſetz vorgeſchrie-
ben wird, ſey es ſchärfend oder mildernd in Vergleichung
mit dem bisher beſtehenden Zuſtand, muß augenblicklich zur
Anwendung kommen, und es kann dagegen die Fort-
dauer des gegenwärtigen Zuſtandes, als eines angeb-
lich erworbenen Rechtes, nicht in Anſpruch genommen
werden (l).
(k) S. o. B. 2 S. 183.
(l) Meyer p. 99—111, der
zur Beſtätigung ein Urtheil des
Caſſationshofs zu Paris anführt.
Chabot T. 2 p. 174—179 iſt
hierin abweichender Meinung.
27*
|0442 : 420|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
§. 390.
A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.
Im Sachenrecht kommt unſer Grundſatz meiſt zu reiner,
vollſtändiger Anwendung.
1. Eigenthum.
Wird dieſes Recht durch bloßen Vertrag veräußert
unter der Herrſchaft eines Geſetzes, das eine ſolche Ver-
äußerung als vollgültig anerkennt, ſo bleibt das erworbene
Eigenthum gültig, auch wenn ein ſpäteres Geſetz die Tra-
dition zur Veräußerung erfordert (a).
Wird umgekehrt unter der Herrſchaft eines Geſetzes,
das die Tradition erfordert, ein bloßer Vertrag über die
Veräußerung, ohne Tradition, geſchloſſen, ſo geht dadurch
kein Eigenthum über, und ſelbſt wenn ein ſpäteres Geſetz
den bloßen Vertrag für hinreichend erklärt, ſo wird auch
dadurch der Uebergang des Eigenthums nicht begründet.
Vielmehr bedarf es dann zu dieſem Zweck entweder eines
neuen Vertrags, oder der nachzuholenden Tradition (b).
2. Servitut.
Dabei gelten ganz dieſelben Regeln, wie bei dem Eigen-
thum, wenn etwa zwei Geſetze auf einander folgen, wovon
das eine den bloßen Vertrag, das andere die Tradition
(a) Dieſes wird auch anerkannt von Weber S. 108, jedoch
inconſequenterweiſe, ſ. o. § 385, k. § 387. i.
(b) Weber S.
108. 109.
|0443 : 421|
§. 390. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.
oder irgend eine poſitive Form zur Errichtung der Servitut
erfordert (c).
Anders verhält es ſich mit den ſogenannten geſetzlichen
Servituten. Wenn ſolche bisher nicht beſtanden, durch ein
neues Geſetz aber eingeführt werden, ſo iſt dabei unſer
Grundſatz gar nicht anwendbar; vielmehr entſtehen nun
ſolche Beſchränkungen des Eigenthums unmittelbar nach
dem Erlaß des neuen Geſetzes, überall, wo die thatſächlichen
Bedingungen derſelben angetroffen werden (d). Der wahre
Grund aber liegt darin, daß ein ſolches Geſetz nicht ſowohl
den Erwerb eines Rechts zum Gegenſtand hat, als vielmehr
das Daſeyn (die Beſchaffenheit) des Eigenthums, alſo die
Bedingungen und Gränzen, welche für die Anerkennung
des Eigenthums überhaupt gelten ſollen. Auf dieſe ganze
Gattung von Rechtsregeln bezieht ſich aber nicht der Grund-
ſatz, welcher die rückwirkende Kraft der Geſetze ausſchließt
(§ 384. 399).
3. Pfandrecht.
Wenn in einem Lande, worin das Römiſche Pfandrecht
beſteht, durch neues Geſetz ein bisher unbekannter Fall des ſtill-
ſchweigenden Pfandrechts, zum Schutz irgend eines Rechts-
geſchäfts, eingeführt wird, ſo iſt das neue Geſetz anzuwen-
den auf alle ſpäter abgeſchloſſene Rechtsgeſchäfte dieſer Art,
auf die früheren nicht. Dieſer Satz wurde anerkannt von
(c) Chabot T. 2 p. 361.
(d) Chabot T. 2 p. 361.
Struve S. 267.
|0444 : 422|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Juſtinian, als er zum Schutz der Dotalverhältniſſe ein
ſtillſchweigendes Pfandrecht einführte; denn er fügte am
Schluß ſeines umfaſſenden neuen Dotalgeſetzes hinzu, daß
alle Beſtimmungen deſſelben (alſo auch die über das ſtill-
ſchweigende Pfandrecht) nur auf ſpätere Dotalgeſchäfte an-
gewendet werden ſollten (e).
Wird durch neues Geſetz einem Pfandrecht irgend eine
Stelle in der Reihe der privilegirten Hypotheken angewie-
ſen, ſo haben auf das Privilegium nur diejenigen Hypothe-
ken ſolcher Art Anſpruch, die erſt nach dem neuen Geſetz
entſtehen (f). Dieſe aber haben den Anſpruch auch gegen
alle vor dem neuen Geſetz entſtandene Hypotheken; die In-
haber derſelben haben alſo, ſobald das neue Geſetz er-
ſcheint, Maaßregeln zu treffen, um ſich gegen die
Gefahr ſolcher ſpäteren privilegirten Hypotheken zu
ſchützen (g).
Im älteren Römiſchen Recht war es erlaubt, eine
Sache mit der Verabredung zu verpfänden, daß der
Glaubiger das Eigenthum des Pfandes um den Betrag
der Schuld erwerben ſollte, wenn die Schuld nicht be-
zahlt werden würde (h). Dieſer Vertrag wurde ſpäter-
(e) L. un. § 16. C. de rei
ux. act. (5. 13). Bergmann
S. 126.
(f) L. 12 § 3 C. qui pot.
(8. 18) (Privilegium der Dos). —
L. 27 in f. C. de pign. (8. 14)
(Privilegium der Militia).
(g) Sie können gleich jetzt
ihr Pfandrecht geltend machen,
alſo zu einer Zeit, in welcher die
mögliche künftige Concurrenz noch
nicht vorhanden iſt.
(h) Vatic. fragm. § 9 (von
Papinian). Ein ſolcher Vertrag
heißt lex commissoria.
|0445 : 423|
§. 390. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.
hin verboten (i). In Folge unſeres Grundſatzes hätte
dieſes Verbot angewendet werden müſſen nur auf die ſpä-
teren Verträge dieſes Inhalts; K. Conſtantin aber, von
welchem das Geſetz herrührt, gab ihm ausnahmsweiſe rück-
wirkende Kraft, wodurch es auch auf die vergangenen Ver-
träge anwendbar wurde. — Nach den Gründen, die oben
in Beziehung auf ein ähnliches Geſetz über die Zinſen
ausgeführt worden ſind (§ 386), hat dieſer tranſitoriſche
Zuſatz für uns, ſelbſt die Anwendbarkeit des Römiſchen
Rechts überhaupt vorausgeſetzt, keinerlei praktiſche Be-
deutung.
Die hier für die neuen Geſetze über das Pfandrecht
aufgeſtellten Regeln ſind aber durchaus nicht anwendbar,
wenn dieſe Geſetze nicht ſowohl die Aufnahme oder Ab-
ſchaffung einzelner Fälle des Pfandrechts oder der Privi-
legien zum Gegenſtand haben (wie hier bisher vorausgeſetzt
wurde), als vielmehr ein neues Syſtem des Pfandrechts
ſelbſt. Dieſer Fall tritt ein, wenn an die Stelle des bis-
her geltenden Römiſchen Pfandrechts durch neues Geſetz
das Syſtem der Hypothekenbücher eingeführt wird oder
umgekehrt. In einem ſolchen Fall betrifft das neue Geſetz
nicht mehr den Erwerb der Rechte von Seiten beſtimmter
Perſonen, ſondern das Daſeyn der Rechte (des Rechtsin-
ſtituts). Dann iſt aber der die Rückwirkung ausſchließende
(i) L. 3 C. de pactis pign.
(8. 35), d. h. L. un. C. Th. de
commiss. resc. (3. 2). — Weber
S. 6. 51. Meyer p. 17, der
über den hiſtoriſchen Zuſammen-
hang im Irrthum iſt.
|0446 : 424|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Grundſatz gar nicht anwendbar (§ 384. 385), beide Rechts-
ſyſteme können nicht in einzelnen Anwendungen neben ein-
ander beſtehen, und das neue Geſetz muß augenblicklich
und ausſchließend zur Anwendung kommen. Wie aber hier
der Uebergang aus dem alten Zuſtand in den neuen zu
behandeln iſt, um Rechtsverletzungen zu verhüten, davon
wird unten an geeigneter Stelle die Rede ſeyn (§ 400).
4. Andere Jura in re.
Das Römiſche Recht erkennt nur eine abgeſchloſſene
kleine Zahl dinglicher Rechte neben dem Eigenthum als
möglich an; es geſtattet alſo nicht, neue dingliche Rechte
nach Gutdünken zu erfinden.
Die Preußiſche Geſetzgebung hat hierin einen ganz
neuen Weg eingeſchlagen. Sie läßt jedes an ſich blos
perſönliche Recht des Gebrauchs oder der Nutzung einer
fremden Sache in ein dingliches Recht übergehen, ſobald
dem Berechtigten der Beſitz der Sache eingeräumt wird (k).
Unter dieſer Vorausſetzung alſo haben namentlich alle
Miether und Pächter nach Preußiſchem Recht ein dingliches
Recht, die nach dem Römiſchen Recht durchaus nur ein
perſönliches Gebrauchsrecht haben können.
Wird nun an einem Ort das Preußiſche Recht an die
Stelle des Römiſchen eingeführt, ſo behalten alle zur Zeit
dieſer Einführung vorhandene Miether und Pächter das
perſönliche Recht, das ſie bis dahin hatten, und nur die
(k) Koch Preußiſches Recht B. 1. § 223. 317.
|0447 : 425|
§. 390. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.
neuen Verträge ſolcher Art gewähren ein dingliches Recht. —
Eben ſo behalten im umgekehrten Fall die Miether das
unter der Herrſchaft des Preußiſchen Rechts entſtandene
dingliche Recht, die neuen Miether aber werden nach dem
Römiſchen Recht als blos perſönlich Berechtigte angeſehen.
— Auch hier alſo entſcheidet unbedingt die Zeit der Ent-
ſtehung jedes Rechtsverhältniſſes über das anwendbare Ge-
ſetz, und von einer rückwirkenden Kraft des neuen Geſetzes
darf nicht die Rede ſeyn.
Durch einen täuſchenden Schein der Aehnlichkeit könnte
man ſich verleiten laſſen, dieſen Fall eben ſo zu behandeln,
wie den unmittelbar vorher erwähnten Fall des Römiſchen
und Preußiſchen Hypothekenſyſtems. Dann würde auch
die Einführung des dinglichen Rechts der Miether und
Pächter als ein neues Geſetz über das Daſeyn der Rechte
(des Rechtsinſtituts) zu betrachten ſeyn: von dem die rück-
wirkende Kraft ausſchließenden Grundſatz wäre dann nicht
mehr die Rede, vielmehr müßte das neue Geſetz auch alle
vorhandene Rechtsverhältniſſe ſofort ergreifen.
In der That aber ſind beide Fälle von durchaus ver-
ſchiedener Natur. Die zwei erwähnten Syſteme des Hypo-
thekenrechts können nicht gleichzeitig neben einander beſtehen,
weil gerade der häufigſte und ſchwierigſte Fall im Hypo-
thekenrecht die gleichzeitige Berechtigung mehrerer Perſonen
an derſelben Sache zum Gegenſtand hat, deren Rang-
ordnung nur durch das eine oder das andere Syſtem aus-
ſchließend beſtimmt werden kann. — Dagegen hat es durch-
|0448 : 426|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
aus kein Bedenken, daß an demſelben Orte die Rechte
mehrerer Miether nach verſchiedenen Regeln beurtheilt
werden, wenn ihre Verträge zu verſchiedener Zeit, und
zwar unter der Herrſchaft verſchiedener Geſetze, geſchloſſen
worden ſind. Daher gehört die Frage wegen des dinglichen
Rechts der Miether lediglich zu der Gattung von Rechts-
regeln, welche ſich auf den Erwerb der Rechte beziehen,
alſo in dasjenige Gebiet, worin der die rückwirkende Kraft
der Geſetze ausſchließende Grundſatz anwendbar iſt.
§. 391.
A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.
(Fortſetzung.)
Bei der Betrachtung der einzelnen, dem Sachenrecht
angehörenden, Rechtsinſtitute ſind einige derſelben mit Ab-
ſicht vorläufig übergangen worden, weil ſie eigenthümliche
Schwierigkeiten und Verwicklungen darbieten, und daher
in einem größeren Zuſammenhang behandelt werden müſſen.
Dieſes iſt der Erwerb des Eigenthums und der Servi-
tuten durch Uſucapion und longi temporis possessio (zu-
ſammen zu faſſen unter dem Namen der Erſitzung), ſo wie
die Aufhebung der Servituten durch nonusus und libertatis
usucapio, gleichbedeutend mit dem Erwerb der Freiheit von
der Servitut auf der Seite des Eigenthümers (§ 388). —
Alle dieſe Fälle der Erwerbung haben folgende Eigenſchaften
mit einander gemein. Sie werden nicht vollzogen durch
|0449 : 427|
§. 391. A. Erwerb d. Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht. (Fortſ.)
eine einfache, augenblickliche Handlung, ſondern durch einen
dauernden Zuſtand, welcher während eines ganzen Zeitraums
gleichmäßig fortgeſetzt ſeyn muß; es möge nun dieſer Zu-
ſtand beſtehen in einer fortdauernden Thätigkeit (Beſitz,
Quaſibeſitz), oder aber in einer fortdauernden Unthätigkeit.
In dieſen Eigenſchaften aber kommen mit den hier er-
wähnten Rechtsinſtituten völlig überein manche außer den
Gränzen des Sachenrechts liegende Rechtsinſtitute, vorzüg-
lich die Klagverjährung, die gleichfalls auf der fortdauern-
den Unthätigkeit während eines ganzen Zeitraums beruht,
und eben ſo, wie die genannten Rechtsinſtitute, zum Er-
werb eines Rechtes führt, nämlich des Rechts einer Ein-
rede, wodurch das bisher beſtehende Klagrecht eines Andern
völlig entkräftet wird.
Die Anerkennung dieſer inneren Verwandtſchaft hat
denn auch von jeher dahin geführt, alle Rechtsinſtitute
ſolcher Art unter Einen Gattungsbegriff zu bringen, und
mit dem gemeinſamen Namen der Verjährung zu bezeichnen.
Wie ſehr nun auch dieſes Verfahren Tadel verdient, und zur
Verwirrung der Begriffe geführt hat (a), ſo iſt doch die
erwähnte innere Verwandtſchaft aller dieſer Rechtsinſtitute
nicht zu verkennen, und gerade in unſrer Lehre von der
rückwirkenden Kraft tritt dieſe Verwandtſchaft ganz unver-
kennbar hervor. Es ſollen daher gegenwärtig alle dieſe
Rechtsinſtitute zuſammen gefaßt werden, als deren Reprä-
(a) S. o. B. 4 § 177. B. 5 § 237.
|0450 : 428|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
ſentanten die zwei wichtigſten derſelben, die Uſucapion und
die Klagverjährung, gelten mögen.
Wenn nun ein neues Geſetz das Recht der Uſucapion
oder der Klagverjährung in irgend einem Punkte abändert,
ſo ſind dabei folgende Fälle möglich.
Das neue Geſetz kann erſcheinen vor dem Anfang der
Uſucapion. Dann hat es keinen Zweifel, daß es dieſe
ſpätere Uſucapion vollſtändig beherrſchen muß, ſo daß dabei
von dem alten Geſetz nicht mehr die Rede ſeyn kann. —
Es kann ferner erſcheinen, nachdem eine Uſucapion ſchon
vollendet iſt. Dann hat es wiederum keinen Zweifel, daß
darauf das neue Geſetz gar nicht angewendet werden darf.
Der unter dem alten Geſetz vollzogene Erwerb eines Rechts
muß vielmehr vollſtändig aufrecht erhalten werden. — End-
lich aber kann das neue Geſetz auch erſcheinen während des
Zeitraums, in welchem die Uſucapion noch laufend iſt;
ſpäter, als der Anfang, früher, als das Ende derſelben.
Das ſind die zweifelhaften Fälle, für welche wir nunmehr
die Regel aufzuſtellen haben.
Während dieſes Zeitraums iſt durchaus noch kein
Recht erworben, es iſt nur ein Erwerb vorbereitet. Daher
muß auch das neue Geſetz ſogleich wirkſam in dieſen un-
vollendeten Zuſtand eingreifen. Zwar war auch in dieſer
Zeit die Erwartung eines Erwerbes erregt, und dieſe Er-
wartung konnte mehr oder weniger nahe liegen; aber bloße
Erwartungen werden überhaupt nicht durch den die Rück-
|0451 : 429|
§. 391. A. Erwerb d. Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht. (Fortſ.)
wirkung ausſchließenden Grundſatz geſchützt (b). — Be-
trachten wir jetzt im Einzelnen die verſchiedenen möglichen
Fälle ſolcher neuen Geſetze.
1. Die bisher erlaubte Uſucapion oder Klagverjährung
wird aufgehoben, ſey es überhaupt, oder für gewiſſe Fälle
der Anwendung. — Dieſes Geſetz ergreift auch alle Fälle
der bereits laufenden Uſucapion, ſo daß jeder Erwerb auf
dieſem Wege unmöglich wird.
2. Es wird umgekehrt die bisher unbekannte Uſucapion
oder Klagverjährung neu eingeführt. Das neue Inſtitut
iſt nun ſogleich auf alle jetzt ſchwebenden Rechtsverhältniſſe
anzuwenden, jedoch ſo, daß der Zeitraum von der Zeit des
neuen Geſetzes an zu berechnen iſt. Wer eine fremde
Sache beſaß unter den Bedingungen des neuen Uſucapions-
geſetzes, fängt jetzt an, ſie zu uſucapiren, gerade ſo, als
wenn zur Zeit des erlaſſenen neuen Geſetzes ſein Beſitz an-
gefangen hätte; die Zeit des früheren Beſitzes wird ihm
nicht angerechnet. — Alle vor dem neuen Geſetz entſtan-
denen Klagrechte treten augenblicklich unter die Regel der
Klagverjährung, jedoch ſo, als ob ſie erſt jetzt entſtanden
(b) S. o. § 385. — Im Gan-
zen ſtimmt mit dieſer Anſicht über-
ein Weber S. 147—158; des-
gleichen Bergmann S. 34—
36, was die Natur der Sache be-
trifft, während er S. 163 nach
Römiſchem Recht das Gegentheil,
nämlich die fortdauernde Einwir-
kung des alten Geſetzes annimmt,
indem nach ſeiner Meinung auch
die bloßen Erwartungen durch das
R. R. geſchützt ſeyn ſollen (ſ. o.
§ 387. h). — In der That
wird hier derſelbe Grundſatz gel-
tend gemacht, welcher oben für die
örtliche Colliſton der Uſucapions-
geſetze angewendet worden iſt
(§ 367. k).
|0452 : 430|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
wären; die Zeit der früheren Verſäumniß wird nicht
gerechnet.
Ein merkwürdiges Beiſpiel dieſer letzten Art finden wir
im Römiſchen Recht. Lange Zeit waren hier die meiſten
und wichtigſten Klagen ohne alle Verjährung, perpetuae
actiones im ſtrengſten Sinne des Worts. K. Theodoſius II.
führte für alle dieſe Klagen die Verjährung ein, welche in
der Regel dreißig Jahre dauern ſoll. Nach dem ſo eben
aufgeſtellten Grundſatz hätten die damals bereits laufenden
Klagrechte erſt nach dreißig Jahren erlöſchen müſſen. Der
Kaiſer aber gab ſeinem Geſetz theilweiſe rückwirkende Kraft,
dergeſtalt, daß auch die vergangene Zeit mit eingerechnet
werden ſollte; jedoch ſollte der Klagberechtigte in keinem
Fall weniger, als zehen Jahre, von dem neuen Geſetze an,
Zeit haben, um die früher entſtandene Klage noch mit Er-
folg anzuſtellen (c). Als Juſtinian dieſes Geſetz in den
Codex aufnahm, ließ er natürlich dieſe tranſitoriſche Be-
ſtimmung weg (d), die ſeit etwa hundert Jahren ihre
Wirkſamkeit von ſelbſt verloren hatte.
3. Wird eine Art der Unterbrechung, die bisher zu-
läſſig war, aufgehoben, oder umgekehrt eine neue Art der
(c) L. un. § 5 C. Th. de
act. certo temp. (4. 14). Ein
dringendes Bedürfniß zu dieſer
Abweichung von dem Grundſatz
war wohl nicht zu behaupten. Ei-
nige Rechtfertigung liegt darin,
daß unter die Gründe der Klag-
verjährung auch die Präſumtion
der Tilgung gehört (ſ. o. B. 5
§ 237). Dieſe Präſumtion aber
hat Realität auch für die vor dem
Erlaß des Verjährungsgeſetzes
abgelaufene Zeit der unterlaſſenen
Klage.
(d) L. 3 C. de praescr.
XXX. (7. 39).
|0453 : 431|
§. 391. A. Erwerb d. Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht. (Fortſ.)
Unterbrechung eingeführt, ſo iſt die eine oder die andere
Beſtimmung auch auf die laufende Uſucapion ſofort anzu-
wenden.
4. Das neue Geſetz, welches den Zeitraum verlängert,
iſt ſogleich anwendbar auch auf die laufende Uſucapion oder
Klagverjährung (e).
5. Schwieriger, und zugleich praktiſch wichtiger, iſt
die Frage bei einem neuen Geſetz, welches den Zeitraum
abkürzt. Hier müſſen wir grundſätzlich dem Erwerber die
Wahl laſſen, ob er das alte Geſetz anwenden will, oder
das neue; im letzten Fall aber darf er den Zeitraum erſt
berechnen von dem Erlaß des neuen Geſetzes an, ſo daß
er die bereits abgelaufene Zeit nicht mit einrechnen darf.
Zu der erſten Wahl iſt er berechtigt, weil das neue Geſetz
gewiß nicht die Abſicht gehabt hat, dem Gegner einen
günſtigeren Erfolg, als nach dem unveränderten alten Geſetz,
zu verſchaffen; zu der zweiten Wahl, weil er kein gerin-
geres Recht haben kann, als Der, welcher in dieſem Augen-
blick die Uſucapion oder die Klagverjährung anfängt. Da-
gegen würde es eine ungehörige Rückwirkung ſeyn, wenn
(e) Im Jahre 528 ertheilte
Juſtinian den Kirchen das Pri-
vilegium, daß ihre Klagrechte erſt
in 100 Jahren verjähren ſollten.
L. 23 C. de SS. eccl. (1. 2), ſ.
o. B. 5 S. 355. Am Ende die-
ſes Geſetzes ſtehen die etwas dun-
klen Worte: „Haec autem omnia
observari sancimus in iis casi-
bus, qui vel postea fuerint nati,
vel jam in judicium deducti
sunt.“ Büchſtäblich genommen,
gehen die letzten Worte auch auf
die Klagen, deren bisherige
(dreißigjährige) Verjährung be-
reits vor der angeſtellten Klage
abgelaufen war. Dann liegt da-
rin eine durch Nichts gerechtfer-
tigte Rückwirkung. Vgl. Weber
S. 7.
|0454 : 432|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
man ihm geſtatten wollte, den neuen Zeitraum mit Ein-
rechnung der ſchon abgelaufenen Zeit zu benutzen, da nun
der Gegner weder die von dem alten, noch die von dem
neuen Geſetz verſtattete Friſt zur Thätigkeit vollſtändig ge-
nießen würde. Es könnte ſogar die widerſinnige Folge
eintreten, daß die Klagverjährung im Augenblick, wo das
neue Geſetz erſcheint, ſofort vollendet wäre (f).
Die hier aufgeſtellten Grundſätze haben vollſtändige
Anerkennung erhalten in der Preußiſchen Geſetzgebung.
Das Einführungspatent des Landrechts enthält nämlich im
§ 17 folgende drei Beſtimmungen. Die vor dieſer Zeit
abgelaufenen Verjährungen ſind nach den alten Geſetzen zu
beurtheilen; die jetzt laufenden nach dem Landrecht; die letzte
Beſtimmung aber erhält folgende Einſchränkung:
Sollte jedoch zur Vollendung einer ſchon vor dem
1. Jun. 1794 angefangenen Verjährung in dem
neuen Landrechte eine kürzere Friſt, als nach bis-
herigen Geſetzen, vorgeſchrieben ſeyn: ſo kann Der-
(f) So z. B. wenn ein Klag-
recht, für welches die Verjährung
von dreißig Jahren gilt, ſchon zehen
Jahre lang unbenutzt beſteht, und
nun ein neues Geſetz erſcheint,
welches für Rechtsverhältniſſe die-
ſer Art eine dreijährige Verjährung
vorſchreibt. — Bergmann will
S. 36 nach der Natur der Sache
eine proportionelle Rechnung ein-
treten laſſen; nach dieſer müßte in
dem ſo eben eingeführten Fall, in
welchem ein Drittheil der alten
Verjährung abgelaufen war, auch
in der neu anfangenden dreijähri-
gen Verjährung ein Drittheil als
abgelaufen angenommen werden,
ſo daß noch zwei Jahre übrig
wären. Dieſe verwickelte Behand-
lung iſt weder grundſätzlich für
das beſtehende Recht zu behaupten,
noch als poſitive Vorſchrift zu
empfehlen.
|0455 : 433|
§. 391. A. Erwerb d. Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht. (Fortſ.)
jenige, welcher ſich in einer ſolchen kürzern
Verjährung gründen will, die Friſt derſelben
nur vom 1. Jun. 1794 zu rechnen anfangen.
Dieſe Vorſchrift wird wörtlich wiederholt in den ſpäte-
ren tranſitoriſchen Geſetzen (§ 383). In der eben bemerkten
Einſchränkung liegt die Anerkennung des oben behaupteten
Wahlrechts. Noch deutlicher aber findet ſich dieſe in fol-
gender Vorſchrift eines Geſetzes vom 31. März 1838, welches
für viele einzelne Klagen, die bisher in Dreißig Jahren
verjährten, theils eine zweijährige, theils eine vierjährige
Verjährung einführt (g):
§ 7. Gegen ſolche Forderungen, welche zur Zeit der
Publikation dieſes Geſetzes bereits fällig waren,
können die in den §§ 1. und 2 vorgeſchriebenen
kürzeren Friſten nur vom letzten Dezember 1838
an gerechnet werden.
Bedarf es zur Vollendung der bereits ange-
fangenen Verjährung nach den bisherigen geſetz-
lichen Vorſchriften nur noch einer kürzeren Friſt,
als der in dem gegenwärtigen Geſetze beſtimmten,
ſo hat es bei jener kürzeren Friſt ſein
Bewenden.
Das Franzöſiſche Geſetzbuch verordnet für die zur Zeit
ſeiner Einführung bereits angefangenen Verjährungen,
daß ſie in der Regel nach den alten Geſetzen beurtheilt
(g) Geſetzſammlung, 1838 S. 249—251.
VIII. 28
|0456 : 434|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
werden ſollen (h); jedoch mit der Einſchränkung, daß ſie
von jetzt an nicht länger, als dreißig Jahre, dauern dürfen,
wenn ihnen etwa das alte Geſetz eine längere Dauer an-
weiſen möchte. — Die hier aufgeſtellte Regel iſt nach den
oben entwickelten Grundſätzen nicht zu rechtfertigen. Sie
enthält gerade das Gegentheil von rückwirkender Kraft, in-
dem ſie dem neuen Geſetz weniger Wirkſamkeit einräumt,
als ihm grundſätzlich zukommt; augenſcheinlich in der Ab-
ſicht, hierin auch ſchon bloße Erwartungen zu ſchützen. Eine
Härte oder Ungerechtigkeit kann darin allerdings nicht ge-
funden werden.
