|0001|
|0002|
|0003|
|0004|
|0005|
|0006|
|0007 : [I]|
Syſtem
des
heutigen Römiſchen Rechts
von
Friedrich Carl von Savigny.
Sechster Band.
Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.
Berlin.
Bei Veit und Comp.
1847.
|0008 : [II]|
|0009 : [III]|
Vorrede der erſten Abtheilung
(§. 256—279).
Die lange Unterbrechung des vorliegenden Werkes
iſt nicht durch verminderte Neigung zu dieſer Arbeit,
ſondern allein durch die Menge unabweislicher an-
derer Arbeiten bewirkt worden. Um Dieſes durch
die That zu bewähren, die mehr, als eine bloße
Verſicherung, Eindruck zu machen geeignet iſt, habe
ich es für beſſer gehalten, den einzelnen Abſchnitt
des ſechsten Bandes, zu deſſen Ausarbeitung ſich
gerade die nöthige Zeit gewinnen ließ, abgeſondert
erſcheinen zu laſſen, als die Vollendung des ganzen
Bandes abzuwarten. Es wird jedoch durch fort-
laufende Seitenzahlen in der zweiten Abtheilung
(welche die Lehre vom Urtheil enthalten ſoll) dafür
geſorgt werden, daß der ſechste Band auch in der
|0010 : IV|
Vorrede.
äußeren Erſcheinung mit den vorhergehenden Bänden
gleichförmig werde.
Den bisher erſchienenen Theilen dieſer Arbeit
iſt von manchen Seiten der nicht unerwartete Vor-
wurf gemacht worden, daß der, als eine Darſtellung
des heutigen Rechts bezeichnete, Plan des Werkes
durch unverhältnißmäßige Einmiſchung hiſtoriſcher
Unterſuchungen oft verlaſſen und geſtört werde.
Dieſem Vorwurf wird ohne Zweifel auch der gegen-
wärtige Abſchnitt nicht entgehen. Zwar iſt der
Gegenſtand deſſelben ſo praktiſch, als irgend ein
Stück unſres Rechtsſyſtems; allein die vorliegende
Behandlung deſſelben hat ſich allerdings von aus-
führlichen hiſtoriſchen Unterſuchungen nicht frei hal-
ten können. Auch werden dieſe Unterſuchungen
beſonders dadurch bei Manchen Anſtoß erregen,
daß ſie großentheils in dem letzten Ziel mit den
Anſichten Anderer übereinſtimmen, und nur den
Weg, auf welchem Dieſe zu dem gemeinſamen Ziel
gelangen wollen, als irrig darzuſtellen ſuchen. Ein
Verfahren ſolcher Art wird von nicht Wenigen als
unpraktiſch angeſehen.
Indeſſen kann ich mich, auch bei ſorgfältigem
Rückblick auf den jetzt beendigten Abſchnitt, nicht
|0011 : V|
Vorrede.
überzeugen, daß derſelbe irgend Etwas enthalte, das
nicht nothwendig wäre, um über den hier behandel-
ten Gegenſtand zu wirklicher Einſicht und Überzeu-
gung zu gelangen. Ich weiß in der That hierüber
Nichts zu Dem hinzuzufügen, welches ſchon in der
Vorrede des erſten Bandes (S. XXXII. fg.) geſagt
worden iſt. So werden alſo auch ferner verſchie-
dene Meinungen über das in dieſer Arbeit einge-
haltene richtige Maaß kaum zu vermeiden ſeyn.
Geſchrieben im October 1846.
|0012 : [VI]|
Vorrede der zweiten Abtheilung
(§. 280—301).
Durch die der zweiten Abtheilung gegebene Ein-
richtung iſt die bei der erſten gegebene Zuſage in
Erfüllung gegangen, ſo daß jetzt der ſechste Band
mit den früheren Bänden durchaus gleichförmig
geworden iſt.
Geſchrieben im Julius 1847.
|0013 : VII|
Inhalt des ſechsten Bandes.
Zweites Buch. Die Rechtsverhältniſſe.
Viertes Kapitel. Verletzung der Rechte.
Seite
§. 256. Litis Conteſtation. Einleitung 1
§. 257. Weſen der Litis Conteſtation. — I. Römiſches
Recht 8
§. 258. Weſen der Litis Conteſtation — I. Römiſches
Recht. (Fortſetzung.) 23
§. 259. Weſen der Litis Conteſtation. — II. Canoniſches
Recht und Reichsgeſetze 36
§. 260. Wirkung der Litis Conteſtation. — Einleitung 48
§. 261. Wirkung der Litis Conteſtation. — I. Verurtheilung
ſelbſt geſichert 54
§. 262. Wirkung der Litis Conteſtation. — I. Verurtheilung
ſelbſt geſichert (Fortſetzung.) 63
§. 263. Wirkung der Litis Conteſtation. — I. Verurtheilung
ſelbſt geſichert (Fortſetzung.) 73
|0014 : VIII|
Inhalt des ſechsten Bandes.
Seite.
§. 264. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der
Verurtheilung. Einleitung 78
§. 265. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der
Verurtheilung. — a) Erweiterungen 101
§. 266. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.
(Fortſetzung) 106
§. 267. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der
Verurtheilung. — a) Erweiterungen. (Ver-
ſäumte Früchte.) 113
§. 268. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.
(Prozeßzinſen.) 121
§. 269. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.
(Prozeßzinſen. Fortſetzung.) 133
§. 270. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.
(Prozeßzinſen. Fortſetzung.) 138
§. 271. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.
(Prozeßzinſen. Fortſetzung.) 148
§. 272. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — b) Verminderungen 164
§. 273. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — b) Verminderungen.
(Fortſetzung.) 170
|0015 : IX|
Inhalt des ſechsten Bandes.
Seite.
§. 274. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — b) Verminderungen.
(Fortſetzung.) 183
§. 275. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — b) Verminderungen.
(Zeitpunkt der Schätzung.) 198
§. 276. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — b) Verminderungen.
(Zeitpunkt der Schätzung. L. 3 de cond.
tritic.) 216
§. 277. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang
der Verurtheilung. — b) Verminderungen.
(Preisveränderung.) 227
§. 278. Stellung der Litis Conteſtation und ihrer Folgen
im heutigen Recht 237
§. 279. Stellung der Litis Conteſtation und ihrer Folgen
im heutigen Recht. (Fortſetzung.) 246
§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung 257
§. 281. Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte 265
§. 282. Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte. (Fortſetzung.) 272
§. 283. Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte. (Fortſetzung.) 280
§. 284. Rechtskraft. I. Bedingungen. A. Formelle 285
§. 285. Rechtskraft. I. Bedingungen. A. Formelle. (Fort-
ſetzung.) 295
§. 286. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des
Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —
Arten des Urtheils 300
|0016 : X|
Inhalt des ſechsten Bandes.
Seite.
§. 287. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des
Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —
Fall der Verurtheilung des Beklagten 313
§. 288. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des
Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —
Fall der Freiſprechung des Beklagten 320
§. 289. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des
Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —
Nicht: Verurtheilung des Klägers 328
§. 290. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des
Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —
Nicht: Verurtheilung des Klägers. (Fort-
ſetzung) 338
§. 291. Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft
der Gründe 350
§. 292. Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft
der Gründe. (Fortſetzung.) 370
§. 293. Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft
der Gründe. Schriftſteller 385
§. 294. Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft
der Gründe. Preußiſches Recht 394
§. 295. Rechtskraft. II. Wirkungen. Einleitung 409
§. 296. Einrede der Rechtskraft. Bedingungen. — Überſicht.
I. Dieſelbe Rechtsfrage 417
§. 297. Einrede der Rechtskraft. I. Dieſelbe Rechtsfrage 424
§. 298. Einrede der Rechtskraft. I. Dieſelbe Rechtsfrage.
Legitimationspunkt 429
|0017 : XI|
Inhalt des ſechsten Bandes.
Seite.
§. 299. Einrede der Rechtskraft. I. Dieſelbe Rechtsfrage.
Äußerer und juriſtiſcher Gegenſtand der Klage 443
§. 300. Einrede der Rechtskraft. I. Dieſelbe Rechtsfrage.
Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes 453
§. 301. Einrede der Rechtskraft. Bedingungen. II. Die-
ſelben Perſonen 466
Beilage XV. Appellatio und Provocatio 485
Beilage XVI. L. 7 de exceptione rei judicatae 501
Beilage XVII. Causa adjecta s. expressa 514
|0018|
|0019 : [1]|
§. 256.
Litisconteſtation. Einleitung.
Winckler Discrimen inter litis contestationem jure ve-
teri ac hodierno (Opuscula minora Vol. I. Lips. 1792.
8. p. 293—370).
Keller über Litisconteſtation und Urtheil. Zürich. 1827. 8.
Bethmann-Hollweg in: Mohl und Schrader Zeit-
ſchrift für Rechtswiſſ. B. 5 Stuttg. 1829 S. 65—97
(Rec. des Buchs von Keller).
Wächter Erörterungen aus dem Römiſchen, Deutſchen
und Württembergiſchen Privatrechte. Heft 2 und 3.
Stuttgart 1846. 8.
Die Aufgabe des Actionenrechts, in deſſen Mitte unſere
Unterſuchung ſich gegenwärtig befindet, wurde oben (§ 204)
dahin beſtimmt: die Veränderungen feſtzuſtellen, welche in
einem Rechte durch die Verletzung deſſelben, ſo wie durch
die zur Bekämpfung der Verletzung dienenden Anſtalten,
entſtehen.
Der geſammte Zuſtand, in welchen dieſe Veränderungen
fallen und aus welchem ſie entſpringen, iſt alſo hier zu-
nächſt als ein Zuſtand der Rechtsverletzung aufgefaßt
VI. 1
|0020 : 2|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
worden. Dieſe Auffaſſung iſt auch an ſich ganz richtig,
ja unentbehrlich; ſie muß aber jetzt noch durch eine andere
ergänzt werden, wenn eine vollſtändige Einſicht in die ver-
ſchiedenen Seiten, die dieſer Gegenſtand darbietet, erlangt
werden ſoll.
Nur in den ſeltenſten Fällen nämlich iſt die Rechtsver-
letzung eine anerkannte und zugeſtandene, bei welcher es
nur darauf ankommen kann, dem rechtswidrigen Willen
durch höhere Gewalt entgegen zu treten. Vielmehr wird
dieſelbe faſt immer von der einen Seite behauptet, von der
andern beſtritten werden, ſo daß dann das ganze Verhält-
niß zunächſt die Geſtalt eines Rechtsſtreits annimmt,
deſſen Entſcheidung vorhergehen muß, ehe eine Rechtsver-
letzung angenommen und ausgeglichen werden kann. Der
Rechtsſtreit nun läßt ſich ſtets in gegenſätzliche Behaup-
tungen der ſtreitenden Parteien, als in ſeine Elemente,
auflöſen, und dieſe Behauptungen, in ſofern ſie eine ſelbſt-
ſtändige Natur an ſich tragen, ſind unter dem Namen der
Klagen, Exceptionen, Replicationen und Duplicationen, in
dem vorhergehenden Bande dieſes Werks abgehandelt worden.
Auf ſie bezog ſich die erſte Klaſſe möglicher Verände-
rungen der Rechte, welche aus der bloßen Rechtsverletzung
(oder dem Rechtsſtreit) für ſich allein hervorgehen (§ 204).
Unſere Unterſuchung wendet ſich nunmehr zu der zweiten
Klaſſe ſolcher Veränderungen, welche nicht aus dem
Rechtsſtreit allein, ſondern aus den in denſelben eingrei-
fenden Prozeßhandlungen entſpringen.
|0021 : 3|
§. 256. Litisconteſtation. Einleitung.
Unter dieſen Prozeßhandlungen tritt uns zunächſt das
Urtheil entgegen, durch welches jeder Rechtsſtreit zur
Entſcheidung, alſo die angebliche Rechtsverletzung entweder
zur Verneinung, oder zur Anerkennung und Ausgleichung,
gebracht werden muß. Die Frage, ob und wie das Urtheil
in den Inhalt und Umfang der Rechte ſelbſt verändernd
einwirken kann, iſt in der That unabweislich, ja ſie iſt
unter allen, die hier aufgeworfen werden können, die wich-
tigſte; aber ausreichend iſt dieſe Frage nicht.
Sie würde nur dann als ausreichend gelten können,
wenn es möglich wäre, jeden Rechtsſtreit, ſobald er vor
den Richter gebracht wird, unmittelbar durch das Urtheil
zu beendigen. Dieſes iſt jedoch nur in den ſeltenſten Fäl-
len möglich. Faſt immer iſt Zeit, und oft ſehr lange Zeit,
nöthig, damit ein unabänderliches Urtheil mit ſicherer Über-
zeugung geſprochen werden könne. Gerade in dieſer Zeit
aber können wichtige Umwandlungen in dem ſtreitigen
Rechtsverhältniß eintreten, und wenn dieſes geſchieht, wird
oft das am Ende ausgeſprochene, die Rechtsverletzung an-
erkennende, Urtheil, die Ausgleichung gar nicht, oder nur
unvollſtändig gewähren, wozu doch die Rechtspflege be-
ſtimmt iſt.
Wenngleich nun dieſe Verzögerung des Urtheils nebſt
ihren nachtheiligen Folgen mit der Ausübung des Richter-
amts unzertrennlich verbunden, alſo unvermeidlich iſt, ſo
müſſen wir ſie dennoch als ein Übel anerkennen, welches
durch künſtliche Anſtalten auszugleichen unſre Aufgabe iſt.
1*
|0022 : 4|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Der Grund des erwähnten nothwendigen Übels liegt
darin, daß der Anfang und das Ende des Rechtsſtreits
(Klage und Urtheil) nicht gleichzeitig ſind, daß ſie vielmehr
durch einen Zeitraum getrennt werden, in welchem für das
Rechtsverhältniß Umwandlungen eintreten können. Die
Ausgleichung des Übels wird darin beſtehen müſſen, daß
das Urtheil ſich nicht darauf beſchränkt, über das urſprüng-
lich vorhandene Recht zu entſcheiden, ſondern zugleich die
Folgen dieſer Umwandlungen auszutilgen ſucht.
Die allgemeine Richtung, welche dieſer Theil der rich-
terlichen Entſcheidung zu befolgen hat, läßt ſich in folgender
Formel ausdrücken:
Es iſt derjenige Zuſtand künſtlich hervorzubringen,
welcher natürlich vorhanden ſeyn würde, wenn es
möglich geweſen wäre, das Urtheil im Anfang des
Rechtsſtreits auszuſprechen.
Jedoch iſt gleich hier wohl zu beachten, daß dieſe For-
mel blos die durch die Natur der Aufgabe gegebene allge-
meine Richtung der Löſung ausdrücken ſoll, und daß eine
unbedingte, auf dem Wege einer bloßen logiſchen Folge-
rung zu vermittelnde, Anwendung derſelben keinesweges
gemeint ſeyn kann.
Zur vollſtändigen Löſung der hier geſtellten Aufgabe
kommt es zunächſt darauf an, den Anfang des Rechts-
ſtreits feſtzuſtellen, indem nur dadurch der Zeitraum genau
begränzt werden kann, in welchem die durch das Urtheil
auszutilgenden Umwandlungen eingetreten ſeyn müſſen.
|0023 : 5|
§. 256. Litisconteſtation. Einleitung.
Das Römiſche Recht ſetzt dieſen Anfang in die Litis-
conteſtation. Dieſe werden wir als die Prozeßhandlung
aufzufaſſen haben, welche zunächſt als Anfangspunkt des
Rechtsſtreits, zugleich aber auch (welches nur eine ergän-
zende Auffaſſung iſt) als Entſtehungsgrund der beſonderen
Rechtsanſprüche anzuſehen iſt, die durch den oben an-
gedeuteten Theil des Urtheils ihre Befriedigung erhalten
ſollen.
Vor allem iſt nun das Weſen der Litisconteſtation
feſtzuſtellen. Dieſe Unterſuchung wird dadurch nicht wenig
erſchwert, daß ſchon bei den Römern dieſe Prozeßhandlung
wichtige Umbildungen erfahren hat. Noch ſtärker waren
dieſe in der Geſetzgebung und Praxis neuerer Zeiten.
Dennoch iſt zu allen Zeiten, und ſelbſt bei den neueſten
Schriftſtellern, der Begriff und der Name jenes Rechts-
inſtituts feſtgehalten worden, wenngleich über die nähere
Beſtimmung des Begriffs die Anſichten oft ſehr aus ein-
ander gehen.
Hieran muß ſich dann der größere und wichtigere Theil
unſerer Unterſuchung anknüpfen, welcher die Wirkungen
der Litisconteſtation zum Gegenſtand hat. Die Aufgabe
des richterlichen Urtheils, welche oben nur in einer allge-
meinen Formel vorläufig angedeutet war, iſt in ihre Ele-
mente zu zerlegen, wodurch allein die Einſicht gewonnen
werden kann, welche Beſtimmungen in das Urtheil aufge-
nommen werden müſſen, um die nachtheiligen Folgen der
unvermeidlichen Dauer des Rechtsſtreits zu abſorbiren.
|0024 : 6|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wenn nun ſo eben behauptet worden iſt, daß der Begriff
der Litisconteſtation von allen, ſelbſt den neueſten, Schrift-
ſtellern feſtgehalten und nur auf verſchiedene Weiſe beſtimmt
worden ſey, ſo iſt davon noch ganz unabhängig die Frage,
ob auch noch im heutigen gemeinen Recht die darzuſtel-
lenden einzelnen Wirkungen an die Litisconteſtation ange-
knüpft ſind. Es läßt ſich nämlich ſehr wohl die Behaup-
tung denken, es ſey zwar ein beſtimmter, auf der nachzu-
weiſenden Entwicklung des Römiſchen Rechts beruhender,
Begriff der Litisconteſtation auch für uns vorhanden; allein
die Wirkungen, die das Römiſche Recht an die Litiscon-
teſtation knüpft, ſeyen in dem heutigen Recht, alle oder
zum Theil, auf eine andere Prozeßhandlung übergegangen.
Nach dieſer möglichen Behauptung wäre mithin ein anderer
Zeitpunkt für den Anfang des Rechtsſtreits anzunehmen,
ſey es allgemein, oder wenigſtens in Beziehung auf ein-
zelne Wirkungen die das Römiſche Recht an die Litis-
conteſtation anknüpft.
Da die Unterſuchung dieſer höchſt wichtigen Frage mit
den einzelnen Wirkungen in Verbindung ſteht, ſo kann die-
ſelbe auf befriedigende Weiſe erſt am Schluß der ganzen
Lehre von der Litisconteſtation unternommen werden (a).
(a) Eigentlich kommt dieſe Frage
in zwei verſchiedenen Geſtalten vor,
deren Prüfung an zwei verſchiede-
nen Orten unternommen werden
mußte. Erſtlich iſt von vielen be-
hauptet worden, ſchon im R. R.,
und zwar ſelbſt von Hadrian an,
ſeyen die Wirkungen der L. C. auf
einen früheren Zeitpunkt des Rechts-
ſtreits zurück verlegt worden. Da-
von mußte, des Zuſammenhangs
wegen, im § 264 gehandelt wer-
|0025 : 7|
§. 256. Litisconteſtation. Einleitung.
Der Zweck des ganzen Rechtsinſtituts, deſſen Darſtel-
lung uns gegenwärtig beſchäftigt, geht auf Beſeitigung des
nothwendigen Übels, welches in der Dauer des Rechts-
ſtreits liegt, und zwar ſoll hier dieſer Zweck erreicht werden
durch ausgleichende Beſtimmungen in dem Urtheil über den
Rechtsſtreit. Es macht daher dieſes Inſtitut einen weſent-
lichen Theil des materiellen Rechts, und zwar des Actio-
nenrechts (§ 204) aus, und kann in unſrem Syſtem nur
hier ſeine Stelle finden.
Allein den angegebenen praktiſchen Zweck haben mit
ihm gar manche andere Rechtsinſtitute gemein, über welche
in dieſer Beziehung hier eine allgemeine Ueberſicht nicht an
unrechter Stelle ſeyn wird.
Dahin gehören zuerſt alle Maaßregeln, die auf Abkür-
zung und Beſchleunigung der Prozeſſe hinwirken ſollen.
So enthielt das ältere Römiſche Recht die ſtark eingrei-
fende Regel, daß jeder Prozeß verloren ſeyn ſolle, wenn
nicht in einer ſehr mäßigen Zeit das Urtheil erfolge (b);
dadurch wurde der Kläger zur eifrigen Betreibung der
Sache aufgefordert. Das neueſte Recht hat dieſe Vor-
ſchrift ganz aufgegeben.
Ferner kann jede gerechte Entſcheidung, und ſo auch
den. Zweitens wird eine Verän-
derung dieſer Art für das heutige
Recht behauptet; davon wird am
Schluß gehandelt (§ 278. 279).
(b) Gajus IV. § 104. 105. Ein
legitimum judicium ſollte auf-
hören mit dem Ablauf von Acht-
zehn Monaten; ein judicium quod
imperio continetur mit dem Ende
der Magiſtratur, von welcher der
Juder beſtellt war. Eine Erneue-
rung derſelben Klage war unmög-
lich, weil ſie in judicium deducirt,
alſo conſumirt war.
|0026 : 8|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
der Vortheil, der von dem Inſtitut der Litisconteſtation mit
ihren Wirkungen erwartet wird, auf faktiſche Weiſe ganz
oder theilweiſe vereitelt werden, indem nämlich eine Sache
zerſtört oder veräußert, oder indem das Vermögen eines
Schuldners erſchöpft wird. Dieſe Gefahren abzuwenden
oder zu vermindern, dienen zuerſt manche wichtige Prozeß-
inſtitute, wie die Prozeßcautionen, Arreſte und Sequeſtra-
tionen, die missio in possessionem. Außerdem dienten zu
demſelben Zweck manche Inſtitute des materiellen Rechts:
ſo die Geſetze gegen die Veräußerung des Eigenthums und
die Ceſſion von Schuldforderungen, ſobald eines dieſer
Rechte Gegenſtand eines Rechtsſtreits geworden war (res
litigiosa, actio litigiosa).
Wollte man dieſe Rechtsinſtitute wegen des überein-
ſtimmenden praktiſchen Zweckes, neben der Litisconteſtation
abhandeln, ſo würde daraus nur Verwirrung hervorgehen
können. Die meiſten derſelben können nur in dem Zuſam-
menhang des Prozeßrechts ihre rechte Stelle finden; und
auch diejenigen, welche in der That dem materiellen Rechte
angehören (wie das litigiosum), ſind doch nicht hier, ſon-
dern in Verbindung mit der Lehre vom Eigenthum oder
der Ceſſion, abzuhandeln.
§. 257.
Weſen der Litis Conteſtation. — I. R. R.
Der Standpunkt, den wir in dieſer Unterſuchung zu
nehmen haben, um zu einer befriedigenden Einſicht in den
|0027 : 9|
§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.
Inhalt unſrer Rechtsquellen zu gelangen, iſt das Zeit-
alter des Formularprozeſſes, oder der vorherrſchenden ordi-
naria judicia. Das Recht der früheren Zeit kann dabei
nicht mehr in Betracht kommen. Dagegen iſt allerdings
eine beſondere Rückſicht nöthig auf die Behandlung dieſes
Gegenſtandes in dem extraordinarium judicium, welches
ſchon frühe als Ausnahme in dem Zeitalter des Formular-
prozeſſes vorkam. Die Feſtſtellung dieſes exceptionellen
Zuſtandes wird dann den Uebergang bilden zu dem ſpäte-
ren R. R., in welchem der ordo judiciorum völlig ver-
ſchwindet, alſo die frühere Ausnahme als einzige Regel
erſcheint.
Ich will damit anfangen, den Rechtszuſtand, der in
den Stellen der alten Juriſten ſtets vorausgeſetzt werden
muß, im Zuſammenhang darzuſtellen, und dann erſt die
Rechtfertigung der einzelnen Sätze hinzufügen.
Die Litisconteſtation iſt (zu jener Zeit) eine Verhand-
lung der ſtreitenden Parteien vor dem Prätor, worin beide
den Streit durch gegenſeitige Erklärungen dergeſtalt feſt-
ſtellen, daß derſelbe zum Uebergang an den Juder reif
wird. Dieſe Verhandlung iſt der letzte Akt des Jus, das
heißt des vor dem Prätor vorgehenden Theils des Pro-
zeſſes; ſie iſt gleichzeitig mit der von dem Prätor ertheilten
formula (a), ſetzt alſo die Ernennung des Juder voraus,
da deſſen Perſon in der formula bezeichnet wird.
(a) Wenn es blos darauf an-
kam, den Zeitpunkt zu bezeichnen,
von welchem an gewiſſe Wirkungen
im Prozeß eintreten ſollten, ſo
|0028 : 10|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Da jene Verhandlung dazu beſtimmt war, den Streit
vollſtändig feſtzuſtellen, ſo durfte ſie ſich nicht auf eine
bloße Erklärung über die Thatſachen beſchränken, ſie mußte
vielmehr auch die Exceptionen, Replicationen und Dupli-
cationen umfaſſen, alſo den ganzen Inhalt der formula in
ſich aufnehmen, ſo daß die formula unmittelbar aus der
Verhandlung entnommen werden konnte (b).
Der Name der L. C. iſt von einem einzelnen Beſtand-
theil der ganzen Handlung hergenommen. Beide Par-
teien riefen dabei gemeinſchaftlich Zeugen auf, mit dem
Ausdruck: testes estote. — Dieſe Zeugen nun dürfen
durchaus nicht als die Beweiszeugen gedacht werden, nach
deren Ausſage künftig der Juder entſcheiden ſollte; ſolche
kommen in vielen Prozeſſen überhaupt nicht vor, und in
keinem Fall war jetzt ſchon die Zeit zu ihrer Vernehmung,
alſo auch kein Bedürfniß zu ihrer Vorführung, gekommen.
Vielmehr ſollten die Zeugen, die bei der L. C. erwähnt
werden, den Inhalt der gegenwärtigen Verhandlung an-
hören und künftig, wenn darüber Zweifel entſtände, be-
konnte man eben ſowohl die for-
mula concepta, als die L. C.,
angeben, oder auch mit beiden
Ausdrücken abwechſeln. Daß dieſes
nicht geſchehen, ſondern ſtets nur
die L. C. genannt worden iſt, er-
klärt ſich aus ihrer Vertragsnatur
(§ 258), von welcher ſogleich die
Rede ſein wird.
(b) Auf dieſen erſchöpfenden In-
halt der L. C darf jedoch nicht
allzu großes Gewicht gelegt wer-
den, da er in der That nur für
die ſtrengen Klagen als allgemein
durchgeführt angeſehen werden kann.
In den freyen Klagen konnte ſich
der Beklagte vorläufig mit einem
allgemeinen Widerſpruch begnügen,
und dennoch vor dem Juder Ex-
ceptionen geltend machen. (B. 5
S. 466).
|0029 : 11|
§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.
zeugen; ſie ſollten als lebendiges Protokoll dienen. Dazu
konnte allerdings eher in dem blos mündlichen Prozeß der
alten legis actiones ein Bedürfniß wahrgenommen werden,
als neben der ſchriftlich abgefaßten formula (c). Dennoch
kann ſich auch neben dem Formularprozeß dieſe Handlung,
wie ſo vieles Andere, als formelle Erinnerung an einen
älteren reellen Gebrauch erhalten haben; in jedem Fall
aber konnte ſich der Name erhalten, nachdem man längſt
aufgehört hatte, auch nur zum Schein Zeugen aufzurufen.
Die Hauptſtelle über das hier behauptete Weſen der
L. C. findet ſich bei Feſtus (im Auszug des P. Diaconus)
unter dem Wort Contestari, und lautet alſo:
Contestari est, cum uterque reus dicit: Testes estote.
Contestari litem dicuntur duo aut plures adver-
sarii, quod ordinato judicio utraque pars dicere solet:
Testes estote.
Hier wird der Ausdruck: contestari daraus erklärt,
daß mehrere Perſonen gemeinſchaftlich die Zeugen an-
rufen (d), und es wird in Anwendung auf den Prozeß
(alſo auf die litis contestatio) ausdrücklich bemerkt, daß
beide Parteien dieſe Handlung vornahmen. Es wird
hinzugefügt, die Handlung ſey geſchehen ordinato judicio,
d. h. alſo auch nachdem eine beſtimmte Perſon zum Juder
ernannt war, indem dieſe Ernennung weſentlich zur An-
(c) Keller § 1.
(d) Eben ſo wie compromissa
pecunia, weil beide Parteyen eine
Strafe verſprechen für den Fall des
Ungehorſams gegen den Schieds-
richter.
|0030 : 12|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ordnung des Judicium gehörte (e). Der Eingang aber,
in Verbindung mit dem nachfolgenden Haupttheil der
Stelle, deutet an, daß dieſe Handlung mit der angegebenen
Benennung auch zu anderen Zwecken vorgekommen ſey (f),
wodurch alſo die litis contestatio nur als einer unter
mehreren Fällen einer ſolchen feyerlichen Handlung be-
zeichnet wird.
Obgleich nun Feſtus den Ausdruck litem contestari auf
beide Parteien gleichmäßig bezieht, ſo geht doch der weit
überwiegende Sprachgebrauch dahin, die Handlung des
Klägers mit litem contestari, die des Beklagten mit judi-
dicium accipere oder suscipere zu bezeichnen (g).
Contestari iſt übrigens ein Deponens, ſo daß nach der
grammatiſchen Regel eigentlich nur von der Partei geſagt
(e) So wird auch anderwärts
ordinatum judicium, ordinata
lis oder causa gleichbedeutend ge-
braucht mit litis contestatio.
L. 24 pr. § 1. 2. 3, L. 25 § 2
de lib. causa (40. 12). — Eben-
ſo wird der Zeitpunkt der L. C.
bezeichnet mit den Worten: statim
atque judex factus est. L. 25
§ 8 de aedil. ed. (21. 1). Näm-
lich die Ernennung des Judex,
die L. C., und die Conception der
Formel, ſind fortlaufende Theile
deſſelben Prozeßaktes und liegen
der Zeit nach nicht aus einander,
ſo daß man das Eine wie das
Andere als Bezeichnung eines und
deſſelben Zeitpunktes gebrauchen
kann.