Das Einführungspatent des Oeſterreichiſchen Geſetzbuchs
ſtellt dieſelbe Regel auf, wie das Franzöſiſche Recht, daß
die angefangenen Verjährungen nach den älteren Geſetzen
zu beurtheilen ſeyen. Daneben aber verordnet es, nicht
ganz paſſend, für die Fälle, worin das Geſetzbuch eine
kürzere Verjährung vorſchreibe, als die bisher geltende, das-
jenige Wahlrecht, welches ſo eben in der Preußiſchen Ge-
ſetzgebung nachgewieſen worden iſt.
(h) Code civil art. 2181. „Les prescriptions, commencées
à l’époque de la publication du présent titre, seront réglées
conformément aux lois anciennes.“
|0457 : 435|
§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.
§. 392.
A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.
III. Obligationenrecht.
Im Obligationenrecht kommt der aufgeſtellte Grundſatz
zu eben ſo allgemeiner Anwendung, wie im Sachenrecht.
Vorzüglich häufig findet ſich dieſe Anwendung bei den
Verträgen.
Das Recht eines Vertrages alſo iſt ſtets zu beurtheilen
nach dem Geſetz, welches zur Zeit des geſchloſſenen Ver-
trages beſtand.
Dieſe Regel iſt anwendbar auf die perſönliche Hand-
lungsfähigkeit, ſo wie auf die Form des Vertrages (§ 388).
Sie iſt anwendbar auf die Bedingungen der Gültigkeit
des Vertrages. Ferner auf die Art und den Grad ſeiner
Wirkſamkeit. Endlich auch auf die Ungültigkeit, Anfech-
tung, Entkräftung eines Vertrages, ohne Unterſchied, ob
dieſe Gegenwirkung durch Klage oder durch Einrede ver-
ſucht werden möge.
Der Anſpruch auf die fortdauernde Wirkſamkeit aller,
dieſe verſchiedenen Fragen betreffenden, Rechtsregeln, unab-
hängig von jeder möglichen neuen Geſetzgebung, iſt beiden
Parteien durch den Abſchluß des Vertrages erworben. Er
bildet ein erworbenes Recht, welches in Folge unſeres
Grundſatzes aufrecht erhalten werden muß, jedem neuen
Geſetz gegenüber.
Dieſer Satz iſt auch anwendbar auf die Verträge,
28*
|0458 : 436|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
deren Wirkſamkeit durch eine Zeitbeſtimmung aufgeſchoben,
oder durch eine Bedingung ungewiß gemacht iſt (§ 385. h).
Er iſt auch unabhängig von dem Unterſchied der abſoluten
und vermittelnden Rechtsregeln (a), ſo daß die nicht
ſelten aufgeſtellte Behauptung verworfen werden muß,
nach welcher neue Prohibitivgeſetze die Natur der früher
geſchloſſenen Verträge ſollen umändern können (b).
Die hier aufgeſtellte Regel hat ſehr allgemeine Aner-
kennung gefunden in den, zu verſchiedenen Zeiten erlaſſenen,
tranſitoriſchen Geſetzen des Preußiſchen Staates (c).
Eben ſo wird dieſelbe mit großer Beſtimmtheit und con-
ſequenter Durchführung anerkannt von einem der namhaf-
teſten Schriftſteller über das Franzöſiſche Recht (d).
Jene Regel iſt eine conſequente, nothwendige Folge un-
ſeres allgemeinen Grundſatzes. Aber auch von einem rein
praktiſchen Standpunkte aus erſcheint ſie wahr und wichtig,
indem nur durch ihre Durchführung das für die Sicherheit
des Verkehrs unentbehrliche Vertrauen in die ungeſtörte
(a) S. o. B. 1 § 16.
(b) Damit ſtimmt überein
Bergmann § 30.
(c) Einführungspatent des A.
L. R. § XI. „Es ſind daher inſon-
derheit alle Verträge, welche vor
dem 1. Juli 1794 errichtet wor-
den, ſowohl ihrer Form und ihrem
Inhalte nach, als in Anſehung der
daraus entſtehenden rechtlichen
Folgen, nur nach den zur Zeit
des geſchloſſenen Contracts beſtan-
denen Geſetzen zu beurtheilen;
wenngleich erſt ſpäter auf Erfül-
lung, Aufhebung, oder Leiſtung
des Intereſſe aus einem ſolchen
Contracte geklagt würde.” —
Ganz eben ſo in dem tranſitori-
ſchen Geſetze von 1803 § 5, 1814
§ 5, und in den ſpäteren tranſi-
toriſchen Geſetzen (§ 383).
(d) Chabot T. 1 p. 128—
139.
|0459 : 437|
§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.
Wirkſamkeit der Verträge erhalten werden kann. In der
ausgedehnteſten Wirkſamkeit, und daher vorzugsweiſe wich-
tig, erſcheint dieſelbe in Anwendung auf manche Verträge,
die mit dinglichen Rechten in Verbindung ſtehen, und auf
viele Generationen einzuwirken beſtimmt ſind (e).
Es ſind nunmehr einige Widerſprüche zu erwähnen,
welche gegen die hier dargeſtellte Regel theils in ein-
zelnen Geſetzen, theils von manchen Schriftſtellern, erhoben
worden ſind.
Ein ſolcher Widerſpruch liegt in dem ſchon oben er-
wähnten Geſetz Juſtinian’s über die verbotenen Zinſen
(§ 386. f. g), nach welchem das Verbot auch auf die
vergangenen Zinsverträge bezogen werden ſollte, wiewohl
nur für die künftig fällig werdenden Zinſen. Ein neuerer
Schriftſteller hat dieſe Vorſchrift zu einer allgemeinen Re-
gel auszubilden geſucht (§ 387. f), während andere darin
ganz richtig nur eine Ausnahme unſerer Regel, eine ein-
zelne Abweichung von derſelben, anerkannt haben (f). —
Sehr auffallend iſt es, daß die neueren tranſitoriſchen
Preußiſchen Geſetze, vom J. 1814 an, eine ganz ähnliche
Beſtimmung in ſich aufgenommen haben (g), ohne zu be-
(e) Auf die Eigenthümlich-
keit dieſer Fälle hat ſehr gut auf-
merkſam gemacht: Götze Altmär-
kiſches Provinzialrecht B. 1 S. 11
—13. Wir werden auf dieſe Art
der Rechtsverhältniſſe von einer
anderen Seite zurückkommen bei
der Gattung von Rechtsregeln,
welche das Daſeyn der Rechte zum
Gegenſtand haben (§ 399).
(f) Bergmann § 30.
(g) Geſetz für die Provinzen
jenſeits der Elbe 1814 § 13, und
eben ſo in den ſpäteren tranſitori-
ſchen Geſetzen (§ 383).
|0460 : 438|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
merken, daß ſie dadurch dem nahe dabei ſtehenden Grund-
ſatz, welcher die Folgen der Verträge dem zur Zeit des
Abſchluſſes geltenden Geſetze unterwirft (Note c), geradezu
widerſprechen. Zu einer ſolchen Abweichung von dem rich-
tigen, in den erwähnten Geſetzen ſelbſt ausdrücklich aner-
kannten, Grundſatz war aber bei dem Zinsvertrag am we-
nigſten Bedürfniß vorhanden, da gerade hier die An-
wendung auf die vergangenen Verträge meiſt ganz uner-
heblich iſt (§ 385. a).
Viel wichtiger aber und ſehr weit greifend iſt der Wi-
derſpruch gegen die Allgemeinheit der hier aufgeſtellten
Regel, der von zwei neueren Schriftſtellern erhoben worden
iſt. Er betrifft nicht die Regel an ſich, ſondern nur die
Anwendung derſelben auf die Anfechtung der Verträge,
inſofern dieſe nicht auf die Umſtände bei dem Abſchluß des
Vertrags ſelbſt, ſondern auf ſpätere Thatſachen, z. B. auf
den künftigen Entſchluß einer Partei zur Anfechtungsklage,
gegründet werden ſoll (h). Weber hat dieſe Behauptung
nicht als allgemeinen Grundſatz aufgeſtellt, wohl aber in
einer Reihe einzelner wichtiger Fälle geltend gemacht (i).
Bald nach ihm aber hat Meyer dieſelbe auf einen abſtrac-
(h) Gerade für ſolche Fälle
haben die Preußiſchen Geſetze die
Anwendbarkeit unſerer Regel aus-
drücklich anerkannt (Note c).
(i) Dieſe Fälle werden unten
bei den einzelnen Anwendungen
erwähnt werden.
|0461 : 439|
§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.
ten Grundſatz zurückgeführt, und in folgender Weiſe durch-
zuführen geſucht (k).
Man ſoll (ſagt er) zweierlei Folgen eines Vertrags unter-
ſcheiden: nothwendige, oder unmittelbare, bei welchen die Ge-
ſetze nicht rückwirken dürfen, — und zufällige, oder entfernte,
bei welchen die Rückwirkung eines neuen Geſetzes auf äl-
tere Verträge zuläſſig iſt. — Unter die erſte Klaſſe ſollen
gehören diejenigen Folgen, an welche die Parteien dachten
oder denken konnten, die ſie alſo ſtillſchweigend mit in
den Vertrag hereingezogen haben (l). Unter die zweite
Klaſſe dagegen die Folgen, die erſt durch künftige That-
ſachen begründet werden; dahin werden gerechnet die An-
fechtungsklagen wegen laesio enormis, Betrug, Zwang,
Irrthum, Minderjährigkeit, außerdem auch der Widerruf
einer Schenkung wegen Undankbarkeit oder wegen nachgeborner
Kinder (m). — Dieſe ganze Unterſcheidung nun iſt völlig
unhaltbar, ſchon deswegen, weil unter den Fällen der zwei-
ten Klaſſe gewiß kein einziger iſt, den ſich nicht die Par-
teien als Folge des Vertrags denken konnten. Um die
Verwirrung der Begriffe zu vollenden, wird auch noch der
Gegenſatz von ipso jure und per exceptionem mit herein-
(k) Meyer p. 36—40, 153—
155, 174—210. Er führt dabei
zwar nicht Weber als Gewährs-
mann an, da er aber deſſen Schrift
kennt (préface p. XI.), ſo iſt
kaum zu zweifeln, daß er ihn hie-
rin benutzt und befolgt hat.
(l) Meyer p. 38—39, 180,
187—191.
(m) Meyer p. 175—178.
|0462 : 440|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
gezogen (n), der doch gewiß auf dieſe Frage keinen Einfluß
haben kann. Die völlige Grundloſigkeit dieſer ganzen Lehre
wird aber recht anſchaulich werden aus folgender Ueberſicht
über die wichtigſten einzelnen Fälle, die hierbei zur Sprache
gebracht worden ſind.
Die Ungültigkeit einer Obligation kann geltend gemacht
werden durch folgende Rechtsmittel: durch eine eigentliche
Klage, durch Reſtitution, durch eine Exception gegen die
Klage der andern Partei. Nach dieſer Ordnung ſollen jetzt
die einzelnen Fälle durchgegangen werden, welche (wie ich
behaupte) ſämmtlich zu beurtheilen ſind nach dem zur Zeit
des geſchloſſenen Vertrags geltenden Geſetz.
1. Anfechtung eines Verkaufs wegen Verletzung über
die Hälfte. Sie iſt zu beurtheilen nach dem zur Zeit des
Verkaufs geltenden Geſetz (o). Das wird beſtritten, weil
der Verkauf nicht ipso jure ungültig ſey, ſondern erſt
durch die ſpäter erhobene Klage, deren Zeit alſo das an-
wendbare Geſetz beſtimme (p); oder, wie ſich ein Anderer
ausdrückt, weil an dieſen Erfolg nicht von den Parteien
gedacht worden ſey (q).
Dieſe Auffaſſung ſteht völlig im Widerſpruch mit dem
wahren Sinn der hier einſchlagenden Rechtsregel. Die-
ſelbe ſetzt voraus einen Verkäufer, der durchaus Geld be-
darf und ſeine Sache unter dem halben Preis weggeben
(n) Meyer p. 178. 179.
(o) Chabot T. 2 p. 286—289.
(p) Weber S. 114—117.
(q) Meyer p. 37—38, 154, 175—
176, 209—210.
|0463 : 441|
§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.
muß, weil der einzige Käufer, der ſich findet, ſeine Noth
mißbraucht. Einem ſolchen unedlen Mißbrauch fremder
Noth ſoll hier durch eine poſitive Rechtsregel entgegen ge-
wirkt werden. Der Fall iſt alſo ganz ähnlich dem des
Zinswuchers, wobei auch das fremde Geldbedürfniß eigen-
nützig mißbraucht wird. Jene Gründe der Gegner müßten
conſequenterweiſe dahin führen, daß ein unter dem Römiſchen
Recht geſchloſſenes, zehen Jahre unaufkündbares, Darlehen
zu zwanzig Procent, wenn kurz nachher ein neues Geſetz
allen Zinswucher frei gäbe, vollſtändig erfüllt werden
müßte. — Auch wird Meyer nicht beſtreiten, daß im Fall
des Verkaufs beide Parteien an den Fall der ſpäteren An-
fechtung denken konnten, d. h. daß dieſer Fall nicht außer
den Gränzen möglicher, ſelbſt wahrſcheinlicher, Berechnung
lag, daß er nicht erſt durch ganz neue, völlig unerwartete
Umſtände (wie er ſich die Sache zu denken ſcheint) herbei
geführt wurde.
Ganz eben ſo iſt nur die Zeit des geſchloſſenen Ver-
trags zu berückſichtigen, wenn das in dieſer Zeit beſtehende
Geſetz die Anfechtung nicht zuläßt, ein ſpäteres Geſetz die-
ſelbe einführt. Dieſe Bemerkung gilt auch für alle folgende
Fälle.
2. Die Regel: Kauf bricht Miethe (r), iſt zu beurtheilen
nach dem Geſetz, welches zur Zeit des geſchloſſenen Mieth-
(r) Dieſer Fall iſt inſofern
mit den übrigen nicht von gleicher
Natur, als in ihm der Vertrag
nicht angefochten und aufgehoben
wird, welcher vielmehr ſich ſtets
wirkſam erzeigt durch die dem
|0464 : 442|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
contracts beſteht. Denn in dieſer Zeit iſt das Rechtsver-
hältniß unabänderlich ſo beſtimmt worden, daß ſich der
Miether den Folgen einer ſpäteren Veräußerung unterwerfen
mußte. Ein ſpäteres Geſetz, das jene Regel aufhebt,
kann hierin Nichts ändern, und es iſt gleichgültig, ob dieſes
ſpätere Geſetz ſich auf die vereinzelte Aufhebung jener Regel
beſchränkt, oder ob es dieſelbe dadurch bewirkt, daß es
überhaupt dem Miether ein dingliches Recht beilegt (§ 390
Num. 4).
Es kommt daher nicht an auf die Zeit des ſpäter ge-
ſchloſſenen Verkaufs, noch weniger auf die Zeit der vom
Käufer gegen den Miether angeſtellten Klage. Das in dieſem
letzten Zeitpunkt geltende Geſetz will Weber berückſichtigt
wiſſen, wieder wie in dem vorhergehenden Fall, weil der
Miethvertrag nicht an ſich ungültig ſey, ſondern nur durch
die Klage des Käufers entkräftet werde (s).
3. Widerruf einer Schenkung wegen Undankbarkeit oder
wegen nachgeborner Kinder. Es entſcheidet die Zeit der
Schenkung, nicht die Zeit des ſpäteren Ereigniſſes, noch
weniger die Zeit der auf Widerruf angeſtellten Klage (t).
Das Gegentheil wird von Anderen behauptet, weil die
Schenkung nicht von ſelbſt ungültig ſey, ſondern erſt durch
Miether zuſtehende Entſchädigungs-
klage gegen den Vermiether. Die
Frage iſt nur die, ob ein Dritter
(der Käufer) das Miethrecht an-
zuerkennen hat oder nicht.
(s) Weber S. 117—121.
(t) Chabot T. 1. p. 174—
200. T. 2 p. 168. 194.
|0465 : 443|
§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.
die Widerrufsklage entkräftet werde (u); weil an dieſen
Erfolg die Parteien nicht gedacht haben, indem ſonſt die
Schenkung vielmehr unterblieben ſeyn würde (v). — Aller-
dings war die Undankbarkeit nicht zur Zeit der Schenkung
erwartet; dagegen iſt ſehr natürlich die umgekehrte Er-
wartung, der Beſchenkte werde Undankbarkeit vermeiden,
und er werde in dieſer Geſinnung noch befeſtigt werden,
durch die Rückſicht auf das den Widerruf geſtattende Ge-
ſetz. Die Vorausſetzung alſo, daß der Schenker an jenes
Geſetz gedacht habe, oder habe denken können, iſt gewiß
den Umſtänden ganz angemeſſen.
4. Reſtitution gegen einen Vertrag. Entſcheidend iſt
die Zeit des Vertrags, nicht die des Reſtitutionsgeſuchs (w).
Das Gegentheil wird behauptet, weil der Vertrag an ſich
gültig ſey, und erſt durch die richterliche Handlung ent-
kräftet werde (x). Derſelbe Gedanke wird von Anderen
noch dadurch ausgebildet und von der Wahrheit weiter
entfernt, daß die Reſtitution als Gnadenſache von dem
Souverain ertheilt werde (y). Gegen dieſe Behauptungen
entſcheidend iſt der Umſtand, daß, nach der im Juſtiniani-
ſchen Recht vorliegenden Natur der Reſtitution, Der, welcher
die Reſtitution begehrt, ein wahres erworbenes Recht auf
(u) Weber S. 107.
(v) Meyer p. 175. 177.
(w) Struve S. 266.
(x) Weber S. 113. 114.
(y) Meyer p. 184. Hier-
über iſt zu vergleichen oben B. 7.
§ 317.
|0466 : 444|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
dieſelbe hat, von dem Recht auf eine Klage oder eine Ein-
rede nur wenig in der Form verſchieden (z).
5. Exceptio doli, oder metus, zu beurtheilen nach der
Zeit des Vertrags, ohne Rückſicht darauf, daß hier der
Vertrag nicht ipso jure, ſondern per exceptionem ungültig
iſt (aa).
6. Exceptio Sc. Vellejani. Nach der Zeit der gelei-
ſteten Bürgſchaft (bb).
7. Exceptio Sc. Macedoniani. Desgleichen (cc).
8. Exceptio non numeratae pecuniae. Desgleichen.
9. Durch ein Geſetz des K. Friedrich I. (Anth.
Sacramenta puberum), welches der Juſtinianiſchen Geſetz-
ſammlung einverleibt wurde, ſollen die meiſten Mängel
eines Vertrags dadurch völlig beſeitigt werden, daß der
Schuldner den Vertrag durch Eid bekräftigt (dd). Die An-
wendbarkeit dieſes Geſetzes iſt zu beurtheilen nach der Zeit
(z) S. o. B. 7 S. 112. 113.
117.
(aa) Bei dem Dolus iſt Meyer
ſehr ſchwankend, ob er die durch
denſelben herbeigeführte Anfechtung
und Ungültigkeit zu den nothwen-
digen oder zu den zufälligen Fol-
gen des Vertrags rechnen ſoll,
p. 154. 179. 183. Was insbe-
ſondere die Reſtitution wegen Do-
lus betrifft, ſ. o. B. 7. § 332.
(bb) Chabot T. 1 p. 352.
— S. o. § 388. — Hier ſucht
Meyer p. 196—198 ſeinen Wi-
derſpruch durch ganz verſchiedene,
theilweiſe ſich ſelbſt aufhebende
Gründe zu rechtfertigen.
(cc) Hierin ſtimmt überein
Meyer p. 194, weil ein ſolcher
Vertrag den guten Sitten entge-
gen ſey und weil der Verzicht des
Schuldners nicht wirke. Beiläu-
fig verwechſelt er den filiusfami-
lias mit dem minor.
(dd) Savigny Geſchichte
des R. R. im Mittelalter B. 4.
S 162.
|0467 : 445|
§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.
des geleiſteten Eides. Dieſes beſtreitet Weber mit Unrecht
aus dem Grunde, weil ein ſolcher Vertrag eigentlich an ſich
nichtig ſey, und nur durch eine Handlung des Richters
(officio judicis) hinterher geſchützt werde; daher ſey ent-
ſcheidend die Zeit dieſes richterlichen Ausſpruchs (ee).
Allein es iſt augenſcheinlich, daß hier die Rechte der Par-
teien ſchon vorher, eben ſo, wie in jedem anderen Rechts-
verhältniß, unabänderlich feſtgeſtellt ſind, und daß der
Richter hier, wie in anderen Fällen, nur dazu berufen iſt,
dieſe Rechte anzuerkennen und zu ſchützen.
Es ſind nun noch einige andere Fragen übrig, die außer
dem Kreiſe der eben dargeſtellten großen Meinungsver-
ſchiedenheit liegen.
Dahin gehören die Obligationen aus Delicten. Es
iſt allgemein anerkannt, daß dieſe zu beurtheilen ſind nach
dem zur Zeit des begangenen Delicts geltenden Geſetz (ff).
Man könnte hierher ziehen die aus dem unehelichen Bei-
ſchlaf entſpringenden Rechte: davon aber wird beſſer unten
(§ 399) gehandelt werden.
Ferner gehören dahin die den Concurs betreffenden Ge-
ſetze. Hierüber kann ich mich kurz faſſen, indem ich auf
die bei dem örtlichen Recht angeſtellte Unterſuchung ver-
(ee) Weber S. 109—113.
(ff) Anerkannt im Preu-
ßiſchen Allg. Landrecht Einleitung § 19.
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
weiſe (§ 374). Der Concurs betrifft hiernach nicht die
Rechte ſelbſt, ſondern die Execution in eine an einem be-
ſtimmten Zeitpunkt vorhandene Vermögensmaſſe; für dieſe
Execution iſt die Rangordnung der einzelnen Glaubiger zu
beſtimmen. Welches Geſetz iſt auf dieſe Rangordnung an-
zuwenden? Dabei ſind zu unterſcheiden die Hypotheken-
glaubiger von den übrigen Glaubigern.
Die Hypothekenglaubiger ſind zu beurtheilen nach dem
Geſetz, welches zur Zeit der Entſtehung ihres dinglichen
Rechts beſtand (§ 390); die übrigen Glaubiger nach dem
zur Zeit des ausgebrochenen Concurſes beſtehenden Ge-
ſetz (gg). — Dieſe Regel wird beſtätigt durch folgende Sätze
des Römiſchen Rechts. Die Glaubiger der fünften Klaſſe
werden pro rata befriedigt, ohne Rückſicht auf die Zeit der
Entſtehung ihrer Forderungen. Denn ſie alle ſind Hypo-
thekarien, deren Hypotheken entſtanden ſind durch die mit
der Eröffnung des Concurſes verbundene missio in posses-
sionem. — Eben ſo haben die Glaubiger der vierten Klaſſe
privilegirte Hypotheken, aber ihr Hypothekenrecht, ſo wie
der Rang ihrer Privilegien, iſt auch erſt entſtanden zur
Zeit der missio in possessionem und durch dieſelbe. Vor-
her alſo hatten ſie eine bloße Erwartung dieſer ſie begün-
ſtigenden Art der Execution (als eines Prozeßakts), kein
Recht darauf.
(gg) Anerkannt in den Preu-
ßiſchen tranſitoriſchen Geſetzen
(§ 383); ſo in dem Geſetz von
1814 für die Provinzen jenſeits
der Elbe § 15, und gleichlautend
in den übrigen. — Damit ſtimmt
überein Weber S. 167—178.
|0469 : 447|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
§. 393.
A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
Wir haben die Regeln aufzuſuchen für die teſtamen-
tariſche, die Inteſtaterbfolge, und für die Erbver-
träge.
I. Teſtament. Dieſer Fall iſt der ſchwierigſte und
beſtrittenſte in dem ganzen Gebiet der hier vorliegenden
Unterſuchung.
Wir müſſen zunächſt ſuchen, einen feſten Standpunkt
zu gewinnen für die juriſtiſche Natur des Teſtaments.
Das Schickſal einer Erbſchaft ſoll beſtimmt werden
durch den letzten Willen des Verſtorbenen (suprema, ultima
voluntas), welcher auf gehörige Weiſe ausgeſprochen ſeyn
muß. Damit iſt alſo gemeint der im Zeitpunkt des Todes
vorhandene Wille, da jeder frühere in der Zwiſchenzeit
vielleicht verändert ſeyn kann. Nun iſt es aber an ſich
unmöglich, gerade im Augenblick des Todes ein Teſtament
zu machen, ja wegen der völligen Ungewißheit der Todes-
zeit wird es oft nöthig oder räthlich ſeyn, den Willen, der
als letzter gelten ſoll, in einem weit früheren, oft ſehr
entfernt liegenden, Zeitpunkt auszuſprechen. Daher iſt jeder
Teſtator anzuſehen als handelnd in zwei verſchiedenen Zeit-
punkten: indem er das Teſtament errichtet, und in dem
Augenblick des Todes, worin er das früher errichtete Te-
ſtament unverändert hinterläßt. Das Erſte kann man die
faktiſche Thätigkeit, das Zweite die juriſtiſche Thätigkeit des
|0470 : 448|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Teſtators nennen. Nur das Product der zweiten Thätigkeit
kann und ſoll wirken; das der erſten bleibt in der ganzen
Zwiſchenzeit meiſt unbekannt, immer unwirkſam, und immer
der unbeſchränkten Willkür des Teſtators unterworfen. —
Schon dieſe Betrachtung muß uns dahin führen, die fak-
tiſche Thätigkeit (alſo die Form des errichteten Teſtaments)
zu beurtheilen nach dem zur Zeit der Errichtung beſtehenden
Geſetz, die juriſtiſche (alſo den Inhalt) nach dem Geſetz
zur Zeit des Todes (a). — Und ſchon hier können wir
vorläufig zwei abweichende Anſichten ablehnen. Die eine
will auch den Inhalt beurtheilen nach der Zeit des errich-
teten Teſtaments, weil der Teſtator die Gültigkeit oder
Ungültigkeit des Inhalts verdiene, je nachdem ſein Wille
mit dem ihm bekannten (gegenwärtigen) Geſetz übereinſtimme
oder nicht, wobei man denn beſonders an Prohibitivgeſetze
zu denken pflegt. Eine zweite Anſicht geht noch weiter,
indem ſie das Teſtament für ungültig erklärt, ſowohl wenn
es blos dem Geſetz zur Zeit des Teſtaments, als auch wenn
es blos dem Geſetz zur Zeit des Todes widerſpreche. Beiden
Anſichten iſt die Bemerkung entgegen zu ſetzen, daß für
den Geſetzgeber nur Bedeutung hat der Inhalt eines hinter-
laſſenen, möglicherweiſe wirkſamen, Teſtaments, anſtatt daß
Das, welches in dem Teſtament eines Lebenden etwa ge-
ſchrieben ſtehen mag, völlig bedeutungslos für ihn iſt.
(a) Zweifelhaft bleibt vorläufig die perſönliche Fähigkeit ſowohl
des Teſtators, als der Erben und Legatare, wovon unten die Rede
ſeyn wird.
|0471 : 449|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
Wie dieſe beiden Anſichten aus mißverſtandenen Regeln des
Römiſchen Rechts hervorgegangen ſind, wird erſt weiter
unten klar gemacht werden können.
Aus der bisher angeſtellten Betrachtung ergiebt ſich,
daß die hier bei den Teſtamenten vorliegende Frage nahe
verwandt, obgleich nicht völlig gleich, iſt mit der oben für
die Uſucapion und Klagverjährung abgehandelten Frage
(§ 391). Die Uſucapion beruhte auf einem fortdauernden,
über einen ganzen Zeitraum gleichmäßig verbreiteten Zu-
ſtand. Das Teſtament beſteht aus zwei, in verſchiedene
Zeitpunkte fallenden, einzelnen Thätigkeiten. Beide alſo
kommen mit einander darin überein, daß die Thatſache,
wovon der Erwerb eines Rechts abhängt, nicht eine
einfache, vorübergehende Natur hat, ſo wie wir es bei den
meiſten juriſtiſchen Thatſachen (Vertrag, Tradition u. ſ. w.)
wahrnehmen. Daher iſt für beide Fälle folgende Unterſchei-
dung anwendbar und wichtig. Ein neues Geſetz, deſſen
Einwirkung zu prüfen iſt, kann erlaſſen werden: erſtlich vor
dem Anfang einer Uſucapion, oder vor der Errichtung eines
Teſtaments; zweitens nach dem Ablauf der Uſucapion, oder
nach dem Tode des Teſtators; drittens in der Zwiſchen-
zeit zwiſchen dem Anfang und dem Ende der Uſucapion,
zwiſchen dem errichteten Teſtament und dem Tode des Te-
ſtators. — Im erſten Fall iſt die Einwirkung des neuen
Geſetzes unzweifelhaft zu bejahen, im zweiten eben ſo un-
zweifelhaft zu verneinen; der dritte Fall alſo iſt der ein-
zige Gegenſtand unſerer vorliegenden Unterſuchung, ſo wie
VIII. 29
|0472 : 450|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
er ſchon oben für die Uſucapion feſtgeſtellt worden iſt
(§ 391).
Indem wir nun für dieſen Fall eines neuen Geſetzes,
erlaſſen nach der Errichtung eines Teſtaments, aber vor
dem Tode des Teſtators, die Regeln aufſuchen, müſſen wir
dabei einen zweifachen Zuſammenhang dieſer Regeln vor
Augen behalten. Erſtens mit den Regeln, welche oben für
die Colliſionen des örtlichen Rechts aufgeſtellt worden ſind
(§ 377). Zweitens, welches wichtiger und ſchwieriger iſt,
mit den Regeln über diejenigen Veränderungen, die, in der
Zwiſchenzeit zwiſchen dem errichteten Teſtament und dem
Tode, nicht in der Geſetzgebung eintreten, wohl aber in
den thatſächlichen Verhältniſſen. An ſich gehören zu unſrer
Aufgabe nur die Veränderungen der erſten Art. Dennoch
müſſen wir aus mehreren Gründen auch die Veränderun-
gen der zweiten Art nicht nur berückſichtigen, ſondern ſelbſt
durch genaue, in’s Einzelne gehende Unterſuchung zu durch-
forſchen nicht ſcheuen. Wir müſſen es, ſchon wegen der
inneren Verwandtſchaft, indem beiderlei Veränderungen
großentheils nach gleichen Regeln zu beurtheilen ſind. Noch
mehr aber ſind wir dazu genöthigt durch das Verfahren
der meiſten neueren Schriftſteller, deren Irrthümer großen-
theils dadurch entſtanden ſind, daß ſie theils die beiden
angegebenen Arten der Veränderungen ohne Unterſcheidung
vermengen, theils die Regeln des Römiſchen Rechts über
die thatſächlichen Veränderungen unrichtig auffaſſen.
|0473 : 451|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
Ich verlaſſe alſo jetzt den eigentlichen Gegenſtand der
vorliegenden Aufgabe, die ſich auf die Anwendbarkeit neuer
Geſetze beſchränkt, um die an ſich verſchiedene Frage zu
beantworten: wie es nach Römiſchem Recht anzuſehen iſt,
wenn in der Zwiſchenzeit, zwiſchen der Errichtung eines
Teſtaments und dem Tode, eine Veränderung eintritt in
den thatſächlichſten Verhältniſſen, die auf die Gültigkeit des
Teſtaments Einfluß haben können. Ich wiederhole es,
daß dieſe Frage mit der Frage nach der Einwirkung
neuer Geſetze zwar verwandt, aber nicht identiſch iſt,
daß alſo eine Anwendung der für die eine Frage gültigen
Regeln auf die andere Frage nur mit großer Vorſicht
verſucht werden darf.
Die Gegenſtände einer ſolchen möglichen Veränderung
ſind folgende: Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Be-
ziehung auf deſſen Rechtsverhältniſſe, ſo wie auf deſſen phyſi-
ſche Eigenſchaften. Inhalt des Teſtaments. Perſönliche
Fähigkeit des Honorirten (des Erben oder Legatars).
1. Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung
auf deſſen Rechtsverhältniſſe. Dieſe hat zwei an ſich
verſchiedene Bedingungen, die jedoch unter denſelben Re-
geln ſtehen.
a. Der Teſtator muß testamentifactio haben. Dieſer
Ausdruck wird ſelbſt von den Römiſchen Juriſten
in verſchiedener Bedeutung gebraucht. Zuweilen
ganz buchſtäblich, für die Verfertigung eines Teſta-
ments. Anderwärts für die Teſtamentsfähigkeit
29*
|0474 : 452|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
ohne Unterſchied ihrer Bedingungen, ſo daß in die-
ſem Sinn dem Kinde und dem Wahnſinnigen die testa-
mentifactio abgeſprochen wird. Wo aber der Aus-
druck genau und techniſch gebraucht wird, wie be-
ſonders bei Ulpian, da bedeutet es den Beſitz der
Standeseigenſchaft im Römiſchen Staate,
welche fähig macht zur Mancipation, als der
Grundform der Römiſchen Teſtamente. Nun iſt
testamentifactio gleichbedeutend mit commercium;
es haben dieſelbe alle cives und Latini, es entbehren
ſie alle peregrini (b).
b. Der Teſtator muß fähig ſeyn, Vermögen zu haben
und zu hinterlaſſen, er muß alſo nicht, in Beziehung
auf einen künftigen Nachlaß, juriſtiſch und noth-
wendig vermögenslos ſeyn. In dieſer Hinſicht iſt
unfähig der filiusfamilias, obgleich er testamenti-
factio hat und daher Teſtamentszeuge ſeyn kann (c).
Auf gleiche Weiſe iſt unfähig der Latinus Junianus,
der eben ſo testamentifactio hat und deshalb Teſta-
mentszeuge ſeyn kann. Die Lex Junia hat ihm
aber verboten, für ſich ein Teſtament zu machen,
indem ſie verordnet, daß ſein Vermögen im Augen-
blick des Todes dem Patron zufallen ſoll, nicht als
Erbſchaft, ſondern ſo, als ob er im Leben ſtets
Sklave, folglich vermögensunfähig geblieben wäre (d).
(b) Ulpian. XX. § 2 verglichen mit XIX. § 4. 5.
(c) Ulpian.
XX. § 2. 4. 5. 6. 10.
(d) Ulpian. XX. § 8. 14.
|0475 : 453|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
Dieſe beiden Bedingungen der Teſtamentsfähigkeit kom-
men darin überein, daß ſie gleich nöthig ſind für beide
Zeitpunkte, die Zeit des Teſtaments und die Zeit des To-
des, welches ſo viel ſagen will, als daß dieſelben ſowohl
zur faktiſchen als zur juriſtiſchen Thätigkeit im Teſtament
gerechnet werden müſſen. Wer alſo juriſtiſch unfähig iſt,
kann kein Teſtament machen, und eben ſo wenig ein
Teſtament hinterlaſſen. — Nur eine blos in die Zwi-
ſchenzeit fallende Veränderung ſoll nicht ſchaden, indem
in dieſem Fall der Prätor das Teſtament aufrecht hält (e).
Zwei Beiſpiele werden dieſe Regeln anſchaulich machen.
Das Teſtament iſt ungültig, wenn dem Teſtator die Civität
fehlt zur Zeit des Teſtaments oder zur Zeit des Todes;
nicht ungültig, wenn er nur in der Zwiſchenzeit vorüber-
gehend die Civität verloren hatte. — Es iſt ungültig,
wenn der Teſtator filiusfamilias war zur Zeit des Teſta-
ments oder zur Zeit des Todes; gültig, wenn er ſich in
der Zwiſchenzeit arrogiren ließ, dann aber wieder emanci-
pirt wurde.
Es ergiebt ſich aus dieſer Behandlung der Sache im
Römiſchen Recht, daß die Römer die in zwei Zeitpunkten
nothwendige Fähigkeit des Teſtators, als gegründet in dem
inneren Bedürfniß der Sache, mit Recht anerkannten und
ſtets feſt hielten, daß ſie dagegen die Fortdauer dieſes Zu-
ſtandes in der ganzen Zwiſchenzeit blos als eine Conſe-
(e) Gajus II. § 147, Ulpian. XXIII. § 6. L. 1 § 8 de B. P.
sec. tab. (37. 11), L. 6 § 12 de injusto (28. 3).
|0476 : 454|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
quenz ſtrenger Theorie, dem praktiſchen Bedürfniß nicht
entſprechend, betrachteten, und daher beſeitigten.
2. Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung
auf deſſen phyſiſche Eigenſchaften.
Dieſe hat eine ganz andere Natur, als die erſte Art
der Fähigkeit. Sie gehört ausſchließend der faktiſchen
Seite des Teſtaments an, und iſt alſo nöthig zu der Zeit,
in welcher das Teſtament gemacht wird. Dagegen iſt jede
ſpätere Aenderung ganz gleichgültig, und es wird dadurch
weder das Teſtament gültig, wenn zur Zeit deſſelben die
Fähigkeit fehlte, noch ungültig, wenn die Fähigkeit damals
vorhanden war.
Zu dieſen Gründen der Ungültigkeit gehört: Unmündig-
keit, Wahnſinn, nach dem älteren Römiſchen Recht auch
Stummheit und eben ſo Taubheit. Wenn nun ein Unmün-
diger oder ein Wahnſinniger ein Teſtament macht, ſo iſt
und bleibt daſſelbe ungültig, auch wenn ſpäter Mündigkeit
eintritt oder der Wahnſinn verſchwindet. Umgekehrt iſt
und bleibt das Teſtament des geiſtig Geſunden gültig, auch
wenn er ſpäterhin in Wahnſinn verfällt, und ſelbſt wenn
er in dieſem Zuſtand ſtirbt (f).
3. Der Inhalt des Teſtaments gehört ausſchließend
der juriſtiſchen Seite des Teſtaments an. Daher wird gar
nicht geſehen auf die blos zur Zeit des errichteten Teſta-
(f) § 1. J. quib. non est perm. (2. 12), L. 2 L. 6 § 1 L. 20
§ 4 qui test. (28. 1), L. 8 § 3 de j. cod. (29. 7), L. 1 § 8. 9. de
B. P. sec. tab. (37. 11).
|0477 : 455|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
ments vorhandenen Verhältniſſe, obgleich dieſe der Teſtator
zunächſt vor Augen hatte, ſondern lediglich auf die Ver-
hältniſſe zur Zeit des Todes.
Dieſes war unzweifelhaft bei ſolchen thatſächlichen
Verhältniſſen, die eine ganz materielle Natur hatten. Die
Schonung oder Verletzung des Pflichttheils hängt oft ab
von der Größe des Vermögens. Dieſe wird beurtheilt
nach der Zeit des Todes, gar nicht nach der Zeit
des errichteten Teſtaments, welche doch dem Teſtator
damals vor Augen ſtand (g). — Eben ſo die Verletzung
des eingeſetzten Erben im Verhältniß zu den Legaten, die
durch verſchiedene Geſetze verhütet werden ſollte (Lex Furia,
Voconia, Falcidia), wird beurtheilt nach der Größe des
Vermögens zur Zeit des Todes, ſo daß der frühere Zuſtand
gleichgültig iſt (h).
In manchen anderen Fällen hatte die Ungültigkeit des
Inhalts eine ſtrenger juriſtiſche Natur; ſo die Nichtigkeit
des Teſtaments, in welchem ein Suus oder ein Posthumus
präterirt war. Dennoch wurde auch hier die oben aufge-
ſtellte Anſicht, nach welcher der Inhalt des Teſtaments aus-
ſchließend nach der Zeit des Todes beurtheilt werden ſollte,
ſo ſehr für richtig und dem praktiſchen Bedürfniß ange-
meſſen gehalten, daß durch künſtliche Mittel nachgeholfen
wurde. Wenn alſo der präterirte Suus oder Posthumus
noch vor dem Teſtator ſtarb, ſo war und blieb eigentlich
(g) L. 8 § 9 de inoff. (5. 2).
(h) § 2 J. de L. Falc.
(2. 22), L. 73 pr. ad L. Falc. (35. 2).
|0478 : 456|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
das Teſtament nichtig; es wurde aber aufrecht erhalten,
indem daraus der Prätor eine B. P. secundum tabulas er-
theilte (i). — Ganz derſelbe Erfolg trat auch ein, wenn
der Teſtator fehlte durch die Präterition eines Emancipir-
ten, oder durch die unbillige Enterbung eines nahen, zur
Inteſtaterbfolge befähigten, Verwandten, nur mit dem Un-
terſchied, daß hier der Erfolg von ſelbſt eintrat, nicht erſt
durch künſtliche Aushülfe des Prätors. Denn der präter-
irte Emancipirte hatte überhaupt nur einen Anſpruch durch
B. P. contra tabulas, die ein ganz perſönliches Rechts-
mittel war, angeboten dem zur Zeit des Erbanfalls leben-
den Präterirten. Daher war die Präterition eines Eman-
cipirten, der vor dem Teſtator ſtarb, wirkungslos, weil ihm
nun keine ſolche B. P. c. t. deferirt werden konnte. Ganz
eben ſo verhielt es ſich mit der Querela inofficiosi des
unbillig ausgeſchloſſenen Inteſtatberechtigten. Denn auch
dieſe iſt ein ganz perſönliches Rechtsmittel, von welchem
nicht die Rede ſeyn kann, wenn etwa der unbillig Aus-
geſchloſſene vor dem Teſtator ſtirbt. Vgl. oben B. 2.
§ 73 G.
(i) Ulpian. XXIII. § 6, L.
12 pr. de injusto (28. 3). —
Man könnte dieſe Behandlung
der Sache etwa ſo ausdrücken:
Die durch Präterition bewirkte Nich-
tigkeit war nach jus civile eine
abſolute; der Prätor verwandelte
ſie in eine relative, ſo daß ſie nur
von dem lebenden Präterirten ſelbſt
geltend gemacht werden konnte,
nicht zufällig von einem Dritten,
zu deſſen Vortheil ſie gar nicht
eingeführt war. Nach der Strenge
des jus civile war die Präterition
des Suus oder Posthumus ein
vernichtender Formfehler, der Prä-
tor behandelte ſie blos als ein
Stück des Inhalts des Teſtaments.
|0479 : 457|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
4. Perſönliche Fähigkeit des Honorirten (des Erben
oder Legatars). Dieſer Fall iſt unter allen der ſchwierigſte,
und er hat die meiſten Mißverſtändniſſe in unſrer Lehre
erzeugt.
An ſich gehört dieſer Punkt zum Inhalt des Teſtaments,
ſo daß wir nach allgemeinen Gründen lediglich die that-
ſächlichen Verhältniſſe zur Zeit des Todes zu berückſichtigen
hätten, ganz ohne Rückſicht auf frühere Zuſtände. Dennoch
haben ihn die Römer ganz anders behandelt, und wir
müſſen uns die Gründe dieſer abweichenden Behandlung
klar zu machen ſuchen.
Die Römiſche Lehre iſt folgende. Die juriſtiſche Fähig-
keit des Erben und des Legatars beruht auf derſelben
testamentifactio, wie die des Teſtators (Note b), ſo daß
alle cives und Latini ſie haben, alle peregrini ſie ent-
behren (k). Dieſe Standesfähigkeit muß vorhanden ſeyn
in drei Zeitpunkten (tria tempora): zur Zeit des Teſta-
ments, zur Zeit des Todes (l), zur Zeit des Erwerbs.
Eigentlich wäre auch die fortdauernde Fähigkeit in der
Zwiſchenzeit nöthig; doch wird dieſe Forderung nachgeſehen,
(k) Ulpian. XXII. § 1. 2. 3.
Hier iſt weder der filius familias,
noch der Latinus Julianus aus-
geſchloſſen, weil der Vermögens-
loſe zwar Nichts hinterlaſſen, wohl
aber Etwas zugewieſen bekommen
kann. Auch nicht das Kind und
der Wahnſinnige, weil es nicht
nöthig iſt, zu wollen oder zu han-
deln, um eingeſetzt zu werden.
(l) An die Stelle dieſes Zeit-
punktes tritt bei bedingten Ein-
ſetzungen die Zeit der erfüllten
Bedingung, die alſo nicht etwa
einen vierten Zeitpunkt bildet.
|0480 : 458|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
ſo daß eine vorübergehende Unfähigkeit in der Zwiſchenzeit
nicht ſchadet (media tempora non nocent) (m).
Was iſt nun der Grund dieſer, von der nach allge-
meinen Gründen zu erwartenden ſo abweichenden, Behand-
lung gerade dieſes einen Falles? Wir können dabei ab-
ſehen von dem dritten Zeitpunkt (Erwerb der Erbſchaft),
der ſich eigentlich von ſelbſt verſteht, und überhaupt nicht
wichtig iſt. Dann bleibt uns als auffallende, beſonders zu
erklärende, Erſcheinung die Regel übrig, daß die Fähigkeit
des Honorirten nicht blos erfordert wird zur Zeit des
Todes (wie wir es erwarten möchten), ſondern auch zur
Zeit des errichteten Teſtaments, ſo daß die zu dieſer Zeit
vorhandene Unfähigkeit (z. B. Peregrinität) das Teſtament
für immer ungültig macht, ſelbſt wenn der eingeſetzte Erbe
bald nachher das Römiſche Bürgerrecht erwarb.
Die Erklärung dieſer auffallenden Erſcheinung aber iſt
weder ſchwierig, noch zweifelhaft. Sie liegt in der Grund-
form des Römiſchen Teſtaments als einer Mancipation des
gegenwärtigen Vermögens (n), als eines idealen Ganzen
(ohne Rückſicht auf deſſen einzelne Beſtandtheile, ſo wie
(m) Die Hauptſtellen für dieſe
Lehre ſind folgende: § 4 J. de her.
qual. (2. 19), L. 6 § 2. L. 49
§ 1 L. 59 § 4 de her. inst.
(28. 5). — Die hier erwähnte
Zwiſchenzeit iſt indeſſen nur zu be-
ziehen auf den erſten Zeitraum,
zwiſchen Teſtament und Tod; die
Unfähigkeit in dem zweiten zwi-
ſchen Tod und Erwerb, ſchadet
allerdings, indem durch ſie die
Erbſchaft augenblicklich irgend
einem Dritten deferirt wird, ſey
es der Subſtitut oder der In-
teſtaterbe.
(n) Gajus II, § 103.
|0481 : 459|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
auf mögliche Zunahme oder Verminderung), wodurch das
Ganze die Geſtalt eines fingirten Erbvertrags annahm,
alſo eines Rechtsgeſchäfts unter Lebenden, als deſſen thätige,
mitwirkende Theilnehmer alle in dem Teſtament bedachte
Perſonen (repräſentirt durch den familiae emtor) angeſehen
wurden. Deswegen ſollten ſie Alle die perſönliche Fähig-
keit haben zur Zeit dieſes imaginären Vertrags.
Daß dieſe Regel in der That rein theoretiſch, der juri-
ſtiſchen Form zu Liebe angenommen war, alſo nicht be-
ruhend auf der Anerkennung eines inneren Bedürfniſſes,
ergiebt ſich noch aus folgendem Umſtand. In einer etwas
neueren Zeit waren Beſchränkungen der perſönlichen Er-
werbfähigkeit durch poſitive Geſetzgebung eingeführt worden,
wobei man ſich von jener alten formellen Rückſicht befreien
zu können glaubte; dieſer Fall trat ein bei den Eheloſen,
den Kinderloſen, und den Latini Juniani. Bei dieſer neu
erfundenen Unfähigkeit ſah man auf den Zuſtand zur Zeit
des errichteten Teſtaments gar nicht; ja man ging ſogar
auf der anderen Seite noch einen Schritt weiter, indem
man auch nicht einmal auf die Todeszeit ſah, ſondern nur
auf die Zeit des Erwerbs. Dieſe letzte Vorſchrift aber
hatte den praktiſchen Zweck, daß gerade die dargebotene
Erbſchaft ein Beweggrund ſeyn ſollte, für den Eheloſen,
ſogleich in eine Ehe zu treten, für den Latinus Junianus,
ſich des jus quiritium ſchnell würdig zu machen (o).
(o) Ulpian. XXII. § 3 verglichen mit XVII. § 1 und III.
§ 1 — 6.
|0482 : 460|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Hierin liegt der wahre Grund der auffallenden Regel
über die tria tempora; nicht, wie Viele glauben, in der
regula Catoniana (p). Die Unrichtigkeit dieſer Ableitung
ergiebt ſich aus folgenden Betrachtungen. Die tria tempora
werden nirgend auf dieſe ganz einzeln ſtehende, einer ſchon
etwas neueren Zeit angehörende, Regel zurückgeführt,
müſſen alſo wohl einen allgemeineren und älteren Grund
gehabt haben. Ferner geht die Regel des Cato nur auf
Legate (Note p), und namentlich nicht auf Erbſchaften (q).
Sie betrifft alſo überhaupt nicht die perſönliche Fähigkeit
des Honorirten, wovon allein hier die Rede iſt, ſondern
andere Bedingungen eines ungültigen Legats; insbeſondere
wohl den Fall, wenn der Teſtator eine Sache per vindi-
cationem legirt, ohne daran zur Zeit des Teſtaments das
Römiſche Eigenthum zu haben. Dieſes Legat iſt ungültig,
auch wenn er ſpäterhin das Römiſche Eigenthum der Sache
erwirbt (r).
Faſſen wir dieſes Alles in Einen Gedanken zuſammen,
ſo müſſen wir ſagen, die ganze Lehre der tria tempora
gründete ſich gar nicht auf die Natur der Sache, auf das
(p) L. 1 pr. de reg. Cat.
(34. 7) „Quod, si testamenti
facti tempore decessit testator,
inutile foret: id legatum,
quandocunque decesserit, non
valere.“
(q) L. 3 eod. „Catoniana
regula non pertinet ad here-
ditates.“ Zwar will Cujacius
obs. IV. 4 emendiren: liberta-
tes, aber dieſe Emendation iſt
völlig willkürlich und weder durch
Handſchriften, noch durch inneres
Bedürfniß unterſtützt. Vergl.
Voorda Interpret. II. 22.
(r) Ulpian. XXIV. § 7.
|0483 : 461|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
natürliche Weſen des Teſtaments, ſondern ſie hatte eine
blos zufällige, hiſtoriſche Veranlaſſung. Ja wir müſſen
hinzufügen, daß es conſequent geweſen wäre, dieſe Lehre
im Juſtinianiſchen Recht gänzlich aufzugeben, indem ja in
dieſem Recht der Gedanke der Mancipation, als Grundlage
der Teſtamente, völlig verſchwunden war.
Die ſo eben geführte Unterſuchung betraf gar nicht die
Frage wegen der zeitlichen Colliſion der Geſetze, war alſo
eine Digreſſion, aber eine unentbehrliche Digreſſion. Denn
indem ich mich nun zur Unterſuchung der Veränderungen
wende, die nicht in den Thatſachen eintreten, ſondern in
den Geſetzen, muß ich ſtets zurückgehen auf die Analogie
der eben aufgeſtellten Regeln. Jedoch darf davon dieſer
Gebrauch nur mit Vorſicht und Unterſcheidung gemacht
werden, beſonders mit Rückſicht darauf, ob die aufgeſtellten
Regeln aus der Natur der Sache abgeleitet wurden, oder
aus eigenthümlichen Gründen. Ich werde mich dabei ganz
an die Reihe von Fällen halten, wie ſie ſo eben für die
thatſächlichen Veränderungen aufgeſtellt wurden.
1. Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung
auf deſſen Rechtsverhältniſſe.
Dieſe muß in zwei Zeitpunkten vorhanden ſeyn: zur
Zeit des errichteten Teſtaments und zur Zeit des Todes;
fehlt ſie in einem derſelben, ſo iſt und bleibt das Teſtament
ungültig (S. 453). Sie kann aber gerade dadurch fehlen,
|0484 : 462|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
daß der Zuſtand des Teſtators dem in einem dieſer Zeit-
punkte geltenden Geſetz nicht entſpricht (s).
Folgende Beiſpiele werden die Sache erläutern. Nach
Römiſchem Recht konnten teſtiren: alle cives, alle unab-
hängige Latini (t), nicht die peregrini (S. 452). Geſetzt
nun, ein ſolcher Latinus hätte ein Teſtament gemacht, und
während ſeines Lebens wäre allen Latinen durch ein Kaiſer-
geſetz die testamentifactio entzogen worden, ſo wäre das
Teſtament ungültig geweſen, wegen der Unfähigkeit zur
Todeszeit. — Geſetzt, ein Peregrine hätte ein Teſtament
gemacht, und während ſeines Lebens wäre durch ein Kaiſer-
geſetz allen Peregrinen die testamentifactio verliehen worden,
ſo wäre das Teſtament ungültig geblieben, wegen der Un-
fähigkeit zur Zeit des errichteten Teſtaments.
2. Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung
auf deſſen phyſiſche Eigenſchaften.
Dieſe muß blos vorhanden ſeyn zur Zeit der Errichtung
des Teſtaments, alſo entſcheidet ausſchließend das zu dieſer
Zeit geltende Geſetz. Ein nach demſelben gültig gemachtes
(s) Chabot T. 2 p. 438. 439.
— Dagegen glaubt Meyer p.
121—131, die Unfähigkeit zur Zeit
des errichteten Teſtaments ſchade
nicht, und ſucht dieſe grundloſe
Behauptung gegen die allerdings
nicht zutreffenden Einwürfe aus
der regula Catoniana zu recht-
fertigen.
(t) Dahin gehörten früher die
Latini colonarii (Ulpian. XIX.
§ 4), und, ſeitdem es ſolche nicht
mehr gab, alle Nachkommen eines
Latinus Junianus, da das Ver-
bot der Lex Junia nur ihn ſelbſt
betraf, nicht die Nachkommen,
welche Latini ingenui waren.
|0485 : 463|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
Teſtament kann durch ein ſpäteres Geſetz nicht ungültig
werden, eben ſo aber auch umgekehrt.
So waren im älteren Römiſchen Recht Stumme un-
fähig, zu teſtiren; Juſtinian hat ihnen die Fähigkeit er-
theilt (u). Wenn nun kurz vor dieſem Geſetz ein Stummer
teſtirte, ſo wurde das Teſtament durch das neue Geſetz
dennoch nicht gültig; er konnte aber jetzt ein gültiges Te-
ſtament errichten. — Die Teſtamentsmündigkeit im weib-
lichen Geſchlecht ſetzt das Römiſche Recht auf zwölf Jahre (v),
das Preußiſche Recht auf vierzehn Jahre (w). Wenn nun
ein Mädchen von dreizehn Jahren ein Teſtament macht
unter der Herrſchaft des Römiſchen Rechts, ſo bleibt das
Teſtament gültig, auch wenn gleich nachher das Preußiſche
Geſetz eingeführt wird, und der Tod vor Vollendung des
vierzehnten Jahres erfolgt. Wird das Teſtament unter der
Herrſchaft des Preußiſchen Rechts mit dreizehen Jahren
errichtet, ſo bleibt es ungültig, ſelbſt wenn gleich darauf
das Römiſche Recht eingeführt wird.
3. Der Inhalt des Teſtaments richtet ſich lediglich
nach der Zeit des Todes, ſo daß das zu dieſer Zeit beſte-
hende Geſetz über die Gültigkeit des Inhalts allein ent-
ſcheidet, ohne Rückſicht auf die Vorſchriften des früheren
(u) L. 10 C. qui test. (6. 22).
(v) L. 5 qui test. (28. 1).
(w) A. L. R. I. 12 § 16.
|0486 : 464|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Geſetzes, ſelbſt desjenigen, unter deſſen Herrſchaft das Te-
ſtament errichtet war (x).
Anwendungen dieſer Regel, die für die Anwendung
wichtiger iſt, als alle andere, ſind folgende.
Pflichttheil und Präterition ſind zu beurtheilen nach dem
zur Todeszeit beſtehenden Geſetz (y). — Eben ſo die im
Franzöſiſchen Geſetzbuch verbotenen Fideicommiſſe (substitu-
tions) (z). — Eben ſo die Vulgarſubſtitution, die in
Frankreich im J. 1790 verboten, durch den code aber
wieder erlaubt wurde (aa).