(f) So bei dem Teſtament die
suprema contestatio. L. 20 § 8
qui test. (28. 1) — Bei Ulpian.
XX. 9 heißt es dafür testatio,
gleichbedeutend mit nuncupatio;
bei Gajus II. § 104 blos nun-
cupatio. — Uebrigens kommt an-
ſtatt litis contestatio auch judi-
cium contestatum vor. L. 7 § 1
de her. pet. (5. 3) L. 19 sol.
matr. (24. 3); dagegen finde ich
contestatio allein, ohne lis oder
judicium, in dieſem Sinn nicht.
Denn in L. 1 § 1 C. de pet. her.
(3. 31) iſt das contestationis blos
eine verweiſende Wiederholung des
unmittelbar vorhergehenden Aus-
drucks litis contestationem (ſ. u.
§ 271 b).
(g) Winckler p. 298. Keller
§ 6.
|0031 : 13|
§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.
werden dürfte: litem contestatur, litem contestatus est.
Indeſſen iſt der paſſive Gebrauch des Wortes (alſo lis
contestatur, lis contestata) ſo häufig, daß das Verhältniß
von Regel und Ausnahme völlig verſchwindet. Aus den
Digeſten dafür Beiſpiele anzuführen, würde bei der großen
Zahl derſelben ganz überflüſſig ſein. Damit man aber
nicht glaube, daß ſolche Beiſpiele blos hier, als Zeichen
ſinkender Latinität, zu ſuchen ſeyen, muß bemerkt werden,
daß derſelbe Sprachgebrauch auch ſchon in der beſten Zeit
vorkommt, namentlich bei Cicero (h), bei Aufidius, einem
Schüler des Servius Sulpicius (i), in der Lex Rubria
de Gallia cisalpina (k), und in einer Rechtsregel, die
Gajus aus den Veteres anführt (l).
Die wichtigſte und beſtrittenſte Frage bleibt bei Feſtus
unentſchieden: ob nämlich die L. C. in das Jus fällt oder
in das Judicium, d. h. ob ſie die letzte Handlung vor dem
Prätor war, oder die erſte vor dem Judex. Beides ließe
(h) Pro Roscio Com. C. 11
und C. 12 „lis contestata“. —
Pro Flacco C. 11 „ab hac per-
enni contestataque virtute ma-
jorum.“
(i) Priscian. Lib. 8 C. 4
§ 18: „P. Aufidius: si quis alio
vocitatur nomine tum cum lis
contestatur, atque olim vocita-
batur, contestari passive po-
suit.“ Priſcian führt es als eine
grammatiſche Anomalie an. — Die
Ausgaben leſen hier ganz ſinnlos:
illis contestatur oder his con-
testatur (p. 371 ed. Krehl,
p. 791 (793) ed Putsch). Die
richtige Leſeart iſt hergeſtellt und
mit einer vortrefflichen ſachlichen
Erklärung der Stelle begleitet von
Huſchke, Zeitſchrift f. geſchichtl.
Rechtswiſſ. B. 10 S. 339. 340.
(k) Col. 1 lin. 48 quos inter
id judicium accipietur „leisve
contestabitur.“
(l) Gajus III. § 180 „apud
veteres scriptum est: ante
litem contestatam dare debi-
torem oportere, post litem
contestatam condemnari opor-
tere.“
|0032 : 14|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſich, nach der allgemeinen Beſtimmung der L. C., denken,
und das praktiſche Reſultat würde in beiden Fälleu nicht
ſehr verſchieden ſeyn. Beide Meinungen haben ihre Ver-
theidiger gefunden, allein die erſte iſt durch ſichere
Schlüſſe aus ſo vielen einzelnen Stellen begründet wor-
den (m), daß die Frage nunmehr als völlig entſchieden
betrachtet werden darf. Der vollſtändigſte Beweis dafür,
daß die L. C. vor dem Prätor vollzogen wurde, ergiebt
ſich aber aus folgender weiteren Betrachtung. Wenn die
die L. C. vor dem Prätor vorging, ſo war es gewiß ſehr
zweckmäßig, den künftigen Judex der Handlung beiwohnen
zu laſſen, und ich zweifle nicht, daß dieſes geſchehen ſeyn
wird, wenn der Judex zufällig gegenwärtig war, oder
wenn die Parteien ihn mit ſich vor den Prätor geführt
hatten. Darauf deutet nun in der That eine Stelle des
Papinian, nach welcher die Gegenwart und das Bewußt-
ſeyn des Judex bei deſſen Ernennung (addictio) nicht
nöthig ſeyn ſoll (n); woraus Papinian ſchließt, auch
ein Wahnſinniger könne zum Judex ernannt werden, und
dieſe Ernennung ſey wirkſam, wenn er nur nachher wieder
(m) Winckler § 3. 4. Keller
§ 1 — 5. — Die einzige ſchein-
bare Stelle für die entgegenge-
ſetzte Anſicht (L. un. C. de L. C.)
wird unten erklärt werden.
(n) L. 39. pr. de jud. (5. 1.)
„Cum furiosus judex addicitur
non minus judicium erit, quod
hodie non potest judicare ....
neque enim in addicendo prae-
sentia vel scientia judicis ne-
cessaria est“ Offenbar iſt hier
die addictio judicis als der Zeit
nach zuſammenfallend gedacht mit
der L. C., dem judicium acceptum
oder ordinatum, denn es wird aus-
drücklich geſagt, es ſey ſchon jetzt
ein wirkliches judicium vor-
handen.
|0033 : 15|
§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.
zu Verſtand komme; ja das judicium ſey für ihn von der
Ernennung an wirklich vorhanden. Offenbar alſo nimmt
Papinian an, die Ernennung des Judex, und der wirk-
liche Anfang ſeines Judicium, alſo das acceptum oder
ordinatum judicium (d. h. die L. C.) könne in Abweſen-
heit des Judex Statt finden, woraus von ſelbſt folgt, daß
die L. C. nicht eine vor dem Judex vollzogene, alſo unter
deſſen Mitwirkung vorgenommene Handlung geweſen ſeyn
kann. Ein gleich entſcheidendes Zeugniß liegt in einer
Stelle des Paulus. Wenn ein Provinziale als Legat
nach Rom kam, ſo brauchte er ſich daſelbſt in der Regel
nicht verklagen zu laſſen. Ausnahmsweiſe aber war er
dennoch dazu verpflichtet, jedoch nur ſo, daß die L. C. in
Rom (vor dem Prätor) vollzogen, das Judicium aber in
der Provinz (vor einem daſelbſt lebenden Judex) geführt
wurde (o).
Um die Veränderungen verſtehen zu können, die ſich
im ſpäteren R. R. mit der Form der L. C. zugetragen
haben, iſt es nöthig, zuvor für die Zeit des Formular-
prozeſſes die Stellung anzugeben, welche ſie neben den
extraordinariis judiciis einnahm.
Es leuchtet ſogleich ein, daß ſie in dieſen nicht gedacht
werden darf als eine förmliche Handlung der Parteien in
(o) L. 28 § 4 de jud. (5. 1.)
„causa cognita adversus eum
judicium praetor dare debet,
ut lis contestetur, ita ut in
provinciam transferatur.“
|0034 : 16|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Verbindung mit der Abfaſſung der formula, und dazu
beſtimmt, den Uebergang des Rechtsſtreits an den Judex
zu vermitteln; denn bei den extraordinariis judiciis kam
weder ein Judex, noch eine formula vor, indem der ganze
Rechtsſtreit vor dem Magiſtratus von Anfang bis zu Ende
durchgeführt wurde. Da aber wegen der wichtigen prak-
tiſchen Folgen auch hier die L. C. nicht zu entbehren war,
ſo mußte man dafür einen Zeitpunkt aufſuchen, welcher
mit dem Zeitpunkt der förmlichen L. C. im ordentlichen
Prozeß am meiſten Analogie hatte. Es konnte nun kein
Zweifel ſeyn, dafür die Zeit anzunehmen, in welcher ſich
die Parteien vor dem Magiſtratus über ihre gegenſeitigen
Behauptungen und Anſprüche vollſtändig ausgeſprochen
hatten. Dieſes war weſentlich daſſelbe wie die eigentliche
L. C., und der Unterſchied lag lediglich in der äußeren
Form der Handlung.
Dieſe, nach innerer Wahrſcheinlichkeit kaum zweifel-
hafte Annahme findet ihre Beſtätigung in folgenden Zeug-
niſſen, deren Erklärung zugleich dazu dienen kann, manche
Zweifel und Mißverſtändniſſe unſrer Schriftſteller zu
beſeitigen.
1. L. un. C. de litis contestatione (3. 9.) von Seve-
rus et Antoninus 203.
„Res in judicium deducta non videtur, si tantum
postulatio simplex celebrata sit, vel actionis species
ante judicium reo cognita. Inter litem enim con-
testatam et editam actionem permultum interest.
|0035 : 17|
§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.
Lis enim tunc contestata videtur, cum judex per
narrationem negotii causam audire coeperit.“
Aus dieſer Stelle haben zuerſt Manche beweiſen wollen,
die L. C. ſey nicht vor dem Prätor, ſondern vor dem Judex
vollzogen worden (Note m), eine Meinung, die ſchon oben
widerlegt worden iſt. Es kommt alſo darauf an, den
Schein zu entfernen, der allerdings in der Stelle für dieſe
Meinung enthalten iſt, indem zu der Zeit, worin dieſelbe
niedergeſchrieben wurde, der Formularprozeß noch in voller
Kraft beſtand.
Einige ſagen, die Kaiſer hätten die oben angegebene
Natur der vor dem Magiſtratus vollzogenen L. C. bezeich-
nen wollen, und unter dem judex den Magiſtratus ver-
ſtanden (p). Dieſe Erklärung iſt nicht anzunehmen, denn
obgleich der Ausdruck judex nicht ſelten dieſe Bedeutung
hat, ſo können ihn doch unmöglich die Kaiſer, wenn ihnen
das ordinarium judicium vor Augen ſtand, in dieſer ano-
malen Bedeutung (für den Magiſtratus) gebrauchen, wo-
durch ſie faſt unvermeidlich mißverſtanden werden mußten.
Andere nehmen an, die Kaiſer hätten wirklich den Ma-
giſtratus genannt, und die Stelle habe nur durch eine
durchgreifende Interpolation ihre gegenwärtige Geſtalt er-
halten (q). Zu einer ſolchen Interpolation kann ich ein
(p) So die bei Keller § 5
Note 5 angeführten Schriftſteller. —
Ganz unbefriedigend ſcheint mir die
Erklärung von Zimmern Rechts-
geſchichte B. 3 § 119 Note 13:
„Die L. C. iſt bereits eingetreten,
wenn das Judicium erſt begonnen
hat.“ Ein ſolcher Schluß der
Stelle würde mit dem Anfang in
gar keinem Zuſammenhang ſtehen.
(q) Keller § 5.
VI. 2
|0036 : 18|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Bedürfniß nicht anerkennen, da die Stelle, wenn ſie den
Magiſtratus anſtatt des Judex erwähnte, ſowohl zu dem
älteren als zu dem neueren Recht paſſen würde. Auch für
die ältere Zeit konnte man ſagen, die L. C. ſey vollzogen,
ſobald der Prätor die Parteien über ihre Behauptungen
gehört, und dadurch das Material zur Conception der For-
mel erlangt hatte. Hätten nun die Compilatoren in dem
urſprünglichen Text der Stelle die Erwähnung des Prätors,
des Proconſuls, oder des Präſes vorgefunden, ſo wäre es
unbegreiflich, warum ſie dieſem den zu ihrer Zeit weniger
paſſenden Judex ſubſtituirt hätten; eine Veränderung in
umgekehrter Richtung wäre eher denkbar geweſen.
Die einfachſte Erkärung ſcheint mir die, nach welcher
die Kaiſer von einem einzelnen Rechtsfall ſprachen, der zu
den extraordinariis judiciis gehörte. Dann war der Aus-
druck judex für magistratus ganz paſſend und keinem
Mißverſtändniß ausgeſetzt; die Stelle gäbe dann ein treues
Bild von der Stellung der L. C. in den Prozeſſen dieſer
Klaſſe. Das Reſcript ſollte nämlich ſagen, was als
Surrogat der wirklichen L. C. in denjenigen Prozeſſen
gedacht werden müſſe, worin eine ſolche nicht vorkam.
Zu dieſem Zweck wurden allgemeine, beſchreibende Aus-
drücke gebraucht, die bei der Beſchreibung der wahren
L. C. (im ordentlichen Prozeß) in dieſer Zeit gewiß nicht
gebraucht worden wären, und die der Stelle den unver-
dienten Schein einer Interpolation geben. — Allerdings
ſagt die Stelle, wie wir ſie vor uns haben, nicht, daß
|0037 : 19|
§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.
von einem ſolchen Rechtsſtreit die Rede ſey; allein ſie iſt
ein Reſcript, das wir gewiß nur ſehr unvollſtändig vor
uns haben (r), und aus deſſen weggelaſſenem Eingang
jene Vorausſetzung unzweifelhaft hervorgehen mochte. Ge-
wiſſermaaßen nimmt auch dieſe Erklärung eine Inter-
polation an, aber eine ſolche, die nicht durch Veränderung
des Inhalts, ſondern durch bloße Weglaſſung anderer
Theile der Stelle bewirkt wurde.
2. L. 33 de Obl. et Act. (44. 7. Paulus lib. 3 De-
cretorum).
„Constitutionibus quibus ostenditur heredes poena
non teneri, placuit, si vivus conventus fuerat, etiam
poenae persecutionem transmissam videri: quasi lite
contestata cum mortuo.“
Nach einer alten Regel ſollten Pönalklagen nicht gegen
die Erben des Schuldners übergehen, außer wenn die
L. C. vollzogen worden war (s). Die vorliegende Stelle
nun ſpricht nicht von einer gewöhnlichen Pönalklage unter
Privatperſonen, die in das jus ordinarium gehört und
wobei jene Regel unmittelbar zur Anwendung kommt.
Sie ſpricht vielmehr von einer fiscaliſchen Strafe, die vor
den Fiscalbeamten verfolgt wird, alſo extra ordinem, ſo
daß dabei kein Judex und keine eigentliche L. C. vorkam (t).
(r) Dieſe Unvollſtändigkeit er-
hellt unwiderſprechlich ſchon aus
dem Umſtand, daß ein anderer
Theil derſelben Stelle als L. 3
C. de edendo (2. 1) in den Co-
dex aufgenommen worden iſt.
(s) S. o. B. 5 § 211 g.
(t) Dieſe Annahme wird durch
die Inſeription der Stelle beſtä-
tigt. Denn in demſelben lib. 3
2*
|0038 : 20|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Dabei mußte der Uebergang auf die Erben an eine der
L. C. analoge Handlung geknüpft werden. In dieſem
Sinn ſagt nun Paulus, der Uebergang auf die Erben
müſſe angenommen werden, wenn nur bei dem Leben des
jetzt Verſtorbenen die Klage eingeleitet war (u); denn dieſe
Einleitung der Klage ſey in den extraordinariis judiciis
als der Akt zu betrachten, welcher der wirklichen L. C.
im ordentlichen Prozeß entſpreche (quasi lite contestata
cum mortus) (v). — Dieſe Stelle hat von jeher großen
Anſtoß erregt. Indem man das conventus zu eng, von der
blos erhobenen Klage, verſtand, und die Stelle auf den
ordentlichen Prozeß bezog, ſuchte man dadurch zu helfen,
daß man ſie von ſolchen Fällen verſtand, in welchen die
L. C. vom Verſtorbenen abſichtlich verzögert worden war,
welches widerrechtliche Verfahren ihn nicht gegen den
Übergang auf ſeine Erben ſchützen ſollte (w). Haloander
deeretorum des Paulus kom-
men mehrere Stellen über Fiscal-
klagen vor dem procurator Cae-
saris vor.
(u) Das conventus fuerat darf
nur nicht zu eingeſchränkt von der
blos erhobenen Klage, verſtan-
den werden, ſo wie conventus
und petitum in mehreren Di-
geſtenſtellen auch bei dem ordent-
lichen Prozeß vorkommt, wo es
das convenire cum effectu, alſo
die Zeit der vollzogenen L. C.,
bezeichnet. Eine entſcheidende Stelle
für dieſe Bedeutung des conven-
tus iſt L. 8 de nox. act. (9. 4)
Eben ſo für petitum die L. 22
de reb. cred. (12. 1) Vergl.
Wächter H. 3 S. 66. 67.
(v) Im Weſentlichen haben die
richtige Erklärung: Voorda In-
terpr. II., 19, Wächter H. 3
S. 112.
(w) Nach mehreren Vorgän-
gern hatte ich dieſe Erklärung an-
genommen, Bd. 5 § 211 g., die
ich jetzt ganz aufgebe, da die
Stelle durchaus keine Spur dieſer
Vorausſetzung enthält. — Kie-
rulff S. 281 betrachtet dieſe
Stelle als einen Beweis, daß ſchon
die Römer die Wirkungen der L. C
|0039 : 21|
§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.
ſuchte auf andere Weiſe zu helfen, durch die etwas kühne
Emendation: transmissam non videri, quasi lite con-
testata eo mortuo“ (x).
3. L. 20 § 6. 7. 11. de her. pet. (5. 3).
Das Sc. Iuventianum ſprach zunächſt von den An-
ſprüchen des Fiscus auf eine caduca hereditas, alſo von
einem extraordinarium judicium vor den Fiscalbeamten,
obgleich es allerdings auch auf den ordentlichen Prozeß
unter Privatperſonen angewendet wurde (y). Für den
urſprünglichen Fall dieſes Senatusconſults mußte daher
ein anderer Zeitpunkt angenommen werden, welcher an die
Stelle der L. C. im ordentlichen Prozeß treten konnte.
Von dieſer Bemerkung wird noch unter Gebrauch gemacht
werden (§ 264).
Die Stellung, welche ſo eben für die L. C. in den
extraordinariis judiciis der älteren Zeit nachgewieſen
worden iſt, konnte unverändert beibehalten werden, als
in der ſpäteren Zeit alle Klagen überhaupt in extraordi-
naria judicia verwandelt wurden. Die frühere Ausnahme
wurde nun zur allgemeinen Regel, ſonſt änderte ſich Nichts.
So erſcheint in der That die Sache in einer früheren
Conſtitution von Juſtinian (z), welche weſentlich über-
auf die Vorladung des Beklagten
übertragen hätten.“
(x) Einigen Anhalt zu dieſer
Emendation giebt die vulg.: „re-
missam non videri, die jedoch
dem Sinn nach ganz mit der
Florentina übereinſtimmt.
(y) L. 20 § 9 de her. pet.
(5. 3).
(z) L. 14 § 1 C. de jud. (3. 1).
|0040 : 22|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
einſtimmend mit dem oben angeführten Reſcript von
Sever und Antonin, den Zeitpunkt der L. C. ſo be-
zeichnet:
„cum lis fuerit contestata, post narrationem propo-
sitam et contradictionem objectam.“
In ſpäteren Geſetzen fügte Juſtinian folgende neue
Beſtimmungen hinzu.
Wenn dem Beklagten die Klage eingehändigt iſt, ſoll
derſelbe nach Ablauf von Zwanzig Tagen vor dem Gericht
erſcheinen, und daſelbſt die L. C. vornehmen. Jede inner-
halb dieſes Zeitraums abgegebene Erklärung ſoll den Be-
klagten nicht binden, und nicht als L. C. angeſehen
werden (aa).
Der Kläger ſoll von ſeiner Seite Caution ſtellen, daß
er die L. C. nicht über Zwei Monate aufhalten wolle (bb).
Dieſe Beſtimmungen betreffen die bloße Prozeßform,
und ändern das Weſen der L. C. auf keine Weiſe ab.
Wir können alſo auch noch für das neueſte Juſti-
nianiſche Recht den Begriff der L. C., weſentlich überein-
ſtimmend mit dem Begriff des älteren Rechts, dahin
beſtimmen:
Sie beſteht in der vor der richterlichen Obrigkeit ab-
gegebenen Erklärung beider Parteien über das Da-
ſeyn und den Inhalt des Rechtsſtreits.
(aa) Nov. 53 C. 3. Nov. 82
C. 10. Auth. Offeratur C. de
L. C. (3. 9)
(bb) Nov. 96 C. 1. Auth.
Libellum C. de L. C. (3. 9)
|0041 : 23|
§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)
Dabei iſt aber allerdings, nach der ganzen Wendung
die in dieſer Zeit der Prozeß genommen hatte, der factiſche
Unterſchied anzuerkennen, daß jetzt ſehr häufig, wohl in
den meiſten Fällen, die L. C. in dem Rechtsſtreit merklich
ſpäter eintreten mochte als in dem älteren Prozeß.
§. 258.
Weſen der Litis Conteſtation — I. R. R. (Fortſetzung.)
Bisher iſt die äußerliche Natur der L. C. in Erwä-
gung gezogen worden: die Form, der Zeitpunkt, die Be-
zeichnung dieſer Prozeßhandlung. Ich wende mich nun
zur Unterſuchung ihres inneren oder juriſtiſchen Weſens,
welche noch wichtiger iſt als jene erſte Erwägung, theils
weil ſie unmittelbar mit den Wirkungen zuſammenhängt,
theils weil ſie ein bleibenderes, von dem Wechſel hiſto-
riſcher Zuſtände weniger abhängiges, auch für unſere Zeit
gültiges Intereſſe mit ſich führt.
Es muß hier daran erinnert werden, daß jedes Klag-
recht, ohne Unterſchied des Rechts welches ihm zum
Grunde liegt, die Natur einer Obligation mit ſich führt
(§ 205). Die L. C. nun iſt als diejenige Prozeßhandlung
zu denken, wodurch dieſe Obligation ein wirkliches Daſeyn
und zugleich eine beſtimmte Geſtalt erhält.
Auf zweierlei Weiſe aber greift die L. C. in das be-
ſtehende Rechtsverhältniß ein: nach der Vergangenheit und
nach der Zukunft. Nach der Vergangenheit, indem die
vorhandene Klage in judicium deducirt, und dadurch
|0042 : 24|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
conſumirt, d. h. für jede neue Verfolgung unbrauchbar
gemacht wird: nach der Zukunft, indem die L. C. eine
weſentliche Modification für den Inhalt des künftigen
Urtheils begründet.
Die Wirkung auf die Vergangenheit, oder die
Conſumtion der Klage, wurde in zwei verſchiedenen For-
men bewirkt.
Bei denjenigen Klagen, welche in personam giengen,
zugleich eine juris civilis intentio hatten, und zugleich als
legitima judicia geltend gemacht wurden, ſollte die Con-
ſumtion ipso jure eintreten; bei allen übrigen Klagen nur
vermittelſt einer exceptio rei in judicium deductae (a).
Daneben kommt auch der Ausdruck Novatio vor; aus
alter Zeit und direct nur in einer Stelle von Papi-
nian (b); auf indirecte Weiſe in den Digeſten und in
einer Conſtitution von Juſtinian (c). Dennoch iſt kein
Grund vorhanden, die Ächtheit dieſes Kunſtausdrucks zu
(a) Gajus III. § 180. 181,
IV. § 106. 107. 98.
(b) Fragm. Vat. § 263 „..
nec interpositis delegationibus
aut inchoatis litibus actiones
novavit.“
(c) L. 29 de nov. (46. 2) „Aliam
causam esse novationis volun-
tariae, aliam judicii accepti,
multa exempla ostendunt.“ Der
Ausdruck novatio voluntaria deu-
tet nicht nothwendig, aber doch
möglicherweiſe, auf den Gegenſatz
einer in der L. C. enthaltenen
novatio necessaria, welcher Aus-
druck ſelbſt ohnehin nirgend vor-
kommt. Daß hier die in der
L. C. enthaltene Conſumtion als
Gegenſatz gemeint war, iſt aus
den in Note a und b angeführten
Stellen unzweifelhaft. — L. 3
pr. C. de us. rei jud. (7. 54)
„Si enim novatur judicati
actione prior contractus“ rel.
Hier wird ganz unpaſſenderweiſe
die längſt antiquirte novatio als
Rechtfertigung von Juſtinians
neuer Vorſchrift über die Urtheils-
zinſen angeführt.
|0043 : 25|
§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)
bezweifeln (d). Nach der außerdem bekannten Natur der
Novation ſind wir aber berechtigt zwei Beſtimmungen
anzunehmen, obgleich dafür keine unmittelbare Zeugniſſe
vorhanden ſind. Erſtlich, daß dieſer Ausdruck beſchränkt
war auf die Fälle, worin die Conſumtion ipso jure
wirkte (Note a), indem nämlich überall die Novation nur
als eine ipso jure wirkende Handlung erſcheint. Zweitens,
daß dieſe Novation, alſo jede ipso jure eintretende Con-
ſumtion, bewirkt wurde durch eine Stipulation, da der
allgemeine Begriff der Novation kein anderer iſt, als:
Vernichtung irgend einer Obligation durch Verwandlung
in eine verborum obligatio (e).
Ueber die ſpäteren Schickſale der Conſumtion überhaupt
und der damit verbundenen Novation insbeſondere können
wir nicht im Zweifel ſeyn. Sie ſind völlig untergegangen,
ohne irgend einen Ueberreſt, indem die practiſchen Folgen,
für welche ſie eingeführt waren, jetzt auf anderen und
ſichreren Wegen herbeigeführt werden. Ganz zufällig hat
ſich die wörtliche Erwähnung der Novation, ohne irgend
(d) Der Umſtand, daß Gajus
IV. § 176—179 die aus der frei-
willigen Stipulation hervorgehende
novatio abhandelt, und dann
§ 180. 181 die Conſumtion in der
L. C. darſtellt ohne dabei den Aus-
druck novatio zu wiederholen, kann
nicht als Widerlegung gelten. Er
erklärt ſich aus der auch in L. 29
de nov. (Note c) hervorgehobenen
ganz anomalen Natur dieſer No-
vation.
(e) L. 1. 2 de nov. (46. 2).
Gajus III. § 176—179. — Ich
gebe indeſſen zu, daß dieſer auf
Analogie gegründete Schluß nicht
auf volle Gewißheit Anſpruch
machen kann, da es bei dieſem in
jedem Fall anomalen Rechtsinſtitut
hierin auch wohl anders geweſen
ſeyn könnte.
|0044 : 26|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
eine praktiſche Bedeutung, in zwei Stellen des Juſti-
nianiſchen Rechts erhalten (Note c). Es iſt daher durch-
aus nicht zu rechtfertigen, wenn manche Schriftſteller
unſrer Zeit von der aus der L. C. entſpringenden Nova-
tion als von einem noch fortdauernden Inſtitut des
Juſtinianiſchen und ſelbſt des heutigen Rechts ſprechen (f).
Die eben ſo wichtige, und noch jetzt vorhandene Wir-
kung der L. C. in die Zukunft iſt in ſofern ganz un-
zweifelhaft, als in der That aus ihr ein obligatoriſches
Verhältniß entſteht, ganz entſprechend dem allgemeinen
in der Natur jedes Rechtsſtreits gegründeten Bedürfniß
(§ 256). Es iſt aber zuvörderſt zu unterſuchen, durch
welche juriſtiſche Formen dieſes obligatoriſche Verhältniß
bewirkt wurde: eine Frage, die nicht ohne Zweifel und
Verwicklungen iſt.
(f) So Glück B. 6 S. 205
und mehrere Andere. Vgl. dagegen
Wächter H. 3 S. 38 fg. — Ins-
beſondere muß ich auch jetzt die
neue Novation aufgeben, die ich
früher als im Urtheil liegend an-
genommen habe (B. 5 S. 325),
verleitet durch die Faſſung des al-
ten Rechtsſprüchworts bei Gajus
III. § 180 und der in der Note c
angeführten Aeußerung von Ju-
ſtinian. Es iſt für eine Nova-
tion im Nömiſchen Sinn we-
der ein praktiſches Bedürfniß, noch
irgend ein ſicheres Zeugniß vor-
handen. Vgl. hierüber Wächter
H. 3 S. 47. 48. — Die neuen
Rechtsverhältniſſe, die allerdings
jedes rechtskräftige Urtheil erzeugt,
ſollen damit nicht in Zweifel ge-
zogen werden; von ihnen wird
unten ausführlich gehandelt werden.
Der praktiſche Erfolg iſt hier auch
gewiß derſelbe wie bei einer wirk-
lichen Novation, indem der Kläger
nicht mehr ſein früheres Recht
neben dem Urtheil und wider das-
ſelbe geltend machen kann. Nur
bezweifle ich, daß jemals ein alter
Juriſt den Ausdruck novatio von
dem Urtheil gebraucht haben möchte;
die Tilgung ipso jure, die der
eigentliche Charakter der Novation
iſt, war ja mit der L. C. ſchon
vollendet, und für eine neue No-
vation war kein Raum vorhanden.
|0045 : 27|
§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)
Für die Klagen in rem läßt ſich hierüber eine beſtimmte
Behauptung durch ein unmittelbares Zeugniß des Gajus
begründen (g). Dieſer ſagt, dem Beklagten werde bei
ſolchen Klagen der Vortheil gewährt, die Sache auch wäh-
rend des Rechtsſtreits beſitzen zu dürfen (possidere conce-
ditur). Dafür müſſe er von ſeiner Seite für den Fall,
daß er künftig unterliege, durch eine stipulatio judicatum
solvi Entſchädigung verſprechen und zugleich durch Bür-
gen ſicher ſtellen (cum satisdatione cavere), wodurch
dann der Kläger die Befugniß erlange, künftig nach ſeiner
Wahl ſowohl den Beklagten ſelbſt, als deſſen Bürgen zu
verklagen (aut tecum agendi, aut cum sponsoribus tuis).