4. Perſönliche Fähigkeit des Honorirten (Erben oder
Legatars).
In den bisher erörterten Fällen und Fragen mußte für
die Veränderungen in den Geſetzen genau dieſelbe Regel ange-
nommen werden, welche für die Veränderungen in den that-
ſächlichen Verhältniſſen vom Römiſchen Recht anerkannt war
(S. 451—456); denn dieſe Anerkennung hatte ſich gegründet
(x) Chabot T. 2 p. 367—
370, p. 382, p. 445—454, der
unter Allen dieſen Punkt am rich-
tigſten auffaßt, freilich mit Ein-
miſchung mancher Irrthümer über
das R. R. — Weber S. 96—
98 läßt das Teſtament ungültig
werden, wenn der Inhalt entwe-
der dem Geſetz zur Zeit des Te-
ſtaments, oder dem zur Zeit des
Todes widerſpricht; er behandelt
alſo dieſen Punkt ſo, wie die juri-
ſtiſche Fähigkeit des Teſtators
(Num. 1). — Bergmann § 16.
19. 51 nimmt an, nach R. R.
ſey der Inhalt blos nach dem
zur Zeit des Teſtaments gültigen
Geſetz zu beurtheilen, und die
Rückſicht auf die Todeszeit ſey
eine falſche Anſicht der franzöſiſchen
Rechtslehrer, aber auch eingedrun-
gen in ihre Geſetzgebung.
(y) Chabot T. 2 p. 225, p.
464—475.
(z) Chabot T. 2 p. 382.
Vgl. Meyer p. 132—148.
(aa) Chabot T. 2 p. 367—
370.
|0487 : 465|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
auf die allgemeine Natur des Teſtaments überhaupt, alſo
auf das innere Bedürfniß der Sache ſelbſt. Ganz anders
verhält es ſich mit der Frage wegen der perſönlichen Fähig-
keit des Honorirten, bei welcher die thatſächlichen Verän-
derungen im Römiſchen Recht nach der Regel der tria tem-
pora beurtheilt werden. Denn dieſe Beurtheilung hatte
keine innere, ſondern nur hiſtoriſche Gründe, Gründe, die
ſchon zu Juſtinian’s Zeit verſchwunden waren, und vollends
für uns gar keine Bedeutung mehr haben können. Wir
müſſen alſo hier die Analogie jener Regel des Römiſchen
Rechts ganz verlaſſen, und uns lediglich an die wahre
Natur des Teſtaments halten. Dieſe aber führt dahin,
die perſönliche Fähigkeit des Honorirten als ein zum In-
halt des Teſtaments gehörendes Stück aufzufaſſen, und
daher ausſchließend nach dem zur Todeszeit geltenden Ge-
ſetz zu beurtheilen, ohne Rückſicht auf das Recht, welches
früher, etwa zur Zeit der Errichtung des Teſtaments, ge-
golten haben mag (bb).
Daß uns in dieſer Behauptung die regula Catoniana
nicht irre machen darf, und daß wir alſo auch keine Ver-
anlaſſung haben, die Anwendbarkeit dieſer Regel auf unſre
Zeit künſtlich zu widerlegen, wie es von Manchen verſucht
worden iſt, wurde ſchon oben gezeigt. Beſonders auf die
(bb) Chabot T. 2 p. 462—464. ſtimmt mit dieſer Entſchei-
dung völlig überein, ohne ſich in die hier verſuchte Begründung
einzulaſſen.
VIII. 30
|0488 : 466|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Fähigkeit eines eingeſetzten Erben kann jene Regel auch
nicht einmal ſcheinbar angewendet werden (Noten p. q.).
5. Ferner kommt das Geſetz über die Form des Te-
ſtaments in Betracht, von welcher zu ſprechen bei den that-
ſächlichen Veränderungen gar keine Veranlaſſung war.
Die Form gehört ganz zur faktiſchen Seite des Teſta-
ments, welches daher für gültig oder ungültig gehalten
werden muß, je nachdem die angewendete Form dem da-
mals geltenden Geſetz entſprach oder nicht, ſo daß hierin
ein ſpäteres Geſetz weder zum Vortheil, noch zum Nachtheil
des Teſtaments Etwas zu aͤndern vermag (cc). Dieſe
Regel ſtimmt auch ganz mit den oben aufgeſtellten allge-
meineren Regeln überein (§ 388).
In Anwendung dieſer Regel muß alſo ein unter dem
Franzöſiſchen Recht gemachtes eigenhändiges Privatteſtament
gültig bleiben, auch wenn vor dem Tode des Teſtators das
Preußiſche Recht eingeführt wird, welches die Privatteſta-
mente nicht anerkennt. Umgekehrt muß ein unter dem
Preußiſchen Recht errichtetes eigenhändiges Privatteſtament
ungültig bleiben, auch wenn während der Lebenszeit des
Teſtators das Franzöſiſche Recht eingeführt wird, welches
dieſe Form der Teſtamente geſtattet (dd).
6. Endlich iſt noch der Fall zu erwähnen, wenn etwa
(cc) Chabot T. 2 p. 394—399. Weber S. 90.
(dd) Eine hierin etwas abweichende Beſtimmung des Preußiſchen
Rechts iſt ſchon oben erwähnt worden (§ 388. o), und wird abermals
im § 394. erwogen werden.
|0489 : 467|
§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
ein Geſetz die teſtamentariſche Erbfolge überhaupt auf-
heben, alſo die geſetzliche für die allein gültige erklären
ſollte; nicht als ob dieſer Fall etwa praktiſch erheblich wäre,
ſondern weil die Betrachtung deſſelben dazu dienen kann,
die ganze Anſicht der Sache mehr feſtzuſtellen.
Wird nun ein Teſtament gemacht unter der Herrſchaft
eines Geſetzes, das die Teſtamente überhaupt unterſagt,
ſo iſt und bleibt es ungültig, ſelbſt wenn vor dem Tode
ein neues Geſetz die Teſtamente wieder zulaſſen ſollte.
Dieſes muß ſchon deshalb angenommen werden, weil für
ein ſolches Teſtament keine dem gleichzeitigen Geſetz ge-
nügende Form angewendet ſeyn kann, welches doch nach
der eben aufgeſtellten Regel (Num. 5) erforderlich wäre.
Eben ſo iſt das Teſtament ungültig, wenn die teſtamen-
tariſche Erbfolge zur Zeit der Errichtung erlaubt, zur Zeit
des Todes, vermöge eines neuen Geſetzes, unterſagt war.
Dieſes iſt ſchon deshalb anzunehmen, weil das neue Geſetz
den ganzen Inhalt des Teſtaments entkräften wollte, die
Gültigkeit des Inhalts aber nach dem zur Zeit des Todes
beſtehenden Geſetz zu beurtheilen iſt (Num. 3). Aber auch
eine zweite, noch durchgreifendere, Anſicht führt zu dem-
ſelben Erfolg. Ein ſolches neues Geſetz betrifft eigentlich
nicht den Erwerb eines Rechts (nämlich des Erbrechts ver-
mittelſt eines Teſtaments), ſondern das Daſeyn eines ganzen
Rechtsinſtituts (der teſtamentariſchen Erbfolge), und bei
Geſetzen dieſer Art iſt von der rückwirkenden Kraft über-
haupt nicht die Rede (§ 384).
30*
|0490 : 468|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Am zweifelhafteſten könnte der Fall gefunden werden,
wenn zur Zeit der Errichtung und zur Zeit des Todes Te-
ſtamente geſetzlich erlaubt wären, ein vorübergehendes Ge-
ſetz der Zwiſchenzeit aber ſie einmal unterſagt hätte. Ich
würde geneigt ſeyn, auf dieſen Fall die Analogie der
Römiſchen Regel: media tempora non nocent (Note m),
anzuwenden, und das Teſtament als gültig anzuerkennen.
§. 394.
A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.
(Fortſetzung).
Die zeitliche Gränze der Herrſchaft neuer Geſetze in
Anwendung auf Teſtamente iſt bisher nur noch aus allge-
meinen Geſichtspunkten, nach der Natur der Teſtamente
überhaupt, unterſucht worden, ohne Rückſicht auf die
unmittelbaren Ausſprüche poſitiver Geſetze. Das Römiſche
Recht wurde erwogen (§ 393) bei einer an ſich ver-
ſchiedenen Frage, der Frage wegen der thatſächlichen Ver-
änderungen, die in Beziehung auf die Gültigkeit der Te-
ſtamente von Einfluß ſeyn können. Von den Regeln des
Römiſchen Rechts über dieſe andere Frage wurde eine blos
analoge Anwendung verſucht auf die Löſung unſrer vor-
liegenden Aufgabe. Ich will nun unterſuchen, welche Aus-
ſprüche poſitiver Geſetzgebungen für dieſe Aufgabe ſelbſt
benutzt werden können, alſo für die Beſtimmung des Ein-
|0491 : 469|
§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
fluſſes, den wir neuen Geſetzen auf die Gültigkeit der Te-
ſtamente zuzuſchreiben haben.
Zuerſt ſoll das Römiſche Recht erwogen worden.
In dieſem finden wir einen allgemeinen Ausſpruch über
unſre Frage gar nicht. Der allgemeine, die rückwirkende
Kraft der Geſetze verneinende Grundſatz (§ 386) iſt für die
Teſtamente deswegen nicht ausreichend, weil dieſe nicht ſo,
wie die Verträge und Veräußerungen, einem einzelnen
Zeitpunkt angehören, ſondern mehreren Zeitpunkten (§ 393),
ſo daß es gerade zweifelhaft ſeyn kann, in welchen Be-
ziehungen das Teſtament unter die futura negotia, oder
vielmehr unter die facta praeterita (die pendentia negotia)
zu rechnen ſeyn möge.
Dagegen finden wir in vielen einzelnen Römiſchen Ge-
ſetzen ſehr beſtimmte tranſitoriſche Vorſchriften über die
Frage, auf welche Teſtamente gerade dieſe neuen Geſetze
angewendet oder nicht angewendet werden ſollen. Dabei
liegt nun der Gedanke ſehr nahe, daß dieſe tranſitoriſchen
Vorſchriften zugleich den Ausdruck des auf unſre Frage be-
züglichen allgemeinen, bleibenden Grundſatzes enthalten
müßten, und unter dem Einfluß dieſer Vorausſetzung haben
neuere Schriftſteller ſehr häufig ihre Theorie ausgebildet.
Aber gerade dieſe Vorausſetzung iſt ſehr bedenklich, und
für manche einzelne Fälle erweislich falſch. Denn die tran-
ſitoriſche Vorſchrift kann im Einzelnen hervorgegangen ſeyn,
nicht ſowohl aus der Ueberzeugung, daß es nach allgemeinen
Grundſätzen ſo ſeyn müſſe, weil es der Natur der Teſta-
|0492 : 470|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
mente angemeſſen ſey, als vielmehr aus ſchonender Rückſicht
auf beſtehende Thatſachen; dann aber iſt die tranſitoriſche
Vorſchrift nicht Ausdruck einer als wahr anerkannten Regel,
ſondern vielmehr einer ſchonenden Ausnahme von der Regel.
Dieſe Abſicht der Geſetzgeber iſt nicht nur überhaupt möglich,
ſondern gerade hier in mehreren Fällen unzweifelhaft vor-
handen. Wir werden alſo die einzelnen tranſitoriſchen Vor-
ſchriften des Römiſchen Rechts über das Recht der Teſta-
mente, welche nunmehr der Reihe nach angegeben werden
ſollen, mit den oben aufgeſtellten allgemeinen Grundſätzen
(§ 393) zu vergleichen haben, um bei jeder dieſer Vor-
ſchriften zu erkennen, ob ſie als anerkennender Ausdruck
der Regel, oder vielmehr als Ausnahme von der Regel,
anzuſehen ſeyn möge.
1. Eine ſolche tranſitoriſche Vorſchrift findet ſich in der
Lex Falcidia, welche im erſten Kapitel ſo lautet (a):
Qui cives Romani sunt, qui eorum post hanc
Legem rogatam testamentum facere volet, ut
eam pecuniam etc.
Dieſe Beſtimmung, welche dann im zweiten Kapitel
wörtlich wiederholt wird, beſchränkt die Anwendung des
Geſetzes auf künftig zu errichtende Teſtamente, ſo daß die
(a) L. 1 pr. ad L. Falc.
(35. 2). — Eine ähnliche tran-
ſitoriſche Beſtimmung erwähnt
Cicero (in Verrem I. 41. 42)
von der L. Voconia (qui here-
dem fecerit), die aber Ver-
res durch ſein unredliches Edict
in rückwirkende Kraft umgewan-
delt habe durch die Worte: fecit,
fecerit.
|0493 : 471|
§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
ſchon errichteten, auch wenn die Teſtatoren noch lebten,
davon frei ſeyn ſollten.
Darin liegt eine Ausnahme unſrer Regeln. Denn da
die Beſtimmung des Geſetzes den Inhalt des Teſtaments
betraf, ſo hätte daſſelbe eigentlich angewendet werden müſſen
auf alle Teſtamente, deren Urheber ſpäter ſtarben (§ 393
Num. 3), auch wenn ſie damals ſchon errichtet waren.
Man wollte alſo den lebenden Teſtatoren die Mühe er-
ſparen, ihre ſchon gemachten Teſtamente mit dem neuen
Geſetz zu vergleichen und danach nöthigenfalls umzuändern,
zugleich auch die Gefahr, die aus der Vernachläſſigung
dieſer Vorſicht für die vollſtändige Gültigkeit des Teſtaments
entſtehen konnte. Dieſe Schonung war aber deswegen
natürlich und löblich, weil es in der That dem Geſetzgeber
ſehr gleichgültig ſeyn konnte, ob das Geſetz einige Jahre
früher oder ſpäter ausſchließende Anwendung erhielte.
Es muß aber noch beſonders darauf aufmerkſam gemacht
werden, daß dieſes Geſetz nicht etwa die Abſicht und die
Folge hatte, eine bis dahin unbeſchränkte Freiheit der Te-
ſtatoren in Beziehung auf Legate zu beſchränken, ſondern
vielmehr die ganz anderen, für manche Fälle ſtrengeren,
Beſchränkungen der Lex Furia und der Lex Voconia durch
eine neue, zweckmäßigere, zu erſetzen (b). Die Meinung
ging alſo dahin, daß auf die ſchwebenden Teſtamente die
(b) Gajus II. § 224—227.
|0494 : 472|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Lex Furia und Lex Voconia, auf die künftigen lediglich
die Lex Falcidia, angewendet werden ſollten.
2. Im J. 531 verordnete Juſtinian, jede Erbein-
ſetzung ſolle nur gültig ſeyn, wenn der Teſtator den Namen
des Erben mit eigener Hand ſchreibe oder vor den Zeugen
mündlich ausſpreche. Dieſe Vorſchrift ſolle aber nur ange-
wendet werden auf künftige Teſtamente, nicht auf ſchon
errichtete (c). — In dieſer tranſitoriſchen Vorſchrift lag
eine reine Anwendung der oben aufgeſtellten Grundſätze,
indem das neue Geſetz lediglich die Form des Teſtaments
betraf (§ 393 Num. 5). Allein drei Jahre ſpäter (534)
wurde jenes Geſetz in den neueſten Codex aufgenommen,
und zwar mit dem ſo eben angeführten tranſitoriſchen Zu-
ſatz. Darin lag alſo die Vorſchrift, daß die in den ver-
floſſenen drei Jahren (zwiſchen 531 und 534) gemachten
Teſtamente, auf die eigentlich das Geſetz ſchon anwendbar
geweſen wäre, davon frei ſeyn ſollten, alſo gewiſſermaßen
eine Amneſtie für die in dieſen Teſtamenten etwa began-
gene Vernachläſſigung des Geſetzes. Man könnte dieſe
auffallende Wiederholung der tranſitoriſchen Vorſchrift viel-
leicht für ein bloßes Verſehen halten wollen; allein Juſti-
nian ſelbſt hat dieſelbe in einem ſpäteren Geſetz für ab-
ſichtlich erklärt, gegründet auf die Wahrnehmung, daß das
neue Geſetz urſprünglich nicht genug bekannt geworden ſey,
(c) L. 29 C. de test. (6. 23). — Dieſe ganze Beſtimmung hat
nur noch ein hiſtoriſches Intereſſe, da ſie nach wenigen Jahren wieder
aufgehoben wurde. Nov. 119 C. 9 (von 544).
|0495 : 473|
§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
welchem Mangel erſt die Aufnahme in den neuen Codex
abgeholfen habe (d).
3. Der Pflichttheil betrug nach altem Recht ein Vier-
theil der Inteſtatportion; Juſtinian erhöhte ihn nach
Verſchiedenheit der Umſtände auf ein Drittheil oder die
Hälfte (e). Da dieſes Geſetz den Inhalt des Teſtaments
betraf, hätte es auch auf die ſchon errichteten Teſtamente
angewendet werden müſſen. Juſtinian aber verordnete,
daß es erſt auf künftige Teſtamente angewendet werden
ſollte, worin alſo wieder eine ſchonende Ausnahme lag (f).
4. Durch Kaiſerconſtitutionen wurde die Befugniß eines
Vaters, ſeine Concubinenkinder durch letzten Willen zu
bedenken, auf mancherlei abwechſelnde Weiſe beſchränkt (g).
Eines dieſer beſchränkenden Geſetze geht dahin, daß ſolche
Kinder, wenn keine eheliche Kinder vorhanden wären, die
Hälfte des Vermögens bekommen dürften. Es wurde aber
hinzugefügt, dieſe Beſtimmung ſolle nur angewendet werden
auf künftig zu errichtende Teſtamente (h). Darin lag
wieder eine Ausnahme, indem das Geſetz den Inhalt des
Teſtaments betraf, alſo eigentlich auf ſchwebende Teſtamente
anwendbar geweſen wäre.
5. Durch die L. Julia und die L. Papia Poppaea war
unter K. Auguſtus die ſehr verwickelte Caducität der
(d) Nov. 66 C. 1 § 1.
(e) Nov. 18 (von 536).
(f) Nov. 66 C. 1 § 2—5 (von 538).
(g) Göſchen Vorleſungen III. 2 § 793.
(h) L. 8 C. de natur. lib. (5. 27), von Juſtinian 528.
|0496 : 474|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Erbſchaften und Legate eingeführt worden. Dieſes Rechts-
inſtitut, welches durch viele ſpätere Geſetze umgebildet
war, wurde von Juſtinian im J. 534 gänzlich aufge-
hoben, jedoch mit dem Zuſatz, daß dieſes neue Recht erſt
auf die künftig zu errichtenden Teſtamente angewendet
werden ſollte (i). Auch darin lag wieder eine Ausnahme
von den aufgeſtellten Regeln, da das neue Geſetz den In-
halt des Teſtaments zum Gegenſtand hatte.
Das Preußiſche Recht enthält über unſre Frage nur
wenig bleibende, für alle Zeiten gültige Beſtimmungen, und
auch dieſe beantworten die Frage nicht unmittelbar, ſondern
können dafür nur durch Folgerungen benutzt werden. Es
wird zweckmäßiger ſeyn, dieſe erſt am Schluß zu erwähnen.
Dagegen iſt unſre Geſetzgebung reich an tranſitoriſchen
Beſtimmungen über Teſtamente, die alſo keinen allgemeinen
bleibenden Grundſatz ausſprechen, ſondern bei Gelegenheit
einzelner Einführungsakte die Behandlung der Teſtamente
beſtimmen, darin alſo höchſtens, und nicht immer, einen
allgemeinen Grundſatz durchblicken laſſen.
Die Reihe dieſer tranſitoriſchen Vorſchriften iſt folgende
(§ 383).
(i) L. un. § 15 C. de cad. toll. (6. 51).
|0497 : 475|
§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
Das Einführungspatent des Allg. Landrechts von 1794
verordnet im § 12, daß alle damals errichtete Teſtamente
„nach den Vorſchriften der ältern Geſetze durchgehends
beurtheilt werden ſollen, wenngleich das Ableben des Te-
ſtators erſt ſpäter erfolgte.“ Durchgehends, alſo in
Anſehung der Form und des Inhalts. Das erſte iſt eine
reine Anwendung der oben aufgeſtellten Grundſätze; das
zweite iſt eine ſchonende Ausnahme von dieſen Grundſätzen
(§ 393 Num. 3), ähnlich den vielen ſo eben angeführten
Ausnahmen in Römiſchen Geſetzen.
Die drei Patente von 1803 ſtimmen damit im § 6
wörtlich überein.
Eine nach zwei Seiten neue Wendung findet ſich in
dem für die Provinzen jenſeits der Elbe erlaſſenen Patent
von 1814 (k).
Die erſte neue Beſtimmung ſchließt ſich abändernd an
die eben angeführten älteren Vorſchriften.
§ 6. Alle Teſtamente und letztwillige Verord-
nungen, welche vor dem 1. Januar 1815
errichtet worden, müſſen, in Rückſicht
ihrer Form, durchgehends nach den Vor-
ſchriften der älteren Geſetze beurtheilt wer-
den, wenngleich das Ableben des Erblaſ-
ſers erſt ſpäter erfolgt ſeyn ſollte.
Der Zuſatz: in Rückſicht ihrer Form, der in den
früheren Patenten ganz fehlt, ſoll augenſcheinlich den Ge-
(k) Geſetzſammlung 1814 S. 89—96.
|0498 : 476|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
genſatz ausdrücken gegen die Rückſicht ihres Inhalts,
ſoll alſo andeuten, daß der Inhalt vielmehr nach dem neuen
Geſetz (nach dem Geſetz zur Zeit des Todes) beurtheilt
werden ſolle. Darin liegt alſo die Anerkennung der oben
aufgeſtellten Regeln über die auf die Form und den In-
halt der Teſtamente anwendbaren Geſetze (l).
Die zweite neue Beſtimmung wird weiter unten nach-
geholt werden.
Die eben erwähnte neue Beſtimmung wurde ausführ-
licher und genauer ausgedrückt in dem Patent für Weſt-
preußen von 1816 (§ 383).
§ 8. Alle Teſtamente ..... ſind in Rückſicht
ihrer Form durchgehends nach den Vor-
ſchriften der älteren Geſetze zu beurtheilen.
Auch der Inhalt der Teſtamente iſt
gültig, in ſofern nicht Prohibitiv-
geſetze zur Zeit des Erbanfalles
ihm entgegen ſtehen. In letzterer
Rückſicht iſt insbeſondere die Lehre
von der Erbfähigkeit der inſtituir-
ten Erben und vom Pflichttheil
nach den zur Zeit des Erbanfalles
geltenden Geſetzen zu beurtheilen.
Mit dieſer letzten Faſſung ſtimmen die ſpäter erlaſſenen
tranſitoriſchen Geſetze wörtlich überein.
(l) Bergmann S. 565 nimmt irrig an, es liege darin keine
Abweichung von den älteren Patenten.
|0499 : 477|
§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
Hier wird nun auf ganz unzweifelhafte Weiſe für die
Anwendbarkeit verſchiedener Geſetze zwiſchen Form und In-
halt unterſchieden; bei den Geſetzen über die Form ſoll die
Zeit des errichteten Teſtaments, bei denen über den Inhalt
die Todeszeit berückſichtigt werden, und zu dieſer zweiten
Klaſſe werden ganz richtig die Geſetze über die perſönliche
Fähigkeit des Honorirten gerechnet. Damit iſt demnach
die ganze Reihe der oben aufgeſtellten Regeln als rich-
tig anerkannt, nur mit Ausnahme der Geſetze über die
perſönliche Fähigkeit des Teſtators, worüber gar Nichts
geſagt iſt.
Unter den wieder gewonnenen Landestheilen aber fan-
den ſich drei, in denen bis zu dieſem Zeitpunkt Franzöſi-
ſches Recht gegolten hatte, in welchen man alſo darauf
rechnen mußte, ſchwebende Teſtamente vorzufinden, die
theils auf der eigenhändigen Schrift des Teſtators, theils
auf notarieller Beglaubigung beruhten. Dieſes wurde für
zu gefährlich gehalten, und daher wurde in dieſen Landes-
theilen neben jener allgemeinen Beſtimmung, und theilweiſe
von ihr abweichend, die beſondere Vorſchrift aufgenommen,
daß ſolche ſchwebende Teſtamente nur noch Ein Jahr lang
gültig bleiben ſollten. Binnen dieſem Jahr ſollte der Teſta-
tor ein neues Teſtament nach der Form des Landrechts (alſo
gerichtlich) machen. Wenn der Teſtator nach Ablauf jenes
Jahres ſterben ſollte ohne neues Teſtament, ſo ſollte das
vorgefundene wirkungslos ſeyn, wenn nicht bewieſen werden
könne, daß er an der Errichtung eines neuen Teſtaments
|0500 : 478|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
fortwährend verhindert geweſen ſey (m). — In dieſer ganz
eigenthümlichen Beſtimmung iſt nun augenſcheinlich der
Ausdruck eines allgemeinen, bleibenden Grundſatzes nicht
enthalten, ſondern nur die Nothhülfe für einen einzelnen
Fall. Auch findet ſich in den übrigen tranſitoriſchen Ge-
ſetzen eine ähnliche Beſtimmung gar nicht.
Unabhängig von dieſen tranſitoriſchen Vorſchriften ent-
hält nun aber das Landrecht ſelbſt folgende bleibende Be-
ſtimmungen, die zur Entſcheidung unſerer die Teſtamente
betreffenden Frage benutzt werden können (S. 474).
A. Wenn ein Rechtsgeſchäft durch die dabei beobach-
teten Formen zwar nicht dem Geſetz, unter welchem es
gemacht wurde, wohl aber einem ſpäteren Geſetz, ge-
nügt, ſo ſoll es ausnahmsweiſe aufrecht erhalten
werden (n).
Dieſe Vorſchrift geht gar nicht beſonders auf Teſta-
mente, ſondern auf Rechtsgeſchäfte überhaupt, alſo aller-
dings auch auf Teſtamente, und weicht bei dieſen von den
oben aufgeſtellten Regeln ab. Sie iſt übrigens für den
Fall der neuen Einführung des Landrechts bei Teſtamenten
ganz unerheblich, weil ſich kaum denken läßt, daß irgend-
wo eine ſtrengere Form für Teſtamente, als die landrecht-
liche, eingeführt ſein ſollte, ſo daß, dieſer ſtrengeren Form
(m) Provinzen jenſeits der
Elbe (1814) § 7. Weſtpreußen
(1816) § 9. Poſen (1816) § 9,
ſ. o. § 383.
(n) A. L. R. Einl. § 17, ſ. o.
§ 388. c. Von dem ſehr bedenk-
lichen Inhalt dieſer Vorſchrift iſt
eben daſelbſt gehandelt worden.
|0501 : 479|
§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
gegenüber, das Teſtament durch die ſpäter eingeführte land-
rechtliche, als die weniger ſtrenge Form, aufrecht erhalten
werden könnte. Jene Vorſchrift würde daher eine praktiſche
Wichtigkeit erſt dann erhalten, wenn künftig einmal im
Preußiſchen Staat irgend eine leichtere Form der Teſta-
mente, etwa die des Franzöſiſchen Rechts, eingeführt wer-
den ſollte.
B. Die perſönliche Fähigkeit des Teſtators ſoll nach
der Zeit des errichteten Teſtaments beurtheilt werden (o).
Dieſe Vorſchrift bezieht ſich jedoch, wie die folgenden Sätze
zeigen, auf Veränderungen in den Thatſachen, nicht in den
Geſetzen, und kann daher nur durch Analogie auf Verän-
derungen in den Geſetzen angewendet werden. Einzelne
Anwendungen werden nun in folgender Weiſe gemacht.
a. Die natürliche Unfähigkeit zur Zeit des Teſtaments
macht das Teſtament ungültig, ſelbſt wenn der
damalige Mangel ſpäter gehoben wird, z. B. durch
das erreichte reifere Alter (p). Dieſer Satz ſtimmt
mit unſern Regeln überein.
b. Die auf Rechtsgründen zur Zeit des Teſtaments
beruhende Unfähigkeit verliert ihren nachtheiligen
Einfluß, wenn der Mangel ſpäter gehoben wird (q).