Worauf die stipulatio judicatum solvi dieſer Bürgen, und
alſo ohne allen Zweifel auch völlig gleichlautend die des
Beklagten ſelbſt, als des Hauptſchuldners, gerichtet war,
wird uns anderwärts ausführlich geſagt. Sie hatte drei
Clauſeln: de re judicata, de re defendenda, de dolo
malo (h). — Demnach müſſen wir bei den Klagen in rem,
neben der L. C., eine Stipulation annehmen, wodurch die
eigenthümlichen Obligationen begründet wurden, die uns
(g) Gajus IV. 89. Die Stelle
lautet vollſtändig ſo: „Igitur si
verbi gratia in rem tecum agam,
satis mihi dare debes. Aequum
enim visum est, te de eo, quod
interea tibi rem, quae an ad
te pertineat dubium est, pos-
sidere conceditur, cum satis-
datione mihi cavere: ut si victus
sis, nec rem ipsam restituas,
nec litis aestimationem sufferas,
sit mihi potestas, aut tecum
agendi, aut cum sponsoribus
tuis.“ — Daß dieſe Stipulation,
eben ſo wie bei den perſönlichen
Klagen, den Namen judicatum
solvi führte, ſagt ausdrücklich der
§ 91.
(h) L. 6. 17. 19. 21 jud. solvi
(46. 7).
|0046 : 28|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
gegenwärtig, als Folgen der L. C., beſchäftigen. Über die
formelle Einrichtung dieſer ganzen Prozeßhandlung enthalte
ich mich, in Ermangelung von Nachrichten, jeder Behaup-
tung; ich laſſe es alſo dahin geſtellt ſeyn, ob die L. C.
mit der Stipulation verſchmolzen war, oder ob beide als
getrennte, aber gleichzeitige Akte neben einander ſtanden.
Dieſe Stipulation darf übrigens nicht ſo gedacht werden,
als ob dadurch die künftige judicati actio im Voraus no-
virt, alſo an der Entſtehung verhindert worden wäre. Eine
ſolche Novation einer noch nicht fälligen Obligation war
allerdings an ſich wohl zuläſſig (i). Allein vor Allem ge-
hörte zu jeder Novation die Abſicht zu noviren, d. h. die
Abſicht eine andere Obligation durch Umtauſch zu zerſtö-
ren (k), und da dieſe Abſicht hier fehlte, ſo beſtand die
actio judicati daneben, ſo daß der Kläger, der den Prozeß
gewann, die Wahl hatte zwiſchen der judicati actio, der
Stipulationsklage gegen den Beklagten, und der Stipula-
tionsklage gegen die Bürgen (l).
Dieſe ganze Einrichtung bei der petitoria formula war
übrigens nichts Neues, ihr Eigenthümliches; es war viel-
mehr bloß die Fortſetzung und Entwicklung des uralten
(i) L. 5 de nov. (46. 2).
(k) L. 2 de nov. (46. 2).
(l) L. 8 § 3 de nov. (46. 2),
L. 38 § 2 de sol. (46. 3), Pau-
lus V. 9. § 3. — Dieſe Bemer-
kung macht richtig Buchka Ein-
fluß des Prozeſſes I. 234, obgleich
zu einem irrigen Zweck. — Von
einer Novation als Einwirkung auf
die Vergangenheit, alſo als Ver-
nichtung einer urſprünglichen Obli-
gation, ſo wie bei manchen per-
ſönlichen Klagen (Note a. b. c. d),
konnte hier ohnehin nicht die Rede
ſeyn, da den Klagen in rem über-
haupt keine Obligation zum Grunde
liegt.
|0047 : 29|
§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)
Rechtsſatzes, der bei der legis actio in den praedes litis et
vindiciarum, und bei dem Sponſionsprozeß in der stipu-
latio pro praede litis et vindiciarum geltend gemacht
wurde (m).
So verhielt es ſich alſo, nach ſicheren Zeugniſſen, bei
den Klagen in rem. Weniger einfach und klar iſt die
Sache bei den perſönlichen Klagen.
Betrachten wir zuerſt diejenigen perſönlichen Klagen,
bei welchen die Conſumtion ipso jure, vermittelſt einer
Novation, bewirkt wurde (Note a). Dieſe unterſcheiden
ſich von den Klagen in rem darin, daß dem Beklagten
während des Rechtsſtreits nicht etwas Beſonderes gewährt,
und eben ſo der Kläger nicht in die Gefahr der Zerſtörung
oder des Untergangs der ſtreitigen Sache geſetzt wird.
Darum braucht hier der Beklagte in der Regel nicht, ſon-
dern nur ausnahmsweiſe, Bürgen zu ſtellen (n). Dagegen
hat es kein Bedenken anzunehmen, daß er ſelbſt, für ſeine
Perſon, eine Stipulation geſchloſſen haben möchte; ja dieſe
Annahme hat ſogar einen beſondern Anhalt in dem Um-
ſtand, daß die Novation als ſolche das Daſeyn einer Sti-
pulation vorausſetzen läßt (Note e). Der Inhalt dieſer
Stipulation aber wird ohne Zweifel dieſelben drei Clauſeln
gehabt haben, welche überhaupt bei den Prozeßſtipulationen
der Bürgen gebraucht wurden (Note h), ſo daß hierin kein
Unterſchied zwiſchen dieſen Klagen und den Klagen in rem
geweſen ſein wird. — Ganz eben ſo, und zwar noch ge-
(m) Gajus IV. § 91. 94.
(n) Gajus IV. § 102.
|0048 : 30|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
wiſſer, müſſen wir eine ſolche Stipulation des Beklagten
annehmen bei denjenigen Fällen perſönlicher Klagen, bei
welchen ausnahmsweiſe, aus beſonderen Gründen, eine
Bürgſchaft judicatum solvi gefordert werden konnte. Denn
daß einer ſolchen Stipulation der Bürgen ſtets eine eigene
Stipulation des Beklagten zum Grunde gelegt wurde, läßt
ſich nicht nur aus innerer Wahrſcheinlichkeit annehmen,
ſondern es wird auch ausdrücklich bezeugt (o).
In den Fällen dieſer mit vielen perſönlichen Klagen
verbundenen Stipulationen, worin ſtets die doli clausula
enthalten war (Note h), erklärt ſich dann von ſelbſt der
Umſtand, daß auch die ſtrengen Klagen von der L. C. an
eine eben ſo freie Natur annahmen, wie ſie außerdem nur
bei den freien Klagen vorkommt (p).
Was endlich die große Zahl der, nach Abzug der eben
erwähnten, noch übrigen perſönlichen Klagen betrifft, alſo
diejenigen, bei welchen die Conſumtion durch die L. C.
nicht ipso jure, ſondern per exceptionem (ohne Novation)
bewirkt wurde, und bei welchen auch nicht etwa eine excep-
tionelle Caution durch Bürgen vorkam, ſo ließe ſich auch
bei ihnen eine mit der L. C. ſtets verbundene Stipulation
wohl denken, ſo daß unter dieſer Vorausſetzung eine Sti-
(o) L. 38 § 2 de sol. (46. 3).
Bei jeder satisdatio war alſo eine
repromissio; fehlte dagegen die
satisdatio, ſo hieß es nuda re-
promissio. L. 1 § 5 de stip.
praet. (46. 5).
(p) S. o. B. 5 S. 501. Der In-
halt dieſer Stelle muß nun durch
das jetzt Folgende in dem Umfang
der Anwendung beſchränkt werden;
die Sache ſelbſt bleibt richtig.
|0049 : 31|
§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)
pulation neben der L. C. allgemein Statt gefunden hätte.
Allein ein Zeugniß haben wir für dieſe Annahme nicht;
ſie wird vielmehr dadurch unwahrſcheinlich, daß alsdann
der einfachſte und leichteſte Erklärungsgrund für die ver-
ſchiedene Behandlung beider Klaſſen von Klagen wegfallen
würde, indem das Daſeyn der Stipulation die Novation
natürlich mit ſich führt, der Mangel derſelben die Novation
ausſchließt.
Nehmen wir nun an, bei dieſer zahlreichen Klaſſe von
Klagen ſey keine Stipulation vorgekommen, ſo müſſen wir
eine andere Rechtsform aufſuchen, an welche die mit der
L. C. auch bei dieſen Klagen unſtreitig verbundene neue
Obligation angeknüpft werden kann. Ganz daſſelbe Be-
dürfniß aber tritt ein für die extraordinaria judicia, die
zur Zeit des alten Formularprozeſſes als Ausnahmen, im
ſpäteren R. R. aber als die ganz allgemeine Regel, vor-
kommen. So nimmt alſo die Frage nach dieſer Rechtsform
in der That die größte Ausdehnung und Wichtigkeit in
Anſpruch.
Die von jeher gewöhnliche Auffaſſung für das Juſti-
nianiſche Recht geht dahin, die L. C. ſey ein Quaſicontract,
und erzeuge daher contractähnliche Obligationen (q). Mit
dieſer Auffaſſung können wir einſtimmen, indem dadurch
die contractliche Natur des Verhältniſſes anerkannt wird,
welches dennoch kein wahrer, auf freiem Entſchluß beru-
hender Vertrag iſt. Es iſt ein fingirter Vertrag, ſo
(q) Keller § 14, und vor ihm die meiſten Schriftſteller.
|0050 : 32|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
gut als die negotiorum gestio und die Tutel. Bei dieſen
entſteht die Obligation aus einſeitigen Handlungen, ohne
Mitwirkung des anderen Theils. Bei der L. C. erſcheinen
zwar beide Parteien als mitwirkend, aber die Gründung
einer Obligation beruht nicht auf ihrem freien Entſchluß
den ſie auch unterlaſſen könnten, ſondern auf den unab-
weislichen Vorſchriften des Prozeßrechts (r).
Über die Natur dieſes contractlichen, oder contractähn-
lichen, Verhältniſſes, wie es durch die L. C. in jeden
Rechtsſtreit eingeführt wird, ſollen jetzt noch einige Betrach-
tungen folgen.
Die allgemeinſte Anerkennung eines ſolchen Verhält-
niſſes, welches aus der L. C. neu entſpringt, und von dem
früher vorhandenen Rechtsverhältniß an ſich unabhängig
iſt, findet ſich in folgender Stelle des Ulpian:
L. 3 § 11 de peculio (15. 1): „Idem scribit, judicati
quoque patrem de peculio actione teneri, quod et
Marcellus putat; etiam ejus actionis nomine, ex
qua non potuit pater de peculio actionem pati; nam
(r) Bethmann-Hollweg
S. 75. 79 will keinen Contract an-
nehmen, ſondern einen prozeſſua-
liſchen Vertrag, gerichtet auf die
ausſchließende Unterwerfung unter
dieſes judicium. Dieſe Auffaſſung
iſt auch wahr, aber einſeitig, und
drückt die wichtigſten und bleibend-
ſten Seiten des geſammten Ver-
hältniſſes nicht aus. Ein ganz
dahin paſſender Ausdruck ſteht in
L. 3 pr. jud. solvi. (46. 7) „sen-
tentiae .... se subdiderunt.“ —
Donellus XII. 14. § 6—9 ſucht
mit großer Subtilität auszuführen,
die L. C. ſey kein Quaſicontract,
ſondern ein wirklicher, aber ſtill-
ſchweigender Vertrag. Er über-
ſieht dabei, daß zu dem ſtillſchwei-
genden Vertrag eben ſo, wie zu
dem ausdrücklichen, der freie Wille
erforderlich iſt, dieſer aber hier
fehlt.
|0051 : 33|
§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)
sicut stipulatione contrahitur cum filio, ita judicio
contrahi; proinde non originem judicii spectan-
dam(s), sed ipsam judicati velut obligationem(t).“
Dieſe Stelle iſt eben ſo wahr unter Vorausſetzung einer
in der L. C. enthaltenen wirklichen Stipulation, wie ſie im
älteren Recht theilweiſe ſicher vorkam, als unter Voraus-
ſetzung eines Quaſicontracts, und ſie drückt alſo das allge-
meine und bleibende Weſen des aus der L. C. hervorge-
henden Rechtsverhältniſſes ſehr beſtimmt aus.
Aus dieſem contractlichen oder contractähnlichen Ver-
hältniß erklären ſich befriedigend mehrere in dem vorher-
gehenden §. bemerklich gemachte Thatſachen. Erſtlich warum
zur Bezeichnung des in jedem Rechtsſtreit eintretenden,
beſonders wichtigen und entſcheidenden Zeitpunktes ſtets die
L. C., nicht die mit ihr gleichzeitige Conception der Formel
gewählt wird. Die in der L. C. enthaltene Contractsnatur
war der Entſtehungsgrund der von dieſer Zeit anfangenden
Rechtswirkungen, die Formel war blos eine Anweiſung
für den Juder, und hatte für die Parteien keine unmittel-
bar verbindende Kraft. — Zweitens warum die L. C. vor
dem Prätor vorgehen mußte, nicht vor dem Judex. Die
Autorität des Prätors konnte die Parteien ſicherer als die
(s) D. h. nicht das urſprüng-
liche, dem Rechtsſtreit vorherge-
hende, zum Grund liegende Rechts-
verhältniß.
(t) D. h. ſondern die Obligation,
welche aus der in der L. C. enthal-
tenen Stipulation neu entſpringt,
und hier auf die Erfüllung des
Judicats gerichtet iſt. L. 6 jud.
solvi (46. 7) „de re judicata.“
VI. 3
|0052 : 34|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
des Juder nöthigen, dieſen Vertrag einzugehen, der dem
ganzen Rechtsſtreit ſeine Haltung gab.
Es erklärt ſich daraus ferner der Umſtand, daß das
Recht eine Popularklage anzuſtellen, welches an ſich ein
gemeinſames Recht aller Römiſchen Bürger war, durch die
L. C. in eine wahre Obligation, in ein Vermögensrecht
des Klägers, umgewandelt wurde (u).
Die hier angegebenen, ſo wie alle übrigen Folgen der
Contractsnatur der L. C. ſind jedoch nicht ſo zu denken,
als ob dieſe Contractsnatur durch Zufall oder Willkühr
eingeführt worden wäre, und dann alle jene Folgen, die
man vielleicht an ſich als gleichgültig oder nachtheilig an-
ſehen mochte, auf dem Wege logiſcher Entwicklung nach
ſich gezogen hätte. Es verhielt ſich damit gerade umge-
kehrt. Jene Folgen waren es, welche, als der Natur des
Rechtsſtreits angemeſſen, herbeigeführt werden ſollten; für
ſie wurde die Contractsnatur der L. C. (urſprünglich bei
vielen Klagen durch eine wirkliche Stipulation) aufgeſtellt,
um dafür eine ſichere und angemeſſene juriſtiſche Grundlage
zu haben.
Der Inhalt des erwähnten contractlichen Verhält-
niſſes beſteht zunächſt in der Unterwerfung beider Parteien
unter dieſes Judicium (Note r). Dieſe Unterwerfung be-
zieht ſich bei allen Klagen auf das eigentliche Urtheil; bei
den arbiträren Klagen insbeſondere auch noch auf den Ge-
horſam gegen den vor dem Urtheil von dem Juder ausge-
(u) Die Zeugniſſe dafür ſ. o. B. 2 § 73 Note ee.
|0053 : 35|
§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)
ſprochenen, auf die Naturalreſtitution gerichteten, jussus
oder arbitratus (v). Der ſpeciellere Inhalt aber, ſo wie
die Veranlaſſung dieſes Inhalts, läßt ſich durch folgende
Betrachtung anſchaulich machen, die ſich an die allgemeine
Natur jedes Rechtsſtreits und das daraus hervorgehende
Bedürfniß (§ 256) anſchließt. Wenn zwei Parteien vor
den Richter treten, ſo iſt es zunächſt völlig ungewiß, wer
von beiden das Recht auf ſeiner Seite hat. In dieſer
Ungewißheit muß für jeden möglichen Ausfall Vorſorge
getroffen werden, und die Parteien werden genöthigt, hier-
über einen Vertrag zu ſchließen, oder auch (wie in dem
ſpäteren Recht allgemein) ſich ſo behandeln zu laſſen, als
ob ein ſolcher Vertrag geſchloſſen worden wäre. Der all-
gemeine Inhalt des Vertrages läßt ſich, übereinſtimmend
mit dem erwähnten Bedürfniß, ſo ausdrücken: es ſoll der
Nachtheil ausgeglichen werden, der aus der unvermeid-
lichen Dauer des Rechtsſtreits entſteht (w), oder mit an-
deren Worten: der Kläger ſoll, wenn er den Prozeß ge-
winnt, dasjenige erhalten, was er haben würde, wenn das
Urtheil gleich Anfangs hätte geſprochen werden können (x).
(v) Daraus erklärt es ſich, daß die
Unterlaſſung dieſes Gehorſams als
eine unerfüllte Obligation, als eine
Mora, betrachtet wurde, ſ. unten
§ 273 u.
(w) L. 91 § 7 de leg. 1. „cau-
sa ejus temporis, quo lis con-
testatur, repraesentari debet
actori.“
(x) L. 20 de R. V. (6. 1)
„ut omne habeat petitor, quod
habiturus foret, si eo tempore,
quo judicium accipiebatur, re-
stitutus illi homo fuisset.“ —
Eben ſo ſpricht L. 31 de R. C.
(12. 1), und viele andere Stellen.
Dieſe Aeußerungen, ſo wie die in
der Note w. angeführte, ſind bei
Gelegenheit einzelner Rechtsver-
hältniſſe entſtanden, und werden
3*
|0054 : 36|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Die Veranlaſſung und Rechtfertigung dieſes Vertrags aber
giebt Gajus für die Klagen in rem ſo an: Dem Beklag-
ten wird geſtattet, während des Rechtsſtreits die ſtreitige
Sache zu beſitzen, dafür muß er aber von ſeiner Seite die
in dem Vertrag enthaltene Entſchädigung verſprechen, und
ſogar durch Bürgen verſichern (y).
Die hier dargeſtellte contractliche Obligation für die
nach der L. C. eintretenden Umwandlungen hat ſich durch
alle Zeiten des R. R. erhalten, und iſt auch in unſer heu-
tiges Recht übergegangen. Nur hat ſich die Form einer
ausdrücklichen Stipulation, ſelbſt in den Fällen worin ſie
in der älteren Zeit angewendet wurde, im Juſtinianiſchen
Recht gänzlich verloren.
§. 259.
Weſen der Litis Conteſtation. — II. Canoniſches Recht
und Reichsgeſetze.
Das canoniſche Recht hält den Römiſchen Begriff der
L. C. (§ 257) unverändert feſt, beſchäftigt ſich aber haupt-
ſächlich mit der Frage, welche auch ſpäterhin als vorzugs-
weiſe wichtig behandelt wurde: ob und wann der Beklagte
verpflichtet ſey, dasjenige zu thun, welches von ſeiner Seite
unten im Zuſammenhang des De-
tails wieder vorkommen. Hier kam
es darauf an, den allgemeinen
Geſichtspunkt vorläufig zu be-
zeichnen.
(y) Gajus 4. § 89. — ſ. o.
Note g. Nämlich an ſich wäre für
denſelben Zweck auch wohl eine
Sequeſtration als Sicherungsmit-
tel denkbar geweſen; darauf geht
das possidere conceditur.
|0055 : 37|
§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.
zur Vollziehung einer wahren L. C. beigetragen werden
muß. Dazu gehört vor Allem die Erklärung auf den In-
halt der Klage, alſo auch auf den thatſächlichen Grund
derſelben: außerdem aber auch die Angabe der etwa vor-
handenen Exceptionen (§ 257). Es iſt einleuchtend, daß,
wenn ſich der Beklagte etwa auf Exceptionen beſchränken
wollte, ohne ſich über die Klage zu erklären, eine L. C.
darin nicht enthalten wäre und dadurch nicht entbehrlich
werden würde, daß alſo der Beklagte angehalten werden müßte,
das von ſeiner Seite zu einer wahren L. C. Fehlende noch
nachzubringen. Aus Vorſchriften dieſes beſonderen Inhalts,
die ich im R. R. noch nicht finde, konnte leicht der Schein
entſtehen, die L. C. ſey eine einſeitige Handlung des Be-
klagten, und zwar gerade die Erklärung auf die vom Klä-
ger vorgebrachten Thatſachen, anſtatt daß das R. R.
darunter eine weit umfaſſendere gemeinſame Handlung der
Parteien verſteht, ja ſogar wörtlich das litem contestari
als eine Thätigkeit des Klägers, nicht des Beklagten,
bezeichnet (§ 257. g). Es wird weiter unten gezeigt wer-
den, daß ein aus dieſem falſchen Schein hervorgehender
irriger Sprachgebrauch in ſpäterer Zeit ganz allgemein ge-
worden iſt. Jedoch muß bemerkt werden, daß dieſer Irr-
thum dem canoniſchen Recht in der That nicht zugeſchrieben
werden darf, dieſes vielmehr noch keinen vom R. R. ab-
weichenden Ausdruck enthält.
Die älteſte Stelle des canoniſchen Rechts über die L. C.
beſchäftigt ſich mit der hier entwickelten ſpeciellen Frage
|0056 : 38|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
noch nicht (a). Dem P. Gregor IX. war ein Fall vor-
gelegt, worin die Parteien über einzelne Stücke des Rechts-
ſtreits (super pluribus articulis) ſchriftliche Behauptungen
und Gegenbehauptungen (positiones et responsiones) dem
Richter eingereicht, auch dabei geäußert hatten, was ſie
vor Gericht zu erklären geſonnen ſeyen (quae partes volue-
runt proponere coram eis). Der Papſt ſpricht nun aus;
darin ſey noch keine gültige L. C. enthalten, dieſe müſſe
vielmehr noch nachgeholt werden, um einen rechtsgültigen
Prozeß zu begründen,
„quia tamen litis contestationem non invenimus esse
factam, quum non per positiones et responsiones ad
eas, sed per petitionem in jure propositam et re-
sponsionem secutam litis contestatio fiat.“
Der hier gedachte Gegenſatz ſchließt alſo die ſchriftlichen
Vorbereitungen des Rechtsſtreits, als ungenügend, aus,
und fordert zu einer wahren L. C. das gemeinſame Erſchei-
nen der Parteien im Gericht, und die vollſtändige Erklä-
rung derſelben über den Rechtsſtreit; es iſt der Gegenſatz
eines ſchriftlichen Vorverfahrens gegen das mündliche Ver-
fahren vor Gericht, und der Ausſpruch des Papſtes iſt
ganz dem R. R. gemäß.
Die zwei folgenden Decretalen betreffen das oben er-
wähnte Verhältniß der L. C. zu den Exceptionen.
(a) C. un. X. de litis cont.
(2. 5). — Wörtlich gleichlautend
iſt hierin eine andere Decretale
deſſelben Papſtes: C. 54 § 3 X.
de elect. (1. 6).
|0057 : 39|
§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.
P. Innocenz IV. verordnet, durch vorgebrachte Excep-
tionen dürfe der Beklagte die L. C. nicht hindern, noch ver-
zögern; jedoch mit Ausnahme der Exceptionen „de re ju-
dicata, transacta seu finita“ (b).
Dieſelbe Vorſchrift wiederholt P. Bonifaz VIII., mit
dem ſehr natürlichen Zuſatz, daß eine bloße Exception auch
nicht etwa ſelbſt ſchon als eine vollzogene L. C. angeſehen
werden dürfe (c).
Es iſt nun ferner von den Veränderungen in dem We-
ſen der L. C. Rechenſchaft zu geben, welche durch die
Reichsgeſetze, ſo wie durch die Praxis und Literatur der
neueren Zeit herbeigeführt worden ſind (d). Um für dieſe
Veränderungen einen feſten Standpunkt zu gewinnen, wird
es gut ſeyn, ſogleich das letzte Ziel anzugeben, wohin dieſe
ſehr allmälige Entwicklung geführt hat, alſo die Auffaſſung,
welche in der neueren Literatur des Prozeſſes, ſo wie in
der Praxis, ſo allgemeine Geltung gewonnen hat, daß jeder
Widerſpruch dagegen nur in dem Sinn einer gelehrten
Kritik, durch Zurückführung auf ältere Quellen, verſucht
worden iſt, wenngleich hie und da nicht ohne den Anſpruch,
der neu aufgeſtellten Behauptung auch in der Praxis wieder
einige Geltung zu verſchaffen.
(b) C. 1 de litis cont. in VI.
(2. 3) — Es ſind dieſes die nach-
her von unſren Schriftſtellern ſo-
genannten exceptiones litis in-
gressum impedientes.
(c) C. 2 de litis cont. in VI.
(2. 3).
(d) Ausführlich handelt von
dieſem Gegenſtand Wächter H. 3
S. 70—88.
|0058 : 40|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Dieſer moderne Begriff läßt ſich ſo darſtellen:
Die L. C. iſt eine einſeitige Handlung des Beklagten,
beſtehend in der Erklärung deſſelben auf die in der
Klage aufgeſtellten Thatſachen, alſo verſchieden von
allen Einreden.
In zwei Stücken weicht dieſe Auffaſſung weſentlich ab
von dem R. R.
Erſtlich indem ſie die L. C. als eine einſeitige Hand-
lung des Beklagten anſieht, anſtatt daß das R. R. dabei
ein gemeinſames Handeln beider Parteien annimmt, und
ſogar vorzugsweiſe die mitwirkende Thätigkeit des Klägers
mit jenem Namen bezeichnet (§ 257).
Dieſe Abweichung beruht weniger auf veränderten
Rechtsbegriffen, als auf der veränderten Form des Ver-
fahrens. Bei einem blos ſchriftlichen Verfahren iſt ein ge-
meinſames und gleichzeitiges Handeln der Parteien nicht
möglich, ſo daß man dabei genöthigt iſt, die L. C. von
einer Prozeßhandlung des Beklagten abhängig zu denken,
welche dann mit der vorhergehenden Handlung des Klägers,
dem Inhalt nach, ein Ganzes bildet, eben ſo wie im R. R.
die gleichzeitigen Reden und Gegenreden beider Parteien.
Daher iſt denn auch dieſe Abweichung den Reichsgeſetzen
fremd, welche ſtets noch ein mündliches Verfahren in Ter-
minen und Audienzen vorausſetzen (e).
(e) Artikel des K. G. zu Lindan
ꝛc. von 1500 Art. XIII. § 1. 2
(Neueſte Sammlung der R. A.,
Th. 2 S. 75). Anfangs wird ſo
geredet, als ſey die L. C. ein Ge-
ſchäft des Beklagten. Dann aber
heißt es: „Item, und ſo der Krieg
alſo von beyden Theilen be-
|0059 : 41|
§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.
Auch iſt dieſe Abweichung für unſern gegenwärtigen
Zweck, d. h. für die Aufſtellung eines feſten Anfangs-
punktes der materiellen Wirkungen der L. C., von keiner
Erheblichkeit. Es kommt nur darauf an, ſich deutlich
bewußt zu werden, daß hierin etwas von dem R. R. Ver-
ſchiedenes gedacht wird.
Zweitens weicht dieſe Auffaſſung von dem R. R.
darin ab, daß ſie die L. C. auf die rein thatſächlichen Er-
klärungen des Beklagten beſchränkt, anſtatt daß das R. R.
das geſammte in der formula enthaltene Material ſchon in
der L. C. vorkommen läßt, alſo, außer der Erklärung über
die Thatſachen, auch alle Exceptionen, Replicationen und
Duplicationen. Auf den erſten Blick ſcheint es, daß da-
durch eine Erleichterung und Beſchleunigung der L. C. be-
zweckt und bewirkt ſeyn möchte, indem eine bloße Erklärung
über die Thatſachen ſchneller herbeizuführen iſt, als jenes
weit umfaſſendere Material. Daß dennoch aus anderen
Gründen dieſer Erfolg nicht eintrat, wird ſogleich gezeigt
werden.
Aus dieſer Auffaſſung, verbunden mit jener erſten,
folgte mit Nothwendigkeit die dem R. R. völlig fremde
Eintheilung der L. C. in eine affirmative, negative
und gemiſchte, je nachdem der Beklagte alle in der Klage
feſtigt ꝛc.“ — K. G. O. von
1523 Art. 3 § 3 (a. a. O. S. 248):
„Würden aber keine Exceptiones
fürgewendt … ſoll der Kläger
alsbald darauf den Krieg
befeſtigen ꝛc.“ (Am Rande ſteht:
Litis Contestatio).
|0060 : 42|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
enthaltene Thatſachen bejaht, oder alle verneint, oder einige
bejaht, andere verneint (f) — Die affirmative darf übri-
gens nur in Verbindung mit Einreden gedacht werden, da
ſie außerdem gar nicht die Abſicht eines Rechtsſtreits in
ſich ſchließt, ſondern vielmehr die Natur einer Römiſchen
in jure confessio hat (g).
Die zweite Abweichung iſt allerdings ſchon in den
Reichsgeſetzen enthalten, die ſich beſonders damit beſchäf-
tigen, die Verzögerung der L. C. zu verhüten, jedoch nicht
etwa um dieſes Zweckes Willen einen neuen Begriff der
L. C. abſichtlich aufſtellen wollen, ſondern hierin vielmehr
(f) Man könnte auch etwa die
negative L. C. in einem bloßen
Widerſpruch gegen den Anſpruch
des Klägers beſtehen laſſen wollen,
wobei es ganz unbeſtimmt gelaſſen
würde, ob die Thatſachen ganz
oder theilweiſe verneint, und ob
Einreden aufgeſtellt werden ſollten.
Eine Erklärung dieſer Art iſt
nicht nur dem R. R. und dem
canoniſchen Recht fremd, ſondern
auch den ſpäteren Reichsgeſetzen,
wie ſogleich gezeigt werden wird.
Eine ſolche Erklärung enthält
Nichts, als die Ausſchließung
einer reinen confessio, alſo den
ausgeſprochenen Entſchluß, Pro-
zeß zu führen, worüber ohnehin
in den allermeiſten Fällen kein
Zweifel iſt. Gefördert wird da-
durch in dem Rechtsſtreit gar
Nichts, dieſe Handlung iſt alſo
nur ein verſchleppendes Element,
und es iſt durchaus kein Grund
vorhanden, practiſche Folgen daran
zu knüpfen. — Ältere Reichsgeſetze
nehmen allerdings eine L. C. in
dem hier erwähnten Sinn an
(Vergl. Note i).
(g) Die Gloſſatoren haben ſich
viel mit der Frage beſchäftigt, ob
eine reine confessio als L. C.
gelten könne, und ob darauf ein con-
demnatoriſches Urtheil zu ſprechen
ſey. Die Behandlung dieſes Falles
betrifft blos die äußere Prozeß-
form, und hat keine practiſche Wich-
tigkeit. Im R. R. galt die un-
zweifelhafte Regel: confessus pro
judicato est (L. 1 de confessis
42. 2), ſo daß ein Urtheil gewiß
nicht nöthig war, und nicht erlaſſen
wurde. Im Preußiſchen Prozeß
wird für dieſen Fall eine Agnitions-
Reſolution abgefaßt, welche die
Wirkung eines Erkenntniſſes hat
(A. G. O. I. 8. § 14 — 16).
|0061 : 43|
§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.
nur dem herrſchenden Sprachgebrauch der gleichzeitigen
Schriftſteller folgen.
Um dieſes zur Anſchauung zu bringen, iſt es nöthig,
auf den Inhalt der Reichsgeſetze genauer einzugehen, wo-
bei ſogleich mit der Kammergerichtsordnung von 1555 an-
gefangen werden kann, da die weit unvollſtändigeren frü-
heren Geſetze durch dieſe beſeitigt worden ſind.
Zum Verſtändniß dieſes Geſetzes muß bemerkt werden,
daß daſſelbe drei Audienzen in jeder Woche annimmt,
Montag, Mittwoch, Freitag. Jeder neue Termin ſoll ein-
treten in einem durch eine Anzahl von Audienztagen be-
ſtimmten Zeitraum nach der vorhergehenden Prozeßhand-
lung; bei Sachen des ordentlichen Prozeſſes (in ordinariis)
in der zwölften Audienz, bei ſummariſchen Sachen (in extra-
ordinariis) in der ſechsten; für beide Klaſſen von Sachen
ſollen die oben erwähnten Audienztage abwechſelnd ange-
wendet werden (Tit. 1 Tit. 2 § 1). — In der Regel ſoll
die L. C. im zweiten Termin vorgenommen werden, alſo
in der zwölften Audienz nach dem erſten Termin; dieſe
Regel leidet eine Ausnahme, wenn dilatoriſche oder
andere den Prozeß hindernde Einreden vorgebracht wer-
den (h). In dieſem Fall wird über ſolche Einreden in drei
(h) Tit. 13 § 1 „So .. ſetzen
Wir, ſofern .. der Antworter nicht
dilatorias, oder andere exceptio-
nes, dardurch das Recht verhindert,
oder aufgeſchoben, oder die Kriegs-
Befeſtigung verhindert würde, für-
zubringen hätte, daß alsdann der-
ſelbige in ordinariis in der zwölften
Audienz, auf die Klag zu ant-
worten, und den Krieg zu befeſtigen
ſchuldig ſeyn ſoll.
|0062 : 44|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Terminen verhandelt, vielleicht auch noch länger, wenn
darüber ein Beweisverfahren nöthig wird (Tit. 24—26).
Außerdem werden im vierten Haupttermin die übrigen
peremtoriſchen Einreden vorgebracht, und es wird darüber
gleichfalls in drei Terminen verhandelt (Tit. 27—29).
Über die L. C. iſt noch beſonders beſtimmt, daß der
Beklagte, wenn er die Klage beſtreiten, alſo Prozeß führen
wolle, dieſes nicht in weitläufigen Reden, wie es bisher
geſchehen, ſondern durch einen kurzen Widerſpruch gegen
die Klage überhaupt, nicht gerade gegen die einzelnen
darin enthaltenen Thatſachen thun ſolle (i). Die beſtimmte
Erklärung des Beklagten auf die von dem Kläger vorge-
brachten einzelnen Thatſachen ſollte erſt im vierten Termin
nachfolgen, und dieſe Responsiones auf die Artikel der
Klage werden daher von der L. C. ſowohl durch die Be-
zeichnung, als durch die im ganzen Prozeß angewieſene
Stelle, deutlich unterſchieden (Tit. 15 § 4).
Dieſe ganze Behandlung konnte als eine Erleichterung
und Beſchleunigung der L. C. angeſehen werden, da in
der That ein allgemeiner Widerſpruch nicht wohl mit
(i) Tit. 13 § 4 „Und nachdem
bisher die Procuratores in litis
contestationibus, je zu Zeiten
viel unnothdürftiger und überflüſſi-
ger Wort gebraucht … Wollen
Wir, daß fürhin ein jeder Pro-
curator, der .. mit nicht geſtehen
auf die Klag antworten, und alſo
litem negative contestiren will,
andere oder mehr Wort nicht ge-
brauchen ſoll, dann nemlich alſo:
In Sachen N. contra N. bin
ich der Klag nicht geſtändig,
bitt mich … zu erledigen, und
mit dieſen Worten ſoll der Krieg,
ob auch der Litis contestation
nicht ausdrücklich Meldung ge-
ſchehe, befeſtigt zu ſeyn gehalten
und verſtanden werden.“ Vergl.
oben Note f.
|0063 : 45|
§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.
einigem Schein zu verweigern iſt, und daher leichter und
ſchneller als eine ſpecielle Erklärung verlangt und bewirkt
werden kann. Auf der anderen Seite aber war dem Be-
klagten, der die Sache hinhalten wollte, ein freier Spiel-
raum eröffnet durch die mannichfaltigen Einreden, deren
langwierige Verhandlung ihn einſtweilen berechtigte, ſelbſt
jene höchſt allgemeine Erklärung nicht abzugeben, alſo die
L. C. zu unterlaſſen (Note h).
Hierin gewährte der N. A. von 1570 eine durch-
greifende Abhülfe, indem er vorſchrieb, daß auch neben
dilatoriſchen Einreden im zweiten Termin in jedem Fall
eine eventuelle L. C. vorgenommen werden ſollte (k).
Dieſe Vorſchrift wurde beſtätigt und weiter ausgeführt
in dem neueſten Reichsgeſetz über den Prozeß (l). Der
Jüngſte Reichsabſchied verordnet nämlich, daß der Beklagte
nicht erſt in dem zweiten, ſondern ſchon in dem erſten
Termin, wozu jedoch mindeſtens Sechszig Tage frei zu
laſſen ſind, ſowohl alle Exceptionen, bei Strafe der Präclu-
ſion, vorbringen, als auch eine beſtimmte Erklärung über
alle in der Klage enthaltene Thatſachen abgeben ſoll. —
Dieſe factiſche Erklärung heißt hier nicht L. C., der Name
aber kommt in demſelben Geſetz anderwärts vor (m), und
daß darunter die oben vorgeſchriebene Erklärung über die
Thatſachen verſtanden werde, kann wohl nicht bezweifelt
(k) R. A. 1570 § 89. 90, Neueſte
Sammlung Th. 3 S. 299.
(l) J. R. A. von 1654 § 36—40,
Neueſte Sammlung Th. 3 S. 648.
649. — Die Hauptſtelle iſt der § 37.
(m) § 110 „nicht allein vor
angefangenem Recht-Stand, und
litis contestation“ etc.
|0064 : 46|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
werden. Nur in dem einzigen Falle ſollte der Beklagte
die L. C. verweigern dürfen, wenn er die Competenz des
Richters durch eine Einrede beſtreiten wollte (n).
Es iſt nicht zu verkennen, daß durch dieſes Geſetz der
ganze Zuſtand weſentlich verbeſſert worden iſt, und daß es
hauptſächlich an dem Mangel einer ſtrengen Durchführung
deſſelben gelegen hat, wenn ſpäterhin der gemeine Prozeß
dem wahren Bedürfniß oft nicht entſprochen hat. Indeſſen
bleiben auch hier noch dem Beklagten, der die L. C. ver-
zögern will, manche Mittel übrig. Die Einrede der In-
competenz kann zu einer längeren Verhandlung misbraucht
werden. Wenn ferner der Beklagte im erſten Termin nicht
erſcheint, ſo führt auch das im § 36 angeordnete Con-
tumacialverfahren einen nicht geringen Aufſchub mit ſich.
Beſonders aber leidet jenes Geſetz keine unmittelbare
Anwendung auf den ſpäterhin in Deutſchland ſehr allge-
mein angewendeten rein ſchriftlichen Prozeß, worin gar
keine Termine mündlicher Verhandlung, ſondern regel-
mäßig Vier Schriftſätze, vorkommen. Denkt man ſich den
J. R. A. hierauf ehrlich und ſtreng angewendet, ſo wird
die L. C. ſtets in der ſogenannten Exceptionsſchrift zu
ſuchen ſeyn, welche die Erklärung über die Thatſachen der
Klage, ſey es mit oder ohne Exceptionen, enthalten muß.
Dieſe Stellung der L. C. iſt auch mit dem wahren Sinn
des R. R. übereinſtimmend, nur mit dem minder erheb-
lichen Unterſchied, daß in der Römiſchen L. C. auch ſchon
(n) § 37 am Ende und § 40.
|0065 : 47|
§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon Recht u. Reichsgeſetze.
die Replicationen und Duplicationen vorkamen, die hier
erſt in dem dritten und vierten Schriftſatz erſcheinen (o).
Auch hier aber bleibt dem böswilligen Beklagten noch
manches Mittel übrig, die L. C. willkührlich zu verzögern,
und dadurch dem Kläger die Rechte zu ſchmälern, die ihm
in der That zugedacht ſind. Dazu können misbraucht
werden die wiederholten Friſtgeſuche, ferner die einer längeren
Verhandlung empfängliche Einrede der Incompetenz, endlich
die bloße Verweigerung oder Unterlaſſung der L. C., die
ſelbſt durch manche Scheingründe beſchönigt werden kann.
Einem ſolchen unredlichen Verfahren mit ſicherem Erfolg
entgegen zu treten, fehlt es im gemeinen Prozeß an be-
ſtimmten Rechtsregeln. Auch iſt dabei noch folgender Um-
ſtand zu berückſichtigen. Wenn die L. C., wie angenommen
wird, in der Erklärung auf die Thatſachen beſteht, ſo
bleibt ungewiß, wie es angeſehen werden ſoll, wenn
die Erklärung unbeſtimmt, unverſtändlich, unvollſtändig iſt,
etwa ſo daß ſie ſich nur auf einen kleinen Theil der that-
ſächlichen Grundlagen der Klage bezieht. Man könnte
ſagen, nun müſſe durch eine Art von Fiction eine wirk-
liche L. C. angenommen werden. Dann könnte man aber
noch einen Schritt weiter gehen, und in jeder Exceptions-
(o) Bollſtändiger übereinſtim-
mend mit dem Begriff der Römiſchen
L. C. iſt der dem Preußiſchen Pro-
zeß der allgemeinen Gerichtsord-
nung eigenthümliche Status causae
et controversiae. Nur tritt dabei
der practiſch ſehr erhebliche Unter-
ſchied ein, daß dieſer Status am
Ende von Terminen abgefaßt wird,
deren Anzahl und Zeit von einer
ſehr regelloſen Willkühr des De-
putirten und der Parteien abhängt.
|0066 : 48|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſchrift, auch wenn ſie keine Spur einer thatſächlichen Er-
klärung enthält, eine L. C. fingiren. Nur iſt dieſes Alles
völlig willkührlich, und es iſt eine bloße Illuſion, wenn
man glaubt, damit das R. R., oder die Reichsgeſetze, oder
auch nur die neuere Praxis wirklich anzuwenden. —
Wenn von allen dieſen Schwierigkeiten in vielen Ländern
keine merkliche Beſchwerde empfunden worden iſt, ſo liegt
dieſes theils an der guten Aufſicht der Gerichte, theils
darin daß die Praxis nicht bei der L. C. als Grund und
Zeitpunkt der materiellen Veränderungen während des
Prozeſſes ſtehen geblieben iſt, wovon am Schluß dieſer
ganzen Lehre gehandelt werden wird.
Wie weit aber hierin der Misbrauch und die Gefähr-
dung des Rechts getrieben werden kann, davon giebt der
Sächſiſche Prozeß Zeugniß. In dieſem kommt es ſehr
gewöhnlich vor, daß eine ganze Inſtanz hindurch über die
Verbindlichkeit des Beklagten zur L. C. geſtritten, und am
Ende durch Urtheil feſtgeſtellt wird, daß Beklagter, Ein-
wendens ungeachtet, auf die erhobene Klage ſich einzulaſſen
ſchuldig; dieſes Urtheil kann dann wieder durch Rechts-
mittel angegriffen und durch die Inſtanzen verfolgt werden.
§. 260.
Wirkungen der Litis Conteſtation. — Einleitung.
Indem nunmehr die Wirkungen der L. C. dargeſtellt
werden ſollen, ſind dieſelben an den oben angegebenen
Grundſatz anzuknüpfen, nach welchem die Aufgabe dieſes
|0067 : 49|
§. 260. Wirkung der L. C. — Einleitung.
Rechtsinſtituts auf die Ausgleichung der nachtheiligen
Folgen geht, welche aus der an ſich nicht wünſchens-
werthen, aber unvermeidlichen Dauer des Rechtsſtreits
entſpringen (§ 256. 258). Die jetzt im Einzelnen darzu-
ſtellenden Wirkungen ſind nur als Entwicklungen jenes
Grundſatzes anzuſehen. Es muß jedoch dazu noch durch
folgende Vorbemerkungen ein feſter Grund gelegt werden.
I. Die Ausſprüche der Römiſchen Juriſten über jene
Wirkungen beziehen ſich auf zwei verſchiedenartige Anwen-
dungen, deren Inhalt aber dergeſtalt zuſammenfällt, daß
ſie ohne Unterſchied als ganz gleichbedeutend angeſehen
werden dürfen.
Die meiſten dieſer Ausſprüche betreffen die Frage, wie
in Folge der L. C. das richterliche Urtheil eingerichtet
werden müſſe, und dieſe ſind auch auf unſren heutigen
Rechtszuſtand unmittelbar anzuwenden.
Mehrere Ausſprüche aber betreffen eine Frage, welche
nicht bei allen Klagen, ſondern nur bei den arbitrariae
actiones (§ 221), vorkommen konnte: Die Frage, welche
Handlungen nach der L. C. der Beklagte auf die Auf-
forderung des Judex vorzunehmen habe, um die Verur-
theilung von ſich abzuwenden. Dieſe Handlungen beſtanden,
wie oben gezeigt wurde, in einer Reſtitution oder Ex-
hibition. Hier alſo lautet die Frage ſo: Was muß der
Beklagte freiwillig thum, um nicht verurtheilt zu werden?
oder mit anderen Worten: Was gehört zu einer wahren,
VI. 4
|0068 : 50|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
genügenden, die Verurtheilung abwendenden Reſtitution? (a)
Was gehört zu einer wahren Exhibition? (b)
So verſchieden nun dieſe Fragen, ihrer wörtlichen
Faſſung nach, lauten, ſo ſind ſie dennoch in der That
identiſch, ſo daß die Antwort auf die eine Frage, ohne
Gefahr eines Irrthums, auch als Antwort auf die andere
Frage behandelt werden kann. Denn was der Beklagte
als genügende Reſtitution vornehmen muß um der Verur-
theilung zu entgehen, hat ganz denſelben Umfang wie Das,
wozu er verurtheilt wird, wenn er die freiwillige Reſti-
tution unterläßt (c), und eben ſo umgekehrt. — Da wir
übrigens keine arbitrariae actiones mehr haben (§ 224),
ſo gewähren uns die Ausſprüche über die wahre Reſti-
tution und Exhibition nur den indirecten Vortheil, daß
wir daraus lernen, worauf die Verurtheilung gerichtet
werden muß, wenn es überhaupt zu einer ſolchen kommt (d).
(a) L. 35. 75. 246 § 1 de
V. S. (50. 16), L. 20 L. 35 § 1
de rei vind. (6. 1).
(b) L. 9 § 5. 6. 7. 8. ad exhib.
(10. 4)
(c) Allerdings mit dem Unter-
ſchied, daß das Urtheil nur auf
Geld gehen konnte, anſtatt daß
die Reſtitution in Natur geſchah.
Vergl. B. 5 § 221. Auch kann
im einzelnen Fall, nach thatſäch-
lichen Verhältniſſen, in der Reſti-
tution etwas Anderes nöthig ſeyn
und genügen, als das worauf ſpäter
das Urtheil gelautet hätte. Im
Allgemeinen aber iſt die Identität
des Inhalts bei der Reſtitution
und dem Urtheil unverkennbar.
(d) In ſofern ſteht allerdings
unſer heutiges Recht dem älteren
R. R. gleich, daß auch bei uns
keine Verurtheilung erfolgt, wenn
der Beklagte während des Pro-
zeſſes das Verlangen des Klägers
vollſtändig erfüllt. Dieſer Fall
iſt aber in unſrem heutigen Recht
von keiner practiſchen Erheblichkeit,
anſtatt daß im R. R. die arbi-
trariae actiones künſtlich darauf
berechnet waren, daß der Beklagte
freiwillig reſtituiren oder erhibiren
ſollte, um größeren Nachtheilen
zu entgehen.
|0069 : 51|
§. 260. Wirkung der L. C. — Einleitung.
II. Die materiellen Wirkungen der L. C. ſind aller-
dings darauf berechnet, den Vortheil des Klägers zu beför-
dern. Denn der Kläger iſt es, der durch die unvermeid-
liche Dauer des Rechtsſtreits einen Nachtheil erleiden kann,
und eben gegen dieſen Nachtheil ſoll er künſtlich geſchützt
werden durch die Reduction des Urtheils auf den Zeit-
punkt der L. C. (e).
Indeſſen iſt dieſer Zweck nicht ſo abſtract aufzufaſſen,
als ob der Kläger in jedem einzelnen Falle durch jene
Neduction nothwendig gewinnen, oder auch nur nicht ver-
lieren müßte. Es können vielmehr durchkreuzende practiſche
Rückſichten eintreten, welche in einzelnen Fällen einen ande-
ren Erfolg herbeiführen. Solche Rückſichten können in
anderen Fällen auch wohl die Anwendung jener Reduction
ſelbſt ausſchließen.
Es iſt daher überhaupt in dieſem Rechtsinftitut eine
gewiſſe practiſche Biegſamkeit wahrzunehmen.
III. Der Grundſatz, mit deſſen Entwicklung in einzel-
nen Folgen wir uns nun zu beſchäftigen haben, beruht
auf einem ſo natürlichen Bedürfniß, daß wir eine frühe
Anerkennung deſſelben wohl erwarten dürfen. Und in der
That zeigt ſich derſelbe ſchon wirkſam in der uralten Vin-
dication durch legis actio. Bei dieſer mußten im An-
fang des Rechtsſtreits vom Beklagten praedes litis et vin-
diciarum geſtellt werden, Bürgen für die Sache ſelbſt und
die Früchte derſelben, alſo gegen die Nachtheile, die dem
(e) L. 86. 87 de R. I. (50. 17), L. 29 de nov. (46. 2).
4*
|0070 : 52|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Kläger daraus entſtehen konnten, daß er die Beendigung
des Rechtsſtreits abwarten mußte. In der ſpäteren Vindi-
cation per sponsionem trat an die Stelle jener alten
praedes eine Stipulation pro praede litis et vindiciarum,
das heißt als ein mit derſelben Wirkung verſehenes Sur-
rogat. Und dieſe wieder gieng bei der petitoria formula,
mit Veränderung der Form und des Namens, in eine
Stipulation judicatum solvi über (f).
Ich muß es daher als unhiſtoriſch verwerfen, wenn
neuerlich behauptet worden iſt, jener Grundſatz der Re-
duction auf die Zeit der L. C. ſey die neue Erfindung
eines poſitiven Geſetzes, des unter Hadrian über die
Erbſchaftsklage erlaſſenen Senatsſchluſſes (g). Der Grund-
ſatz ſelbſt war uralt, aber freilich nirgend abſtract aus-
geſprochen, ſondern nur in einzelnen Anwendungen aner-
kannt. Unter den Händen der juriſtiſchen Schriftſteller
wurde er allmälig ausgebildet und entwickelt. Auch der
(f) Gajus IV. § 91. 94. 89
Vergl. oben § 258. g. — Man
könnte glauben, bei der petitoria
formula fehle ein Verſprechen we-
gen der Früchte während des Rechts-
ſtreits. Allein dieſes liegt in den
Worten des § 89: „ut si victus
sis, nec rem ipsam restituas“
rel. Denn in dem restituere,
durch deſſen Unterlaſſen die Sti-
pulation des Beklagten und der
Bürgen verletzt und zur Klage
fällig gemacht (commissa stipu-
latio) wurde, lag auch der Er-
ſatz der omnis causa. Vgl.
die in Note a angeführten Stellen.
(g) Heimbach, Lehre von der
Frucht S. 155 fg. — Fände ſich
jener Grundſatz nur bei der Erb-
ſchaftsklage und der damit nahe
verwandten Eigenthumsklage er-
wähnt, ſo hätte die Behauptung
noch einigen Schein; allein er
kommt eben ſo auch bei den Con-
dictionen vor, und es wird wohl
Niemand annehmen wollen, daß
dieſe unter dem Einfluß des Sc.
Iuventianum geſtanden hätten.
Vgl. L. 31 de reb. cred. (12. 1).
|0071 : 53|
§. 260. Wirkung der L. C. — Einleitung.
angeführte Senatsſchluß nahm ihn in ſich auf, und trug
zur Ausbildung deſſelben bei. Es war alſo ſehr natürlich,
daß die gleichzeitigen und ſpäteren Schriftſteller dieſes Ge-
ſetz, vielleicht das ausführlichſte über den ganzen Gegen-
ſtand, zum Anhaltspunkt ihrer eigenen Ausführungen
wählten, ohne damit ſagen zu wollen, daß jener Grund-
ſatz erſt durch jenes Geſetz neu eingeführt worden ſey und
vor demſelben gar nicht gegolten habe (h).
IV. Der aufgeſtellte Grundſatz läßt ſich in zwei Haupt-
regeln auflöſen.
Es kann geſchehen, daß die juriſtiſchen Bedingungen
der Verurtheilung zur Zeit der L. C. vorhanden ſind,
während der Dauer des Rechtsſtreits aber verſchwinden.
Der Grundſatz führt dahin, daß nun die Verurtheilung
dennoch erfolgen muß.
Es kann ferner geſchehen, daß die Verurtheilung zwar
auch noch ſpäterhin erfolgt, aber dem Kläger weniger Vor-
theile verſchafft, als er jetzt haben würde, wenn ſie ſchon
zur Zeit der L. C. erfolgt wäre. Der Grundſatz führt
nun dahin, der Verurtheilung einen ſolchen Umfang zu
geben, daß dadurch dieſe Differenz ausgeglichen wird.
Die erſte Regel ſoll durch künſtliche Reduction auf den
Zeitpunkt der L. C. die Verurtheilung ſelbſt ſichern,
(h) So iſt zu verſtehen die
Stelle des Paulus in L. 40 pr.
de her. pet. (5. 3). „Illud quoque,
quod in oratione D. Hadriani
est, ut post acceptum judicium
id actori praestetur, quod ha-
biturus esset, si eo tempore,
quo petit, restituta esset here-
ditas, interdum durum est.“
|0072 : 54|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
da wo ohne dieſe Regel eigentlich eine Freiſprechung er-
folgen müßte.
Die zweite Regel ſoll den Umfang der Verurthei-
lung ſo beſtimmen, daß der Kläger nicht weniger Vor-
theile erhalte, als er durch eine zur Zeit der L. C. erfolgte
Verurtheilung jetzt haben würde.
Beide Regeln zuſammen, alſo der vollſtändige Grund-
ſatz in welchem ſie als verſchiedene Anwendungen ent-
halten ſind, werden bezeichnet durch den Ausdruck: causa
praestanda est oder causa restitui debet (i). Causa alſo,
oder omnis causa, causa omnis, heißt alles dasjenige,
welches in Anwendung jener Regeln durch das richterliche
Urtheil dem Kläger verſchafft werden ſoll.
§. 261.
Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.
Zuvörderſt ſind diejenigen Fälle zuſammen zu ſtellen, in
welchen die Bedingungen der Verurtheilung zur Zeit der
L. C. vorhanden ſind, während des Rechtsſtreits aber ver-
(i) In den meiſten Stellen, wo-
rin dieſe Ausdrücke vorkommen,
wird zufällig nur die zweite Regel
als die häufigere und wichtigere,
daran geknüpft; am häufigſten der
Erſatz der Früchte. In folgenden
Stellen aber wird der Ausdruck
ſo gebraucht, daß er entſchieden
beide Regeln umfaßt. § 3 I. de
off. jud. (4. 17), L. 35 de
V. S. (50. 16) „Restituere
autem is intelligitur, qui simul
et causam actori reddit, quam
is habiturus esset, si statim
judicii accepti tempore res ei
reddita fuisset, id est et asu-
capionis causam, et fructuum.“
Die usucapionis causa beſteht
eben in einer Anwendung der
erſten Regel.
|0073 : 55|
§. 261. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.
ſchwinden. Die L. C. ſoll hier die Wirkung haben, daß
die Verurtheilung dennoch geſichert bleibe (§ 260).
I. Klagverjährung nach der L. C.
Unter jene Fälle gehört, für Klagen aller Art, der Fall
der Klagverjährung, welche zur Zeit der L. C. erſt ange-
fangen war, während des Rechtsſtreits aber den für ihre
Vollendung beſtimmten Zeitpunkt erreicht hat.
Nach dem älteren Recht ſollte die L. C. die Wirkung
haben, daß die Verurtheilung dennoch ausgeſprochen würde,
oder mit anderen Worten: die L. C. ſollte die angefangene
Klagverjährung unterbrechen.
Dieſes hat ſich im neueren R. R. dadurch verändert,
daß ſchon die Inſinuation der Klage die Klagverjährung
völlig unterbrechen ſoll, wodurch alſo die erwähnte Wir-
kung, die im früheren Recht an die L. C. geknüpft war,
nunmehr abſorbirt wird (§ 242. 243).
II. Uſucapion nach der L. C.
Bei den Klagen in rem kann es geſchehen, daß das
Recht des Klägers (z. B. das Eigenthum), welches zur
Zeit der L. C. vorhanden war, während des Rechtsſtreits
untergegangen iſt; das ſoll die Verurtheilung nicht hindern.
Der wichtigſte Fall dieſer Art iſt der der Uſucapion;
wenn nämlich der Beklagte, der die Uſucapion zur Zeit der
L. C. angefangen hatte, dieſe während des Rechtsſtreits
vollendet, ſo daß zur Zeit des Urtheils in der That nicht
mehr der Kläger, ſondern vielmehr der Beklagte, wahrer
|0074 : 56|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Eigenthümer iſt. Wie iſt dagegen dem Kläger zu
helfen? (a)
Der Gedanke liegt ſehr nahe, dieſen Fall eben ſo zu
behandeln wie den der Klagverjährung, alſo in die L. C.
(oder auch in die Inſinuation) eine Unterbrechung der
Uſucapion zu legen die dann nicht ablaufen könnte, ſo daß
das Eigenthum unverändert bliebe.
Dieſer Gedanke iſt jedoch dem R. R. völlig fremd,
welches vielmehr den Fortgang und Ablauf der Uſucapion
während des Rechtsſtreits auf unzweifelhafte Weiſe aner-
kennt (b). Es hilft aber dem Kläger auf indirecte Weiſe,
indem es dem Beklagten die Verpflichtung auflegt, das
wirklich erworbene Eigenthum auf den Kläger zurück zu
übertragen, welches im älteren Recht oft durch Mancipation
geſchehen mußte, im neueſten Recht aber ſtets durch Tra-
dition bewirkt wird. Daneben ſoll der Beklagte auch noch
Caution ſtellen für den Fall, daß er etwa in der Zwiſchen-
zeit, worin er Eigenthümer war, nachtheilige Veränderungen
in dem Recht an der Sache vorgenommen haben ſollte (c).
(a) Sehr gut handelt von die-
ſem Fall Keller S. 173 — 179.
(b) L. 2 § 21 pro emt. (41. 4),
L. 17 § 1 in f. de rei vind. (6. 1).
— Auch die in der folgenden Note
angeführten Stellen beweiſen die-
ſen Satz völlig, weil eine Rück-
übertragung des Eigenthums weder
nöthig noch möglich wäre, wenn
nicht der Beklagte durch vollendete
Uſucapion Eigenthum erworben
hätte.
(c) L. 18. 20. 21 de rei vind.
(6. 1), L. 35 de V. S. (50. 16
vgl. oben § 260. i), L. 8 § 4 si
serv. (8. 5) „quemadmodum pla-
cet in dominio aedium.“ —
Wenn L. 18 cit. ſagt: „debet eum
tradere,“ ſo iſt das eine unzwei-
felhafte Interpolation, da Gajus
|0075 : 57|
§. 261. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.
Aus zwei verſchiedenen Gründen iſt behauptet worden,
daß im heutigen Recht dieſe Regeln nicht mehr gelten,
indem jetzt auch für die Uſucapion eine wahre Unterbrechung
durch die L. C. (oder durch die Inſinuation) eintrete.
Erſtlich iſt behauptet worden, die L. C. mache den Beſitz
zu einem unredlichen, die Uſucapion aber werde durch jede
mala fides, auch durch die mala fides superveniens, nach den
Vorſchriften des canoniſchen Rechts unterbrochen (§ 244). —
Von der Unredlichkeit des Beſitzes, die durch die L. C. be-
wirkt werden ſoll, wird unten ausführlich geſprochen werden
(§ 264). Wenn man ſie auch in einem figürlichen Sinn,
durch eine Art von Fiction, annehmen wollte, ſo kann ſie
doch in der unmittelbaren Bedeutung, wie ſie das cano-
niſche Recht unzweifelhaft auffaßt, unmöglich behauptet
werden; es wäre widerſinnig zu ſagen, jeder Beklagte be-
finde ſich von der L. C. an in einem ſündlichen Zuſtand,
und in dieſem Sinn faßt das canoniſche Recht die mala fides
auf. — Dieſer Grund für eine veränderte Rechtsregel muß
alſo entſchieden als unhaltbar verworfen werden (d).
Ein zweiter Grund für eine Veränderung der Rechts-
regeln hat ungleich mehr Schein. Neben der Uſucapion,
und als Ergänzung derſelben, wurde ſchon frühe eine longi
temporis praescriptio von zehen oder zwanzig Jahren ein-
geführt. Dieſes war eine reine Klagverjährung, und es
ſehr wohl wußte, daß das Eigen-
thum eines Sklaven nicht durch
Tradition, ſondern nur durch Man-
cipation oder in jure cessio über-
tragen werden konnte.