Darin liegt eine Abweichung von unſern Regeln
(§ 393 Num. 1).
(o) A. L. R. I. 12 § 11.
(p) A. L. R. I. 12 § 12.
(q) A. L. R. I. 12 § 13.
|0502 : 480|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
c. War ungekehrt der Teſtator zur Zeit des errichte-
ten Teſtaments fähig, verliert aber dieſe Fähigkeit
ſpäterhin zur Strafe einer geſetzwidrigen Hand-
lung, ſo wird das Teſtament ungültig (r). Stimmt
mit unſern Regeln überein.
C. „Bei Beurtheilung der Fähigkeit eines Erben oder
Legatarii muß auf die Zeit des Erbanfalls geſehen wer-
den.“ (s). — Auch dieſe Beſtimmung iſt, ſo wie die vori-
gen, gewiß nur von thatſächlichen Veränderungen in der
Perſon gemeint, kann aber durch Analogie unbedenklich
auch auf Veränderungen in der Geſetzgebung angewendet
werden, und ſtimmt in dieſer Anwendung mit unſern Re-
geln völlig überein.
Das Oeſterreichiſche Geſetzbuch enthält keine tran-
ſitoriſche Beſtimmung über Teſtamente beſonders, wohl aber
die allgemeine Vorſchrift, daß das neue Geſetzbuch auf vor-
hergegangene Handlungen keinen Einfluß haben ſoll,
auch wenn dieſe Handlungen in ſolchen Willenserklärungen
beſtehen, die von dem Erklärenden noch eigenmächtig abge-
ändert, und nach den in dem gegenwärtigen Geſetzbuche
enthaltenen Vorſchriften eingerichtet werden könnten (t). —
(r) A. L. R. I. 12 § 14.
(s) So lautet wörtlich A. L. R. I. 12 § 43.
(t) Wörtlich aus dem Einführungspatent von 1811 S. 5. 6.
|0503 : 481|
§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
Damit ſind augenſcheinlich die Teſtamente bezeichnet, und
es liegt in dieſen Worten völlig dieſelbe Vorſchrift, welche
oben aus dem Preußiſchen Einführungspatent von 1794
§ 12 angeführt, und mit unſern Regeln verglichen wor-
den iſt.
Die Meinungen der wichtigſten Schriftſteller ſind ſchon
oben bei den einzelnen Fragen angegeben worden. Weber
fehlt hauptſächlich darin, daß er die Rechtsgültigkeit des
Inhalts des Teſtaments abhängig macht von der Ueberein-
ſtimmung mit den Geſetzen beider Zeitpunkte, während
Bergmann hierin die Zeit des errichteten Teſtaments,
und zwar dieſe allein, mit Unrecht berückſichtigen will.
Chabot hat hierin richtigere Anſichten, als beide (§ 393. x).
Alle aber ſind mehr oder weniger durch folgende Fehler in
mannichfaltige Irrthümer gerathen.
Sie haben nicht genug unterſchieden zwiſchen den Ver-
änderungen, welche in den thatſächlichen Verhältniſſen,
und denen, welche durch neue Geſetze eintreten können; eben
ſo zwiſchen den natürlichen Mängeln, und den geſetzlichen
Vorſchriften, wodurch die perſönliche Fähigkeit des Teſta-
tors gehindert ſeyn kann. Sie haben im Römiſchen Recht
die wahren Gründe mancher Beſtimmungen (beſonders der
tria tempora) verkannt, und dagegen mit Unrecht andere,
unpaſſende, Gründe untergeſchoben, wohin beſonders die
regula Catoniana gehört. Ganz vorzüglich aber haben ſie
VIII. 31
|0504 : 482|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
einzelne tranſitoriſche Vorſchriften des Römiſchen Rechts
generaliſirt, und darin den Ausdruck allgemeiner, bleibender
Grundſätze über das Verhältniß alter und neuer Geſetze
bei Teſtamenten angenommen, ganz gegen die Abſicht der
Urheber dieſer Vorſchriften.
§ 395.
A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. IV. Erbrecht.
(Fortſetzung.)
II. Die Inteſtaterbfolge hat weit einfachere Ver-
hältniſſe, als die teſtamentariſche, da bei ihr nicht zwei,
oft ſehr entlegene Thatſachen (Errichtung des Teſtaments
und Erbanfall) in Betracht kommen. Darin aber ſtehen
beide Fälle einander gleich, daß auch bei der Inteſtaterb-
folge ſowohl thatſächliche Verhältniſſe mit ihren Verände-
rungen, als neue Geſetze, zu beachten ſind, und daß über
jene das Römiſche Recht genaue Regeln aufgeſtellt hat,
deren Analogie dann bei dem Fall neuer Geſetze zu be-
nutzen iſt.
Die perſönliche Fähigkeit des Verſtorbenen, eine In-
teſtaterbſchaft zu hinterlaſſen, iſt zu beurtheilen nach der
Zeit des Todes. Das Römiſche Recht erfordert die Civität
in dem Sinn, daß nur bei dem Tod eines Römiſchen Bür-
gers die Regeln der Römiſchen Inteſtaterbfolge zur Anwen-
dung kommen konnten, anſtatt daß die im Römiſchen Staat
ſterbenden Ausländer nach dem Recht ihrer Heimath beerbt
|0505 : 483|
§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
wurden. Ein Römer, der eine magna capitis deminutio
erlitten hatte (ein Deportirter, oder ein servus poenae),
konnte ohnehin keine Erbſchaft hinterlaſſen; was er hatte,
oder zu haben ſchien, gehörte dem Fiscus.
Die perſönliche Fähigkeit, zu irgend einer Inteſtaterb-
ſchaft berufen zu werden, beruhte auf derſelben Bedingung
der Civität; die magna capitis deminutio machte dazu un-
fähig, während die minima kein unbedingtes Hinderniß war,
ſondern nur gewiſſe Anſprüche auf Inteſtaterbfolge, die auf
Agnation gegründeten, aufhob (a). Dieſe Fähigkeit mußte
gewiß vorhanden ſeyn zur Zeit des Erbanfalls, aber auch
zur Zeit des Erwerbs, ja ſogar in der ganzen Zwiſchen-
zeit, da jede in dieſer Zeit eintretende Unfähigkeit eines
berufenen Inteſtaterben deſſen Erbantheil ſogleich irgend
einer anderen Perſon, ſey dieſe neben ihm oder hinter ihm
berufen, deferirt (§ 393. m). Dieſe Regeln gelten auf
gleiche Weiſe, es mag eine die Erbfähigkeit aufhebende
Veränderung bewirkt worden ſeyn durch neue thatſächliche
Verhältniſſe, oder durch ein neues Geſetz.
Das Wichtigſte aber und zugleich das Schwierigſte iſt
das perſönliche Verhältniß des Inteſtaterben zum Erblaſſer,
welches vorzugsweiſe in Verwandtſchaft beſteht. Dieſes
Verhältniß iſt entſcheidend ſowohl für den Erbanſpruch
jedes Einzelnen überhaupt, als über die beſtimmte Stelle,
welche derſelbe in der Reihefolge ſämmtlicher für dieſen
(a) L 1 § 4. 8 ad Sc. Tert. (38. 17).
31*
|0506 : 484|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Erbanfall denkbaren Erben einzunehmen hat. Dieſes per-
ſönliche Verhältniß nun muß beurtheilt werden nach der
Zeit des Erbanfalls, welche meiſt, jedoch nicht immer,
zuſammenfällt mit der Zeit des Todes.
Dabei ſind zu berückſichtigen die zwei Arten von Ver-
änderungen, die in dieſer Hinſicht eintreten können.
A. Veränderungen in den thatſächlichen Ver-
hältniſſen.
Gleichgültig, ohne allen Einfluß, ſind die Zuſtände und
Veränderungen vor dem Tode des Erblaſſers. Zwar kön-
nen auch in dieſer Zeit ſehr beſtimmte und wahrſcheinliche
Erwartungen entſtanden ſeyn. Auf die Inteſtaterbſchaft
eines reichen eheloſen Mannes, der in vorgerückten Jahren
ſtand, können nahe Verwandte mit großer Sicherheit ge-
rechnet haben, und dieſe Erwartung kann durch eine ſpäte
Ehe mit Kindern vereitelt worden ſeyn. Allein bloße Er-
wartungen ſind ja überhaupt nicht durch Rechtsregeln zu
ſchützen, und jene Verwandte mußten die Möglichkeit die-
ſer Veränderung, eben ſo wie die eines Teſtaments, be-
denken.
Um aber der genauen Beſtimmung des entſcheiden-
den Zeitpunktes näher zu rücken, ſind zunächſt zwei
vorläufige, gewiſſermaßen blos verneinende, Regeln zu be-
achten.
1. Als Inteſtaterbe kann Niemand betrachtet werden,
der erſt nach dem Tode des Erblaſſers erzeugt iſt. Die
Grundbedingung alſo beſteht darin, daß ein Inteſtaterbe
|0507 : 485|
§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
während des Lebens des Erblaſſers geboren oder wenigſtens
erzeugt war (b).
2. Wenn ein zur Erbſchaft Berufener dieſelbe aus-
ſchlägt, oder vor ihrem Erwerbe ſtirbt, ſo ſcheint es natür-
lich, daß in Folge dieſer thatſächlichen Veränderung der
zunächſt nach ihm Berufene an ſeine Stelle trete, welches
eine successio (ordinum, graduum) genannt wird. Dieſe
successio ließ man jedoch im alten Civilrecht nicht zu, in-
dem man ſich ängſtlich an den Buchſtaben der Zwölf Tafeln
anſchloß; der Prätor ließ dieſelbe in den von ihm neu ein-
geführten Klaſſen der Erbfolge zu (c). Juſtinian aber
hat dieſelbe allgemein zugelaſſen (d).
Dieſe zwei vorläufige Regeln vorausgeſetzt, haben wir
jetzt genauer den Zeitpunkt zu beſtimmen, nach deſſen that-
ſächlichen Verhältniſſen die Inteſtaterbfolge zu regeln iſt.
Als dieſen Zeitpunkt können wir allgemein angeben den
Erbanfall, welcher jedoch nach Umſtänden in zwei ver-
ſchiedenen Zeitpunkten eintreten kann.
Wir haben in dieſer Hinſicht zwei Fälle zu unter-
ſcheiden.
Der erſte Fall iſt der, wenn ein Teſtament vorhanden
iſt, und nur durch deſſen Entkräftung die Inteſtaterbfolge
(b) § 8 J. de her. quae ab
int. (3. 1), L. 6. 7. 8 pr. de suis
(38. 16). — Ueber die Gleich-
ſtellung des nasciturus mit dem
natus vgl. oben B. 2 § 62.
(c) Gajus III. § 12. 22. 28.
Ulpian. XXVI. § 5.
(d) § 7 J. de legit. agnat.
succ. (3. 2).
|0508 : 486|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
eröffnet wird. Dann iſt die Zeit dieſer Entkräftung als
Zeit des Erbanfalls zu betrachten. Dieſes tritt ein, wenn
ein zur Erbſchaft berufener Teſtamentserbe die Erbſchaft
ausſchlägt, wenn er vor Antretung derſelben ſtirbt, wenn
die Erbeinſetzung an eine Bedingung geknüpft iſt, und dieſe
Bedingung vereitelt wird. Es wird aber in allen dieſen
Fällen vorausgeſetzt, daß nicht andere Teſtamentserben da-
neben ſtehen, durch welche das Teſtament aufrecht erhalten
wird. — Der Erbanfall alſo tritt in jenen Fällen ein im
Zeitpunkt der Ausſchlagung, oder des Todes des Teſtaments-
erben, oder der vereitelten Bedingung; von jeder dieſer
Thatſachen kann man behaupten, durch ſie werde es gewiß,
daß keine teſtamentariſche Erbfolge eintreten werde, und da-
durch werde alſo die Inteſtaterbfolge eröffnet.
Der zweite Fall iſt der, wenn ein Teſtament nicht vor-
handen iſt. Dann iſt der Erbanfall unbedingt in den Zeit-
punkt des Todes zu ſetzen, in keinen anderen, keinen ſpäteren
Zeitpunkt, an welchen man etwa denken könnte.
Genau ſo wird dieſe wichtige Frage entſchieden in fol-
gender Stelle der Inſtitutionen (e):
Proximus autem, siquidem nullo testamento facto
quisquam decesserit, per hoc tempus requiritur,
quo mortuus est is, cujus de hereditate quaeri-
(e) § 6 J. de legit. adgnat. succ. (3. 2). — Für den erſten
Fall (des entkräfteten Teſtaments) finden ſich viele Beſtätigungen:
Gajus III. § 13, L. 1 § 8, L. 2 § 5, L. 5 de suis (38. 16).
|0509 : 487|
§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
tur. Quod si facto testamento quisquam deces-
serit, per hoc tempus requiritur, quo certum
esse coeperit, nullum ex testamento heredem ex-
stiturum; tunc enim proprie quisque intestato
decessisse intelligitur.
Wir bleiben jetzt bei dem zweiten Falle ſtehen, in welchem
kein Teſtament vorhanden iſt. Durch die ausgeſprochene
Regel werden wir angewieſen, die berufenen und nicht be-
rufenen Inteſtaterben zu beſtimmen lediglich nach dem per-
ſönlichen Verhältniß, welches zur Zeit des Todes wahrzu-
nehmen war. Man möchte vielleicht ſagen, dieſes ſey keine
poſitive Anweiſung, es verſtehe ſich von ſelbſt, indem an
irgend einen ſpäteren Zeitpunkt gar nicht gedacht werden
könne. Eine ſolche Auffaſſung würde ganz unrichtig ſeyn.
Die ſo eben bei den Teſtamentserben angegebenen Fälle
können großentheils auch bei den zunächſt berufenen In-
teſtaterben eintreten. Mehrere derſelben können ausſchlagen,
können vor der Antretung ſterben; was ſoll dann mit den
ihnen angebotenen Erbtheilen geſchehen?
Hier ſind zwei Behandlungen möglich. Man kann
erſtlich bei der durch die Todeszeit beſtimmten Vertheilung
ſtehen bleiben, und den vacant gewordenen Erbtheil, ſo
lange es möglich iſt, darauf zurück führen. Dann wird
dieſer Erbtheil den Mitberufenen durch jus accrescendi zu-
fallen, und nur, wenn ſolche Mitberufene nicht vorhanden
ſind, alſo nur als Aushülfe, wird die successio ordinum
oder graduum eintreten. — Man kann aber auch zweitens
|0510 : 488|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
den umgekehrten Weg einſchlagen, den jetzigen Zeitpunkt,
in welchem der Erbtheil vacant wurde, als Zeitpunkt des
Erbanfalls betrachten, und hiernach die Inteſtaterbfolge neu
reguliren. Dann wird die successio ordinum oder gra-
duum voran ſtehen, das jus accrescendi vielleicht als Aus-
hülfe angewendet werden.
Nach dem oben aufgeſtellten Grundſatz müſſen wir un-
bedenklich die erſte Behandlung vorziehen, alſo die Zeit des
Todes als den bleibenden Zeitpunkt des Erbanfalls behan-
deln, auch wenn eine ſpäter eintretende thatſächliche Ver-
änderung eine nachträgliche Vertheilung nöthig machen
ſollte. Oder mit anderen Worten: In der Colliſion des
jus accrescendi mit der Successio graduum muß das jus
accrescendi den Vorzug erhalten (f).
B. Veränderungen in der Geſetzgebung.
Wir haben hier, ſo wie bei den Teſtamenten (§ 393),
(f) Dieſe Frage bildet den
Gegenſtand einer alten, berühm-
ten Controverſe. Die hier vor-
getragene Meinung wird ver-
theidigt von Göſchen Vorleſun-
gen III. 2 § 929, und Bau-
meiſter Anwachſungsrecht unter
Miterben § 5. § 7. — Ein ſchein-
barer Zweifel entſteht aus L. 1
§ 10. 11 L. 2 ad Sc. Tert.
(38. 17), worin allerdings die Re-
gulirung nach der ſpäteren Zeit,
in welcher der zunächſt Berufene
ausſchlägt, anerkannt wird. Allein
nach der deutlichen Erklärung die-
ſer Stellen liegt darin nicht die
Anwendung eines allgemeinen
Grundſatzes, ſondern eine beſon-
dere Vorſchrift für das Verhält-
niß des neu erfundenen Civilerb-
rechts zwiſchen Mutter und Kin-
dern zu dem jus antiquum der
Agnaten. Man wollte verhindern,
daß, durch das Ausſchlagen der
Mutter oder des Kindes, die
Agnaten, unter denen keine suc-
cessio graduum galt, vielleicht
alles Erbrecht verlieren möchten,
ganz gegen die Abſicht der Sena-
tusconſulte.
|0511 : 489|
§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
die Analogie der für die thatſächlichen Veränderungen gege-
benen Vorſchriften zu befolgen, und wir können es hier
ganz unbedenklich, da jene Vorſchriften ganz als der Aus-
druck allgemeiner, bleibender Grundſätze anzuſehen ſind, ſo
daß dabei nicht, wie bei den Teſtamenten, theilweiſe blos
zufällige, hiſtoriſche Anſichten eingewirkt haben.
Halten wir uns ganz an dieſe Analogie, ſo werden wir
dadurch zu folgenden Regeln über die Einwirkung neuer
Geſetze auf die Inteſtaterbfolge geführt.
1. Ein neues Geſetz, erlaſſen vor dem Erbanfall,
muß ſtets auf den einzelnen Fall in der Inteſtaterbfolge
einwirken.
2. Als Zeitpunkt des Erbanfalls iſt zu betrachten:
a. Wenn kein Teſtament vorhanden iſt, die To-
deszeit.
b. Wenn ein Teſtament vorhanden iſt, der Zeit-
punkt, in welchem es zur Gewißheit wird,
daß eine teſtamentariſche Erbfolge nicht
eintritt.
3. Ein nach dem Erbanfall erlaſſenes Geſetz hat
keinen Einfluß, ſelbſt wenn es in der Zwiſchenzeit zwiſchen
dem Erbanfall und dem Antritt der Erbſchaft erſcheint.
Dieſer letzte Satz wird von den meiſten Rechtslehrern an-
erkannt (g), von manchen aber beſtritten (h).
(g) Weber S. 96. Chabot
T. 1 p. 379. („au moment de
l’ouverture de la succession“).
(h) Heiſe und Cropp juri-
ſtiſche Abhandlungen, B. 2 S.
123—124, 130—132.
|0512 : 490|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Der Widerſpruch gegen denſelben gründet ſich haupt-
ſächlich auf folgende Verwechſelung. Man ſagt, der
Grundſatz der Nichtrückwirkung der Geſetze bezwecke blos
die Erhaltung erworbener Rechte. Der berufene Erbe aber
habe durch den Erbanfall (die Delation) noch gar kein
Recht erworben, ein ſolcher Erwerb trete für ihn ein erſt
durch den Antritt der Erbſchaft, und bis zu dieſer könne
daher ein neues Geſetz die Erbfolge ändern, ohne ſich einer
fehlerhaften Rückwirkung ſchuldig zu machen; beide Mo-
mente (Anfall und Erwerb) fielen nur ausnahmsweiſe zu-
ſammen, bei dem Suus heres, der ipso jure die Erbſchaft
erwerbe.
Allein durch den bloßen Anfall der Erbſchaft iſt dem
berufenen Erben ein wirkliches Recht in der That ſchon
erworben, und zwar ohne ſein Zuthun, ſelbſt ohne ſein
Wiſſen: das ausſchließende Recht nämlich, die deferirte
Erbſchaft anzutreten und dadurch in ſein Vermögen zu ver-
wandeln, oder aber nach Gutdünken auszuſchlagen. Dieſes
iſt ein wahres, erworbenes Recht, eben ſo ſehr, wie jedes
andere, durch den Grundſatz der rückwirkenden Kraft gegen
ungehörige Einwirkung neuer Geſetze geſchützt, alſo von
einer bloßen Erwartung durchaus verſchieden: nur freilich
ein Recht ganz anderer Art, und geringeren Umfangs, als
das, welches nachher durch den Antritt der Erbſchaft ent-
ſteht, und wodurch ein bisher fremdes Vermögen in eigenes
Vermögen des Erben unmittelbar verwandelt wird.
|0513 : 491|
§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)
Die hier aufgeſtellte Regel wird beſtätigt durch folgende
tranſitoriſche Vorſchriften.
Ein Geſetz von K. Valentinian II. hatte den blos
cognatiſchen Deſcendenten ein Inteſtaterbrecht auf drei Vier-
theile des Vermögens ihrer Aſcendenten gegeben, ſo daß
die concurrirenden Agnaten nur Ein Viertheil erhalten
ſollten (i). Juſtinian erklärte die Deſcendenten in dieſer
Concurrenz für ausſchließende Erben, alſo für frei von der
Abgabe des einen Viertheils an die Agnaten (k). Er
fügte aber folgende Worte hinzu:
Quod tantum in futuris, non etiam praeteritis
negotiis, servari decernimus.
Dieſe Worte werden gewiß am einfachſten von einem
künftigen Erbanfall verſtanden, ſo daß dieſer, und nicht
der Antritt der Erbſchaft, als futurum negotium bezeichnet
wird. Daß aber Dieſes in der That im Sinn des Geſetz-
gebers lag, folgt unwiderſprechlich aus den unmittelbar
vorhergehenden Worten: „sed descendentes soli ad mortui
successionen vocentur“, woraus erhellt, daß die Berufung
zur Erbſchaft, alſo die Delation, der Gegenſtand war,
worüber der Geſetzgeber verfügen wollte, in ſofern dieſe
Berufung nicht unter die praeterita negotia gehöre, worauf
das Geſetz nicht einwirken ſolle.
(i) L. 4 C. Th. de leg. hered. (5. 1), § 16 J. de her. quae
ab int. (3. 1).
(k) L. 12 C. de suis (6. 55).
|0514 : 492|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Noch weit beſtimmter ſagt das Preußiſche tranſitoriſche
Geſetz von 1794 (bei Einführung des A. L. R.) § 13:
Die geſetzliche Erbfolge ..... iſt, wenn der
Erbanfall ſich vor dem 1. Jun. 1794 ereignet,
nach den bisherigen Geſetzen, ſpäterhin
aber ..... nach den Vorſchriften des neuen
Landrechts ..... zu beurtheilen.
Damit ſtimmen denn auch alle ſpätere Preußiſche tranſito-
riſche Geſetze (§ 383) überein.
III. Unwiderrufliche Erbverträge.
Dieſe haben ganz die Natur von Verträgen überhaupt,
und müſſen alſo beurtheilt werden nach dem zur Zeit ihrer
Abſchließung geltenden Geſetze (l). Gegen dieſe Behauptung
iſt die Einwendung erhoben worden, ein Erbvertrag gebe
kein unbedingt erworbenes Recht, weil man ſtets ungewiß
ſey, welcher von beiden Theilen den anderen überleben
werde (m). Dieſe Einwendung iſt jedoch ohne Bedeutung,
weil bedingte Rechte, eben ſo wie unbedingte, wirkliche
Rechte ſind, und durch den Grundſatz der Nichtrückwirkung
gegen den ungehörigen Einfluß neuer Geſetze geſchützt
werden (§ 385. h).
(l) Chabot T. 1 p. 133. Struve S. 247—249. Vgl. oben
§ 392.
(m) Weber S. 98—99.
|0515 : 493|
§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.
§. 396.
A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.
V. Familienrecht.
Bei Franzöſiſchen Schriftſtellern findet ſich nicht ſelten
eine irrige Verwechſelung der Geſetze über das Familien-
recht mit den Geſetzen über den Zuſtand der Perſon an
ſich. Da nun bei dieſen letzten von der Erhaltung er-
worbener Rechte in der Regel nicht die Rede iſt (§ 389),
ſo daß jedes neue Geſetz dabei eine beſonders freie Ein-
wirkung haben kann, ſo übertragen ſie dieſes Verhältniß
auf die Geſetze über das Familienrecht, ohne zu bedenken,
daß dieſe letzten ſtets wahre erworbene Rechte vorfinden,
und zu erhalten haben, eben ſo, wie die Geſetze über das
Sachenrecht und über die Obligationen. Die Veranlaſſung
zu dieſer irrigen Verwechſelung liegt in dem übertriebenen
Gebrauch, den ſie von der Eintheilung der Geſetze in
statuts personnels und réels (§ 361. Num. 1), ſo wie der
gleichnamigen Eintheilung der Rechte (a) machen, wodurch
das reine Familienrecht, gleich dem Zuſtand der Perſon an
ſich, auf die Seite der droits personnels, und nur das
angewandte Familienrecht auf die Seite der droits réels
geſtellt wird (b). — Obgleich nun dieſe Auffaſſung grund-
(a) Droits personnels ſind
die, qui sont attachés aux per-
sonnes, droits réels die droits
attachés aux biens.
(b) Chabot I. p. 23. 29—
31. 34. 377—378. — Dagegen
ſpricht ſich mit Recht tadelnd aus
Bergmann § 50, doch ohne
|0516 : 494|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
ſätzlich durchaus zu verwerfen iſt, ſo hat ſie ſich doch in
der Anwendung weniger verderblich gezeigt, als man er-
warten möchte, da manche der wichtigſten einzelnen Fragen,
die ſie zu dem Familienrecht ziehen, in der That zu der
Handlungsfähigkeit gehören (c), und auf der anderen Seite
manche wichtige Geſetze über das wahre Familienrecht,
beſonders die Ehe, von dem Grundſatz der Nichtrückwirkung
deswegen nicht beherrſcht werden, weil ſie nicht auf den
Erwerb, ſondern auf das Daſeyn der Rechte ſich beziehen.
I. Ehe(d).
Da die Ehe ein wahrer Vertrag iſt (e), ſo möchte man
erwarten, daß über das geſammte Recht derſelben lediglich
das zur Zeit der geſchloſſenen Ehe geltende Geſetz entſcheiden
müſſe. Indeſſen hat dieſe, an ſich richtige, Regel im
reinen Eherecht (d. h. abgeſehen von dem Einfluß der Ehe
auf das Vermögen) (f) nur eine mäßige Anwendbarkeit.
Der rechtsgültige Abſchluß der Ehe muß allerdings
ausſchließend nach dem zu dieſer Zeit geltenden Geſetz be-
urtheilt werden (g).
die eben gerügte Verwechſelung
ſcharf genug hervor zu heben.
(c) Dahin gehört beſonders
die autorisation maritale, die
nicht eigentlich zum Eherecht, ſon-
dern zu der Geſchlechtsvormund-
ſchaft zu rechnen iſt, ſ. o. § 389
Num. 2.
(d) Es ſind hier zu verglei-
chen die über die örtlichen Grän-
zen der Geſetze im § 379 aufge-
ſtellten Regeln.
(e) S. o. B. 3 § 141.
(f) Ueber den Begriff des
reinen und angewandten Fami-
lienrechts ſ. o. B. 1 § 54. 58.
(g) Aus denſelben Gründen,
die oben für das örtliche Recht
geltend gemacht worden ſind
(§ 379); vgl. Code civil art.
|0517 : 495|
§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.
Die perſönliche Gewalt des Mannes über die Frau iſt
überhaupt ein Gegenſtand von ſehr beſchränkter Einwirkung
des Geſetzes und des Richteramtes. — Der juriſtiſch
wichtigſte Fall der Anwendung einer ſolchen Gewalt aber,
nämlich die eheliche Vormundſchaft, gehört überhaupt nicht
zum Eherecht, ſondern zum Zuſtand der Perſſon an ſich
(Note c).
Wichtiger als alles Andere würde die Eheſcheidung ſeyn,
wenn dieſe nach dem zur Zeit der abgeſchloſſenen Ehe
geltenden Geſetz zu beurtheilen wäre. Es wird aber unten
gezeigt werden, daß weder dieſe Zeit, noch die Zeit der
Thatſache, die als Scheidungsgrund dienen ſoll, maaß-
gebend ſeyn darf, ſondern allein die Zeit der Scheidungs-
klage (h).