(d) So wird die Sache richtig
dargeſtellt von Kierulff S. 277,
und Wächter H. 3 S. 105.
|0076 : 58|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
iſt unzweifelhaft, daß ſie, ſo wie jede andere Klagverjäh-
rung, durch die L. C. (ſpäter durch die Inſinuation) unter-
brochen wurde (e). Nun hat Juſtinian an die longi tem-
poris possessio, welche früher nur eine praescriptio begrün-
dete, bei unbeweglichen Sachen die Wirkung der Uſucapion
geknüpft: im Fall der bona fides ſogar auch an den dreißig-
oder vierzig-jährigen Beſitz, und ohne Unterſchied der beweg-
lichen und unbeweglichen Sachen (f). Hierüber haben ſich
zwei verſchiedene Meinungen gebildet. Nach der einen
Meinung hat der Erwerb von 10, 20, 30 Jahren, auch
nachdem ihm gleiche Wirkung mit der Uſucapion beigelegt
worden iſt, dennoch ſeine urſprüngliche Natur einer Klag-
verjährung beibehalten, ſo daß darauf die Unterbrechung
durch Inſinuation der Klage anzuwenden iſt (g). Nach
der anderen Meinung iſt jeder Erwerb, welchem Juſtinian
die Wirkung einer Uſucapion beigelegt hat, als eine wahre,
eigentliche Uſucapion, nur mit anderen Zeitfriſten als denen
des älteren Rechts anzuſehen, und es ſind darauf alle Be-
ſtimmungen des älteren Rechts über die Uſucapion unmit-
telbar anzuwenden, namentlich auch die Beſtimmung, daß
die L. C. den Lauf dieſer Uſucapionen nicht unterbricht,
ſondern nur eine Verpflichtung des Beklagten zur Rückgabe
des Eigenthums erzeugt.
(e) L. 1. 2. 10 C. de praescr.
longi temp. (7. 33), L. 2 C. ubi
in rem (3. 19), L. 26 C. de rei
vind. (3. 32).
(f) L. 8 pr. § 1 C. de praescr.
XXX. (7. 39) vom J. 528.
(g) Wächter H. 3 S. 99—104.
|0077 : 59|
§. 261. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.
Ich halte die zweite Meinung für die richtige, und
zwar hauptſächlich deswegen, weil Juſtinian ſelbſt den
Beſitz von 3, 10, 20 Jahren geradezu als Uſucapion
bezeichnet (h), und dadurch als einen Rechtsbegriff aufſtellt,
auf welchen er die in ſeinen Rechtsbüchern über die Uſu-
capion aufgeſtellten Vorſchriften angewendet wiſſen will. —
Für die entgegengeſetzte Meinung wird ein Geſetz von Ju-
ſtinian angeführt, welches folgenden Inhalt hat (i). Wenn
der Eigenthümer eine Vindication gegen den Beſitzer ſeiner
Sache deswegen nicht anbringen kann, weil dieſer Be-
ſitzer abweſend, oder Kind, oder wahnſinnig iſt, ſo darf der
Eigenthümer ſeine Klage bei dem Präſes, oder dem Biſchof,
oder dem Defenſor einreichen u. ſ. w.,
„et hoc sufficere ad omnem temporalem interruptio-
nem, sive triennii, sive longi temporis, sive triginta
vel quadraginta annorum sit.“ (Vorher heißt es:
interruptionem temporis facere, et sufficere hoc ad
plenissimam interruptionem.)
Aus dieſen Worten wird gefolgert, die Klage unter-
breche jetzt wirklich die Uſucapion. Allein Juſtinian hatte
(h) pr. j. de usuc. (2. 6) „et
ideo Constitutionem super hoc
promulgavimus, qua cautum
est, ut res quidem mobiles per
triennium, immobiles vero per
longi temporis possessionem,
i. e. inter praesentes decennio,
inter absentes viginti annis,
usucapiantur.“ — Daß hier der
dreißigjährige Beſitz nicht mit auf-
geführt iſt, mag aus Nachläſſigkeit
oder aus Rückſicht auf deſſen
exceptionelle Natur und Beſchaffen-
heit herrühren; eine weſentliche
Verſchiedenheit kann aus dieſer
Auslaſſung auch für dieſen Fall
nicht abgeleitet werden. Auch er
enthält eine wahre Uſucapion, und
wird nur zufällig nicht ſo genannt.
(i) L. 2 C. de ann. exc. (7. 40).
|0078 : 60|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
in dieſem Geſetz augenſcheinlich nur den Zweck, für einen
ſeltenen Nothfall eine rein practiſche Auskunft zu erfinden,
nicht die feinere Natur dieſer Rechtsverhältniſſe zu beſtim-
men. Für jenen practiſchen Zweck war durch die neue
Vorſchrift völlig geſorgt, und in dieſer Hinſicht konnte man
es eine interruptio nennen, weil es für den vorliegenden
Zweck, wenn der Kläger wirklich Eigenthum hatte, ganz
gleichgültig war, ob die Uſucapion unterbrochen, oder dem
Kläger ein Anſpruch auf Verurtheilung des Gegners zur
Rückgabe des Eigenthums geſichert war. Die dreijährige
Uſucapion war doch gewiß nicht aus einer alten Klagver-
jährung hervorgegangen, und bei ihr iſt alſo nicht einmal
eine ſcheinbare Veranlaſſung anzugeben, weshalb ſie hätte
die Natur einer eigentlichen Uſucapion verlieren, und in
die einer Klagverjährung umgebildet werden ſollen; dennoch
iſt auch ſie, wie die übrigen Fälle, in jenem Geſetz ausdrücklich
mit aufgeführt, und mit ihnen ganz auf gleiche Linie geſtellt.
Dieſe ganze Streitfrage übrigens iſt von geringer prac-
tiſcher Erheblichkeit. Die Fälle, in welchen die Gefahr
einer Uſucapion durch Klage abgewendet werden muß, ſind
überhaupt nicht häufig, und wo ſie vorkommen, iſt es für
die Sicherheit des alten Eigenthümers ziemlich gleichgültig,
ob er durch Unterbrechung der Uſucapion geſchützt wird,
oder vielmehr, wie ich glaube, auf dem Wege, den dafür
das ältere R. R. angiebt.
Dieſelben Regeln, welche hier für die Uſucapion aufge-
ſtellt worden ſind, müſſen auch angewendet werden, wenn
|0079 : 61|
§. 261. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.
eine Servitut durch confeſſoriſche Klage verfolgt wird, und
während des Rechtsſtreits, nach der L. C., die für den
Nichtgebrauch beſtimmte geſetzliche Friſt abläuft. In dieſem
Fall geht die Servitut durch Nichtgebrauch wirklich unter,
der Beklagte muß aber verurtheilt werden, ſie durch eine
neue juriſtiſche Handlung wiederherzuſtellen: nach dem älte-
ren Recht durch in jure cessio, nach dem neueren durch
Vertrag (k).
III. Perſönliche Klagen, deren Grund nach der
L. C. verſchwindet.
Bei den perſönlichen Klagen kommt zuerſt der Fall in
Betracht, wenn während des Rechtsſtreits die Obligation
untergeht, und zwar durch freiwillige Leiſtung von Seiten
des Beklagten. Man ſollte glauben, es hätte nie bezwei-
felt werden können, daß nun der Rechtsſtreit von ſelbſt zu
Ende ſey. Bei den arbiträren Klagen war dieſes auch in
der That der Fall, indem durch die ganze Behandlung der-
ſelben recht abſichtlich auf die freiwillige Erfüllung mit
dem Erfolg der Freiſprechung hingewirkt werden ſollte.
Allein bei den übrigen Klagen war die Sache ſtreitig,
jedoch wahrſcheinlich nur bei den ſtrengen Klagen. Die
härtere Meinung der Proculianer gieng dahin, daß dennoch
der Beklagte verurtheilt werden ſollte. Die mildere Mei-
nung der Sabinianer nahm die Freiſprechung an, und dieſe
Meinung wurde durch die Regel ausgedrückt: omnia judi-
(k) L. 5 § 5 si ususfr. (7. 6), L. 10 de usufr. accresc. (7. 2),
L. 8 § 4 si serv. (8. 5). Vgl. Keller S. 175.
|0080 : 62|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
cia esse absolutoria (l). Natürlich hat Juſtinian dieſe
mildere Meinung angenommen (m).
Außer der Erfüllung kommen noch folgende einzelne,
weniger erhebliche, Fälle vor, worin während des Rechts-
ſtreits die urſprünglich vorhandene Bedingung einer perſön-
lichen Klage wegfallen kann.
Wegen des von einem Sklaven begangenen Diebſtahls
hatte der Beſtohlene eine Noxalklage gegen den Eigenthü-
mer des Sklaven; das Eigenthum wurde erfordert zur
Zeit der L. C. Wenn nun der Beklagte den Sklaven nach
der L. C. veräußerte, ſo entgieng er dadurch der Verur-
theilung nicht, ſelbſt wenn die Veräußerung an den Kläger
geſchah (n).
Bei der Klage ad exhibendum beſteht die Hauptbedin-
gung in einem rechtlichen Intereſſe des Klägers an der
Exhibition. Wenn nun dieſes zur Zeit der L. C. vorhanden
iſt, nachher verſchwindet, ſo müßte nach unſrem Grundſatz
der Beklagte verurtheilt werden. Hier aber tritt eine Aus-
nahme ein, indem die Verurtheilung nur dann erfolgen ſoll,
(l) Gajus IV. § 114. Aber auch
nach der ſtrengeren Meinung ſollte
doch wahrſcheinlich nicht der Be-
klagte die doppelte Leiſtung bekom-
men und behalten. Vielleicht wurde
er dagegen durch eine condictio
sine causa geſchützt. Ausführlich
handelt von dieſer Frage Keller
S. 180 —184.
(m) § 2 J. de perpet. (4. 12).
Eine Spur des verworfenen ſtren-
geren Grundſatzes iſt wahrſchein-
lich aus Verſehen in die L. 84 de
V. O. (45. 1) übergegangen. Vgl.
oben B. 5 S. 135, und Wächter
H. 3 S. 26.
(n) L. 37 L. 38 pr. de nox.
act. (9. 4).
|0081 : 63|
§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung. (Fortſetz.)
wenn auch noch zur Zeit des Urtheils das Intereſſe des
Klägers fortdauert (o).
Nach der L. Julia ſollte die Klage gegen einen Freige-
laſſenen auf eine operarum obligatio ausgeſchloſſen ſeyn,
wenn der Freigelaſſene zwei Kinder hatte. Wenn nun
nach der L. C., während des Rechtsſtreits, das zweite Kind
geboren wurde, ſo hätte eigentlich, nach unſrem Grundſatz,
die Verurtheilung erfolgen müſſen. Hier aber wurde das
Gegentheil angenommen, offenbar aus derſelben Begünſti-
gung, woraus dieſes ganze Privilegium entſprungen war (p).
§. 262.
Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.
(Fortſetzung.)
IV. Uebergang der Klagen auf die Erben.
Unter den perſönlichen Klagen finden ſich viele, die nicht
gegen die Erben des urſprünglichen Schuldners angeſtellt
werden können, und unter dieſen ſind die wichtigſten die
Pönalklagen. Für alle dieſe Klagen gilt die durchgreifende
Regel, daß ſie auf die Erben übergehen, wenn der Beklagte
erſt nach der L. C. ſtirbt (a). Dieſe Regel iſt die unmit-
(o) L. 7 § 7 ad exhib. (10. 4).
(p) L. 37 pr. § 6 de op. libert.
(38. 1).
(a) L. 58 de O. et A. (44. 7),
L. 29 de nov. (46. 2), L. 87. 139
pr. de R. J. Vgl. B. 5 § 211. g,
§ 230, und Keller § 20. — Die
L. 33 de O. et A. (44. 7), die
hierin beſondere Schwierigkeit
macht, iſt ſchon oben § 257 erklärt
worden. — Die, ohnehin weit ſelt-
neren Klagen, die von Seiten des
Klagberechtigten unvererblich ſind,
richten ſich nach ganz anderen Re-
geln, und werden nicht erſt durch
die L. C. der Vererbung fähig.
|0082 : 64|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
telbare Folge der in der L. C. enthaltenen contractlichen
Obligation, durch welche diejenige Eigenſchaft des urſprüng-
lichen Rechtsverhältniſſes abſorbirt wird, in welcher die
Unvererblichkeit deſſelben gegründet war.
V. Entſtehung des Rechts nach der L. C.
Bisher ſind die Fälle erwogen worden, in welchen das
zur Zeit der L. C. vorhandene Recht des Klägers während
des Rechtsſtreits verſchwindet; unſer Grundſatz führte
dahin, daß dieſe Änderung dem Kläger nicht ſchaden ſoll.
Wir haben jetzt den umgekehrten Fall zu betrachten, wenn
das Recht des Klägers zur Zeit der L. C. nicht vorhanden
iſt, während des Rechtsſtreits aber entſteht; wenn alſo
z. B. ein Nichteigenthümer vindicirt und während des
Rechtsſtreits Erbe des Eigenthümers wird, oder wenn ein
Anderer als der Creditor eine wirklich vorhandene Schuld
einklagt, während des Rechtsſtreits aber durch Beerbung
des wahren Creditors die Forderung erwirbt (b).
Hier iſt zuvörderſt einleuchtend, daß unſer Grundſatz
keine Anwendung finden kann. Wollte man auf das neu
erworbene Recht eine Verurtheilung gründen, ſo würde
dadurch nicht etwa ein durch die Dauer des Rechtsſtreits
herbeigeführter Verluſt von dem Kläger abgewendet werden
(worauf allein unſer Grundſatz abzweckt), ſondern der
Kläger würde durch jene Dauer Etwas gewinnen, da
(b) Von dieſer Frage handeln:
Voetius VI. 1 § 4 (kurz und
gründlich), Glück B. 8 S. 147
bis 151, mit ausführlicher Angabe
der Schriftſteller, und Wächter
H. 3 S. 120 — 124.
|0083 : 65|
§. 262 Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)
er zur Zeit der L. C. unzweifelhaft abgewieſen worden
wäre.
Ferner iſt das practiſche Intereſſe dieſer Frage an ſich
weit geringer. In dem bisher betrachteten umgekehrten
Fall kam es darauf an, den Kläger gegen den Verluſt des
Rechts ſelbſt zu ſchützen, den er z. B. durch den unge-
ſchwächten Fortgang der Klagverjährung oder der Uſucapion
erlitten haben würde. Dieſer Verluſt des Rechts ſelbſt
kann hier in keinem Fall eintreten. Laſſen wir die Beach-
tung des neu erworbenen Rechts im gegenwärtigen Prozeß
zu, ſo erreicht der Kläger ſeinen Zweck ſogleich; laſſen
wir ſie nicht zu, ſo wird der Beklagte freigeſprochen, der
Kläger kann aber in einer neuen Klage ſein Recht geltend
machen, und verliert alſo blos Zeit und Prozeßkoſten.
Dieſes galt ſelbſt nach der Strenge des alten R. R., da
das neu erworbene Recht eine nova causa bildete, alſo
durch die frühere Klage nicht in judicium deducirt und
conſumirt war (c). Das Intereſſe der Frage iſt alſo nicht
materiell, nur prozeſſualiſch, woraus übrigens nicht folgt,
daß wir deshalb weniger ſorgfältig auf die Entſcheidung
derſelben einzugehen hätten.
A. Nach R. R. muß angenommen werden, daß der
ſpätere Erwerb des Rechts die Verurtheilung nicht recht-
fertigt. Dafür ſind folgende Stellen entſcheidend:
L. 23 de jud. (5. 1) von Paulus: „Non potest
(c) L. 11 § 4. 5 de exc. rei jud. (44. 2). Dieſe Stelle wird in
der Lehre vom Urtheil vollſtändig benutzt werden.
VI. 5
|0084 : 66|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
videri in judicium venisse id, quod post judicium
acceptum accidisset, ideoque alia interpellatione opus
est.“ Das heißt: die nach der L. C. eintretenden
Veränderungen dürfen auf das Urtheil dieſes Juder
keinen Einfluß haben; es bedarf alſo einer neuen
Klage (d) um ſie geltend zu machen. Dieſe Regel
wird hier ganz allgemein aufgeſtellt, ohne Unterſchied
zwiſchen in rem und in personam, zwiſchen stricti
juris und bonae fidei actio.
L. 35 de jud. (5. 1) von Javolenus: „Non
quemadmodum fidejussoris obligatio in pendenti
potest esse, et vel in futurum concipi, ita judicium
in pendenti potest esse, vel de his rebus, quae
postea in obligationem adventurae sunt. Nam ne-
minem puto dubitaturum, quin fidejussor ante obli-
gationem rei accipi possit: judicium vero, antequam
aliquid debeatur, non posse.“ Dieſe Stelle ſpricht
blos von perſönlichen Klagen, von dieſen aber ganz
allgemein, ohne Unterſchied zwiſchen ſtrengen und
freien.
Eine beſtätigende Anwendung der aufgeſtellten Regel
findet ſich bei der actio ad exhibendum. Die Bedingung
dieſer Klage iſt ein rechtliches Intereſſe des Klägers bei
der Exhibition. Wenn nun dieſes Intereſſe zur Zeit der
(d) Interpellare für judicio
interpellare, verklagen, komm
auch ſonſt öfter vor, z. B. L. 1
de distr. (20. 5), L. 13 § 3 de
zujur. (47. 10).
|0085 : 67|
§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)
L. C. fehlt, während des Rechtsſtreits aber entſteht, ſo
ſoll dennoch keine Verurtheilung erfolgen, indem das Da-
ſeyn des Intereſſe in beiden Zeitpunkten (L. C. und Urtheil)
erfordert wird (e).
Eine fernere Beſtätigung liegt in folgender wichtigen
Regel, deren vollſtändiger Zuſammenhang erſt weiter unten
in der Lehre vom Urtheil erklärt werden kann. Wenn der
Kläger das Eigenthum der vindicirten Sache erſt nach der
L. C. erwirbt, ſo ſoll ihm das abweiſende Urtheil bei einer
neu angeſtellten Vindication nicht als Exception entgegen
geſetzt werden können (f). Dies wird hier allgemein aus-
geſprochen, ohne Unterſchied, ob der neue Erwerb vor oder
nach dem erſten Urtheil eingetreten iſt. Zwar wird zunächſt
nur die Wirkſamkeit der exceptio rei judicatae im zweiten
Prozeß verneint, und es wird nicht ausdrücklich die Frage
berührt, ob etwa auch ſchon in der erſten Vindication der
Richter wegen des inzwiſchen erworbenen Eigenthums ver-
urtheilen dürfe. Allein die Gründe, die der Juriſt zur Be-
ſtätigung ſeines Ausſpruchs anführt, laſſen keinen Zweifel,
daß er eine ſolche Verurtheilung für unmöglich halten
mußte (g).
Viele Schriftſteller haben einen Widerſpruch gegen die
(e) L. 7 § 7 ad exhib. (10. 4),
vgl. oben § 261. o.
(f) L. 11 § 4. 5 de exc. rei
jud. (44. 2).
(g) L. cit. „… alia enim
causa fuit prioris dominii, haec
nova nunc accessit. Itaque ad-
quisitum quidem postea domi-
nium aliam causam facit, mu-
tata autem opinio petitoris non
facit.“
5*
|0086 : 68|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
hier aufgeſtellte Behauptung in folgender Stelle des Pau-
lus finden wollen (h):
„Si mandavero tibi, ut a Titio decem exigeres, et
ante exacta ea, mandati tecum egero, si ante rem ju-
dicatam exegeris, condemnandum te esse constat.“
Dieſer Widerſpruch iſt in der That nicht vorhanden.
Durch den übernommenen Auftrag das Geld einzufordern,
iſt die actio mandati bereits vollſtändig begründet, und
durch die während des Rechtsſtreits erfolgte Einforderung
kann höchſtens der Inhalt und Umfang des Urtheils etwas
anders beſtimmt werden. Paulus will alſo nicht ſagen,
daß nur im Fall einer früheren Einforderung eine Verur-
theilung überhaupt erfolgen ſolle (i); die Meinung geht
vielmehr dahin, daß nach der Einforderung unbedingt auf
die Auszahlung des erhobenen Geldes erkannt werde, an-
ſtatt daß vor der Einforderung auf die Vollziehung des
Auftrags (nach R. R. auf das Intereſſe) erkannt werden
müßte. Der Ausſpruch des Paulus muß daher in Ge-
danken ſo ergänzt werden: decem condemnandum te esse
constat. — Um den vermeintlichen Widerſpruch zwiſchen
dieſer Stelle und den oben angeführten zu löſen, haben
mehrere Schriftſteller (k) einen Unterſchied zwiſchen den
(h) L. 17 mandati (17. 1).
(i) So verſtehen die Gegner die
Stelle, indem ſie durch das arg.
a contrario hinzudenken: si non
exegeris, absolvendum te esse.
Allein die unbedingte Anwendung
dieſes Arguments iſt überall be-
denklich, und ſie muß beſonders
hier verworfen werden, da die Ab-
ſolution, nach der allgemeinen Na-
tur der Mandatsklage, in keinem
Fall zu rechtfertigen wäre.
(k) Keller S. 185. 187. Wäch-
ter H. 3 S. 121.
|0087 : 69|
§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)
stricti juris und bonae fidei actiones behauptet; bei jenen ſoll
die ſtrengere, bei dieſen (wohin denn eben die Mandatsklage
zu rechnen wäre) die mildere Regel gegolten haben. Durch
die eben aufgeſtellte Erklärung fällt das Bedürfniß einer
ſolchen Vereinigung hinweg. Sie wird aber auch dadurch
widerlegt, daß die oben angeführten Stellen über die ſtren-
gere Regel nicht auf die stricti juris actiones beſchränkt ſind,
während umgekehrt gerade bei der actio ad exhibendum die
ſtrengere Regel eintritt (Note e), obgleich die actio ad exhi-
bendum unter die arbiträren, alſo unter die freieſten Kla-
gen überhaupt, gehört.
In der That hängt aber auch die hier erörterte Regel
mit den ſtrengen, buchſtäblichen Formen des alten Prozeſſes
gar nicht zuſammen. Sie beruht vielmehr auf der ganz
natürlichen Betrachtung, daß für Fälle wie der hier vor-
ausgeſetzte die Anſtellung einer neuen Klage an ſich zweck-
mäßiger iſt, und daß die entgegengeſetzte Behandlung das
Recht des Beklagten gefährden kann, indem dieſer bis dahin
unmöglich ſeine Vertheidigung auf das angeblich neu er-
worbene Recht des Klägers einrichten konnte.
Andere Stellen, wodurch man die hier vertheidigte Regel
zu widerlegen geſucht hat, beziehen ſich gar nicht auf den
Fall, wenn das Recht des Klägers zur Zeit der L. C. fehlt,
ſpäter erworben wird (von welchem Fall hier allein die
Rede iſt), ſondern vielmehr auf die während des Prozeſſes
eintretenden factiſchen Veränderungen; von dieſen aber wird
weiter unten (No. VI.) noch beſonders die Rede ſeyn.
|0088 : 70|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Mit Unrecht hat man mit der Erörterung unſrer Frage
folgende ganz andere in Verbindung zu bringen geſucht.
Wenn der Kläger aus Verſehen in der Klage einen unrich-
tigen Gegenſtand, oder eine zu geringe Summe bezeichnet,
ſo ſoll ihm dieſes für die Erhaltung ſeines Rechts keine
Gefahr bringen; und zwar nach dem älteren Recht, indem
es ihm ſtets frei ſtand, durch eine neue Klage den Irr-
thum zu berichtigen (l): nach dem Juſtinianiſchen Recht,
indem er die Berichtigung noch in demſelben Prozeß mit
Erfolg vornehmen kann (m). — Eine ſolche Berichtigung
der in der Klage begangenen Irrthümer iſt von dem hier
vorliegenden Fall eines erſt während des Rechtsſtreits neu
entſtandenen Rechts des Klägers völlig verſchieden.
B. Nach dem canoniſchen Recht hat unſre Rechts-
regel eine weſentliche Abänderung erlitten. P. Inno-
cenz IV. hat nämlich folgenden Unterſchied aufgeſtellt (n).
Wenn in der Klage nicht nur das Recht ſelbſt, ſondern
auch der Erwerbsgrund deſſelben, beſtimmt ausgedrückt ſey,
ſo ſolle im Fall eines ſpäteren Erwerbs (ganz wie im R. R.)
die Verurtheilung nicht erfolgen dürfen, ſondern vielmehr
eine neue Klage erforderlich ſeyn. Wenn dagegen die Klage
(l) Gajus IV. § 55. 56. — In
manchen Fällen war nach altem
Recht auch ſchon in dem erſten
Prozeß eine Berichtigung des be-
gangenen Irrthums zuläſſig, und
zwar gerade in ſolchen Fällen,
worin außerdem eine neue Klage
durch die Conſumtion ausgeſchloſſen
ſeyn würde.
(m) § 34. 35 J. de act. (4. 6).
Nach den Regeln des heutigen
gemeinen Prozeſſes würde eine
ſolche Veränderung des Klaglibells
nicht mehr zuläſſig ſeyn.
(n) C. 3 de sentent. in VI.
(2. 14).
|0089 : 71|
§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)
nur das Recht ſelbſt (z. B. Eigenthum), nicht den Erwerbs-
grund (z. B. Uſucapion), ausdrücke, ſo ſolle der während
des Rechtsſtreits eintretende Erwerb auch ſchon jetzt, ohne
neue Klage, zur Verurtheilung führen.
Um dieſe ſehr weitläufige Verordnung gegen die un-
richtige Deutung zu ſchützen, die dafür neuerlich verſucht
worden iſt (o), muß die Bemerkung vorausgeſchickt werden,
daß dieſe Decretale, ſo wie viele andere, aus zwei verſchie-
denen Theilen zuſammengeſetzt iſt. Sie enthält zuerſt einen
Auszug der Prozeßacten, alſo die Behauptungen und
Gründe beider Parteien. Darauf folgt das ausgeſprochene
Urtheil des Richters, welches am Schluß des ganzen Ge-
ſetzes der Papſt beſtätigt, und dadurch zur geſetzlichen Kraft
erhebt (p). In dem Urtheil des Richters, alſo in dem
geſetzlichen Theil der ganzen Stelle, lauten die entſchei-
denden Worte alſo:
„Ex iis enim, quae post inchoatum judicium eveniunt,
quando causa fuit exposita specialis, nec debet nec
potest judicis animus ad proferendam sententiam in-
formari, quia, quum certae causae facta est mentio,
utpote donationis vel venditionis aut alterius specia-
lis, oportet incepti judicii tempus attendi, ut liquido
cognoscatur, an tunc interfuerit actoris, propter illa,
(o) Wächter H. 3 S. 122. 123.
(p) „Nos igitur, cardinalis
ejusdem sententiam ratam ha-
bentes, eam auctoritate aposto-
lica confirmamus.“ — Die rich-
terliche Entſcheidung, die hier mit
Geſetzeskraft verſehen wird, fängt
an mit den Worten: „Praefatus
igitur cardinalis, praemissis
omnibus.“
|0090 : 72|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
quae specialem comitantur causam et necessario ad-
esse debent, veluti locus et tempus et hujusmodi,
quae sunt sollicite attendenda, et sine quibus causa
vacua et invalida censeretur. Sed quum est in ge-
nere absque alicujus causae declaratione petitum,
non sic oportet accepti judicii tempus inspici, quia
non requiruntur, nec sunt opportuna, nec attendi
possunt hujusmodi comitantia in hoc casu.“
In dieſen Worten iſt genau und unzweideutig die Un-
terſcheidung von zwei Fällen möglicher Abfaſſung der Klage
(nämlich mit oder ohne Angabe des Erwerbsgrundes für
das eingeklagte Recht) enthalten, welchen ich oben als In-
halt des Geſetzes angegeben habe (q). Und dieſe Unter-
ſcheidung muß daher auch für unſer heutiges gemeines
Recht maaßgebend ſeyb.
(q) Wächter H. 3 S. 122. 123.
faßt die Sache ſo auf, als ſey die
Benutzung des neuen Erwerbes
auch in dem Fall zuläſſig, wo aus
einem ſpeciellen Erwerbsgrunde ge-
klagt wird, wenn nur ſpäterhin
„gerade derjenige Erwer-
bungsgrund, auf welchen die ding-
liche Klage geſtützt wird, durch ein
ſpäteres Ereigniß begründet wurde;“
welches ohne Zweifel ſo viel heißen
ſoll, als: der ſpätere wahre Er-
werbungsgrund müſſe mit dem frü-
heren falſchen gleichnamig ſeyn —
denn identiſch iſt er mit demſelben
niemals, wie es gerade in den
Worten der Decretale ſehr richtig
anerkannt wird. Wächter beruft
ſich zum Beweiſe dieſer Behaup-
tung auf eine Stelle der Decretale,
welche nicht zu der richterlichen
und geſetzlichen Entſcheidung, ſon-
dern zu den Prozeßacten gehört,
alſo an ſich gar nichts beweiſen
kann. Dieſe Verwechſlung ver-
ſchuldet zunächſt Glück, welcher
S. 149. 150 gerade dieſe Stelle der
Prozeßacten als das eigentliche
Geſetz irrig abdrucken läßt. Aber
auch ſelbſt die allegirte Stelle der
Prozeßacten hat, genauer angeſehen,
nicht den von Wächter angenom-
menen Inhalt, ſondern ſtimmt ei-
gentlich ganz mit der nachfolgenden
geſetzlichen Entſcheidung überein.
|0091 : 73|
§. 263. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)
Es verſteht ſich aber dabei von ſelbſt, daß auch in dem
von dem Papſt anerkannten Fall der Kläger dennoch keinen
Gebrauch von dem während des Rechtsſtreits eingetretenen
Erwerb des Rechts machen kann, wenn die allgemeinen
für den Prozeßgang beſtehenden Regeln damit im Wider-
ſpruch ſind; insbeſondere alſo in dem Fall, wenn erſt nach
dem Beweistermin der neue Erwerb Statt findet (r).
§. 263.
Wirkung der Litis Conteſtation. — I. Verurtheilung
ſelbſt geſichert. (Fortſetzung.)