Dagegen iſt das eheliche Güterrecht (das angewandte
Eherecht) ein höchſt wichtiger Gegenſtand der Anwendung
unſrer Grundſätze. Hier nun müſſen wir behaupten, daß
das zur Zeit der abgeſchloſſenen Ehe geltende Geſetz in der
Regel angewendet werden muß, auch wenn ſpätere Geſetze
das eheliche Güterrecht abändern (i). Dieſe Frage iſt nahe
verwandt mit der Frage nach dem anwendbaren örtlichen
170. — Dieſelbe Meinung hat
Reinhardt zu Glück B. 1 S.
10. Etwas abweichend iſt Berg-
mann S. 30.
(h) S. u. § 399. Vgl. § 379
N. 6.
(i) Die meiſten Schriftſteller
ſtimmen damit überein. Chabot
T. 1 p. 79—81. Meyer p. 167.
Pfeiffer praktiſche Ausführun-
gen B. 2 S. 271—276. Mit-
termaier deutſches Recht § 400.
Num. V.
|0518 : 496|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Recht, und die meiſten Gründe (k), die bei dieſer letzten
Frage oben (§ 379) für die Behauptung geltend gemacht
worden ſind, daß das am Wohnſitz des Mannes zur Zeit
der geſchloſſenen Ehe geltende Geſetz angewendet werden
müſſe, ohne Einfluß ſpäterer Veränderung des Wohnſitzes,
ſprechen auch gegen den Einfluß ſpäterer Veränderung der
Geſetze.
Anwendungen dieſes wichtigen Grundſatzes ſind fol-
gende:
Das Verhältniß des Dotalrechts zum Recht der Güter-
gemeinſchaft; ob eines dieſer Inſtitute ausſchließend gelten
ſoll, oder beide neben einander, und in welcher Stellung
gegen einander.
Die Natur der Dos; dos profectitia: Uebergang der
Rückforderung auf die Erben; unmittelbarer Rückfall des
Eigenthums auf die Erben. — Es iſt jedoch zu bemerken,
daß, wo die Dos nach rein Römiſchem Grundſatz nur durch
die willkürliche Handlung der beſtellenden Perſon entſteht
(nicht ipso jure), nicht die Zeit der geſchloſſenen Ehe,
ſondern die Zeit der Beſtellung der Dos, das anwendbare
Geſetz beſtimmen muß. Dieſer Punkt iſt ausdrücklich aner-
kannt in einer tranſitoriſchen Vorſchrift von Juſtinian (l).
(k) Ich ſage: die meiſten
Gründe, nicht alle. Denn hier
paßt nicht der Grund, daß die
einſeitige Willkür des Mannes,
von welchem die Wahl des Wohn-
ſitzes abhängt, das beſtehende Gü-
terrecht nicht abändern dürfe.
Die Veränderung im Geſetz hängt
allerdings nicht ab von der Will-
kür des Mannes.
(l) L. un. in f. C1 de rei
ux. act. (5. 13).
|0519 : 497|
§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.
— Ganz eben ſo muß aber auch die Gütergemeinſchaft
nach dem Geſetz irgend eines ſpäteren Zeitpunktes beur-
theilt werden, wenn ſie in einem einzelnen Fall begründet
wird, nicht durch das zur Zeit der abgeſchloſſenen Ehe
beſtehende Geſetz, ſondern durch einen in ſpäterer Zeit ge-
ſchloſſenen Vertrag der Ehegatten (m).
Die Folgen einer zweiten Ehe in Beziehung auf das
Vermögen. Auch das iſt anerkannt durch eine tranſitoriſche
Vorſchrift von Juſtinian (n).
Die Einſchränkungen der Liberalität unter Ehegatten
werden unter (§ 399) erwähnt werden.
Die ſogenannte Erbfolge der Ehegatten hat eine zwei-
deutige Natur. Oft iſt ſie die bloße Entwickelung und
Nachwirkung eines ſchon unter den Lebenden beſtehenden
Güterrechts, insbeſondere der Gütergemeinſchaft in irgend
einer ihrer vielfachen Geſtalten. Dann richtet ſie ſich nach
dem Geſetz der Zeit, in welcher dieſes Rechtsverhältniß
entſtanden iſt, welches in der Regel die Zeit der abge-
ſchloſſenen Ehe ſeyn wird, zuweilen die Zeit eines ſpäterhin
abgeſchloſſenen Vertrags (Note i und m). — In anderen
Fällen dagegen iſt die Erfolge der Ehegatten eine wahre,
reine Inteſtaterbfolge, und dieſe iſt ſtets zu beurtheilen
nach dem zur Zeit des Erbanfalls geltenden Geſetz.
Unter dieſe anderen Fälle gehört das Edict unde vir et uxor
und die Erbfolge des armen Ehegatten nach Römiſchem
(m) Darin liegt alſo eine conſequente Ausnahme der oben
(Note i) anerkannten Regel.
(n) Nov. 22 C. 1.
VIII. 32
|0520 : 498|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Recht. Eben ſo nach dem Brandenburgiſchen Provinzial-
recht die Joachimica (o).
Dieſelben Unterſcheidungen und Regeln ſind auch anzu-
wenden auf die Erbfolge der Kinder, in ſofern dieſe mit
dem unter den Eltern beſtehenden ehelichen Güterrecht in
Zuſammenhang ſteht.
Alle dieſe Regeln werden natürlich nur dann zur An-
wendung kommen, wenn das neue Geſetz über das eheliche
Güterrecht nicht von beſonderen tranſitoriſchen Vorſchriften
begleitet iſt, und dieſe werden gerade bei dem hier vorlie-
genden Gegenſtand häufiger, als in anderen Fällen, zu
erwarten ſeyn. Wenn etwa ein Geſetzgeber an die Stelle
des bisher in ſeinem Lande ausſchließend geltenden Dotal-
rechts die allgemeine Gütergemeinſchaft ausſchließend ein-
führen wollte, oder umgekehrt, ſo würde er doch ſchwerlich
unterlaſſen, an die jetzt vorhandenen zahlreichen Ehen zu
denken, und das Verhältniß des neuen Geſetzes zu denſelben
zu beſtimmen.
Ich will zum Schluß dieſer Unterſuchung einige wirklich
erlaſſene tranſitoriſche Vorſchriften über neue, die Ehe be-
treffende, Geſetze zuſammen ſtellen.
Zwei Geſetze von Juſtinian, worin die hier aufge-
ſtellten Grundſätze anerkannt und angewendet werden, ſind
bereits angegeben worden (Note l und n).
(o) Ueber dieſen Unterſchied iſt zu vergleichen § 379 Num. 5,
und über die bei der wahren Inteſtaterbfolge anwendbate Regel
§ 395. B.
|0521 : 499|
§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.
Im Preußiſchen Recht kommen folgende tranſitoriſche
Beſtimmungen vor (p).
Das Einführungspatent des allgemeinen Landrechts von
1794 verordnet im § 14, daß das eheliche Güterrecht, mit
Einſchluß der durch eine Scheidung etwa herbeigeführten
Auseinanderſetzung, beurtheilt werden ſoll nach dem zur
Zeit der geſchloſſenen Ehe geltenden Geſetz; ganz nach dem
hier aufgeſtellten Grundſatz. — Für den Fall einer auf das
gemeine Recht (nicht auf Provinzialrecht) zu gründenden
Inteſtaterbfolge wird dem Ueberlebenden die Wahl gelaſſen,
ob er nach dem zur Zeit der geſchloſſenen Ehe geltenden
Geſetz, oder nach dem Landrecht erben wolle. Dieſes iſt
eine ganz neue, völlig poſitive Beſtimmung, die durch keinen
Rechtsgrundſatz begründet werden kann. Indeſſen liegt
darin gewiß keine Härte oder Ungerechtigkeit, da es ſtets
in der Macht jedes Ehegatten ſteht, dieſen künftigen Erfolg
durch Teſtament zu verhüten. Hat alſo der Verſtorbene
Dieſes unterlaſſen, ſo kann man annehmen, er ſey mit
dieſer geſetzlichen Begünſtigung des Ueberlebenden einver-
ſtanden geweſen.
Mit dieſen Vorſchriften ſtimmen weſentlich überein die
tranſitoriſchen Geſetze von 1814 und 1816 (q).
(p) Die Beſtimmungen über
die Scheidungsgründe werden un-
ten erwähnt werden, § 399. e.
(q) (S. o. § 383.) — Pro-
vinzen jenſeits der Elbe § 9, Weſt-
preußen § 11. 12, Poſen § 11,
Sachſen § 11. Die hier und da
anders gefaßten Beſtimmungen
beziehen ſich auf das Provinzial-
recht, nicht auf unſre Frage. Das
32*
|0522 : 500|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
II. Väterliche Gewalt.
Die Entſtehung derſelben iſt zu beurtheilen nach dem
Geſetz der Zeit, in welche die dazu führenden Thatſachen
fallen. So hat Juſtinian die neue Regel eingeführt,
daß die Adoption eines in fremder väterlicher Gewalt
ſtehenden Kindes in den meiſten Fällen nicht mehr eine
neue väterliche Gewalt gründen, ſo wie die bisherige auf-
heben ſollte (r). Dieſes Geſetz war gewiß anwendbar auf
alle ſpäter vorgenommene Adoptionen; den früheren war
ihre bis dahin geltende ſtärkere Wirkung nicht entzogen. —
Eben ſo richtet ſich die Legitimation durch nachfolgende
Ehe lediglich nach dem Geſetz, welches zur Zeit der ge-
ſchloſſenen Ehe beſteht, ohne Rückſicht auf ein ſpäteres Ge-
ſetz, oder auf das Geſetz zur Zeit der Geburt des Kindes
(§ 380).
Die perſönlichen Rechte des Vaters über das Kind ge-
hören nicht hierher; die Geſetze, die darüber beſtimmen,
betreffen das Daſeyn des Rechts, nicht den Erwerb, wirken
alſo auch auf die ſchon beſtehenden Rechtsverhältniſſe ein
(§ 398).
Geſetz für das Herzogthum Weſt-
phalen 1825 ſagt über dieſe Ge-
genſtände gar Nichts, weil es im
§ 4 von der Einführung des A.
L. R. vorläufig ganz ausnimmt
die drei erſten Titel des zweiten
Theils, welche allein von der
Ehe und Inteſtaterbfolge handeln.
(r) L. 10 C. de adopt. (8. 48),
§ 2 J. de adopt. (1. 11). —
Nämlich mit Ausnahme des Falles,
wenn der Adoptivvater zugleich
ein natürlicher Aſcendent des
Kindes iſt.
|0523 : 501|
§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.
Was die Rechte im Vermögen betrifft, ſo liegt der Ge-
danke ſehr nahe, auf die väterliche Gewalt dieſelben Regeln
anzuwenden, die ſo eben für die Ehe aufgeſtellt worden
ſind. Dieſes würde die Folge haben, daß die Rechte am
Vermögen unabänderlich feſtgeſtellt wären durch das Geſetz,
unter welchem die väterliche Gewalt entſtanden iſt, alſo
durch das zur Zeit der Geburt des Kindes geltende Geſetz,
ſo daß ein neues Geſetz blos auf die künftig geborenen
Kinder Anwendung finden würde. Bei genauerer Betrachtung
aber zeigt ſich dieſe Analogie als eine bloße Täuſchung,
und wir müſſen vielmehr annehmen, daß das neue Geſetz
die Vermögensverhältniſſe ſogleich umbildet, auch in Be-
ziehung auf die jetzt lebenden Kinder. Ich will damit an-
fangen, dieſen Satz durch ein Beiſpiel anſchaulich zu machen,
bevor ich den Beweis deſſelben unternehme.
Nach dem älteren Römiſchen Recht konnte ein Kind in
väterlicher Gewalt kein Vermögen haben, indem alles durch
ſeine Handlungen Erworbene unmittelbar dem Vater er-
worben wurde. Dieſer Satz wurde im Lauf der Zeit be-
ſchränkt bei manchen Arten des Erwerbes, namentlich bei
dem castrense peculium, den bona materna u. ſ. w.; als
Regel aber blieb er beſtehen. Juſtinian hob dieſe Regel
von Grund aus auf, indem er verordnete, daß jeder Erwerb
des Kindes, wohin alſo auch der auf den eigenen Fleiß und
das Gewerbe des Kindes gegründete gehört, eigenes Vermögen
des Kindes, nicht mehr Vermögen des Vaters, bilden
|0524 : 502|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
ſollte (s). Fragen wir nun, für welche Fälle dieſes neue
Geſetz anzuwenden war, ſo würde die angegebene täuſchende
Analogie dahin führen, es blos auf die ſpäterhin gebornen
Kinder anzuwenden. Nach der hier aufgeſtellten Behauptung
dagegen müſſen wir ſagen, daß, von der Erſcheinung des
Geſetzes an, jeder neue Erwerb der Kinder als ihr eigenes
Vermögen zu betrachten war; nur blieb das, welches ſie
ſchon vorher erworben hatten, Vermögen des Vaters. Es
war alſo das Schickſal des neuen Erwerbes, die Erwerbs-
fähigkeit, durch das neue Geſetz augenblicklich umgebildet,
nicht das ſchon erworbene Vermögen.
Der Beweis für die Wahrheit dieſer Behauptung liegt
nun darin, daß die für den Erwerb des Kindes geltenden
Regeln als Folgen der mehr oder weniger beſchränkten
Rechtsfähigkeit des Kindes zu betrachten ſind (t); als
ſolche aber gehören ſie dem Zuſtand der Perſon an ſich an,
bei welchem der Grundſatz der Nichtrückwirkung keine An-
wendung findet (§ 389). Gerade hierin zeigt ſich ein durch-
greifender Unterſchied zwiſchen der väterlichen Gewalt und
der Ehe, indem das eheliche Güterrecht (Dotalrecht oder
Gütergemeinſchaft) mit der Rechtsfähigkeit gar nicht zu-
ſammenhängt. — Dieſes iſt der juriſtiſche Ausdruck des
durchgreifenden Unterſchieds beider Rechtsverhältniſſe. Auf
denſelben Erfolg aber werden wir geführt, wenn wir von
(s) L. 6 C. de bon. quae lib. (6. 61), § 1 J. per quas pers. (2. 9).
(t) S. o. B. 2 § 67.
|0525 : 503|
§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.
einem anderen Standpunkt aus die Sache betrachten. Die
Ehe iſt ein Rechtsverhältuiß zwiſchen zwei unabhängigen,
ſelbſtſtändigen Perſonen, durch deren freie Willkür, durch
Vertrag, gebildet. Die väterliche Gewalt entſteht dagegen
durch die Geburt des Kindes, alſo durch ein bloßes Natur-
ereigniß, auf die unfreiwilligſte Weiſe. Dabei kann von
einem fortwirkenden Willen, von einer vertragsmäßigen
Feſtſtellung der Rechtsverhältniſſe, nicht die Rede ſeyn.
Was nun hier von den durch den äußerſten Gegenſatz
eingreifenden neuen Geſetzen geſagt worden iſt, muß eben
ſo auf die geringeren geſetzlichen Abänderungen angewendet
werden, da jene und dieſe Geſetze nur im Grade der Ein-
wirkung verſchieden, in der inneren Natur aber gleichartig
ſind. Wenn alſo ein neues Geſetz den väterlichen Nieß-
brauch am Vermögen der Kinder einführt oder aufhebt,
oder auf längere oder kürzere Lebensjahre des Kindes vor-
ſchreibt, ſo muß daſſelbe ſogleich zur Anwendung kommen,
auch an dem ſchon vorhandenen Vermögen der jetzt leben-
den Kinder (u).
Die hier aufgeſtellten Regeln werden nicht blos
von Schriftſtellern anerkannt, ſondern auch in neueren
(u) Weber S. 86. Rein-
hardt zu Glück B. 1 S. 11. —
Man könnte glauben, Dieſes wi-
derſpreche nach R. R. der Natur
des Nießbrauchs, welcher, einmal
erworben, bis zum Tode des Nieß-
brauchers fortdauere. Allein die-
ſer, auf dem Familienverhältniß
beruhende, Nießbrauch hat eine
andere Natur, auch ſchon nach R.
R., welches dem emancipirenden
Vater, als beſondere Belohnung
der Emancipation, den fortdauern-
den Nießbrauch an der Hälfte
des Vermögens geſtattet. L. 6 § 3
C. de bon. quae lib. (6. 61).
|0526 : 504|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
tranſitoriſchen Geſetzen des Preußiſchen Staates in Be-
ziehung auf den elterlichen Nießbrauch (v).
Die Auflöſung der väterlichen Gewalt, namentlich durch
Emancipation, ſteht unter dem Geſetz der Zeit, in welche
die auflöſende Thatſache fällt. Eben ſo ſtehen unter dieſem
die Folgen der Auflöſung, wohin auch das praemium
emancipationis gehört (Note u).
Von den Rechtsverhältniſſen der unehelichen Kinder
wird unten die Rede ſeyn (§ 399).
III. Vormundſchaft.
Dieſe erſcheint im heutigen Recht als Ausübung eines
dem Staate zuſtehenden Schutzrechts, folglich als ein Zweig
des öffentlichen Rechts (§ 380. C). Es hat alſo keinen
Zweifel, daß dieſelbe jederzeit durch neue Geſetze umgebildet
werden kann. Betreffen ſolche neue Geſetze die Art der
Entſtehung der Vormundſchaft in einzelnen Fällen, ſo wird
nicht leicht ein Bedürfniß angenommen werden, auch die
ſchon errichteten Vormundſchaften darnach abzuändern, ob-
gleich das Recht auch zu dieſer Abänderung keinem Zweifel
unterworfen ſeyn könnte. Hat das Geſetz darüber Nichts
beſtimmt, ſo wird es nur auf künftig zu errichtende Vor-
mundſchaften zu beziehen ſeyn.
Die aus Veranlaſſung einer Vormundſchaft entſtehenden
Obligationen (actio tutelae directa, contraria) ſind nach
(v) Provinzen jenſeits der Elbe 1814 § 10. Weſtpreußen 1816
§ 13. Poſen 1816 § 13. (ſ. o. § 383).
|0527 : 505|
§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.
den für die Obligationen geltenden Regeln zu beurtheilen
(§ 392).
IV. Freigelaſſene.
Ein blos dem alten Recht angehörendes, die Freilaſſung
der Sklaven betreffendes, Geſetz iſt hier deswegen zu er-
wähnen, weil ſich dabei eine tranſitoriſche Vorſchrift findet,
welche von neueren Schriftſtellern nicht ganz richtig aufge-
faßt zu werden pflegt.
Die Lex Junia hatte verordnet, daß in vielen Fällen
einer unvollſtändigen Freilaſſung, der Freigelaſſene zwar
wirklich frei, und zwar Latinus, werden, auch Vermögen
zu erwerben fähig ſeyn ſollte, daß aber ſein erworbenes
Vermögen im Augenblick des Todes dem Patron zufallen
ſollte, und zwar nicht als Erbſchaft, ſondern vermöge der
Fiction, als wäre der Freigelaſſene im Sklavenſtand ge-
ſtorben (w). Dieſe unvollſtändige Freilaſſung verwandelte
Juſtinian in eine vollſtändige, ſo daß das Vermögen des
Freigelaſſenen auf dieſem Wege nicht mehr an den Patron
fallen ſollte. Er fügte aber hinzu, dieſe neue Vorſchrift
ſolle nur auf künftige Freilaſſungen angewendet werden;
auf frühere Freilaſſungen ſolle das alte Recht angewendet
werden, ohne Unterſchied, ob der Freigelaſſene bereits ver-
ſtorben ſey oder noch lebe (x). — Dieſes war nun nicht
ein neues Geſetz über die Erbfolge (wie es neuere Schrift-
(w) Gajus III. § 56.
(x) L. un. § 13 C. de Lat. libert.
toll. (7. 6).
|0528 : 506|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
ſteller gewöhnlich anſehen), ſondern über die Freilaſſung,
und die mit derſelben verbundene Beſchränkung des Ver-
mögens. Die tranſitoriſche Vorſchrift war der Natur des
Rechtsverhältniſſes völlig angemeſſen.
§. 397.
A. Erwerb der Rechte. — Ausnahmen.
Durch die bisher geführte Unterſuchung iſt für die zeit-
liche Einwirkung neuer Geſetze auf die einzelnen Klaſſen
der Rechtsverhältniſſe eine regelmäßige Gränze feſtgeſtellt
worden. Ausnahmen von dieſen Regeln ſind in zwei
entgegengeſetzten Richtungen denkbar; ſie können die Wirk-
ſamkeit des neuen Geſetzes, in Vergleichung mit den auf-
geſtellten Regeln, entweder erweitern oder einſchränken.
Eine Erweiterung der Wirkſamkeit eines neuen Ge-
ſetzes, alſo eine rückwirkende Kraft des Geſetzes als Aus-
nahme, wird meiſt den Sinn haben, daß der Geſetzgeber,
von dem Gefühl der Wichtigkeit einer neuen Maaßregel
durchdrungen, derſelben ſo weit Geltung zu verſchaffen
ſucht, als ſeine Macht reicht. Ein Beiſpiel iſt oben ange-
geben worden an einem Römiſchen Wuchergeſetz (§ 386.
f. g.). Schwerlich möchte ſich je eine Ausnahme dieſer
Art rechtfertigen laſſen, indem ſtets der auf dieſem Wege
zu erreichende Vortheil überwogen werden wird von dem
ungünſtigen Eindruck, der ein ſo willkürliches Durchgrei-
fen, ſelbſt bei guter Abſicht, zu begleiten pflegt. — Es
|0529 : 507|
§. 397. A. Erwerb der Rechte. Ausnahmen.
giebt aber auch Fälle, in welchen eine ſolche Ausnahme
durch andere Beweggründe veranlaßt wird, insbeſondere
durch die Abſicht einer Schonung des Einzelnen ohne
Verletzung Anderer. Eine ſolche Bedeutung hat die Vor-
ſchrift des Preußiſchen Rechts, daß ein milderes neues
Strafgeſetz auch auf die unter dem alten Geſetz begangenen
Verbrechen angewendet werden ſoll (a). Eine gleich ſcho-
nende Abſicht liegt zum Grunde bei einem anderen Preußi-
ſchen Geſetz, nach welchem die Formfehler eines Rechts-
geſchäfts dadurch unſchädlich gemacht werden, daß ein neue-
res Geſetz eine leichtere Form vorſchreibt, welcher die frü-
her vorgenommene Handlung genügt. Die bedenkliche Ra-
tur dieſer Vorſchrift iſt jedoch ſchon oben bemerklich ge-
macht worden (§ 388. c).
Eine Einſchränkung der Wirkſamkeit eines neuen
Geſetzes als Ausnahme hat weit weniger Bedenken. Sie
hat zum Zweck die Schonung bloßer Erwartungen, die
durch den oben aufgeſtellten Grundſatz allerdings nicht ge-
ſchützt werden (§ 385), und ſie beruht ſtets auf der Ueber-
zeugung, daß die Vorſchrift eines neuen Geſetzes, wenn-
gleich an ſich heilſam, doch nicht von ſo durchgreifender
Wichtigkeit ſey, um eine augenblickliche unbedingte Ausfüh-
rung zu erfordern, wodurch vielleicht individuelle Intereſſen
gefährdet werden können.
(a) S. o. § 387. b. Dieſe Beſtimmung wird ſchon gerechtfertigt
durch die dem Geſetzgeber im einzelnen Fall ohnehin zuſtehende Be-
gnadigung.
|0530 : 508|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß daſſelbe Römi-
ſche Kaiſergeſetz, welches die rückwirkende Kraft der Ge-
ſetze im Allgemeinen verneint, den Vorbehalt einzelner Aus-
nahmen ausdrücklich hinzufügt (§ 386. a), deſſen es je-
doch nicht einmal bedurfte, da er ſich ohnehin von ſelbſt
verſtand. Im Laufe unſerer Unterſuchung ſind nun viele
Fälle ſolcher einzelnen Ausnahmen angegeben worden, theils
aus dem Römiſchen Recht, theils aus neueren Geſetzgebun-
gen. Es waren dieſes Fälle beider Arten von Ausnahmen,
ſowohl erweiternde (b), als einſchränkende (c), und es ver-
dient bemerkt zu werden, daß die Fälle der zweiten Art
häufiger ſind, als die der erſten. — Ferner iſt bereits be-
merkt worden, daß die im Römiſchen Recht enthaltenen ein-
zelnen Ausnahmen für uns keine praktiſche Bedeutung
haben, ſelbſt da, wo etwa das Römiſche Recht für irgend
ein Land neue Geltung als gemeines Recht erlangen
möchte (§ 386).
Solche Ausnahmen nun werden wir bei künftigen neuen
Geſetzen nur da anzuerkennen haben, wo ſie recht beſtimmt
vorgeſchrieben ſind, da der Geſetzgeber, wenn er ſich zu
einer Ausnahme entſchließt, alſo des Gegenſatzes zwiſchen
Regel und Ausnahme ſich deutlich bewußt wird, gewiß
Veranlaſſung hat, darüber eine ausdrückliche, unzweideutige
Erklärung auszuſprechen. Auch iſt es als merkwürdig her-
(b) Solche Fälle kommen vor in den §§ 386. 388. 390. 391. 394.
(c) So in den §§ 391 und 394.
|0531 : 509|
§. 397. A. Erwerb der Rechte. Ausnahmen.
vorzuheben, daß gerade das Römiſche Kaiſergeſetz, welches
ſeitdem die Grundlage unſerer ganzen Lehre für alle Zeiten
geworden iſt, den Vorbehalt von Ausnahmen ſo aus-
drückt: nisi nominatim et de praeterito tempore .....
cautum sit (§ 386. a).
Ganz abweichend von dieſer, im Römiſchen Recht ſelbſt
anerkannten und geforderten, Vorſicht, hat ein neuerer Schrift-
ſteller verſucht, durch mancherlei Anweiſungen den neuen
Geſetzen die vielleicht gehegte Abſicht rückwirkender Kraft
abzumerken (d). Es ſind dabei Gegenſätze, die gar nicht
hierher gehören, eingemiſcht worden, wie die zwiſchen Nich-
tigkeit und verſagtem Klagrecht, ipso jure und per exce-
ptionem u. ſ. w. Auf dieſem Wege kommt man nicht nur
dahin, es mit der Anerkennung von Ausnahmen ungebühr-
lich leicht zu nehmen, ſondern es werden dadurch unver-
merkt die Begriffe von Regel und Ausnahme, ſo wie die
Gränzen zwiſchen beiden, verwiſcht oder ſchwankend ge-
macht. Beſonders iſt ein ſolches Verfahren bedenklich in
Anwendung auf neuere Geſetzgebungen, in welchen ein
ſo feſtes Syſtem von Begriffen und Kunſtausdrücken, wie
im Römiſchen Recht, gar nicht vorausgeſetzt werden darf,
und denen daher geradezu Gewalt angethan wird durch eine
(d) Weber S. 78. 106 —
109. 137 fg. — Bergmann
ſtellt § 26. 29 vorſichtigere An-
ſichten auf, jedoch nicht, ohne in
den §§ 4. und 5. an dem unrich-
tigen Verfahren von Weber eini-
gen Antheil genommen zu haben.
|0532 : 510|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Auslegung, die dennoch ſtillſchweigend auf einer ſolchen
Vorausſetzung beruht (e).
Merkwürdigerweiſe fügt das Römiſche Recht für den
Fall der erweiternden Ausnahmegeſetze eine Einſchränkung
hinzu, die alſo als die Ausnahme einer Ausnahme zu be-
trachten iſt. Die ausnahmsweiſe vorgeſchriebene Rückwir-
kung ſoll nämlich nicht eintreten, wenn das Rechtsverhält-
niß, worauf ſie bezogen werden könnte, bereits durch Urtheil
oder Vergleich entſchieden worden iſt (judicatum vel trans-
actum). Dieſe Einſchränkung iſt zwar nirgend als blei-
bender, allgemeiner Grundſatz ausgeſprochen, ſie wird aber
in ſo vielen einzelnen Stellen des Römiſchen Rechts über-
einſtimmend wiederholt, daß ſie unzweifelhaft als eine von
den Römern allgemein anerkannte Regel betrachtet werden
muß (f). Sie hat auch einen inneren Grund darin, daß
ſowohl das Urtheil, als der Vergleich das urſprüngliche
Rechtsverhältniß umbildet, ſo daß nun an die Stelle des
Rechtsverhältniſſes, worauf ſich das neue Geſetz bezog,
eigentlich ein anderes getreten iſt.