VI. Factiſche Verhältniſſe.
Wenn man die Bedingungen vollſtändig anzugeben ver-
ſucht, durch welche eine Verurtheilung überhaupt, oder doch
der Umfang einer Verurtheilung, beſtimmt wird, ſo finden
ſich unter denſelben außer dem Rechte des Klägers, wovon
allein bisher die Rede war, auch noch manche factiſche
Verhältniſſe, die in Vergleichung mit jenem Rechte des
Klägers (der eigentlichen Grundlage jeder Klage), als Ne-
benumſtände aufgefaßt werden können. Bei der Vindication
z. B. iſt die Hauptbedingung der Klage das Eigenthum des
Klägers: daneben aber iſt auch der Beſitz des Beklagten
nöthig, wenn eine Verurtheilung erfolgen ſoll. Auch für
ſolche factiſche Verhältniſſe muß die Frage beantwortet
werden, in welcher Zeit das Daſeyn derſelben erforderlich
iſt. Wenngleich nun ſich dabei zeigen wird, daß die L. C.
(r) Stryk Lib. 6. Tit. 1 § 11. Wächter S. 124.
|0092 : 74|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
nicht der erforderliche Zeitpunkt iſt, ſo darf dennoch auch
hier dieſe Unterſuchung nicht abgelehnt werden, weil außer-
dem neben den Wirkungen der L. C. ein benachbarter unbe-
ſtimmter Raum übrig bleiben würde, in welchem Zweifel
und Misverſtändniſſe über die L. C. Platz nehmen können,
und wirklich nicht ſelten genommen haben (a).
Es ſind dabei in gleicher Art, wie es bei dem Recht
des Klägers geſchehen iſt, zwei Fälle zn unterſcheiden.
Erſtlich kann ein ſolches factiſches Verhältniß zur Zeit
der L. C. vorhanden ſeyn, nachher verſchwinden. Zweitens
kann daſſelbe zur Zeit der L. C. fehlen, nachher entſtehen.
Der erſte Fall wird zweckmäßiger weiter unten, in
anderem Zuſammenhang, betrachtet werden. Wenn näm-
lich bei der Vindication der zur Zeit der L. C. vorhandene
Beſitz des Beklagten während des Rechtsſtreits verloren
geht, ſo gehört die Beurtheilung dieſes Falles in die Reihe
der möglichen Verminderungen, für welche der Beklagte
nach Umſtänden Entſchädigung zu leiſten oder nicht zu
leiſten hat. Davon wird in vollſtändigem Zuſammenhang
bei den Wirkungen der L. C. auf den Umfang der Ver-
urtheilung gehandelt werden (§ 272 fg.).
Es bleibt alſo hier nur der zweite Fall zu erwägen
übrig, wenn das erforderliche factiſche Verhältniß zur Zeit
der L. C. fehlt, während des Rechtsſtreits aber entſteht.
Hier iſt als Regel anzunehmen, daß der Zuſtand zur
(a) Von dieſer Frage handeln: Keller S. 190—194. Wächter
H. 3 S. 126.
|0093 : 75|
§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)
Zeit der L. C. Nichts bedeutet, und daß es allein dar-
auf ankommt, ob das factiſche Verhältniß zur Zeit des
Urtheils vorhanden iſt. Es gilt alſo hierin die umge-
kehrte Regel von derjenigen, welche oben für das Recht
des Klägers angegeben worden iſt (§ 262).
Die hier aufgeſtellte Regel ſoll zunächſt bei den ein-
zelnen Klagen, worin ſie vorkommt, nachgewieſen werden;
daran wird ſich eine allgemeinere Betrachtung anſchließen
können.
A. Bei der Vindication des Eigenthums iſt es gleich-
gültig, ob der Beklagte zur Zeit der L. C. den Beſitz hat;
zur Zeit des Urtheils muß dieſer Beſitz nothwendig vor-
handen ſeyn (b).
Eine bloße Anwendung dieſer Regel iſt es, daß der
Erbe des Beklagten, der als ſolcher zur Uebernahme der
Vindication nicht verpflichtet iſt (c), in dieſe Verpflichtung
eintritt, ſobald er ſelbſt den Beſitz erwirbt (d).
B. Bei der Erbſchaftsklage wird der Beklagte verur-
(b) L. 30 pr. de pec. (15. 1),
L. 27 §. 1 de rei vind. (6. 1)
„.. si litis contestatae tempore
non possedit, quo autem judi-
catur possidet, probanda est
Proculi sententia, ut omnimodo
condemnetur.“ Zu dieſem ganz
klaren Ausſpruch, welcher mit allen
übrigen Stellen übereinſtimmt (ſ. die
folgenden Noten) paßt freilich nicht
der Anfang des §: „Possidere
autem aliquis debet utique et
litis contestatae tempore, et
quo res judicatur.“ Es muß
dahin geſtellt bleiben, ob bei dieſem
Widerſpruch eine ungenaue Faſſung
der angeführten Anfangsworte zum
Grunde liegt, oder vielmehr die
Erwähnung einer älteren Contro-
verſe, die nur in dem unvollſtän-
digen Excerpt der Compilatoren
nicht mehr erkennbar iſt. Keller
S. 191. 192.
(c) L. 42 de rei vind. (6. 1).
(d) L. 8 in f. ad exhib. (10. 4).
|0094 : 76|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
theilt, je nach dem Beſitz den er zur Zeit des Urtheils an
Erbſchaftsſachen hat, ohne Rückſicht darauf, ob er vielleicht
zur Zeit der L. C. aus der Erbſchaft gar Nichts oder
weniger als zur Zeit des Urtheils, beſeſſen hatte (e).
C. Bei der actio ad exhibendum kommt es lediglich
darauf an, ob der Beklagte zur Zeit des Urtheils die Sache
beſitzt (f), und eben ſo iſt der Erbe des urſprünglichen
Beklagten zu verurtheilen, wenn er ſelbſt nur vor dem
Urtheile Beſitzer geworden iſt (g).
D. Bei der actio de peculio hängt der Erfolg von
dem Geldwerthe ab, welchen das Peculium hat. Dieſer
Werth aber wird beſtimmt nach der Zeit des Urtheils,
nicht der L. C. (h). Ja ſelbſt wenn der mit dieſer Klage
Belangte während des Rechtsſtreits den Sklaven verkauft,
ſo wird er dennoch bis auf die Höhe desjenigen Werthes
verurtheilt, welcher ſich zur Zeit des Urtheils findet (i).
E. Wenn bei der actio depositi der Beklagte zur Zeit
des Urtheils die Sache beſitzt und zu ihr gelangen kann,
ſo wird er verurtheilt, ſelbſt wenn im Anfang des Rechts-
ſtreites, weil es an einem dieſer Umſtände fehlte, eine
Freiſprechung hätte erfolgen müſſen (k).
(e) L. 18 § 1 de her. pet.
(5. 3), L. 4 L. 41 pr. eod. —
Bloße Anwendungen dieſer Regel
ſind es, welche ſich in L. 16 pr.
und L. 36 § 4 eod. finden.
(f) L. 7 § 4 ad exhib. (10. 4),
L. 30 pr. de pec. (15. 1).
(g) L. 8 ad exhib. (10. 4).
(h) L. 30 pr. de pec. (15. 1). —
L. 7 § 15 quib. ex causis (42. 4),
L. 5 § 2 de lib. leg. (34. 3), L. 35
de fidej. (46. 3).
(i) L. 43 de pec. (15. 1). —
Stirbt der Sklave während des
Rechtsſtreits, ſo wird auf den
Werth zur Zeit des Todes geſehen.
(k) L. 1 § 21 depos. (16. 3).
Die einzelnen Ausdrücke dieſer Stelle
|0095 : 77|
§. 263. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)
F. Die Verurtheilung bei der actio pignoratitia hängt
davon ab, daß die Schuld, wofür das Pfand gegeben
war, getilgt ſein muß (l). Wenn aber nur der Kläger
auch während des Rechtsſtreits die Zahlung der Schuld
anbietet, ſo muß dennoch die Verurtheilung auf Rückgabe
des Pfandes erfolgen (m).
Ulpian giebt als Grund dieſer Regel und ihrer ein-
zelnen Anwendungen den Umſtand an, daß von jenen
factiſchen Verhältniſſen (dem Beſitz, dem Werth des peculii,)
nichts in der Intentio ſtehe, weshalb der Mangel jener
Verhältniſſe die Richtigkeit der Klage, und alſo auch die
Verurtheilung, nicht ausſchließe (n).
Dieſen Grund könnte man ſo auffaſſen, als ob blos
in dieſer zufälligen Abfaſſung der Klagformeln der Grund
jener Regel enthalten wäre, ſo daß es blos einer Ver-
beſſerung der Formeln bedurft hätte, um etwa eine ganz
andere Regel herbeizuführen, und die ganze Beurtheilung
erklären ſich aus der Vergleichung
mit Gajus IV. § 47.
(l) L. 9. § 3 de pign. act.
(13. 7).
(m) L. 9 § 5 de pign. act.
(13. 7).
(n) L. 30 pr. de pec. (15. 1)
„quaesitum est, an teneat actio
de peculio, etiamsi nihil sit
in peculio, cum ageretur: si
modo sit rei judicatae tempore?
Proculus et Pegasus nihilo mi-
nus teneri ajunt: intenditur
enim recte, etiamsi nihil sit in
peculio. Idem et circa ad exhi-
bendum et in rem actionem
placuit: quae sententia et a
nobis probanda est.“ — Daher
heißt es auch in L. 9 de rei vind.
(6. 1) „Officium autem judicis
in hac actione in hoc erit, ut
judex inspiciat an reus possi-
deat;“ nämlich in der formula
war von dem Beſitz des Beklagten
nicht die Rede: die Prüfung des-
ſelben gehörte alſo zu den Stücken,
wozu der Judex auch außer der
Inſtruction berechtigt und ver-
pflichtet war, d. h. eben zu dem
officium judicis.
|0096 : 78|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
auch dieſes Punktes nach dem Zuſtand zur Zeit der L. C.
einzurichten. Man muß aber vielmehr umgekehrt an-
nehmen, daß aus inneren Gründen die oben aufgeſtellte
Regel angenommen wurde, ſo daß die oben erwähnte Ab-
faſſung der Formeln nicht als Grund, ſondern als Folge
und Ausdruck der Regel anzuſehen iſt.
Der innere Grund der Regel iſt aber wohl ſo zu
denken. Wenn der Kläger behauptet, daß ſein Eigenthum
zwar zur Zeit der L. C. noch nicht vorhanden geweſen,
nachher aber entſtanden ſey (§ 262), ſo iſt es für die
gründliche Entſcheidung des Rechtsſtreits zuträglicher, daß
deshalb eine neue Klage angeſtellt werde, weil außerdem
der Beklagte in ſeiner Vertheidigung verkürzt werden
könnte. Wenn dagegen das Eigenthum des Klägers von
Anfang an vorhanden war, und nur behauptet wird daß
der Beſitz des Beklagten erſt während des Rechtsſtreits ent-
ſtanden ſey, ſo läßt ſich auch ſchon in dem gegenwärtigen
Rechtsſtreit ein befriedigendes Urtheil erwarten; ja die
Verweiſung auf einen neuen Prozeß würde in dieſem Fall
nur zu einer unnöthigen Verſchleppung der Sache hin-
führen.
§. 264.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung.
Einleitung.
Die Wirkungen der L. C. ſind ſchon oben auf zwei
Hauptregeln zurückgeführt worden: Sicherung der Ver-
|0097 : 79|
§ 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
urtheilung überhaupt (die Abwendung der Frei-
ſprechung), und Sicherung des Umfangs der Verur-
theilung (die Abwendung eines zu beſchränkten Urtheils)
[§. 260. No. IV.].
Die erſte dieſer beiden Regeln iſt bis jetzt dargeſtellt
worden. Die zweite, deren Entwicklung nunmehr folgt,
kann nur unter der Vorausſetzung zur Anwendung kommen,
daß während des Rechtsſtreits in dem Gegenſtand des-
ſelben Veränderungen eintreten.
Solche Veränderungen in dem Gegenſtande des Rechts-
ſtreits können in zwei entgegengeſetzten Richtungen vor-
kommen.
a) Als Erweiterungen, wohin vorzüglich die Früchte
und Zinſen gehören.
b) Als Verminderungen, wohin der Untergang der
Sache, die Corruption derſelben, der Berlnſt des Beſitzes,
und Ähnliches zu rechnen iſt.
Bevor aber die hier einſchlagenden wichtigen Fragen
im Einzelnen erwogen werden, iſt es nöthig, dazu den
Grund zu legen durch die genaue Betrachtung von zwei
Rechtsbegriffen, deren Einfluß mit dem der L. C. oft ſo
nahe verwandt iſt, daß ſie ſelbſt mit derſelben nicht ſelten
identificirt worden ſind. Ich meine die Mora, und die
mala fides, oder den unredlichen Beſitz.
Die Mora bezieht ſich auf Obligationen und perſön-
liche Klagen, der unredliche Beſitz auf dingliche Rechte und
Klagen in rem. Beide enthalten ein Unrecht mit Bewußt-
|0098 : 80|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſeyn, ſie ſind daher delictähnlich, und haben auch oft
delictartige Folgen. Nur iſt dabei der Unterſchied zu
beachten, daß die Mora in einer bloßen Unterlaſſung be-
ſteht, und nicht nothwendig auf Dolus, ſondern oft auf
bloßem Geldmangel beruht; anſtatt daß der unredliche Be-
ſitz in einem poſitiven Handeln beſteht, und ſtets mit Dolus
verbunden iſt.
Die L. C. dagegen iſt ein contractähnliches Verhält-
niß (§ 258), und hat keine Verwandſchaft mit einem De-
lict. Die Führung des Rechtsſtreits iſt an ſich von Seiten
des Beklagten nicht nothwendig tadelnswerth, ſelbſt dann
wenn am Ende das Urtheil gegen ihn ausfällt.
Nun iſt es eine unter unſeren Schriftſtellern ſehr ver-
breitete Behauptung, daß jede L. C., je nachdem die Klage
perſönlich, oder in rem iſt, ſtets die Mora oder die mala
fides begründe (a). Nach allgemeiner Betrachtung muß
dieſer Satz unbedenklich verworfen werden, theils weil die
eben erwähnte juriſtiſche Natur dieſer drei Rechtsbegriffe
(die Ähnlichkeit mit Delicten und Contracten) von Grund
aus verſchieden iſt, theils weil ſowohl die Mora, als die
mala fides, jede ihre eigenthümlichen Bedingungen hat, ſo
daß das Daſeyn derſelben in jedem einzelnen Fall von
(a) Bayer Civilprozeß S. 233.
234. Linde § 200 Note 4. 5. —
Daß hier die Annahme der Mora
oder der mala fides ſogar auf
den Zeitpunkt der Inſinuation zu-
rückgeführt wird, beruht auf wei-
teren Fragen, deren ſelbſtſtändige
Erörterung an ihrem Orte erfol-
gen wird. Auf dem gegenwärtigen
Standpunkt der Unterſuchung iſt
dieſe fernere Differenz unerheblich.
|0099 : 81|
§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
einer rein factiſchen Frage abhängt, deren Bejahung auf
keine Weiſe aus dem Daſeyn der L. C. an ſich gefolgert
werden kann (b). Dagegen muß auf der anderen Seite
unbedingt eingeräumt werden, daß die L. C. großentheils
ähnliche Wirkungen herbeiführt, wie die welche aus
der Mora oder der mala fides folgen, wenngleich aus ver-
ſchiedenen Gründen (c).
Die Frage iſt aber nun noch genauer für die Mora
und die mala fides beſonders zu erörtern.
A. Mora.
Zur regelmäßigen Begründung der Mora wird erfor-
dert, daß der Schuldner zur Erfüllung ſeiner Verpflichtung
aufgefordert werde, und ſie ohne Grund unterlaſſe. Es
iſt daher keine Mora vorhanden, wenn zwar eine Schuld
ſelbſt anerkannt iſt, aber der Betrag derſelben noch nicht
feſtſteht; ferner wenn die Schuld ſelbſt als zweifelhaft an-
zuſehen iſt. Wenn alſo der aufgeforderte Schuldner ſich
verklagen läßt, ſo hängt die Annahme einer Mora von
den Umſtänden ab. Sie iſt anzunehmen, wenn er ohne
Grund, oder aus offenbar unhaltbaren Gründen, nur um
den Gegner hinzuhalten, die Erfüllung verweigert; nicht
(b) Dieſe richtige Auffaſſung,
daß das Daſeyn der Mora und
der mala fides ſtets eine facti
quaestio iſt, findet ſich bei Byn-
kershoek obss. VIII. 12, Leyser
83. 5 und 99. 6, Kierulff S. 277
bis 281, Wächter H. 3 S. 106
bis 108.
(c) Leyſer (Note b) überſieht
Dieſes, und behauptet deshalb
irrig, es dürfe nicht immer von
der L. C. an auf Erſatz der Früchte
erkannt werden, weil nicht immer
die mala fides mit der L. C. ver-
bunden ſey.
VI. 6
|0100 : 82|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
anzunehmen, wenn er Gründe der Weigerung angiebt,
wodurch die Vorausſetzung eines rechtswidrigen Willens,
eines Unrechts mit Bewußtſeyn, ausgeſchloſſen wird (d).
Wer alſo die Schuld beſtreitet, weil er ſeine eigene obli-
gatoriſche Handlung nicht mehr zu wiſſen behauptet, wird
dem Vorwurf der Mora nicht entgehen; anders wenn ein
Erbe die Handlungen ſeines Erblaſſers bezweifelt, oder
wenn die Klage durch eine Exception beſtritten wird (e).
Durch dieſe Unterſcheidungen wird die oben behauptete
Verwandtſchaft der Mora mit der mala fides beſtätigt. Bei
perſönlichen Klagen kann man allgemein annehmen, daß
jede frivole (mit dem Bewußtſeyn des Unrechts vorgenom-
mene) Prozeßführung des Beklagten ſtets eine Mora vor-
ausſetzt, oder wenigſtens jetzt begründet.
Man kann daher behaupten, daß nicht leicht gerade
durch die L. C. eine Mora begründet werden wird, ſon-
dern daß ſie meiſt entweder früher vorhanden iſt, oder
ſpäter anfängt, im äußerſten Fall freilich mit dem rechts-
kräftigen Urtheil. Selbſt in dem ſeltenen Fall, wenn der
(d) L. 63 de R. J. (50. 17)
„Qui sine dolo malo ad judi-
cium provocat, non videtur
moram facere.“ L. 24 pr. de
usur. (22. 1) „… utique si juste
ad judicium provocavit.“ Das
heißt nicht: wenn er am Ende
Recht behält, und daher freige-
ſprochen wird, ſondern es iſt gleich-
bedeutend mit dem vorhergehenden
sine dolo malo, und drückt den
Gegenſatz des frivolen Rechts-
ſtreits aus. Eben ſo L. 82 § 1
de V. O. (45. 1) „Et hic moram
videtur fecisse, qui litigare
maluit quam restituere,“ d. h.
der es aus reiner Willkühr, ohne
ſcheinbaren Grund, auf den Pro-
zeß ankommen läßt. (Vgl. unten
Note g und § 273. k). L. 47
de usur. (22. 1).
(e) L. 42 de R. J. (50. 17),
L. 21 de usur. (22. 1).
|0101 : 83|
§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
Kläger jede außergerichtliche Aufforderung vor dem Rechts-
ſtreit unterläßt, wird öfter vielleicht die Inſinuation der
Klage, weil ſie eine Interpellation enthält, die Mora begrün-
den können, die L. C. wird dabei ſeltener in Betracht kommen.
Ganz in dieſem Sinn ſpricht Papinian bei Gelegen-
heit der Fideicommiſſe (f). In den meiſten Fällen, ſagt er,
wird das Fideicommiß klar und gewiß ſeyn, dann hat die
Mora meiſt ſchon vor dem Rechtsſtreit angefangen, mit der
außergerichtlichen Aufforderung. Wenn aber die Gültig-
keit und die Höhe des Fideicommiſſes zweifelhaft iſt, z. B.
weil der Abzug der Falcidiſchen Quart in Betracht kommt,
dann wird die Mora wenigſtens mit dem rechtskräftigen Urtheil
anfangen. In dieſer Ueberſicht möglicher Fälle erwähnt er
der L. C. gar nicht, ſo daß er dieſen Zeitpunkt gar nicht
als erheblichen Moment zur Begründung der Mora an-
ſieht; er erwähnt auch ſelbſt die Anſtellung der Klage nicht,
ohne Zweifel indem er den in ſolchen Fällen gewöhnlichen
Hergang, die außergerichtliche Aufforderung, vorausſetzt.
Wie verbreitet alſo die Behauptung neuerer Schrift-
ſteller von einem allgemeinen und nothwendigen Anfang
der Mora mit der L. C. auch ſeyn möge, ſo hat ſie doch
weder in der Natur der hier einſchlagenden Verhältniſſe,
noch in den Quellen des R. R. irgend einen haltbaren
Grund (g). Etwas anders verhält es ſich in der letzten
Hinſicht mit der mala fides.
(f) L. 3 pr. de usur. (22. 1).
(g) Gewöhnlich berufen ſich die
Vertheidiger der aus der L. C.
entſpringenden Mora auf L. 82
6*
|0102 : 84|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
B. Mala fides.
Es finden ſich zwei Stellen des Ulpian, welche die
mala fides als nothwendige, unzertrennliche Folge des
bloßen Rechtsſtreits ſo beſtimmt auszuſprechen ſcheinen,
daß die hierauf gleichfalls gerichtete Behauptung vieler
neueren Schriftſteller darin eine ſcheinbare Rechtfertigung
findet (h):
§ 1 de V. O. (45. 1, ſ. o. Note d),
die man allerdings ſo verſtehen
könnte, als ob jeder Beklagte durch
den bloßen Entſchluß zum Rechts-
ſtreit in eine Mora verfiele. Nur
muß man bei dieſer Erklärung
ganz vergeſſen, was aus den um-
gebenden übrigen Stellen (Note d)
und aus allgemeinen Rechtsgrund-
ſätzen unwiderſprechlich folgt, und
mit jener Erklärung durchaus nicht
zu vereinigen iſt. Alles was man
in der hier bekämpften Meinung
als wahres Element etwa ein-
räumen kann, iſt Folgendes. Die
Mora iſt überhaupt der freieſten
richterlichen Beurtheilung in jedem
einzelnen Fall anheim gegeben
(cum sit magis facti quam juris.
L. 32 pr. de usur.). Der Rich-
ter kann alſo vielleicht finden,
daß eine Mora vor allem Rechts-
ſtreit, oder daß ſie mit der In-
ſinuation, oder auch daß ſie mit
der L. C. angefangen hat; dieſes
Letzte etwa, wenn bei der L. C.
die frivole, unredliche Prozeßfüh-
rung ſicher hervorgetreten iſt. Dar-
aus laſſen ſich mehrere ſcheinbare
Antinomieen befriedigend auflöſen.
So z. B. wenn der Anfang der
Prozeßzinſen die einem Legatar
zu zahlen ſind, bald der Mora,
bald der L. C. zugeſchrieben wird
(§ 271). Eben ſo bei der Ver-
pflichtung des Schuldners, für den
zufälligen Untergang der Sache
einzuſtehen (§ 273).
(h) Andere, weniger entſchei-
dend lautende Stellen, wie L. 45
de rei vind. (6. 1) und L. 31
§ 3 de her. pet. (5. 3) werden
weiter unten (Note o) erwähnt
werden. Am meiſten ſcheint ſich
jenen Stellen durch unbedingten
Ausdruck anzuſchließen L. 2 C. de
fruct. (7. 51, d. h. L. 1 C. Th.
eod.): „ex eo tempore, ex quo,
re in judicium deducta, scien-
tiam malae fidei possessionis
accepit.“ Allein dieſe Worte, wie
ſie in den meiſten Ausgaben lauten,
laſſen doch eine zwiefache Deu-
tung zu. Sie können heißen:
Von der L. C. an, weil er da-
durch in malam fidem kommt —
oder auch, wenn er dadurch in
malam fidem kommt. Anders
noch ſtellt ſich die Sache, wenn
man mit manchen Hſſ. und mit
dem Theodoſiſchen Codex lieſt:
malae possessionis (ohne fidei;
|0103 : 85|
§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
1. „post litem contestatam omnes incipiunt malae fidei
possessores esse: quinimo post controversiam motam (i).
2. „ex quo quis scit a se peti … incipit esse malae
fidei possessor … si scit … puto debere: coepit enim
malae fidei possessor esse“ (k).
Dieſe Stellen ſind dadurch ſehr wichtig geworden, daß
ſie auf die Ausbildung der Rechtstheorie in neueren Zeiten
überwiegenden Einfluß ausgeübt haben, wobei nur allzu-
ſehr das Bedürfniß unbeachtet geblieben iſt, ſie mit allge-
meinen Grundſätzen, ſo wie mit einer großen Zahl ganz
anders lautender Stellen des R. R., in Einklang zu
bringen. In jenen Stellen aber haben zwei eigenthümliche
Meinungen ihre ſcheinbare Rechtfertigung gefunden: erſt-
lich die mala fides als allgemeine Folge des bloßen Rechts-
ſtreits; zweitens die Zurückführung dieſer Folge ſo wie
mancher anderen, von der L. C. auf den Zeitpunkt, worin
der Beklagte von dem Anſpruch Nachricht bekommt. Beide
Meinungen machen eine ſorgfältige Prüfung nöthig. Die
erſte iſt in ihren practiſchen Folgen weniger erheblich ge-
worden, theils weil viele Wirkungen der mala fides mit
denen der L. C. ohnehin zuſammentreffen, theils weil die
einzelnen Wirkungen meiſt durch beſondere, unzweifelhafte
vgl. die Noten der Herrmannſchen
Ausgabe). Nun iſt gar nicht von
einem unredlichen Beſitz die
Rede, ſondern von einem unſiche-
ren, zweifelhaften; von dieſem
Begriff wird noch unten die Rede
ſeyn (Note p).
(i) L. 25 § 7 de her. pet.
(5. 3).
(k) L. 20 § 11 de her. pet
(5. 3).
|0104 : 86|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Vorſchriften geregelt werden. Die zweite dagegen hat die
Folge gehabt, daß die neueren Schriftſteller faſt allgemein
angenommen haben, das R. R. ſelbſt habe ſchon manche
der wichtigſten Wirkungen des Rechtsſtreits nicht mehr
gerade an die L. C. angeknüpft; obgleich ſich auch in dieſer
Annahme wieder die mannichfaltigſten Abſtufungen finden.
a) Mala fides als allgemeine Folge des bloßen
Rechtsſtreits.
Dieſe Behauptung müſſen wir zunächſt nach allgemeiner
Betrachtung entſchieden zurück weiſen. Die Unredlichkeit des
Bewußtſeyns iſt, wie ſchon oben bemerkt wurde, eine
reine Thatſache, die nur aus den Umſtänden jedes ein-
zelnen Falls erkannt, nicht aus dem allgemeinen Daſeyn
des bloßen Rechtsſtreits gefolgert werden kann. Sie wird
alſo oft vor dem Rechtsſtreit vorhanden ſeyn, oft während
des ganzen Rechtsſtreits fehlen, welches beſonders durch
die Erwägung einleuchtend wird, daß ja der Beklagte mit
Unrecht verurtheilt werden kann, und in dieſem Fall doch
gewiß kein unredliches Bewußtſeyn gehabt hat. Eine An-
knüpfung an die L. C. hat alſo gar keinen inneren Grund (l),
(l) Ganz verwerflich iſt die Er-
klärung von Bynkershoek obss.
VIII. 12, die Römer hätten mit
der Klage ſogleich ihre Beweis-
urkunden vorgelegt, daher ſey bei
ihnen der Beklagte ſtets im An-
fang des Rechtsſtreits von ſeinem
Unrecht überführt worden. Allein
ſehr viele Prozeſſe werden gar nicht
aus Urkunden entſchieden, und
eben ſo kann die Beweiskraft der
vorgebrachten Urkunden oft zwei-
felhaft ſeyn, ja ſelbſt vom Richter
mit Unrecht angenommen werden.
Er folgert daraus, daß jene An-
nahme für uns nicht mehr gelte,
und ſchließt daraus weiter ganz
irrig, daß wir auch keine Prozeß-
|0105 : 87|
§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
und ſie könnte alſo nur auf einer Fiction des Dolus be-
ruhen, der gefährlichſten und willkührlichſten aller Fictionen,
wovon ſich anderwärts nirgend eine Spur findet.
Ganz in dieſem Sinn entſcheidet Paulus unſre
Frage in einer ſpeciellen Anwendung (m). Wenn nach der
L. C. die mit einer hereditatis petitio oder einer Vindi-
cation eingeklagte Sache durch Zufall untergeht, ſo ent-
ſteht die Frage, ob der Beklagte als ſolcher unbedingt
dafür Erſatz geben muß. Nach den Worten des oben an-
geführten Senatsſchluſſes konnte man Dieſes bei der here-
ditatis petitio annehmen, und daher hatten es auch wirk-
lich Manche, und ſelbſt bei der Vindication, angenommen.
Paulus aber ſagt, man müſſe überall unterſcheiden
zwiſchen dem redlichen und unredlichen Beſitzer. Der
unredliche müſſe für den Zufall einſtehen, der redliche
nicht, wofür der folgende ſehr einleuchtende Grund ange-
geben wird:
„Nec enim debet possessor aut mortalitatem praestare,
aut propter metum hujus periculi temere indefensum
jus suum relinquere.“
Hier iſt ganz deutlich anerkannt, daß der redliche Be-
ſitzer durch die L. C. nicht zu einem unredlichen werde,
und daß man ihm nicht zumuthen könne, die Verfolgung
ſeines vermeintlichen Rechts zu unterlaſſen (n).
zinſen mehr annehmen dürften.
Vgl. über einen ähnlichen Irrthum
von Leyſer oben Note c.
(m) L. 40 pr. de her. pet. (5. 3).
(n) Allerdings iſt der Ausdruck
dieſer Stelle von dem Ausdruck
der oben angeführten Stellen des
Ulpian ſehr verſchieden, dennoch
|0106 : 88|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Ich will es verſuchen, den Widerſpruch der angeführ-
ten Stellen des Ulpian mit allgemeinen Grundſätzen und
mit anderen Stellen zu löſen oder zu vermitteln.
Dazu können zunächſt einige Momente dienen, die an
ſich wahr, auch nicht unwichtig, aber doch für den eigent-
lichen Zweck noch nicht ausreichend ſind.
Erſtlich iſt ſchon oben bemerkt worden, daß die L. C.
manche Wirkungen mit der mala fides gemein habe, und
dieſe Gemeinſchaft in Wirkungen konnte wohl hier und da
den nicht ganz vorſichtigen Ausdruck veranlaſſen, als ſey
mit der L. C. die mala fides wirklich verbunden. Dieſe
Erklärung iſt wohl auf manche, bisher noch nicht berührte,
Stellen anwendbar (o); für die abſoluten Ausſprüche des
Ulpian reicht ſie offenbar nicht aus.
Zweitens kann man eine relative mala fides als Folge
der L. C. allerdings annehmen. Selbſt wenn nämlich der
iſt ein directer Widerſpruch nicht
vorhanden. Ulpian ſpricht nicht
von der ſpeciellen Frage wegen des
zufälligen Untergangs, womit al-
lein ſich hier Paulus beſchäftigt.
Dagegen bezieht ſich die Contro-
verſe, die Paulus erwähnt, zu-
nächſt nur auf die Vindication, ſo
daß die wörtliche Behauptung des
Ulpian über die mala fides bei
der L. C. in der hereditatis pe-
titio von Paulus nicht berührt
wird. Indeſſen iſt es unzweifel-
haft, daß Paulus den Erſatz für
den Zufall bei beiden Klagen von
dem redlichen Beſitzer abwenden will.
(o) L. 31 § 3 de her. pet. (5. 3).
Der redliche Beſitzer ſoll für Ver-
nachläſſigungen der Sache bis zur
L. C. nicht verantwortlich ſeyn:
„postea vero et ipse praedo
est,“ nämlich in Beziehung auf
jene Verantwortlichkeit, ſo daß
praedo est hier ſo viel heißt als:
praedonis loco est. — L. 45 de
rei vind. (6. 1). — Ganz befon-
ders aber L. 25 § 7 de her. pet.
(5. 3) in den Worten: „post mo-
tam controversiam omnes pos-
sessores pares fiunt, et quasi
praedones tenentur.“
|0107 : 89|
§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
Beklagte die feſte Ueberzeugung von ſeinem guten Recht
hat, ſo kann er ſich doch nicht die Möglichkeit verbergen,
den Prozeß zu verlieren. Wenn er ſich daher durch Ver-
äußerung oder Aufzehrung der Sache wiſſentlich außer
Stand ſetzt, der möglichen Verurtheilung zu genügen, ſo
liegt in dieſen Handlungen (wenngleich nicht in der
Fortſetzung des Beſitzes ſelbſt) eine Unredlichkeit, indem er
in der Klage eine Aufforderung ſehen mußte, ſich ſolcher
Handlungen zu enthalten (p); durch dieſelben, wenn
er ſie dennoch vornimmt, verfällt er in die mala fides (q).
Gerade in dieſer Beziehung ſchreibt auch wirklich Ulpian
dem urſprünglich redlichen Beſitzer, von der L. C. an, die
gleichartige Verantwortlichkeit mit einem praedo zu (r).
Dennoch reicht auch die Wahrheit dieſer Bemerkung nicht
hin zur Erklärung der abſoluten Behauptung Ulpians,
daß jeder Beklagte von der L. C. an wirklich ein unredlicher
Beſitzer ſey (s).
(p) L. 10 C. de adqu. poss.
(7. 32) „ex interposita con-
testatione, et causa in judicium
deducta, super jure possessio-
nis vacillet ac dubitet.“ Vgl.
oben Note h. über die L. 2 C. de
fructibus.
(q) Dieſe richtige Bemerkung
findet ſich bei Glück B. 7 S. 547
bis 557 und Kierulff S. 277.
(r) L. 25 § 2 de her. pet. (5. 3)
„ait Senatus: Eos, qui bona
invasissent, … etiamsi ante
litem contestatam fecerint, quo
minus possiderent, perinde con-
demnandos quasi possiderent.“
Zu dieſen Worten des Sc. ſetzt
der § 7 folgende Erklärung hinzu:
„Si ante litem contestatam,
inquit, fecerint. Hoc ideo ad-
jectum, quoniam post litem
contestatam omnes … pares
fiunt, et quasi praedones te-
nentur.“ Alſo von der L. C. an
iſt das willkührliche Aufgeben
des Beſitzes für alle Arten von
Beſitzern eine gleich unredliche und
daher gleich verpflichtende Hand-
lung.
(s) Ganz beſonders erklären ſich
|0108 : 90|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Die eigentliche Löſung der Schwierigkeit liegt in der
beſonderen Natur der Rechtsverhältniſſe, womit wir es
hier, bei der Erbſchaftsklage, zu thun haben, und womit
ſich ſowohl der Senatsſchluß von K. Hadrian, als
Ulpian in den angeführten Stellen, beſchäftigt.
Der Senatsſchluß von Hadrian (das Sc. Juventianum)
handelt unmittelbar nur von einer hereditatis petitio des
Fiscus auf eine caduca hereditas, und er ſpricht dabei von
zweierlei Beklagten: von redlichen Beſitzern, und daneben
von denjenigen qui bona invasissent, cum scirent ad se
non pertinere, welche von den alten Juriſten gewöhnlich
praedones genannt werden. Unter dieſen praedones denkt
man ſich meiſt gewöhnliche Diebe oder Räuber, aber ganz
mit Unrecht. Die Sache hat vielmehr folgenden Zuſam-
menhang.
Nach uraltem R. R. war es Jedem überhaupt geſtattet,
Erbſchaftsſachen, die der Erbe noch nicht in Beſitz ge-
nommen hatte, ſelbſt an ſich zu nehmen, und durch ein-
jährige Uſucapion in ſein Eigenthum zu bringen. Man hatte
bei dieſem ſeltſamen Rechtsinſtitut die Abſicht, den Erben
zu einer recht ſchleunigen Beſitznahme und Vertretung der
Erbſchaft zu bewegen (t). Solche Beſitzer nun hatten eine
zweideutige Natur, und ſtanden gewißermaaßen in der Mitte
daraus nicht die Worte in L. 25
§ 7 de her. pet. (5. 3) „post mo-
tam controversiam … coepit
scire rem ad se non pertinentem
possidere is qui interpellatur.“
Dieſes iſt für den wahrhaft red-
lichen Beſitzer augenſcheinlich un-
wahr.
(t) Gajus II. § 52—58.
|0109 : 91|
§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
zwiſchen redlichen und unredlichen Beſitzern. Sie wußten,
daß ſie kein wirkliches, gegenwärtiges Recht, ſowie ein
wahrer Erbe, auf die Sachen hatten (cum scirent ad se
non pertinere), aber ſie handelten doch in Kraft einer all-
gemeinen geſetzlichen Befugniß, ſie konnten glauben, es
werde Niemand die Erbſchaft antreten wollen, ja ſie hatten
die Ausſicht, in ſehr kurzer Zeit wahre Eigenthümer durch
Uſucapion zu werden. Der Zuſtand derſelben wurde noch
verwickelter und zweifelhafter durch dieſelbe Verordnung von
Hadrian, indem nunmehr der wahre Erbe auch nach
vollendeter Uſucapion die Erbſchaftsſachen durch eine Art
von Reſtitution abfordern konnte (u).
Die Lage, und beſonders das Bewußtſeyn ſolcher Be-
ſitzer mußte durch eine angeſtellte Klage von Grund aus
verändert werden. Die bis zu dieſer Zeit mögliche Meinung,
daß Niemand ſich der Erbſchaft annehmen wolle, war ſelbſt
durch die neue Verordnung nicht ausgeſchloſſen. Sobald
aber ein Kläger (ſey es der Erbe, oder der Fiscus) gegen
ſie auftrat, hörte die bisherige halbe Redlichkeit ihres Be-
wußtſeyns auf, und ſie wurden nun in der That unredliche
Beſitzer im vollen Sinne des Worts. Auch mußte dieſe
Veränderung eintreten, nicht erſt von der L. C. an, ſondern
ſobald ihnen die wirkliche Anſtellung einer Klage bekannt
wurde.
Daß nun gerade von dieſem eigenthümlichen Rechtsver-
hältniß in dem Senatsſchluß von Hadrian die Rede war,
(u) Gajus II. § 58.
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
iſt nach mehreren Stellen ganz unzweifelhaft (v), und hieraus
erklären ſich die oben mitgetheilten abſoluten Aeußerungen
des Ulpian über die durch den Prozeß bewirkte mala fides
des Beklagten auf ganz einfache Weiſe. Ich muß einräumen,
daß nicht bei allen hier einſchlagenden Stellen die Unter-
ſcheidung der eben bemerkten verſchiedenen Arten von Be-
ſitzern völlig erkennbar und unzweifelhaft durchzuführen iſt.
Es muß aber wohl erwogen werden, daß wir die Stellen
des Senatsſchluſſes nur durch die unvollſtändigen Auszüge
des Ulpian, und die Stellen des Ulpian nur durch die
unvollſtändigen Auszüge der Compilatoren kennen. Daher
muß es ganz dahin geſtellt bleiben, ob die für uns vor-
handene Zweideutigkeit des Ausdrucks, und insbeſondere
die nicht überall ſichtbare Unterſcheidung der wahrhaft
redlichen Beſitzer von jenen zweideutigen, aus einer urſprünglich
ungenauen Rede der Verfaſſer, oder aus der Unvollſtändigkeit
der überlieferten Auszüge hervorgegangen iſt.
Nimmt man dieſe Erklärung an, und erwägt man
zugleich, daß jenes eigenthümliche Rechtsverhältniß ſchon
im Juſtinianiſchen Recht völlig verſchwunden war, ſo iſt es
einleuchtend, daß aus den angeführten Stellen des Ulpian
für die mala fides als allgemeine, auf alle Arten von
Klagen anwendbare Folge der L. C. durchaus kein Beweis
geführt werden kann.
b) Zurückführung der Folgen der L. C. auf den Zeit-
(v) L. 20 § 6, L. 25 § 2. 3. 5. 6 de her. pet. (5. 3).
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§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
punkt, worin der Beklagte von dem Anſpruch Nachricht
bekommt.
Dieſe wichtige Aenderung wird in folgenden ganz deut-
lichen Worten des Senatsſchluſſes von Hadrian aufge-
ſtellt, worauf ſich die Erklärungen des Ulpian beziehen (w):
Petitam autem fisco hereditatem ex eo tempore exi-
stimandum esse, quo primum scierit quisque eam a
se peti, id est cum primum aut denunciatum esset ei,
aut litteris vel edicto evocatus esset, censuerunt.
Dieſe Abweichung von ſo vielen anderen Ausſprüchen
des R. R. iſt aus folgenden zwei, von einander ganz un-
abhängigen, Umſtänden zu erklären.
Erſtlich, aus der ganz eigenthümlichen Lage des eben
erwähnten, nur bei der hereditatis petitio vorkommenden
praedo, deſſen entſchiedene mala fides allerdings ſchon von
der ihm bekannt gewordenen Anſtellung der Klage ange-
nommen werden mußte. Von dieſem Umſtand iſt ſo eben
ſchon ausführlich geredet worden.
Zweitens daraus, daß der Senatsſchluß von Hadrian
nur von Fiscalklagen auf verfallene Erbſchaften handelte.
Dieſe Fiscalklagen wurden aber nicht im ordentlichen Pro-
zeß vor den gewöhnlichen Obrigkeiten, in welchem allein
eine wahre L. C. vorkommen konnte, ſondern extra ordi-
nem vor den Fiscalbeamten verhandelt, und es bedurfte
alſo dabei eines Surrogates für die L. C. (§ 257). Dieſes
(w) L. 20 § 6 de her. pet. (5. 3), verglichen mit § 11 eod. und
L. 25 § 7 eod.
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Surrogat, welches man bei allen extraordinären Prozeſſen
aufzuſuchen hatte, wurde in dieſem Fall durch den Senats-
ſchluß ſelbſt in den Zeitpunkt geſetzt, in welchem entweder
eine denunciatio, oder eine evocatio litteris vel edicto ein-
getreten war; dieſes war eine ganz poſitive Beſtimmung, die
aus der allgemeinen Natur der extraordinären Klagen keines-
weges folgte (§ 257), und die einen fiscaliſchen Character hat.
Die beiden eben angeführten Umſtände, woraus ſich die
Beſtimmung eines beſonderen Zeitpunktes, abweichend von
der L. C., befriedigend erklärt, ſind ſchon dem Juſtiniani-
ſchen Recht völlig fremd, und es kann daher in der That
aus dieſen Stellen nicht bewieſen werden, daß im Sinn
des Juſtinianiſchen Rechts ein anderer Zeitpunkt als der
der L. C. für irgend eine Wirkung anzunehmen ſey.
Auch wenn man die hier verſuchte Löſung mit ihren
Folgen nicht annehmen wollte, ſo kann doch auf keine
Weiſe die Art gebilligt werden, wie die meiſten neueren
Schriftſteller die hier unterſuchten Stellen des Ulpian zu
behandeln pflegen. Man betrachtet nämlich meiſt den wört-
lichen Inhalt dieſer Stellen als die entſcheidende, für alle
Klagen überhaupt anwendbare, Regel des neueſten Rechts,
und ignorirt daneben die ſehr zahlreichen übrigen Stellen,
die damit geradezu im Widerſpruch ſtehen, indem ſie noch
immer die L. C. als den entſcheidenden Zeitpunkt für die
im Rechtsſtreit eintretenden Wirkungen anerkennen. Dieſes
Verfahren aber muß als willkürlich und unkritiſch ſchlecht-
hin verworfen werden. Man kann ſich auch nicht mit der
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§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
Annahme helfen, als ob hierin eine Controverſe der alten
Juriſten, oder etwa ein Verhältniß des neueren Rechts zu
einem abgeſchafften älteren Rechtsgrundſatz vorläge. Denn
die Stellen, worin die L. C. als entſcheidender Zeitpunkt
angegeben wird, rühren theilweiſe aus derſelben Zeit, ja
von demſelben Ulpian her, aus deſſen Stellen man be-
weiſen will, daß ein anderer und früherer Zeitpunkt allge-
mein an die Stelle der L. C. geſetzt worden ſey.
Wollte man ſich hierin genau an den Buchſtaben des
Juſtinianiſchen Rechts halten, ſo würde doch nur folgende
Annahme übrig bleiben. Bei der Erbſchaftsklage müßte,
abweichend von allen übrigen Klagen, ein etwas früherer
Termin für den Anfang der materiellen Wirkungen des
Rechtsſtreits angenommen werden: nämlich anſtatt der
L. C. ſchon die Bekanntmachung der erhobenen Klage, alſo
die Inſinuation. Allein bei dieſer Behauptung muß man
zugeben, daß dieſe Eigenthümlichkeit ihren Grund hatte,
nicht in der inneren Natur jener Klage ſelbſt, ſondern in
hiſtoriſchen Umſtänden, die zu Juſtinians Zeit längſt ver-
ſchwunden waren, ſo daß die Aufbewahrung dieſer Eigen-
thümlichkeit in den Digeſten in jedem Fall (auch wenn man
ſie noch als practiſches Recht gelten laſſen will) zu den
mancherlei Inconſequenzen zu rechnen iſt, die den Compi-
latoren zum Vorwurf gereichen (x).
(x) Der Senatsſchluß von Ha-
drian nämlich, der urſprünglich
nur für die fiscaliſche heredita-
tis petitio, alſo für eine publica
causa, eingeführt war, wurde nach-
her auch auf die Erbrechtsklage der
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Es iſt hier gezeigt worden, welche Schwankungen ſchon
in die Aeußerungen der alten Juriſten aus beſonderen hiſto-
riſchen Veranlaſſungen gekommen ſind, und wie ſich dieſe
in die neuere juriſtiſche Literatur fortgepflanzt haben, darin
aber durch mancherlei Misverſtändniſſe noch erweitert worden
ſind. Dabei iſt es lehrreich zu ſehen, welchen Einfluß wie-
derum dieſe Literatur des gemeinen Rechts auf die neuere
Geſetzgebung gehabt hat, obgleich man hier freie Hand
hatte, diejenigen Beſtimmungen zu treffen, die dem inneren
Bedürfniß angemeſſen waren.
Das Preußiſche Allgemeine Landrecht hat dieſe Lehre
in den Titel vom Beſitz aufgenommen, und hier in folgender
Weiſe behandelt (y).
Es wird daſelbſt in eben ſo abſoluten Ausdrücken, wie
es oben in einigen Stellen des Ulpian über die hereditatis
petitio nachgewieſen worden iſt (Note h. k) dem Rechts-
ſtreit an ſich die Wirkung zugeſchrieben, den Beklagten in
den Zuſtand eines unredlichen Beſitzers zu verſetzen,
und zwar wird der Anfang dieſes Zuſtandes, wenn nur
Privatperſonen angewendet und da-
durch zum gemeinen Recht gemacht
(L. 20 § 6. 11 de her. pet., 5. 3);
ob aber in allen ſeinen Theilen,
oder nur in denen, die in der That
auch auf Privatkläger paßten, kann
bezweifelt werden. Die Beſtim-
mung des § 6: aut denunciatum
esset ei, aut litteris vel edicto
evocatus esset ſcheint doch auf
Privatklagen gar nicht zu paſſen,
während andere Beſtimmungen,
z. B. über das dolo facere quo
minus possiderent, und die ver-
ſchiedene Behandlung des bonae
fidei und malae fidei possessor,
überall anwendbar ſind.
(y) A. L. R., Th. 1 Tit. 7. Die
ſehr merkwürdigen Materialien zu
dieſem Titel ſind abgedruckt in:
Simon u. Strampff Zeitſchrift
für preußiſches Recht B. 3. Ber-
lin 1836. 8.
|0115 : 97|
§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
nicht ein früheres unredliches Bewußtſeyn nachgewieſen
werden kann, mit der Inſinuation der Klage angenommen.
§. 222. „Wenn kein früherer Zeitpunkt der Unredlich-
keit des Beſitzes ausgemittelt werden kann, ſo
wird der Tag der dem Beſitzer durch die Gerichte
behändigten Klage dafür angenommen.“
Dieſer Ausſpruch ſtimmt mit der Lehre vieler neuerer
Romaniſten wörtlich überein. Man iſt jedoch bei der Be-
arbeitung des Preußiſchen Geſetzes erſt allmälig auf dieſe
Vorſchrift gekommen. In irgend einem älteren Entwurf
war der Zeitpunkt des eröffneten Urtheils als Anfang der
Unredlichkeit angenommen worden. Dieſer Beſtimmung
widerſprach Tevenar, indem er behauptete, jeder nicht
rechtmäßige Beſitzer könne und ſolle aus der inſinuirten
Klage ſein Unrecht abnehmen, und wenn er es nicht ein-
ſehen wolle, ſo verdiene dieſe Verſtockung keine Scho-
nung (z). Dazu bemerkte Suarez: „damit bin ich völlig
einverſtanden,“ entkräftete aber ſogleich dieſe Beſtimmung
durch den Zuſatz: „Übrigens iſt es ja dem Richter über-
laſſen, den Anfang der Unredlichkeit nach den Umſtänden
auch anders zu beſtimmen.“
(z) Simon a. a. O., S. 171. —
Dieſe ganz willkührliche Behaup-
tung wird durch die ſehr gewöhn-
liche Erfahrung widerlegt, daß viele
Beklagte, die am Ende verurtheilt
werden, dennoch den Prozeß mit
feſter Ueberzeugung von ihrem Recht
durchführen. Wer hieran zweifeln
wollte, möge doch erwägen, wie
oft in Richtercollegien verſchiedene
Meinungen über Freiſprechung oder
Verurtheilung vorkommen. Was
nun die Minorität redlich glaubt,
muß wohl auch dem Beklagten zu
glauben geſtattet werden.
VI. 7
|0116 : 98|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Ganz im Sinn dieſer letzten Äußerung wurde nun die
Vorſchrift in dem gedruckten Entwurf des Geſetzbuchs ſo
gefaßt (aa):
„Wenn kein früherer oder ſpäterer Zeitpunkt der
Unredlichkeit des Beſitzes ausgemittelt worden, ſo wird
der Tag der .. Behändigung der Klage dafür ange-
nommen.“
Dadurch wurde der Inſinuation die Kraft einer ziemlich
unſchuldigen und wirkungsloſen Präſumtion beigelegt, und
Alles in des Richters freies Ermeſſen geſtellt. Allein da-
gegen wurden wieder große Bedenken erhoben; Goßler
behauptete, mit anderen Monenten, Ueberzeugung ſey ein
Internum, worauf der Geſetzgeber ſich nicht einlaſſen könne;
daher müſſe das Geſetz den Anfang der Unredlichkeit unab-
änderlich beſtimmen, und die Alternative („oder ſpä-
terer“) müſſe weggelaſſen werden (bb). So iſt es denn
auch in dem A. L. R. geſchehen, wie die oben abgedruckte
Stelle zeigt, worin die früher vorgeſchlagene Präſumtion
nunmehr die Natur einer abſoluten Vorſchrift, einer Fiction
der mala fides, angenommen hat, ganz übereinſtimmend mit
den ſo eben vorgelegten Motiven dieſer Abänderung. —
Wie wenig aber damit die Sache zu ſicherer Entſcheidung
und zu klaren, feſten Begriffen gebracht war, zeigt folgende
Äußerung von Suarez (cc). Er unterſcheidet dreierlei
(aa) Entwurf eines Geſetzbuchs
für die Pr. Staaten Th. 2 (1787)
Tit. 4 § 153.
(bb) Simon S. 321. 322.
(cc) Simon S. 330 No. 2.
(Vgl. auch ebendaſelbſt S. 633). —
Die in dieſer Äußerung von Sua-
rez zuſammengeſtellten ſubtilen Un-
|0117 : 99|
§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.
mögliche Zuſtände in dem Bewußtſeyn des Beſitzers:
1. unredlicher Beſitzer; dahin gehört jeder, dem die Klage
inſinuirt iſt; ferner jeder, der ſeinen Beſitz aus einem ver-
ſchuldeten factiſchen Irrthum für rechtmäßig hält; endlich
jeder, der bei Erlangung des Beſitzes an der Rechtmäßig-
keit zweifelt; 2) Beſitzer, der es weiß, daß ſeine Poſ-
ſeſſion unrechtmäßig ſey (d. h. der wahre malae fidei
possessor); 3. betrüglicher Beſitzer, d. h. der dolose zum
Beſitz gelangt iſt. Zu allen dieſen kommt aber noch (als
eine ganz beſondere Klaſſe) der Beſitzer, der durch eine
ſtrafbare Handlung zum Beſitz gelangt iſt (dd).
Alle dieſe Beſtimmungen ſchließen ſich in der Haupt-
ſache (nur mit etwas ſubtileren Unterſchieden) an die Auf-
faſſung neuerer Romaniſten an, welche gleichfalls die Fiction
einer mala fides auf den Anfang des Rechtsſtreits grün-
den (ee). So wie bei dieſen, hat auch im A. L. R. die
erwähnte Fiction keinen anderen Zweck, als einen Rechts-
grund abzugeben für die Verpflichtung des Beklagten, die
während des Rechtsſtreits bezogenen Nutzungen (die omnis
causa) heraus zu geben (ff). Die Aehnlichkeit der Auf-
terſcheidungen ſind denn auch in
das A. L. R., nicht zu deſſen Vor-
theil, übergegangen: Th. 1 Tit. 7
§ 11—17. 222. 229. 239—242.
(dd) Simon S. 332 No. 12.
(ee) Wollte man noch etwa be-
zweifeln, daß Suarez mit der
von ihm fingirten mala fides
durchaus nicht etwas Neues ein-
zuführen vermeinte, ſondern ledig-
lich an das damals beſtehende R. R.
dachte, ſo würde dieſer Zweifel
durch zwei andere von ihm her-
rührende Äußerungen gänzlich be-
ſeitigt werden. Kamptz Jahr-
bücher B. 41 S. 8. 9.
(ff) A. L. R. § 223—228, ver-
bunden mit § 222.
7*
|0118 : 100|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
faſſung zeigt ſich auch darin, daß das Preußiſche Recht
(ſo wie jene neuere Romaniſten) aus dem Anfang des
Rechtsſtreits die Mora, eben ſo wie die Fiction der Unred-
lichkeit, entſpringen läßt, und an die Mora dieſelben Wir-
kungen knüpft, welche aus dem unredlichen Beſitz ent-
ſpringen (gg).
Die entſchiedene Abweichung dieſer ganzen Auffaſſung
von dem wahren R. R. beſteht aber darin, daß das R. R.
den Rechtsſtreit als ſolchen, den es in der L. C. gleichſam
perſonificirt, zum Entſtehungsgrund einer eigenthümlichen
Obligation macht, unabhängig von unredlichem Beſitz und
von Mora, die daneben vorhanden ſeyn können oder nicht.
Dieſe eigenthümliche Obligation des R. R. wird im A. L. R.
ignorirt. Die practiſche Folge, daß die omnis causa geleiſtet
werden muß, iſt hier wie dort dieſelbe, und in ſofern hat
allerdings dieſe Abweichung eine mehr theoretiſche als prac-
tiſche Natur. Gerade daraus aber erhellt um ſo mehr,
daß dieſe Abweichung im A. L. R. nicht mit Bewußtſeyn,
in der Abſicht einer practiſchen Verbeſſerung, vorgenommen
worden iſt. Aus den oben angeführten Stellen der Mate-
rialien geht auch klar hervor, daß man ſich im Ganzen an
die damals herrſchende Lehre des gemeinen Rechts an-
ſchließen, und dieſe höchſtens etwas genauer beſtimmen wollte.
(gg) A. G. O., Th. 1 Tit. 7
§ 48. d, und A. L. R. Th. 1 Tit. 16
§ 18. Ohne Zweifel aber ſoll
hier in den Wirkungen die Mora
nur dem unredlichen Beſitz des
§ 222 (I. 7.) gleich geſtellt werden,
d. h. alſo der leichteſten Art des
unredlichen Beſitzes überhaupt
(nach der Auffaſſung von Sua-
rez ſ. o. Note cc).
|0119 : 101|
§. 265. Wirkung der L. C. — Erweiterungen.
§. 265.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung.
a) Erweiterungen.
Die Wirkung der L. C. auf den Umfang der Verur-
theilung äußert ſich zunächſt in den Erweiterungen,
welche zu dem urſprünglichen Gegenſtand des Rechtsſtreits
nach der L. C. hinzutreten können, und deren Werth dem
Kläger für den Fall der Verurtheilung verſchafft werden
ſoll (§ 264). Es iſt hier zuerſt eine Ueberſicht über die
verſchiedenen Arten ſolcher Erweiterungen zu geben, dann
aber die Behandlung derſelben bei den einzelnen Klaſſen
der Klagen zu beſtimmen.
Die Erweiterungen laſſen ſich auf zwei Hauptarten zu-
rück führen, die ich als Früchte (regelmäßigen Erwerb)
und zufälligen Erwerb bezeichne.
Der urſprüngliche Begriff der Frucht ſteht in Verbin-
dung mit den Geſetzen der organiſchen Natur. Was nach
dieſen Geſetzen aus einer Sache erzeugt wird, heißt eine
Frucht dieſer Sache.
Dieſer an ſich bloß natürliche Begriff bekommt eine
juriſtiſche Bedeutung durch folgende Eigenſchaften ſolcher
Erzeugniſſe. Sie ſind einer periodiſchen Wiederholung
empfänglich, auf welche mit mehr oder weniger Sicherheit
gerechnet werden kann. Daher iſt dieſe Fähigkeit zur
Fruchterzeugung dasjenige, wodurch die fruchttragende Sache
vorzugsweiſe (oft ganz allein) Werth für den Verkehr be-
|0120 : 102|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung
kommt, um deren Willen wir ſie zu erwerben und zu haben
pflegen. — Die wichtigſten Fälle der Anwendung dieſes
Begriffs ſind: Pflanzen jeder Art, ſo wie die einzelnen
Beſtandtheile der Pflanzen, als Früchte des Bodens. Eben
ſo bei Thieren: die Jungen (als Früchte der Mutter), die
Wolle, die Milch.
Nun findet ſich aber unter denjenigen Erwerbungen,
welche ſich lediglich auf Rechtsgeſchäfte gründen, alſo mit
den Geſetzen der organiſchen Natur nichts gemein haben,
manche Fälle, in welchen die eben erwähnten juriſtiſchen
Eigenſchaften der Früchte gleichfalls wahrgenommen werden:
namentlich die Abhängigkeit des Erwerbs von einem ſchon
vorhandenen anderen Vermögensſtück, die periodiſche Repro-
duction, die Wahrſcheinlichkeit, mit der auf ſie gerechnet
werden kann, ſowie der Werth den durch ſie das zum
Grund liegende Vermögensſtück erhält. Wegen dieſer
ähnlichen Eigenſchaften werden ſolche Erwerbungen den
Früchten gleich geachtet, oder nach der Analogie der Früchte
behandelt (a). — Die wichtigſten Fälle derſelben ſind:
Pacht- und Miethgeld von Grundſtücken und beweglichen
(a) L. 34. de usuris (22. 1)
„vicem fructuum obtinent,“
L. 36. eod. „pro fructibus acci-
piuntur,“ L. 121 de V.S. (50. 16)
„Usura pecuniae, quam perci-
pimus, in fructu non est: quia
non ex ipso corpore, sed ex
alia causa est, id est, nova
obligatione.“ Das: in fructu
non est iſt nach dieſer Zuſammen-
ſtellung gleichbedeutend mit dem:
pro fructibus und vicem obti-
nent der vorhergehenden Stellen;
der hinzugefügte Grund läßt über
die Richtigkeit dieſer Erklärung
keinen Zweifel.
|0121 : 103|
§. 265. Wirkung der L. C. — Erweiterungen.
Sachen, die Zinſen eines Capitals (b), ſo wie bei den
Römern jeder aus der Arbeit von Sclaven hervorgehende
Erwerb, indem die Arbeit als die regelmäßige und natür-
liche Benutzung der Sclaven angeſehen wurde.
Die Neueren nennen die hier aufgeſtellten zwei Klaſſen
von Früchten: fructus naturales und civiles.