Unter dem Urtheil aber iſt hier nicht blos ein rechts-
träftiges zu verſtehen, ſondern, bei noch ſchwebendem
Rechtsſtreit, auch ſchon ein Urtheil erſter Inſtanz, wenn
etwa während der Appellationsinſtanz das neue Geſetz er-
(e) Ein ganz ähnlicher Tadel
iſt bereits ausgeſprochen worden
bei den örtlichen Gränzen der
Geſetze § 374. C.
(f) Bergmann S. 138. 146,
wo dieſe Stellen überſichtlich an-
gegeben werden.
|0533 : 511|
§. 397. A. Erwerb der Rechte. Ausnahmen.
ſcheint (g). Der Grund liegt darin, daß der erſte Richter
nur nach dem zur Zeit ſeines Urtheils geltenden Geſetz entſchei-
den durfte, der Appellationsrichter aber nur ein irriges, in
ſich nicht gerechtfertigtes, Urtheil abändern darf.
Unter dem Vergleich ferner iſt hier nicht blos der Ver-
gleich im ſtreng juriſtiſchen Sinne des Wortes (die trans-
actio) zu verſtehen, ſondern jede vertragsmäßige Beſeitigung
eines Rechtsſtreits, welche bewirkt werden kann durch frei-
williges Nachgeben von der einen oder andern Seite, alſo
durch Erlaß, Verzicht, Anerkenntniß, Erfüllung eines An-
ſpruchs, mag jenes Nachgeben ganz oder theilweiſe ge-
ſchehen, und ſo zur völligen Beendigung des Streites
führen (h).
Unter die hier dargeſtellten Ausnahmen wird gewöhnlich
der Fall einer authentiſchen Geſetzauslegung gerechnet (i),
ſo daß auch ein ſolches Geſetz rückwirkende Kraft auf frü-
here Rechtsverhältniſſe haben ſoll. Allerdings iſt gegen die
Rückanwendung eines blos auslegenden Geſetzes Nichts
einzuwenden (k), und nur die Auffaſſung derſelben als
eines Ausnahmefalles iſt zu verwerfen: eine Meinungs-
(g) Nov. 115 pr. und C. 1.
(h) Bergmann § 25. —
Vgl. auch oben B. 7 § 302.
(i) S. o. B. 1 § 32.
(k) Sie wird ausdrücklich be-
ſtätigt in Nov. 143 pr., am Schluß
der Stelle.
|0534 : 512|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
verſchiedenheit, die daher eine mehr theoretiſche, als prakti-
ſche Beſchaffenheit hat. — Wird ein auslegendes Geſetz
gegeben, ſo iſt für den Richter der Inhalt deſſelben, alſo
der dadurch feſtgeſtellte Sinn des früheren Geſetzes, wahr
und gewiß, ſeine perſönliche Ueberzeugung mag damit über-
einſtimmen oder nicht. Urtheilt er alſo in Gemäßheit des
auslegenden Geſetzes, ſo wendet er in der That das aus-
gelegte Geſetz an, nicht das auslegende (welches ihm nur
das Verſtändniß für das frühere eröffnet), und darin liegt
alſo keine Rückwirkung.
Gegen die Natur einer Ausnahme ſpricht auch ſchon
der Umſtand, daß dieſe Art der Anwendung ſo im Allge-
meinen, und nicht blos bei einzelnen auslegenden Geſetzen,
anerkannt wird. Wäre es Ausnahme, ſo müßte es in ein-
zelnen Fällen auch wohl anders ſeyn können, welches
jedoch ganz unnatürlich, und dem Verhältniß des Geſetz-
gebers zum Richter widerſprechend, ſeyn würde.
Man könnte etwa glauben, eine praktiſche Seite die-
ſer verſchiedenen Auffaſſung müſſe darin liegen, daß nach
der von mir vertheidigten Anſicht die oben erwähnten
Einſchränkungen (Urtheil und Vergleich) nicht gelten
würden. In der That aber gelten dieſe, nur aus einem
etwas anders gewendeten Grunde. Wenn wir durch
das auslegende Geſetz erfahren, daß das frühere Urtheil,
oder der frühere Vergleich, von einer irrigen Auslegung
ausgegangen ſind, ſo verlieren ſie dadurch niemals ihre
|0535 : 513|
§. 397. A. Erwerb der Rechte. Ausnahmen.
Wirkſamkeit (l). Auch hier alſo iſt entſcheidend der ſchon
oben geltend gemachte Umſtand, daß Urtheil und Vergleich
das frühere Verhältniß umbilden.
Die hier aufgeſtellte Regel über wohlbegründete Rück-
anwendung geht nicht blos auf die eigentliche Auslegung
eines dunklen Geſetzes, ſondern auch auf die Anerkennung
und Beſtätigung eines früheren Geſetzes oder Gewohnheits-
rechts, wenn deſſen Daſeyn oder verbindende Kraft bisher
zweifelhaft war. Dagegen geht ſie nicht auf die Wieder-
herſtellung eines älteren, bisher außer Geltung geſetzten,
Geſetzes.
Ganz irrig unterſcheiden Manche zwiſchen einem richtig
oder irrig auslegenden Geſetz, weil das letzte in der That
neues Recht bilde. Durch eine ſolche Annahme würde ſich
der Richter in der That über den Geſetzgeber ſtellen, alſo
ſeine wahre Stellung gänzlich verkennen. Alles kommt
darauf an, ob der Geſetzgeber das Geſetz als ein ausle-
gendes gedacht und ausgeſprochen hat, nicht ob es eine,
nach der Meinung des Richters, richtige Auslegung ent-
hält (m).
(l) Das Urtheil iſt nicht nich-
tig, da es gewiß nicht gegen ein
klares Geſetz geſprochen iſt. We-
ber S. 212—214. — (Nur etwa,
wenn das auslegende Geſetz wäh-
rend der Appellationsinſtanz er-
ſchiene, hätte deshalb der Appel-
lationsrichter zu reformiren). —
Der Vergleich kann ſelbſt wegen
eines thatſächlichen Irrthums nicht
angefochten werden. L. 65 § 1
de cond. indeb. (12. 6), L. 23
C. de transact. (2. 4). Vgl.
auch oben B. 7 S. 42.
(m) Ueber die Rückanwendung
auslegender Geſetze, vgl. über-
haupt Weber S. 54—61, S.
194—208. Bergmann § 10—
12, § 31—33.
VIII. 33
|0536 : 514|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Die Rückanwendung auslegender Geſetze hat im Preußi-
ſchen Recht Anerkennung gefunden, und zwar mit Recht
als bleibende, für alle Zeiten gültige, Regel (n). Daneben
aber ſteht eine verſchiedene, blos tranſitoriſche Regel, an-
wendbar auf den Fall der Einführung des allgemeinen
Landrechts. Dieſe geht dahin, daß bei der Beurtheilung
älterer Rechtsverhältniſſe, wenn die damals geltenden Ge-
ſetze dunkel und zweifelhaft ſind, ſo daß bisher verſchiedene
Meinungen der Gerichte beſtanden, künftig die Meinung
vorgezogen werden ſoll, welche mit dem Inhalt des Land-
rechts übereinſtimmt, oder demſelben am nächſten kommt (o).
§. 398.
B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.
Der ganzen gegenwärtigen Unterſuchung iſt zum Grund
gelegt worden die Unterſcheidung von zweierlei Rechtsregeln
(§ 384). Eine Klaſſe derſelben hatte zum Gegenſtand den
Erwerb der Rechte, und für dieſe galt der Grundſatz der
Nichtrückwirkung, oder der Erhaltung erworbener Rechte. —
Eine zweite Klaſſe von Rechtsregeln, deren Betrachtung
nun noch übrig iſt, hat zum Gegenſtand das Daſeyn der
Rechte, und für dieſe Klaſſe hat der erwähnte Grundſatz
keine Anwendung.
(n) Allg. Landrecht Einleitung § 15.
von 1794 § 9.
(o) Publicationspatent
|0537 : 515|
§. 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.
Wir nennen aber Rechtsregeln über das Daſeyn der
Rechte zuvörderſt die, welche den Gegenſatz von Seyn oder
Nichtſeyn eines Rechtsinſtituts betreffen, alſo Geſetze, wo-
durch ein bisher geltendes Rechtsinſtitut gänzlich aufgehoben
wird; außerdem aber die, welche ein Rechtsinſtitut, ohne
es aufzuheben, in ſeiner Natur weſentlich umändern, alſo
den Gegenſatz von So oder Andersſeyn eines Rechtsinſti-
tuts betreffen. Von dieſen allen nun wird behauptet, daß
für ſie die Erhaltung erworbener Rechte (die Nichtrück-
wirkung) als herrſchender Grundſatz, ſo wie bei den Rechts-
regeln über den Erwerb der Rechte, unmöglich gedacht
werden könne, indem die wichtigſten Geſetze ſolcher Art,
wenn man ihnen einen ſolchen Sinn unterlegen wollte,
überhaupt gar keinen Sinn haben würden.
Um dieſe Behauptung anſchaulich zu machen, werde ich
drei Geſetze anführen, die in neuerer Zeit an verſchiedenen
Orten vorgekommen ſind, und auf die ich verſuchsweiſe den
Grundſatz der Nichtrückwirkung anwenden will. Ein Ge-
ſetz hebt die Leibeigenſchaft auf. Ein anderes hebt die
Zehenten auf, ohne Entſchädigung, wie es z. B. gleich im
Anfang der Franzöſiſchen Revolution geſchehen iſt. Ein
drittes Geſetz verwandelt die Zehenten, die bisher unablöslich
waren, in ablösliche Rechte, indem es dem Verpflichteten
(vielleicht auch dem Berechtigten) geſtattet, ſie mit einſeitiger
Willkür in eine Leiſtung anderer Art, von gleichem Geld-
werth, zu verwandeln. — Wollte man nun dieſe drei Ge-
ſetze unter den Grundſatz der Nichtrückwirkung ſtellen, ſo
33*
|0538 : 516|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
würden ſie folgende Bedeutung bekommen. Jede künftige
Errichtung einer Leibeigenſchaft (oder eines Zehentrechts)
iſt verboten, ungültig, wirkungslos. Jede künftige Er-
richtung eines Zehentrechts ſoll ſtets die Befugniß einſeitiger
Ablöſung des Zehenten mit ſich führen. — In dieſer Be-
deutung aber würden die erwähnten Geſetze völlig leer und
überflüſſig ſeyn, da ſeit ſehr langer Zeit Niemand daran
gedacht hat, eine Leibeigenſchaft oder ein Zehentrecht neu
zu begründen. Daraus folgt alſo, daß der Geſetzgeber dieſe.
Bedeutung ganz gewiß nicht gemeint und gewollt hat, und
daß alſo ſeine Abſicht im vollſtändigen Gegenſatz ſteht gegen
die Abſicht der den Erwerb der Rechte betreffenden Geſetze,
indem dieſe nicht rückwärts, ſondern nur auf künftige
Rechtsgeſchäfte einwirken, mithin erworbene Rechte erhalten
wollen; allerdings mit Ausnahmen, die jedoch höchſt un-
bedeutend ſind, und faſt verſchwinden in Vergleichung mit
der wirklich beobachteten Regel.
Man kann nun allerdings den Zweifel erheben, ob nicht
etwa alle Geſetze der erwähnten Art, eben weil ſie erwor-
bene Rechte zerſtören oder umbilden, durchaus rechtswidrig
und verwerflich ſeyn möchten. Ich will mich dieſer Frage
keinesweges entziehen, ſie vielmehr einer ſelbſtſtändigen Er-
örterung unterwerfen. Nur wird es dem Gang unſrer
Unterſuchung förderlich ſeyn, dieſe ganz andere Frage vor-
läufig auf ſich beruhen zu laſſen, und zunächſt nur feſtzu-
ſtellen, welches der Sinn und die Meinung der Geſetze iſt,
mit welchen wir uns gegenwärtig beſchäftigen; die Recht-
|0539 : 517|
§ 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.
mäßigkeit derſelben ſoll am Schluß noch beſonders geprüft
werden (§ 400).
Der Sinn und die Meinung der Geſetze dieſer Klaſſe
wird nun durch folgende Formeln ausgedrückt werden
können, die im ſchneidenden Gegenſatz ſtehen zu dem für
die erſte Klaſſe von Geſetzen oben aufgeſtellten Grundſatz
(§ 384. 385).
Neuen Geſetzen dieſer Klaſſe iſt rückwirkende Kraft
beizulegen.
Neue Geſetze dieſer Klaſſe ſollen erworbene Rechte
nicht unberührt laſſen.
Folgende Betrachtung wird dazu dienen, die hier aufge-
ſtellte Behauptung über den Sinn und die Meinung ſolcher
Geſetze von einer anderen Seite her zu beſtätigen. Die
meiſten und wichtigſten dieſer Geſetze haben die oben, bei
einer anderen Gelegenheit, dargeſtellte ſtreng poſitive, zwin-
gende Natur, indem ſie außer dem reinen Rechtsgebiet ihre
Wurzel haben, und mit ſittlichen, politiſchen, volkswirth-
ſchaftlichen Gründen und Zwecken im Zuſammenhang ſtehen
(§ 349). Es liegt aber in der Natur ſolcher zwingenden
Geſetze, daß ſie ihre Macht und Wirkſamkeit mehr, als
andere Geſetze, ausdehnen müſſen, wie dieſes auch ſchon
oben bei der örtlichen Colliſion der Geſetze geltend gemacht
worden iſt.
Es iſt nun noch anzugeben, welche Stellung unſre
Schriftſteller zu der hier vorgetragenen Lehre einnehmen.
Die Unterſcheidung der zwei Klaſſen von Rechtsregeln, die
|0540 : 518|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
unter verſchiedenen, ja entgegengeſetzten, Grundſätzen ſtehen,
wird nirgend gemacht, vielmehr wird der Grundſatz der
Nichtrückwirkung als der für alle Geſetze gemeinſam gültige
angeſehen. Man möchte alſo erwarten, daß die Schrift-
ſteller den Geſetzen, von denen wir hier reden, in der That
den eben dargeſtellten völlig unpraktiſchen Sinn beilegen,
alſo die Aufhebung der Leibeigenſchaft als ein Verbot
künftiger Errichtung der Leibeigenſchaft behandeln würden.
Davon ſind ſie jedoch weit entfernt. Sie rechnen vielmehr
ſolche Geſetze unter die, ſchon im Römiſchen Recht vorbe-
haltenen, Ausnahmen der Nichtrückwirkung (§ 397), und
laſſen von dieſem Standpunkt aus eine Anwendung der-
ſelben auf erworbene Rechte zu (a).
Obgleich nun durch dieſe Auffaſſung dem unmittelbaren
Bedürfniß abgeholfen wird, iſt dennoch eine ſolche Auskunft
völlig zu verwerfen. Ausnahmen von dem Grundſatz der
Nichtrückwirkung haben eine zufällige Natur, ſind an ſich
entbehrlich, und würden beſſer gar nicht vorhanden ſeyn.
Dieſes Alles paßt auf die hier in Frage ſtehenden Geſetze
nicht. Wenn wir dieſe unbefangen betrachten, ſo müſſen
wir uns ſogleich überzeugen, daß in Beziehung auf ſie jene
Auskunft durchaus gezwungen iſt, und den Geſetzen einen
Sinn aufdrängt, der ihnen völlig fremd iſt. Das Geſetz,
welches die Leibeigenſchaft aufhebt, würde dadurch auf
gleiche Linie geſtellt etwa mit Juſtinian’s Geſetz über die
(a) Weber S. 51—52. 188—189. Bergmann S. 156. 177. 257.
|0541 : 519|
§. 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.
verbotenen Zinſen, und der ſo aufgefaßte vollſtändige In-
halt deſſelben würde in conſequent durchgeführter Faſſung
etwa ſo lauten: Es wird hierdurch verboten, künftig eine
Leibeigenſchaft zu errichten, auch ſoll dieſe Vorſchrift aus-
nahmsweiſe rückwirkende Kraft haben, ſo daß ſogar auch
die jetzt beſtehenden Verhältniſſe der Leibeigenſchaft aufge-
hoben ſeyn ſollen. Dadurch wäre eine ganz unnütze Vor-
ſchrift, an die Niemand gedacht hat, als Hauptgedanke an
die Spitze geſtellt, und es wäre als beiläufige Ausnahme
Das hinzugefügt, welches allein der Geſetzgeber dachte und
wollte. In den allermeiſten Geſetzen ſolcher Art iſt aber
ſicherlich keine Spur zu finden, die auf den Gedanken einer
exceptionellen Rückwirkung gedeutet werden könnte.
Zu dieſen Gründen aber kommt noch ein rein praktiſcher
Grund hinzu, der eine ſolche Behandlung der Sache völlig
verwerflich macht. Hätten wir bei ſolchen Geſetzen mit
einer exceptionellen Rückwirkung zu thun, ſo müßten wir
dieſelbe auch unter gewiſſe Einſchränkungen ſtellen (§ 397. f);
ſie müßte wegfallen, wenn ein Rechtsverhältniß durch Ur-
theil oder Vergleich feſtgeſtellt wäre. Das würde aber zu
der widerſinnigen Folge führen, daß die Aufhebung aller
Zehenten zwar anzuwenden wäre auf alle ſtets unbeſtrittene
Zehentrechte, aber nicht auf die Zehenten, worüber einmal
ein Rechtsſtreit abgeurtheilt oder verglichen wäre. — Dieſe
widerſinnige Folge wollen nun in der That jene Schrift-
ſteller nicht, vielmehr ſoll nach ihnen eine ſolche Aufhebung
|0542 : 520|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
allgemein wirken (b). Dahin aber können ſie offenbar nur
kommen, indem ſie jene Einſchränkung (die ſelbſt ſchon die
Ausnahme einer Ausnahme iſt) durch eine neue Ausnahme
beſeitigen, alſo gleichſam eine Ausnahme dritter Potenz an-
nehmen. So wird es aber immer augenſcheinlicher, wie
unnatürlich eine Auffaſſung iſt, die zu ſolchen Rettungs-
mitteln hindrängt.
Sehr charakteriſtiſch iſt die ganz verſchiedene Art, in
welcher ein anderer Schriftſteller die angegebene Schwierig-
keit zu löſen ſucht (c). Dieſer läßt keine exceptionelle
Rückwirkung, ja überhaupt keine Einwirkung des Geſetz-
gebers auf zeitliche Colliſionen der Geſetze zu (§ 387. i).
Bei der gegenwärtig vorliegenden Schwierigkeit aber hilft
er ſich damit, daß er blos die ihm beſonders mißliebigen
Inſtitute, wie Leibeigenſchaft, Steuerfreiheit des Adels, in’s
Auge faßt. Dieſe nennt er Gräuel, moraliſche Schändlich-
keiten, Ungerechtigkeiten, die an ſich kein rechtliches Daſeyn
haben. Wenn ein Geſetz ſie aufhebt, ſo ſoll es des Zu-
ſatzes der rückwirkenden Kraft nicht bedürfen. Vielmehr
ſoll jede der drei Staatsgewalten (die geſetzgebende, richter-
liche, vollziehende) für ſich allein die Macht haben, jene
Inſtitute zu ignoriren, und dadurch praktiſch zu vernichten.
— Eine Widerlegung dieſer Anſicht wird man wohl nicht
verlangen. Nur auf die praktiſche Schwierigkeit in der
(b) Weber S. 213—215. Bergmann S. 259.
(c) Struve S. 150—152. 274—276.
|0543 : 521|
§. 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.
Ausführung will ich aufmerkſam machen, die in der Feſt-
ſtellung des Daſeyns und der Gränzen jener Gräuel und
Schändlichkeiten liegt, indem darüber die ſubjektive Anſicht
der einzelnen Träger der drei Staatsgewalten vielleicht nicht
ganz übereinſtimmend ſeyn könnte. Unter dieſen Trägern
könnten ſich auch conſequente Communiſten finden, und
dieſe würden das geſammte Inſtitut des Eigenthums unter
die Gräuel zählen.
Nimmt man nun, wie es hier geſchieht, zwei Klaſſen
von Rechtsregeln an, die von ganz verſchiedenen Grund-
ſätzen beherrſcht werden, ſo iſt Nichts wichtiger, als die
Feſtſtellung ſcharfer und ſicherer Gränzen zwiſchen beiden
Klaſſen.
Für viele Fälle iſt die Gränze keinem Zweifel unter-
worfen; namentlich für die Fälle ſolcher Geſetze, in welchen
ein bisher beſtehendes Rechtsinſtitut völlig aufgehoben wird.
Zweifelhaft aber kann ſie ſeyn bei den Geſetzen, welche ein
Rechtsinſtitut nicht aufheben, ſondern nur umbilden (d).
Dann wird Alles auf die unbefangene Prüfung des In-
halts und des Zwecks des Geſetzes ankommen. Ein be-
ſonders ſicheres, und für die meiſten Fälle ausreichendes,
(d) Schon oben iſt auf dieſe Zweifel im Allgemeinen aufmerkſam
gemacht worden (§ 384). Einzelne Fälle zweifelhafter Natur ſind
vorgekommen § 390 Num. 3. 4. § 393 Num. 6.
|0544 : 522|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Mittel der Gränzſcheidung wird darin liegen, daß wir
unterſuchen, ob vielleicht ein neues Geſetz zu den ſo eben
erwähnten Geſetzen von ſtreng poſitiver, zwingender Natur
gehört, die außer dem reinen Rechtsgebiet ihre Wurzel
haben (S. 517). In dieſem Fall haben wir daſſelbe un-
zweifelhaft zu den Geſetzen über das Daſeyn der Rechte zu
zählen, auf welche der Grundſatz der Nichtrückwirkung
keine Anwendung findet.
§. 399.
B. Daſeyn der Rechte. — Anwendungen. Ausnahmen.
Die Anwendungen des im § 398 aufgeſtellten Grund-
ſatzes werden, eben ſo wie es bei den Geſetzen über den Er-
werb der Rechte geſchehen iſt, nach gewiſſen Klaſſen der
Rechtsverhältniſſe dargeſtellt werden; jedoch ſind hier ganz
andere Klaſſen, als die dort angenommen, erforderlich.
I. Die erſte Klaſſe, und zugleich die wichtigſte, bilden
gewiſſe Rechtsverhältniſſe, die ihrer Natur nach über das
einzelne Menſchenleben hinausreichen, ja zu einer endloſen
Fortdauer beſtimmt ſind, und nur zufällig im einzelnen Fall
untergehen. Sie laſſen ſich gemeinſam bezeichnen als Be-
ſchränkungen der perſönlichen Freiheit oder der Freiheit des
Grundeigenthums, und ſind oft aus dinglichen oder obliga-
toriſchen Rechten gemiſcht. Die meiſten derſelben (nicht
alle) haben inſofern ein hiſtoriſches Daſeyn, als ihre Ent-
|0545 : 523|
§. 399. A. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.
ſtehung in ganz andere Zeitalter und in untergegangene Volks-
zuſtände fällt. Dieſe ſind daher als abgeſchloſſen zu be-
trachten, und werden nicht, ſo wie andere Rechtsverhält-
niſſe, durch Willkür ſtets neu erzeugt (a). Die Geſetze,
wodurch ſolche Rechtsinſtitute aufgehoben oder umgebildet
werden, ſind ſtets von ſtreng poſitiver, zwingender Natur,
da ſie außer dem reinen Rechtsgebiet ihre Wurzel haben
(§ 398).
Aus dem Römiſchen Recht gehört dahin die für das
heutige Europa längſt verſchwundene Sklaverei.
Folgende Inſtitute ſolcher Art ſind in unſerm heutigen
Recht theils noch jetzt vorhanden, theils wenigſtens bis
auf unſre Tage erhalten geblieben:
Die Leibeigenſchaft.
Reallaſten aller Art, beſtehend in der Leiſtung von
Geld, Früchten, Dienſten (Frohnden, Robotten).
Insbeſondere das Zehentrecht.
Lehen.
Familienfideicommiſſe.
Prädialſervituten.
Emphyteuſe (b).
(a) Vgl. oben § 392. e.
(b) Die zwei letztgenannten
Arten haben nicht ſo, wie die vor-
hergehenden, einen hiſtoriſchen,
auf vergangene Zuſtände hindeu-
tenden Charakter, allein die darauf
bezüglichen umbildenden Geſetze
ſind in ihren Gründen und
Zwecken ganz gleichartig mit den
Geſetzen über die Zehenten und
die Dienſte.
|0546 : 524|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Ueber das Verhältniß alter und neuer Geſetze zu ein-
ander wird hier nicht leicht ein Zweifel entſtehen.
II. Die zweite Klaſſe bilden einige, auf das Ge-
ſchlechterverhältniß bezügliche, Rechtsinſtitute. Die Geſetze
über dieſe Inſtitute gehören deswegen hierher, weil ſie
nicht auf reinen Rechtsgründen beruhen, ſondern auf ſitt-
lichen (theilweiſe ſittlich-religiöſen) Gründen. Die einzel-
nen hierher gehörenden Fälle ſind folgende:
1. Eheſcheidung. Wenn durch ein neues Geſetz
die Scheidung überhaupt eingeführt oder abgeſchafft, oder
wenn eine Aenderung in den Scheidungsgründen vorge-
nommen wird, ſo entſteht die Frage nach dem Einfluß des
neuen Geſetzes auf die beſtehenden Ehen.
Betrachtet man ein ſolches Geſetz von dem abſtract
juriſtiſchen Standpunkt aus, ſo hat es eine ähnliche Natur
mit dem Geſetz über die Veräußerung des Eigenthums.
Durch dieſe Eheſcheidung verliert jeder Theil die bisher
aus der Ehe entſtehenden Rechte, ſo wie jeder die Freiheit
von den Anſprüchen des anderen Theils, und zugleich alle
Vortheile der Eheloſigkeit (Möglichkeit einer neuen Ehe)
erwirbt. Hiernach möchte man glauben, es verhielte ſich
mit den Geſetzen über Eheſcheidung gerade ſo, wie mit den
Geſetzen über das Güterrecht (§ 396). Dann hätte jeder
Ehegatte durch den Abſchluß der Ehe das unabänderliche
Recht erworben, bei einer künftigen Scheidung nach dem
zur Zeit des Anfanges der Ehe beſtehenden Geſetz beurtheilt
zu werden.
|0547 : 525|
§. 399. B. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.
Dieſe Auffaſſung muß jedoch verworfen werden, weil
die Geſetze über die Eheſcheidung ſittliche Gründe und
Zwecke, mithin eine zwingende Natur haben, und daher
zu den Geſetzen über das Daſeyn der Ehe gehören (c).
Dieſes iſt gleich wahr, das neue Geſetz mag die Scheidung
erſchweren oder erleichtern. Das erſte ſetzt den überwie-
genden Werth auf Erhaltung der Reinheit und Heiligkeit
der Ehen; das zweite auf unbeſchränkte Erhaltung der in-
dividuellen Freiheit (d); beides ſind ſittliche Principien,
deren relativer Werth oder Unwerth hier ganz dahin ge-
ſtellt bleiben muß, wo es blos darauf ankommt, die Natur
der darauf bezüglichen Geſetze zu beſtimmen.
Die hier aufgeſtellte Anſicht iſt in der Preußiſchen
tranſitoriſchen Geſetzgebung, wiewohl mit einer geringen
(c) Man könnte es für ein-
ſeitig und unbegründet halten, daß
hier nur der Eheſcheidung dieſer
Charakter zugeſchrieben werde,
nicht auch dem ganzen übrigen
rein perſönlichen Recht der Ehe,
namentlich den perſönlichen Rech-
ten und Pflichten während der
Ehe. Der Unterſchied iſt jedoch
der, daß auf dieſe der Geſetzgeber
und der Richter ſehr wenig mög-
lichen Einfluß haben, anſtatt daß
der Ausſpruch über Daſeyn oder
Nichtdaſeyn der Ehe (alſo die
Eheſcheidung) ſehr wohl mit Er-
folg durchgeführt werden kann.
(d) Die Freiheit braucht hier
nicht gedacht zu werden als bloße
Willkür, als Verneinung unbe-
quemer Schranken, welche aller-
dings keine beſonders ſittliche Na-
tur hat; ſie kann auch gedacht
werden als Schutz der ſittlichen
Freiheit in der Ehe gegen jeden
äußeren, dieſe Freiheit ſtörenden,
und dadurch die Reinheit der Ehe
gefährdenden, Zwang. Dieſes war
die urſprüngliche Anſicht der Rö-
mer, wurzelnd in der Zeit alter
Sittenreinheit. L. 134 pr. de V.
O. (45. 1), L. 14 C. de nupt.
(5. 4), L. 2 C. de inut. stip.
(8. 39).
|0548 : 526|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Modification, anerkannt worden. Als in den Jahren 1814
und 1816 das allgemeine Landrecht in mehrere Provinzen
theils neu eingeführt, theils wieder eingeführt wurde, be-
ſtimmte man für die Scheidung der beſtehenden Ehen, daß
dieſe von jetzt an nach dem Landrecht, alſo unabhängig
von dem Geſetz zur Zeit der geſchloſſenen Ehe, beurtheilt
werden ſollte. Nur wurde die ſehr mäßige und nicht
unbillige Ausnahme hinzugefügt, daß ein Scheidungsgrund
des Landrechts nicht geltend gemacht werden dürfe, wenn
die zum Grund liegende Thatſache vorgefallen ſey während
der Herrſchaft des fremden Geſetzes, und in dieſem Geſetz
nicht als Scheidungsgrund gegolten habe (e).
Ganz gleiche Natur mit den Geſetzen über die Ehe-
ſcheidung haben die Geſetze über die Nichtigkeitsklage ge-
gen die Ehe.
2. Liberalität gegen Ehegatten. Dieſe iſt nicht
ſelten durch neue Geſetze, auch in der heutigen Zeit, be-
ſchränkt worden. Im Römiſchen Recht kommt, als uraltes,
ſehr ausgebildetes Rechtsinſtitut ſolcher Art, die verbotene
Schenkung unter Ehegatten vor (f).
Man möchte nun glauben, ein ſolches Geſetz gehöre
durchaus dem Güterrecht an, unter welcher Vorausſetzung
lediglich die Zeit der geſchloſſenen Ehe maaßgebend ſeyn
(e) Provinzen jenſeits der Elbe § 9. Weſtpreußen § 11. Poſen
§ 11. Sachſen § 11 (ſ. o. § 383).
(f) S. o. B. 4 § 162 — 164.
|0549 : 527|
§. 399. B. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.
würde. In der That aber hat ein ſolches Geſetz
zwingende Natur, wirkt alſo augenblicklich auf die
beſtehenden Ehen ein. Denn der Zweck deſſelben geht
dahin, die Gefährdung der Reinheit der Ehe durch eigen-
nützige Einwirkungen zu verhindern. Daher würde es
irrig ſeyn, die Sache ſo zu betrachten, als hätte durch die
abgeſchloſſene Ehe jeder Theil das unabänderliche Recht
erworben, wegen der Liberalität zwiſchen ihm und dem an-
dern Theil ſtets nach dem jetzt geltenden Geſetz beurtheilt
zu werden.
Dieſelbe Anſicht iſt auch ſchon oben, bei der örtlichen
Colliſion der Geſetze, geltend gemacht worden (§ 379.
Num. 4).
3. Uneheliche Kinder.
Die aus dem außerehelichen Beiſchlaf abzuleitenden
Rechte, theils des Kindes, theils der Mutter, gegen den
Erzeuger gehören unter die ſchwierigſten und zweifelhafteſten
Gegenſtände, ſowohl des Privatrechts, als der Geſetzge-
bungspolitik.
Man kann dabei ausgehen von der Annahme eines
vom Erzeuger begangenen Delicts, welche nach den Reichs-
geſetzen für unſer gemeines Recht wohl begründet iſt (g);
(g) Reichspolizeiordnung 1530
Tit. 33, 1548 Tit. 25, 1577 Tit.
26. — Auch nach dem A. L. R.
I. 3 § 36. 37 iſt es eine geſetz-
widrige Handlung, (jedoch muß
im § 37 der Druckfehler 10 in
11 verbeſſert werden). — Indeſſen
verwickelt man ſich bei der Ablei-
tung der Entſchädigungsanſprüche
aus dieſem Delict in die ſeltſam-
ſten und gewagteſten Vorſtellungen.
|0550 : 528|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
oder auch von der Annahme der natürlichen Blutsverwandt-
ſchaft, wobei jedoch ſtets die Thatſache der Paternität
völlig ungewiß bleibt (h).
In beiden Fällen könnte man annehmen, durch die
Thatſache des als Erzeugung angeſehenen Beiſchlafs ſey
ein unabänderliches Recht begründet, wobei ein ſpäteres
Geſetz Nichts ändern könne, es möge die Rechte der Kinder
und der Mutter derſelben erweitern oder beſchränken. Das
neue Geſetz würde dann nur Anwendung finden auf künf-
tige Erzeugungen.
Allein in der That haben ſolche Geſetze ſtets einen
zwingenden Charakter, indem ſie mit ſittlichen Zwecken im
Zuſammenhang ſtehen. Darüber iſt eine Meinungsverſchie-
denheit kaum möglich, daß die ausſchließende Geſchlechts-
gemeinſchaft in der Ehe, ſowohl ſittlich als für das Staats-
wohl, höchſt wünſchenswerth, beſonders aber, daß der Zu-
ſtand unehelicher Kinder ein höchſt unheilvoller iſt. Man
kann nun durch Erweiterung der Anſprüche der Kinder
theils dieſen Zuſtand mildern, theils dem Leichtſinn der
Männer entgegen wirken wollen. Man kann umgekehrt
verſuchen, durch Beſchränkung oder Aufhebung dieſer An-
(h) Die Präſumtion in der
Ehe: pater est, quem nuptiae
demonstrant, beruht auf der
Würde und Heiligkeit der Ehe.
Damit aber hat die Thatſache des
erwieſenen oder eingeſtandenen
außerehelichen Beiſchlafs auch
nicht entfernte Aehnlichkeit, da
neben dieſer Thatſache ſchon die
bloße Möglichkeit der Concurrenz
anderer Männer Alles ungewiß
macht, noch mehr aber die erwie-
ſene Wirklichkeit einer ſolchen Con-
currenz (exceptio plurium).
|0551 : 529|
§. 399. B. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.
ſprüche theils dem Leichtſinn der Frauen entgegen zu wirken,
theils die Störung des Friedens mancher Ehen durch die
von fremden Frauen erhobenen Anſprüche, zu verhüten.
In beiden Richtungen neuer Geſetze iſt ein ſittlicher Zweck
unverkennbar, und es kann dabei ganz gleichgültig ſeyn,
welche dieſer Richtungen an ſich oder durch Erfahrungen
im Großen mehr begründet ſeyn möge.
Nimmt man Dieſes als richtig an, ſo muß das neue
Geſetz über uneheliche Kinder augenblicklich zur Anwendung
kommen, ohne Rückſicht auf das Geſetz, welches zur Zeit
der Erzeugung oder der Geburt des Kindes beſtanden hat.
— Dieſelbe Regel iſt ſchon oben in Beziehung auf
die örtlichen Colliſionen geltend gemacht worden (§ 374
Noten aa. bb.).
Mit dieſen Anſichten ſtimmt überein das Franzöſiſche
Geſetz, welches ſelbſt die Unterſuchung der Paternität
verbietet (i), alſo ſelbſt die Möglichkeit abſchneidet, einem
unehelichen Kinde, mit Ausnahme der freiwilligen Aner-
kennung, Anſprüche gegen den Erzeuger zu verſchaffen.
Man hat dieſes Geſetz mit Unrecht getadelt, als ob es eine
ungehörige Rückwirkung enthielte (k). Man hat es eben
ſo mit Unrecht vertheidigt, als ob es den perſönlichen Zu-
ſtand an ſich zum Gegenſtand hätte (l). Die wahre Recht-
(i) Code civil art. 340 „La
recherche de la paternité est
interdite.“
(k) Struve S. 233.
(l) Weber S. 79—82. Die-
ſelbe Anſicht haben die Franzö-
ſiſchen Juriſten.
VIII. 34
|0552 : 530|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
fertigung liegt darin, daß es ein Geſetz von zwingender
Natur iſt.
Eben ſo ſtimmt damit überein die tranſitoriſche Preußi-
ſche Geſetzgebung, die, nur mit anderem Ausdruck als das
Franzöſiſche Geſetz, verordnet, daß die unehelichen Kinder,
auch wenn ſie noch unter der Herrſchaft des fremden Ge-
ſetzes geboren wurden, dennoch von jetzt an die Anſprüche
des Landrechts ſollten geltend machen können (m).
III. Eine dritte Klaſſe endlich bilden manche Geſetze
über rein juriſtiſche Inſtitute, welche durch jene Geſetze
entweder völlig aufgehoben oder doch von Grund aus um-
gebildet werden, und die deswegen augenblicklich auf ſchon
beſtehende Rechtsverhältniſſe anzuwenden ſind.
Dahin gehört das Geſetz, wodurch Juſtinian das
bisher beſtehende zweifache Eigenthum (ex jure quiritium
und in bonis) aufhob, und an deſſen Stelle ein einfaches
Eigenthum ſetzte, das alle bisher zuweilen getrennte Rechte
in ſich vereinigen ſollte (n). — Eben ſo verhält es ſich
mit dem Franzöſiſchen Geſetz, welches dem Eigenthümer
einer beweglichen Sache die Vindication verſagt, wenn
daſſelbe irgendwo anſtatt des Römiſchen Rechts eingeführt
werden ſollte. Dieſe Veränderung würde augenblicklich
(m) Provinzen jenſeits der
Elbe § 11. Weſtpreußen § 14.
Poſen § 14 (ſ. o. § 383).
(n) L. un. C. de nudo j.
Quir. toll. (7. 25). Damit hörte
von ſelbſt auf die eigenthümliche
Natur des fundus Italicus und
der res mancipi. L. un. C. de
usuc. transform. (7. 31).
|0553 : 531|
§. 399. B. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.
auch auf das gerade vorhandene bewegliche Eigenthum an-
zuwenden ſeyn; eben ſo aber auch die umgekehrte Veränderung
in dem Rechte des Eigenthums.
Ferner gehört dahin ein neues Geſetz, welches geſetzliche
Servituten, als natürliche Beſchränkungen des Eigenthums,
einführt, oder welches umgekehrt ſolche Servituten, wenn
ſie bisher beſtanden, aufhebt (§ 390 Num. 2).
Gleiche Natur hat die Verwandlung des Römiſchen
Pfandrechts in das Preußiſche Hypothekenrecht; beide
Syſteme können nicht neben einander beſtehen, vielmehr
muß das eine ſofort durch das andere verdrängt werden
(§ 390 Num. 3). Welche Anſtalten aber zu treffen ſind,
um dieſe Veränderung ohne Rechtsverletzung zu bewirken,
wird ſogleich angegeben werden (§ 400).
Endlich würden wir dahin auch den Fall zu rechnen
haben, wenn die teſtamentariſche Erbfolge in einem Staate,
der ſie bisher anerkannte, durch ein neues Geſetz aufge-
hoben würde (§ 393 Num. 6).
Ausnahmen des für dieſe Klaſſe neuer Geſetze auf-
geſtellten Grundſatzes laſſen ſich eben ſowohl denken, als
bei den Geſetzen über den Erwerb der Rechte (§ 397).
Nur werden ſie hier niemals in der Richtung vorkommen,
daß die Wirkſamkeit des neuen Geſetzes noch mehr erweitert
würde, als nach dem Grundſatz ſelbſt, da dieſer ohnehin
|0554 : 532|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
ſchon ſo weit als möglich geht; vielmehr werden ſie nur
dahin gerichtet ſeyn können, die Wirkſamkeit des neuen
Geſetzes auf ſchonende Weiſe einzuſchränken.
Ein Fall dieſer Art aus einem Preußiſchen tranſitoriſchen
Geſetz iſt ſchon oben vorgekommen (§ 399. II. 1). Das
Preußiſche Scheidungsgeſetz ſollte ſogleich in Wirkſamkeit
treten, jedoch mit Ausnahme mancher, die Scheidung be-
gründender Thatſachen.
Eine andere Ausnahme findet ſich in dem Geſetz des
Königreichs Weſtphalen, welches die Lehen und Fidei-
commiſſe aufhob, das heißt, in freies Eigenthum verwan-
delte. Dieſes Geſetz ſollte natürlich nicht blos die Stiftung
neuer Lehen nnd Fideicommiſſe verhindern, ſondern gerade
die beſtehenden umwandeln. Es that Dieſes jedoch mit der
ſchonenden Ausnahme, daß der nächſte Succeſſionsfall
noch nach dem bisherigen Recht behandelt werden ſollte (o).
§. 400.
B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.
Ich kehre jetzt zurück zu der oben vorbehaltenen Frage
wegen der Rechtmäßigkeit der gegenwärtig dargeſtellten
Klaſſe von Geſetzen (S. 517).
(o) An dieſe Ausnahme hat
ſpäterhin das Preußiſche Geſetz
vom 11. März 1818 in der Art
angeknüpft, daß alle Lehen und
Fideicommiſſe, worin der vorbe-
haltene nächſte Succeſſionsfall
noch nicht eingetreten war, nun-
mehr für immer wiederhergeſtellt
ſeyn ſollten. Geſetz-Sammlung
1818. S. 17.
|0555 : 533|
§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.
Es iſt gezeigt worden, daß dieſe Geſetze, wenigſtens in
den meiſten und wichtigſten Fällen, nur ſo gemeint ſeyn
können, daß ſie in erworbene Rechte eingreifen, indem ſie
die Rechtsinſtitute ſelbſt, alſo auch die unter denſelben ſte-
henden einzelnen Rechtsverhältniſſe (a), entweder vernichten,
oder doch weſentlich umbilden, beides ohne Rückſicht auf den
Willen des Berechtigten.
Man kann nun dieſe Behauptung zugeben, aber eben
daran die ſcheinbare Einwendung anknüpfen, daß gerade
deshalb die Geſetze dieſer Art durchaus als rechtswidrig,
verwerflich, unzuläſſig angeſehen werden müßten. Wer
dieſe Einwendung erhebt, geht offenbar aus von der Vor-
ausſetzung, daß jeder Eingriff in ein erworbenes Recht,
ohne Einwilligung des Berechtigten, vom Standpunkt des
Rechts aus betrachtet, ſchlechthin unmöglich ſey, und er
ſieht dieſe Unmöglichkeit als einen oberſten, unbedingten
Grundſatz an. Gerade dieſe Vorausſetzung aber kann aus
folgenden Gründen nicht zugegeben werden.
Zuerſt nicht, weil ſie mit der allgemeinen Natur und
Entſtehung des Rechts unvereinbar iſt. Das Recht hat
ſeine Wurzel in dem gemeinſamen Bewußtſeyn des Volkes.
Dieſes iſt nun zwar auf der einen Seite durchaus verſchie-
den von dem leicht und ſchnell wechſelnden, zufälligen und
veränderlichen Bewußtſeyn des einzelnen Menſchen; auf
(a) Vgl. oben B. 1 § 4. 5 über die Begriffe von Rechtsverhält-
niß und Rechtsinſtitut.
|0556 : 534|
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
der anderen Seite aber iſt es allerdings dem Geſetz einer
umbildenden Entwickelung unterworfen, alſo nicht als ein
ruhendes, ſtillſtehendes zu denken (b). Daher können wir
unmöglich irgend einem einzelnen Zeitalter die Macht ein-
räumen, durch ſein eigenthümliches Rechtsbewußtſeyn alle
künftige Zeiten zu bannen und zu beherrſchen. — Einige
Beiſpiele werden Dieſes anſchaulich machen.
Im ganzen Alterthum wurde der Stand der Sklaven
als eine Art von Naturnothwendigkeit betrachtet, und man
dachte ſich kaum die Möglichkeit, daß ein geſittetes Volk
ohne einen ſolchen leben könne. Im heutigen chriſtlichen
Europa wird eben ſo dieſer Stand als völlig unmöglich,
als allem Rechtsbewußtſeyn durchaus widerſprechend, ge-
dacht (c). Der Uebergang aus dem einen dieſer Zuſtände
in den andern, in Folge der ſehr allmäligen Einwirkung
chriſtlicher Sitten und Zuſtände, hat ſich ſo langſam und
unmerklich gemacht, daß wir das Aufhören des alten Zu-
(b) B. 1 § 7.
(c) Manche Schriftſteller ha-
ben dieſen Gegenſatz mitunter da-
durch zu verdunkeln oder abzu-
ſchwächen geſucht, daß ſie den in
neuerer Zeit mit harten Freiheits-
ſtrafen verbundenen Zuſtand ver-
glichen haben mit dem oft milden,
ja freundlichen Zuſtand der Skla-
ven des Alterthums. Dadurch
aber wird das wahre Verhältniß
nur entſtellt. Um ſich den Gegen-
ſatz in ſeiner Reinheit und
Schärfe vor Augen zu halten,
muß man zwei Dinge bedenken.
Erſtlich die Entſtehung der Skla-
verei durch die Geburt; zweitens
die dem Rechte nach ganz gleiche
Stellung des Sklaven mit den
Hausthieren (Ulpian. XIX. 1),
als einer käuflichen Waare. —
Der heutige Sklavenſtand im
Orient, ſo wie der ganz verſchie-
dene in Amerika, kann hier ganz
auf ſich beruhen.
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§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.
ſtandes nicht mit Sicherheit geſchichtlich verfolgen können.
Geſetzt nun, dieſer Uebergang wäre nicht ſo allmälig, ſon-
dern in kurzer Zeit eingetreten, etwa in Folge einer gewalt-
ſamen geiſtigen Erſchütterung des Volksbewußtſeyns, ſo
würden wir unmöglich einem ſolchen neuen Zeitalter das
Recht verſagen können, der gegenwärtigen, allgemein ge-
wordenen Ueberzeugung Raum zu geben, und dem Sklaven-
ſtand als Rechtsinſtitut die fernere Anerkennung zu ver-
ſagen. Daneben ließen ſich mancherlei Wege denken,
den Uebergang zu vermitteln, und gegen Gefahren zu
ſchützen.
Ein anderes Beiſpiel möge das Zehentrecht darbieten.
In Zeiten einer wenig entwickelten, ſtationären Boden-Cultur
konnte dieſes als ein einfaches, natürliches, zweckmäßiges
Rechtsinſtitut gelten, und große Verbreitung erhalten.
Bei lebendiger Entwickelung gewerblicher Thätigkeit mußte
man ſich überzeugen, daß durch eine ſolche, auf dem Roh-
ertrag ruhende, Abgabe jeder Fortſchritt des Landbaues
gehemmt, oft unmöglich gemacht werde. Darunter litten
die Verpflichteten, ſo wie durch ſie der Staat im Ganzen,
nicht die Berechtigten, die alſo vielleicht einer Verwandlung
der ihnen bequemen Zehenten widerſtrebten. Wenn nun
die Ueberzeugung von den mit dieſem Zuſtand verbundenen
Nachtheilen allgemein wurde, ſo war die geſetzliche Ver-
wandlung der bisher unablöslichen Zehenten in ablösliche
gerechtfertigt, indem dadurch dem Staat und den Verpflich-
teten ein augenſcheinlicher großer Gewinn erworben, von
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
dem Berechtigten aber durch vollſtändige Entſchädigung
jeder Verluſt abgewendet wurde.
Der eben entwickelte erſte Grund gegen die Vorausſetzung
einer unbedingten Rechtswidrigkeit der Geſetze, welche durch
Zerſtörung oder Umbildung von Rechtsinſtituten irgend
einen Eingriff in erworbene Rechte mit ſich führen, war
entnommen aus der Entſtehung des Rechts, alſo aus der
Betrachtung des Volkes, in deſſen Rechtsbewußtſeyn das
Recht ſelbſt ſeine Wurzel hat. Ein zweiter Grund, der zu
demſelben Ziele führt, bezieht ſich auf die einzelnen Men-
ſchen als Träger der erworbenen Rechte. Wer die abſo-
lute Unantaſtbarkeit erworbener Rechte durch neue Geſetze
behauptet, verneint nur die Unfreiwilligkeit eines ſolchen
Eingriffs, und räumt die Rechtmäßigkeit der Veränderung
unbedenklich ein, ſobald die Einwilligung des Berechtigten
in die Aufhebung oder Umbildung des erworbenen Rechts
hinzutritt. Wir wollen aber die Natur dieſes Berechtigten,
als des Trägers erworbener Rechte, näher betrachten. Das
erworbene Recht erſcheint als erweiterte Macht des einzel-
nen Menſchen, und hat ſtets eine mehr oder weniger zu-
fällige Natur (d). Der einzelne Menſch aber hat ein
beſchränktes und vorübergehendes Daſeyn. Wenn daher
gegen die Geſetze, wodurch Rechtsinſtitute aufgehoben oder
umgebildet werden, wegen des Eingriffs in erworbene
Rechte ein unbedingter Widerſpruch erhoben werden ſoll,
(d) S. o. B. 1 § 4. 52. 53.
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§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.
ſo iſt dieſer Widerſpruch wenigſtens wegen der beſchränkten
Natur des Trägers erworbener Rechte nach zwei Seiten
hin in enge Gränzen zu verweiſen.
Dem neuen Geſetze könnte höchſtens ſeine rechtmäßige
Einwirkung beſtritten werden, ſo lange der Träger eines
erworbenen Rechts lebt. Hinterläßt er Erben, ſo haben
dieſe zur Zeit der Erſcheinung des neuen Geſetzes kein ver-
letzbares erworbenes Recht. Mit anderen Worten: Alles
Erbrecht iſt rein poſitiv, und wenn daſſelbe durch ein neues
Geſetz an gewiſſe Bedingungen und Schranken geknüpft
wird, ſo kann darin niemals ein Eingriff in erworbene
Rechte gefunden werden. Wir wollen Dieſes auf den
oben als Beiſpiel gewählten Fall anwenden. Wenn das
neue Geſetz, welches die Sklaverei beſeitigen wollte, die
Beſtimmung gäbe, daß in Zukunft kein Erbe durch Erbfolge
das Eigenthum von Sklaven erwerben könnte, ſo läge
darin gewiß nicht die Verletzung eines erworbenen Rechts.
Dieſe Betrachtung gründete ſich auf das nahe Ende
jedes menſchlichen Lebens. Eben dahin aber führt die Er-
wägung des Anfangs. Jeder Menſch muß den Rechts-
zuſtand anerkennen, den er bei ſeiner Geburt beſtimmt
findet. Wenn alſo vor ſeiner Geburt ein Rechtsinſtitut
durch neues Geſetz aufgehoben oder umgebildet wird, ſo
kann wenigſtens ihm nicht ein erworbenes Recht dadurch
verletzt ſeyn (e).
(e) Meyer p. 34. 35. Vgl. oben § 395. b. — Ein Geſetz, wel-
ches die Lehen oder Fideicommiſſe aufhebt, verletzt daher gewiß
nicht die Rechte Derjenigen, die erſt ſpäter erzeugt werden.
VIII. 35
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
Durch dieſe Gründe ſollte jedoch nur die Behauptung un-
bedingter Rechtswidrigkeit aller Geſetze der hier betrachteten
Art widerlegt werden. Ich bin aber weit entfernt, damit
der ſchrankenloſen und willkürlichen Einwirkung durch ſolche
Geſetze das Wort reden zu wollen. Es ſollte vielmehr die
ganze Frage von dem abſoluten Rechtsboden entfernt, und
in das Gebiet der Geſetzgebungspolitik hinüber geleitet
werden, wo ihr wahrer Sitz iſt, und wo vielen verderb-
lichen Mißgriffen entgegen gewirkt werden kann durch die
ernſte Aufforderung zur Vorſicht, Beſonnenheit und
Mäßigung. Die Hauptgeſichtspunkte, worauf es ankommt,
möchten etwa folgende ſeyn.
Die erſte Vorſicht muß dahin gehen, nicht leichtſinnig
zu verfahren, nicht ohne Noth ein Bedürfniß zu Geſetzen
ſolcher Art anzunehmen, alſo mißtrauiſch zu ſeyn gegen die
aus bloßen Theorien abgeleitete, durch angebliche öffentliche
Meinung unterſtützte, Behauptung, daß das gemeine Wohl
eine Neuerung erfordere.
Zweitens iſt in die Ausführung die höchſte Schonung
und Billigkeit zu legen. Dieſe wird bei den meiſten und
wichtigſten Geſetzen dieſer Klaſſe, die ſich auf ſtets fort-
währende Rechtsverhältniſſe beziehen (§ 399. I.), darin be-
ſtehen müſſen, daß ein Rechtsinſtitut nicht aufgehoben,
ſondern umgebildet, das Rechtsverhältniß aus einem unab-
löslichen in ein ablösliches verwandelt werde. Wird in
dieſer Weiſe auf eine wahre, vollſtändige Entſchädigung
des Berechtigten hingewirkt, ſo hat das Geſetz ſeinen Be-
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§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.
ruf erfüllt. Dieſes iſt nicht ſchwer in den zahlreichen Fällen
der Reallaſten aller Art, bei welchen in der Regel nur
zwei Perſonen einander gegenüber ſtehen. Jeder wahre
politiſche oder volkswirthſchaftliche Zweck wird durch die
Ablöſung mit Entſchädigung vollſtändig erreicht, ohne Be-
reicherung des einen Theils auf Koſten des anderen, die
durch die Natur ſolcher Geſetze auf keine Weiſe zu recht-
fertigen iſt.
Ein großartiges Beiſpiel ſolcher Entſchädigung iſt in
neuerer Zeit durch die Engliſche Sklavenemancipation gege-
ben worden, indem der Staat die Eigenthümer der Sklaven
aus ſeinem Vermögen für den verlornen Werth entſchädigte.
Sehr ſchwierig iſt die Löſung dieſer Aufgabe bei der
Aufhebung von Lehen und Fideicommiſſen, indem hier die
Anſprüche und Erwartungen der zur Nachfolge berechtigten
einzelnen Perſonen in hohem Grade ungewiß ſind. Eine
Verminderung des Nachtheils kann darin geſucht werden,
daß die Ausführung etwas verſchoben wird (§ 399. o).
In manchen Fällen iſt gar keine Entſchädigung nöthig,
ſondern nur die Vermittlung eines Uebergangs, welche zur
Abwendung jedes möglichen Nachtheils hinreichend ſeyn
kann. So iſt es geſchehen in den zahlreichen Fällen, in
welchen die Preußiſche Hypothekenordnung an die Stelle
des bisher geltenden gemeinrechtlichen Pfandrechts geſetzt
wurde. Es kam dabei nur darauf an, den bisherigen
Pfandgläubigern ihr Recht und ihre Priorität zu erhalten.
Dieſes geſchah, indem ſie öffentlich aufgefordert wurden’
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
ſich binnen einer beſtimmten Friſt zu melden, um in die
neuen Hypothekenbücher nach der Rangordnung, die ihnen
ihr bisheriges Recht anwies, eingetragen zu werden.
Nicht einmal einer ſolchen Vorkehrung, noch weniger
einer Entſchädigung, bedurfte es, als Juſtinian das bis
dahin beſtehende zweifache Eigenthum aufhob (§ 299. n).
Denn durch dieſe Veränderung verlor Niemand ein Recht
oder einen Vortheil, und es wurde nur der vom Geſetz-
geber ſelbſt ausgeſprochene Zweck erreicht, die Gemüther
der ſtudirenden Jugend von dem Schrecken zu befreien, den
ihnen bis dahin die in dieſer Lehre erhaltene unnütze Ge-
lehrſamkeit eingeflößt hatte.
Berlin, gedruckt in der Deckerſchen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei.
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