Bei den eigentlichen (organiſchen) Früchten wird das
Eigenthum unmittelbar durch die organiſche Erzeugung dem
Eigenthümer der fruchttragenden Sache, auch ohne deſſen
Wiſſen und Zuthun, erworben. Sie ſind zunächſt bloß
Beſtandtheile der fruchttragenden Sache, und werden erſt
durch die Abſonderung von derſelben ſelbſtſtändige Ver-
mögensſtücke (c). Das ſo erworbene Eigenthum hört auf
durch Aufzehrung oder Veräußerung (fructus consumti),
nach welcher höchſtens der Geldwerth derſelben im Ver-
mögen zurück bleiben kann.
Bei den ſ. g. civilen Früchten entſteht eine Erwerbung
von Eigenthum gar nicht durch ihre eigenthümliche Frucht-
natur, ſondern ſo wie bei anderen Rechtsgeſchäften durch
(b) L. 34 de usuris (22. 1)
„Usurae vicem fructuum obti-
nent: et merito non debent a
fructibus separari.“ Die ſchein-
bar widerſprechenden Worte der
L. 121 de V. S. (Note a) „usura
in fructu non est,“ wollen alſo
nur ſagen, daß die Zinſen nicht
durch organiſche Erzeugung, ſon-
dern vermittelſt eines Rechtsge-
ſchäfts, erworben werden. Mit
anderen Worten ſagt daſſelbe Pa-
pinian in L. 62 pr. de rei vind.
(6. 1) „vectura, sicut usura,
non natura pervenit, sed jure
percipitur,“ in welcher Stelle die
Gleichartigkeit des Erwerbes
an dem Miethgeld und an den
Geldzinſen anerkannt wird.
(c) L. 15 pr. de pign. (20. 1),
L. 83 pro soc. (17. 2).
|0122 : 104|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Tradition (d). Sie ſtehen alſo gleich Anfangs zu dem
Erwerber in demſelben Verhältniß, wie die organiſchen
Früchte nach der Veräußerung, d. h. ſie haben von Anfang
an die Natur der fructus consumti.
Mit der erwähnten beſonders wichtigen Eigenſchaft aller
Früchte, nach welcher auf ſie eine regelmäßige Erwartung,
eine wahre Berechnung, gerichtet werden kann, ſteht noch
folgender Rechtsbegriff in Verbindung. Wer durch das
fruchttragende Vermögensſtück in der Lage iſt, Früchte zu
erwerben, kann dieſe Fähigkeit entweder gebrauchen, oder
auch (abſichtlich oder aus Unthätigkeit) unbenutzt laſſen.
Dieſe Unterlaſſung iſt an ſich eben ſo gleichgültig, wie jede
andere verſtändige oder unverſtändige Behandlung des Ei-
genthums. Sie kann aber eine juriſtiſche Bedeutung
bekommen, wenn der Unterlaſſende in einem beſonderen
Rechtsverhältniß ſteht, das ihn zur Sorgfalt verpflichtet.
Dieſen Fall bezeichnen neuere Schriftſteller durch den Aus-
druck fructus percipiendi, welcher weder römiſch noch an
ſich zweckmäßig iſt (e). Ich werde dafür den Ausdruck:
verſäumte Früchte gebrauchen.
(d) Das Product der Sclaven-
arbeit wurde bei den Römern er-
worben in Folge des allgemeinen
Grundſatzes, nach welchem alle zum
Erwerb geeignete Handlungen eines
Sclaven dem Herrn zu gut kom-
men konnten und mußten; alſo
nicht eigentlich durch ein Rechts-
geſchäft, aber doch vermöge einer
poſitiven Rechtsregel.
(e) Ich will nicht ſagen, daß
an ſich die Zuſammenſetzung dieſer
beiden Ausdrücke unlateiniſch ſey,
allein als techniſche Bezeichnung
des oben angegebenen Verhältniſſes
kommt ſie bei den Römern nie-
mals vor, welche ſtets Umſchrei-
bungen dafür gebrauchen. Der
Ausdruck iſt auch unpaſſend, weil
er an ſich auch auf die nur noch nicht
|0123 : 105|
§. 265. Wirkung der L. C. — Erweiterungen.
Unter den zufälligen Erwerb aus ſchon vorhandenen
anderen Vermögensſtücken werden wir alle diejenigen Fälle
zu rechnen haben, in welchen die oben angegebenen Eigen-
ſchaften der Früchte fehlen, ſo daß namentlich ihre regel-
mäßige Entſtehung nicht der Grund iſt, um deſſen Willen
wir die Hauptſache zu haben pflegen. Dahin gehören
folgende Fälle: Die Erweiterung eines Grundſtücks durch
Alluvion u. ſ. w. Die Bereicherung durch Poenalklagen,
in Folge der an unſren Sachen verübten Verletzungen.
Ferner bei den Römern der Erwerb eines Herrn aus den
Erbſchaften oder Legaten, welche ſeinen Sclaven hinterlaſſen
wurden, ſo wie der Eigenthums-Erwerb des Herrn an den
von ſeiner Sclavin gebornen Kindern (f).
Alle dieſe Gegenſtände kommen für unſre gegenwärtige
Unterſuchung in ſofern in Betracht, als ſie wegen ihrer
Entſtehung während eines Rechtsſtreits auf den Umfang
der Verurtheilung in der Hauptſache Einfluß haben können.
Es darf aber dabei nicht überſehen werden, daß dabei auch
noch andere Rechtsverhältniſſe und ſelbſtſtändige Klagen in
abgeſonderten, ſelbſt auf die un-
reifen Früchte paßt, ſo daß das
entſcheidende Moment des Verſäum-
niſſes oder der Unterlaſſung und des
daraus entſpringenden Verluſtes,
darin gar nicht angedeutet iſt.
(f) Allerdings ſtehen nach na-
türlicher Betrachtung die Sclaven-
kinder zu der Mutter in demſelben
organiſchen Verhältniß, wie die
Jungen der Thiere. Der Grund,
weshalb ſie nicht als Früchte an-
geſehen wurden, lag darin: „quia
non temere ancillae ejus rei
causa comparantur, ut pa-
riant.“ (L. 27 pr. de her. pet.
5. 3). Das war die Anſicht der
Römer, als ſie noch nichts von
Chriſtenthum wußten. Bekanntlich
haben die chriſtlichen Einwohner
der Nordamerikaniſchen Sclaven-
ſtaaten andere Anſichten und Ge-
wohnheiten.
|0124 : 106|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Betracht kommen können: insbeſondere bei den organiſchen
Früchten, wenn ſie von der Hauptſache abgeſondert ſind,
eigene Vindicationen, oder, als Surrogate derſelben Con-
dictionen (g).
Wenn nun behauptet wird, daß irgend ein Anſpruch
auf ſolche Gegenſtände Wirkung der L. C. ſey, ſo ſetzt dieſe
Behauptung nothwendig voraus, daß, abgeſehen von der
L. C. und vor derſelben, dieſer Anſpruch gar nicht, oder
doch nicht in gleichem Umfange, vorhanden ſey. Dieſe
Differenz, worin die eigenthümliche Wirkung der L. C.
beſteht, muß für jeden einzelnen Fall genau angegeben
werden.
§. 266.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —
a. Erweiterungen. (Fortſetzung.)
Es iſt jetzt zu unterſuchen, wie die Erweiterungen,
deren Natur im § 265 angegeben worden iſt, auf die ein-
zelnen Klaſſen der Klagen anzuwenden ſind. Dabei muß
zum Grund gelegt werden die Unterſcheidung der Klagen
in rem von den perſönlichen Klagen.
A. Klagen in rem.
1. Eigenthumsklage, das heißt die rei vindicatio der Di-
geſten, oder die petitoria formula bei Gajus, welche eine
arbitraria actio, alſo eine Klage der freieſten Art war.
(g) S. o. B. 5 S. 524 Note b.
|0125 : 107|
§. 266. Wirkung der L. C. — Erweiterungen. (Fortſ.)
2. Erbſchaftsklage, d. h. die hereditatis petitio der
Digeſten, oder die petitoria formula in Beziehung auf
Erbſchaften.
Beide Klagen müſſen hier zuſammengefaßt werden,
theils weil ſie nur in dieſer Verbindung richtig beurtheilt
werden können, theils weil in der umfaſſendſten Stelle aus-
drücklich bezeugt wird, daß für beide die hier vorliegende
Frage völlig gleich zu beantworten ſey (a). Im All-
gemeinen wird die Regel aufgeſtellt, daß die Verurtheilung
auch die omnis causa umfaſſen müſſe, alſo ſowohl Früchte
im ausgedehnteſten Sinn des Worts, als auch den zufälligen
Erwerb, welcher nicht die Natur von Früchten hat (b).
Der Einfluß der L. C. auf die Anwendung dieſer Regel
iſt auf folgende Weiſe zu beſtimmen (c):
a) der redliche Beſitzer ſoll ſich bereichern dürfen durch
alle vor der L. C. gewonnene Früchte, nur mit Ausnahme
derjenigen organiſchen Früchte, welche noch zur Zeit der
L. C. in Natur vorräthig ſind. — Dagegen ſoll Derſelbe,
von der Zeit der L. C. an, nicht nur den Werth der ver-
zehrten und veräußerten, ſondern auch den Werth der
verſäumten Früchte erſetzen.
Hier iſt alſo die Wirkung der L. C. ſehr bedeutend,
und der Grund derſelben liegt in dem obligatoriſchen Ver-
hältniß der L. C., welches ihn nöthigt, die Sache als eine
(a) § 2 J. de off. jud. (4. 17).
(b) Für die Eigenthumsklage:
L. 17 § 1, L. 20. 35 § 1 de rei vind.
(6. 1). — Für die Erbrechtsklage:
L. 25 § 9, L. 27 pr., L. 29 de
her. pet. (5. 3).
(c) § 2 J. de off. jud. (4. 17),
L. 22 C. de rei vind. (3. 32).
|0126 : 108|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
vielleicht fremde anzuſehen und zu verwalten, und dabei
für ſeine Culpa einzuſtehen (d).
b) Daß der unredliche Beſitzer, von der L. C. an,
ebenſo ſtrenge Verpflichtungen hat wie der redliche, verſteht
ſich von ſelbſt. Bei ihm aber wird dieſelbe Strenge auch
für die ganze Dauer des Beſitzes vor der L. C. geltend
gemacht, ſo daß hierin an die L. C. gar keine praktiſche
Wirkung mehr angeknüpft iſt. — Indeſſen war Dieſes
bei dem unredlichen Beſitzer nicht der urſprüngliche Grund-
ſatz; vielmehr ſollte er vor der L. C., weil er noch in
keinem obligatoriſchen Verhältniß ſtand, nicht für die ver-
ſäumten Früchte einſtehen. Erſt das Sc. Juventianum
verordnete, daß bei der Erbſchaftsklage der unredliche Be-
ſitzer vom Anfang ſeines Beſitzes an ſo beurtheilt werden
ſollte, als ob er in einem obligatoriſchen (offenbar delict-
artigen) Verhältniß geſtanden hätte. Man nannte dieſes
den dolus praeteritus (e), und folgerte daraus u. a. auch
die Verpflichtung, für die vor der L. C. verſäumten Früchte
Entſchädigung zu leiſten (f). Dieſe gegen den unredlichen
Beſitzer neu eingeführte Strenge, wodurch für ihn die L. C.
ihren practiſchen Einfluß verlor, wurde dann durch die
(d) § 2 J. de off. jud. (4. 17)
„qui culpa possessoris percepti
non sunt.“ — Paulus I. 13 A.
§ 9: „Hi fructus in restitutione
praestandi sunt petitori, quos
unusquisque diligens paterfami-
lias et honestus colligere po-
tuisset.“
(e) L. 20 § 6, L. 25 § 2. 7,
L. 13 § 2 de her. pet. (5. 3).
(f) L. 25 § 4. 9 de her. pet.
(5. 3).
|0127 : 109|
§. 266. Wirkung der L. C. — Erweiterungen. (Fortſ.)
alten Juriſten von der Erbſchaftsklage auch auf die Eigen-
thumsklage ausgedehnt (g).
Die hier aufgeſtellten Grundſätze über die Wirkung der
L. C. bei der Eigenthumsklage waren ihrem Princip nach
keine neue Erfindung der Römiſchen Juriſten, ſondern bloß
die genauere Entwicklung uralter Rechtsregeln. Dieſe ſind
anerkannt ſchon in den alten praedes litis et vindiciarum (h),
in welchem Kunſtausdruck vindiciae die Früchte bedeutet.
Daneben galt im älteren Recht ſogar noch eine Verpflichtung
des Beklagten zum doppelten Erſatz der Früchte, welche
jedoch im neueſten Recht ſpurlos verſchwunden iſt (i).
3. Die actio ad exhibendum iſt zwar eine perſönliche
Klage, wird aber in Hinſicht auf die hier vor-
liegende Frage ganz nach den Grundſätzen der Eigen-
thumsklage beurtheilt (k). Daſſelbe gilt von folgenden
Klagen:
4. A. finium regundorum (l).
5. A. confessoria (m).
6. A. hypothecaria (n).
(g) L. 27 § 3 de rei vind.
(6. 1).
(h) Gajus IV. § 91. 94.
(i) Paulus V. 19 § 2, L. 1
pr. C. Th. de us. rei jud. (4. 19),
L. 1 C. Th. de fruct. (4. 18),
aus welcher interpolirt iſt, die L. 2
C. de fruct. (7. 51); beide Texte
zuſammengeſtellt bei Heimbach
Lehre von der Frucht S. 160. —
L. Rom. Burg. ed. Barkow
Tit. 8 lin. 17—20, Tit. 35 lin. 11
bis 13. — Der ſehr dunkle Zu-
ſammenhang dieſes Rechtsinſtituts
ſoll hier nicht weiter verfolgt werden,
da er auf das neueſte Recht ganz
ohne Einfluß iſt. Vgl. darüber
Heimbach S. 163—166.
(k) § 3 J. de off. jud. (4. 17),
L. 9 § 5—8 ad exhib. (10. 4).
(l) L. 4 § 2 fin. reg. (10. 1).
(m) L. 5 § 4 si ususfr. (7. 6),
L. 19 § 1 de usur. (22. 1).
(n) L. 16 § 4 de pign. (20. 1).
|0128 : 110|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
B. Perſönliche Klagen.
Bei dieſen kommt ein ganz anderes Verhältniß in Be-
tracht, als bei den Klagen in rem. Da ſie nämlich ſtets
auf Obligationen beruhen, welche vor der L. C. vorhanden
geweſen ſeyn müſſen, ſo kommt es darauf an, welche Ver-
pflichtung aus dieſen Obligationen an ſich, unabhängig
von allem Rechtsſtreit, hervorgeht. Da wo dieſe Ver-
pflichtung ſchon vom Anfang der Obligation an auf Erſtat-
tung der Früchte führt, kann natürlich die L. C. nichts
Neues hinzuthun, ſo daß von einer Wirkung der L. C.
auf den Erſatz der Früchte nur bei denjenigen Obligationen
die Rede ſeyn kann, welche nicht ſchon an ſich einen
ſolchen Erſatz begründen.
Die Grundlage der hier einſchlagenden Regeln bildet
nicht, wie in vielen andern Fällen, die Unterſcheidung der
stricti juris und bonae fidei actiones, ſondern vielmehr
folgende ganz andere Unterſcheidung. Die perſönlichen
Klagen gehen entweder auf eine repetitio, d. h. auf die
Wiedererlangung einer Sache oder eines Werthes die
ſchon früher zu unſerem Vermögen gehört haben, oder aber
ſie gehen auf einen unſerem Vermögen bisher fremden
Gegenſtand (ad id consequendum quod meum non fuit,
veluti ex stipulatu) (o).
(o) Die hier aufgeſtellte wich-
tige Unterſcheidung wird von Pau-
lus durchgeführt in den zwei wich-
tigſten hier einſchlagenden Stellen:
1. die L. 65 de cond. indeb. (12. 6)
handelt blos von den Klagen auf
repetitio. 2. L. 38 de usuris
(22. 1) ſpricht von beiden Klaſſen
von Klagen, ſtellt aber nicht den
Gegenſatz derſelben an die Spitze,
|0129 : 111|
§. 266. Wirkung der L. C. — Erweiterungen. (Fortſ.)
1. Bei den Klagen auf repetitio gilt die Regel, daß
die Früchte und andere Erweiterungen ſchon von Anfang
an erſetzt werden müſſen, ſo daß in dieſer Hinſicht die
L. C. ohne allen Einfluß iſt. Auch macht es dabei durch-
aus keinen Unterſchied, ob eine ſolche Obligation durch
eine ſtrenge oder freie Klage verfolgt wird, wie denn na-
mentlich die der condictio indebiti zum Grunde liegende
Obligation von Anfang an, alſo vor allem Rechtsſtreit,
und auch ohne Mora, den Fruchterſatz mit umfaßt (p).
2. Unter den Klagen auf einen bisher fremden Gegen-
ſtand (quod meum non fuit) wurden die freien und
ſtrengen Klagen unterſchieden.
a) Bei den freien Klagen dieſer Klaſſe galt, wie es
ſcheint, von jeher und ohne allen Widerſtreit die Regel,
daß Früchte erſtattet werden müßten (q). Hier aber war
die Sache deswegen von keiner Erheblichkeit, weil meiſt
der eigenthümliche Inhalt jeder beſonderen Obligation, und
insbeſondere die Einwirkung der Mora, eine frühere Ver-
ſondern deutet ihn erſt an in dem
§ 7 (ſ. u. Note s), obgleich ſie
ihn durchweg unverkennbar vor-
ausſetzt.
(p) L. 65 pr. § 5. 7, L. 15 pr.
de cond. indeb. (12. 6). Auf dieſelbe
Klaſſe von Klagen bezieht ſich augen-
ſcheinlich L. 38 pr. § 1—6, § 10
bis 15 de usur. (22. 1). Bloße An-
wendungen auf das Interdict unde
vi, und auf die actio pignoratitia
finden ſich in L. 4 C. unde vi (8. 4),
und L. 3 C. de pign. act. (4. 24).
Allerdings können Zinſen mit
der cond. indebiti nicht gefordert
werden, welches jedoch unten be-
ſonders erklärt werden wird.
(q) L. 38 § 15 de usur. (22. 1)
„In ceteris quoque bonae fidei
judiciis fructus omnimodo prae-
stantur.“
|0130 : 112|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
pflichtung zum Fruchterſatz mit ſich führt, und alſo die
Wirkung der L. C. abſorbirt (r).
b) Bei den ſtrengen Klagen (den Condictionen) war
von Anfang der Obligation an keine Verpflichtung zum
Fruchterſatz vorhanden, und ſelbſt die Mora erzeugte eine
ſolche Verpflichtung nicht. Wenn alſo z. B. ein Land-
gut durch Stipulation verſprochen worden war, ſo konnte
der Creditor nur das Landgut ſelbſt einklagen, nicht die
ſeit der Zeit des Vertrags oder der Mora gezogenen
Früchte, und es blieb alſo ihm überlaſſen, durch ſchleunige
Anſtellung der Klage den möglichen Verluſt abzuwenden,
der ihm aus der Anwendung dieſer Regel entſtehen konnte.
Hier aber zeigte ſich eine wichtige Wirkung der L. C.,
indem von dieſer an die omnis causa geleiſtet werden
mußte. Zwar auch dieſe Regel galt in der älteſten Zeit
nicht; aber ſchon frühe (und wahrſcheinlich nach der Ana-
logie der Eigenthumsklage) erkannte man die Billigkeit der-
ſelben an, Sabinus und Caſſius erklärten ſich für
dieſelbe, und ſie wurde dann allgemein angenommen (s).
(r) So z. B. bei dem Kauf
L. 38 § 8 de usur. „Ex causa
etiam emptionis fructus resti-
tuendi sunt.“ Hier kommt theils
die Mora, theils die gegenſeitige
Zahlung des Kaufpreiſes, alſo
überhaupt die auf völlige Gegen-
ſeitigkeit gerichtete Natur dieſes
Vertrags, in Betracht. — Eben
ſo wird bei Legaten und Fidei-
commiſſen bald die Mora, bald
die L. C. als Anfangspunkt des
Fruchterſatzes angegeben; die L. C.
kann nur ſo gemeint ſeyn, wenn
nicht ſchon früher eine Mora vor-
handen war (§ 271).
(s) L. 38 § 7 de usur. (22. 1)
„Si actionem habeam ad id
consequendum, quod meum non
fuit, veluti ex stipulatu, fructus
non consequar, etiam si mora
facta sit. Quod si acceptum
est judicium, tunc Sabinus et
Cassius ex aequitate fructus
|0131 : 113|
§. 267. Wirkung der L. C. — Verſäumte Früchte.
§. 267.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —
a) Erweiterungen (Fortſetzung. Verſäumte Früchte).
Schon oben iſt an mehreren Stellen die Rede geweſen
von dem Erſatz für verſäumte Früchte, oder die ſ. g.
fructus percipiendi (§ 265. 266). Hierüber herrſchen
unter neueren Schriftſtellern manche Misverſtändniſſe,
welche meiſt aus einer zu ſubtilen Behandlung des an ſich
einfachen Gegenſtandes entſtanden zu ſeyn ſcheinen. Dar-
auf ſoll gegenwärtig näher eingegangen werden.
Eine ſichere Grundlage für dieſe Unterſuchung bildet
der deutlich ausgeſprochene Grundſatz, daß die Verpflich-
tung zum Erſatz ſolcher Früchte ſtets auf die Culpa des
Beſitzers, der ſie zu gewinnen verſäumte, zurückzuführen
iſt (§ 266. d). Jede Streitfrage in dieſer Lehre kann alſo
nur aus dem Daſeyn oder dem Mangel einer ſolchen
Culpa entſchieden werden.
So hat man ſich in neuerer Zeit viele, wie es ſcheint
vergebliche, Mühe gegeben mit der Unterſuchung der Frage,
ob die unbenutzte Möglichkeit des Fruchtgewinnes nach
der Perſon des Klägers oder nach der des Beklagten ab-
zumeſſen ſey. Manche wollen hierin zwiſchen der Eigen-
thumsklage und Erbſchaftsklage unterſcheiden (a), Andere
zwiſchen dem redlichen und unredlichen Beſitzer (b), noch
quoque post acceptum judicium
praestandos putant, ut causa
restituatur: quod puto recte
dici.“
(a) Buchholtz, Abhandlungen
S. 13 — 15.
(b) Glück, B. 8 S. 262. 296.
298.
VI. 8
|0132 : 114|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Andere behaupten ganz allgemein, daß lediglich auf die
Perſon des Klägers geſehen werden müſſe (c).
Nicht ſowohl die eine oder die andere dieſer Beant-
wortungen der erwähnten Frage, als vielmehr die Stellung
der Frage ſelbſt, iſt verwerflich. Es liegt dabei die Vor-
ausſetzung zum Grunde, als ob die Fruchtgewinnung von
beſonderen perſönlichen Geſchicklichkeiten abhinge, welche
bald bei dem einen, bald bei dem andern Theil gefunden
oder vermißt werden könnten.
Nach dem eben aufgeſtellten Princip iſt dieſes ganze
Verfahren grundlos. Alles kommt allein auf das Daſeyn
der Culpa in dem Benehmen des Beſitzers an. Das Da-
ſeyn der Culpa aber wird nach allgemeinen bekannten
Grundſätzen feſtgeſtellt durch die Vergleichung des perſön-
lichen Benehmens jedes im einzelnen Fall zu beurtheilenden
Schuldners mit demjenigen Thun und Laſſen, welches in
gleichem Fall von einem diligens paterfamilias zu erwar-
ten geweſen wäre. Dem urtheilenden Richter alſo ſoll
die allgemeine Handlungsweiſe eines beſonnenen Mannes
als Maaßſtab dienen, wobei auf die Eigenthümlichkeit des
Schuldners gar nichts ankommt (d). Allerdings wird in
einigen Stellen die Verpflichtung zum Erſatz wörtlich davon
abhängig gemacht, daß der Kläger hätte die Früchte ge-
(c) Heimbach, Lehre von der
Frucht S. 168 — 170 S. 184.
(d) In wenigen und nicht be-
deutenden Fällen wird auf die
Individualität des Schuldners aus-
nahmsweiſe ſchonende Rückſicht
genommen (diligentia quam suis
rebus adhibere solet). Von
einem ſolchen Fall iſt hier gar
nicht die Rede.
|0133 : 115|
§. 267. Wirkung der L. C. — Verſäumte Früchte.
winnen können (e); allein in noch mehreren Stellen wird
die Frage ſo geſtellt, ob der Beklagte Dieſes thun
konnte oder ſollte (f). Beide Arten des Ausdrucks
haben aber ganz denſelben Sinn, und werden daher mit
Recht in willkührlicher, zufälliger Abwechslung gebraucht.
Daß in der That dieſe beide Arten die Frage aufzu-
faſſen gar nicht verſchieden ſind, folgt daraus, daß beide,
verglichen mit dem allgemeinen Princip der Culpa keinen
anderen Sinn haben als den: was in dieſem Fall ein be-
ſonnener Hausvater wirklich gethan hätte. Da wo in
unſren Rechtsquellen die für den Kläger vorhandene
Möglichkeit der Fruchtgewinnung erwähnt wird, ſteht
ſie als Gegenſatz gegen das, was der Beklagte wirklich
gewonnen hat, welches dann für gleichgültig erklärt
wird (g). In keiner Stelle wird die Möglichkeit für
den Kläger der Möglichkeit für den Beklagten als etwas
Verſchiedenes gegenüber geſtellt (h), ſowie es die neueren
Schriftſteller in ihrer Controverſe fälſchlich vorausſetzen.
(e) L. 62 § 1 de rei vind.
(6. 1), L. 39 § 1 de leg. 1. (30),
L. 4 C. unde vi (8. 4).
(f) L. 25 § 4 de her. pet. (5. 3),
L. 2 C. de fruct. (7. 51), L. 5
C. de rei vind. (3. 32), L. 1
§ 1 C. de her. pet. (3. 31), L. 3
C. de pign. act. (4. 24).
(g) L. 4 C. unde vi (8. 4)
„fructus etiam quos vetus pos-
sessor percipere potuit, non
tantum quos praedo percepit.“
(h) Allerdings iſt in dieſem
Sinn aufgefaßt worden L. 62 § 1
de rei vind. (6. 1) „constat ani-
madverti debere, non an ma-
lae fidei possessor fruiturus
sit, sed an petitor frui potue-
rit, si ei possidere licuisset,“
und dieſe Stelle ſcheint faſt allein
das Misverſtändniß veranlaßt zu
haben, als ob die Geſchicklichkeit
des Klägers mit der des Beklag-
ten abzuwägen, und zwiſchen bei-
den Geſchicklichkeiten als Maaß-
ſtab der Beurtheilung zu wählen
wäre. Allein die Florentiniſche
Leſeart fruiturus sit, iſt ohnehin
8*
|0134 : 116|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Ferner iſt in der neueſten Zeit behauptet worden, ein
Erſatz für verſäumte Früchte ſey nur dann zu leiſten, wenn
die Früchte wirklich vorhanden waren, und der Beſitzer ſie
einzuſammeln unterließ; dagegen ſoll ihn kein Vorwurf
und keine Verpflichtung treffen, wenn er die Anſtalten
unterläßt, ohne welche eine Entſtehung der Früchte un-
möglich iſt (i). Daher würde die unterlaſſene Erndte einen
Anſpruch auf Erſatz begründen, die unterlaſſene Beſtellung
des Feldes aber nicht.
Bei einer richtigen Anwendung unſres Princips von
der Culpa, und bei der practiſchen Auffaſſung des ganzen
Rechtsverhältniſſes, muß dieſe Meinung gänzlich verworfen
werden. Wenn der Beſitzer eines Landgutes, der voraus-
ſieht, daß er in der Eigenthumsklage unterliegen werde,
obgleich dieſe durch mehrere Jahre hingezogen werden
kann, die Aecker unbeſtellt läßt, und dadurch ohne allen
Fruchtertrag bleibt, ſo kann man unmöglich ſagen, daß
er das gethan habe, was ein diligens pater familias ge-
than hätte, ſo wie es doch Paulus fordert (§ 266. d).
Es wird ferner ausdrücklich geſagt, daß der unredliche
Beſitzer auch verantwortlich ſey wegen Unterlaſſung der
für die Sache nöthigen Ausgaben (k), und es wird dabei
verwerflich und finnlos, da von
einer Beurtheilung der Zukunft
gar nicht die Rede ſeyn kann. Nimmt
man aber die Vulgata fruitus
sit an, die gar kein Bedenken hat,
ſo verſchwindet ſelbſt jener ſchwache
Schein völlig, und die Stelle ſagt
dann wörtlich daſſelbe, wie die
vorher angeführte Stelle des Co-
dex (Note g).
(i) Heimbach, Lehre von der
Frucht, S. 171 — 178.
(k) L. 31 § 3 de her. pet.
(5. 3). „Sumtum … si facere
|0135 : 117|
§. 267. Wirkung der L. C. — Verſäumte Früchte.
durchaus nicht unterſchieden zwiſchen Ausgaben für die
Erhaltung der Sache ſelbſt, oder für die Beſtellung zur
Fruchterzeugung.
Wenn man jene Behauptung auf die ſ. g. civilen
Früchte anwendet, ſo würde ſie zu folgender Unterſcheidung
führen. Der Beſitzer wäre verpflichtet, Miethgeld und
Zinſen einzukaſſiren, wenn die Contracte hierüber ſchon
geſchloſſen ſind; nicht verpflichtet, ſolche Contracte zu
ſchließen, auch ſelbſt an ſolchen Sachen, die ihrer Natur
nach zum Vermiethen beſtimmt ſind. Nun wird aber
gerade hiervon das Gegentheil ausdrücklich geſagt. Der
unredliche Beſitzer ſoll für verſäumte Früchte einſtehen,
wenn er Sachen unvermiethet läßt, deren Vermiethung
herkömmlich iſt (l). Eben ſo ſoll der Erbe, wenn er die
Auszahlung eines Geldlegats ohne Grund verzögert, da-
von landübliche Zinſen zahlen (m).
Sehr richtig wird dieſes ganze Rechtsverhältniß in
folgender Stelle der Weſtgothiſchen Interpretation beur-
theilt (n):
debuit, nec fecit, culpae hujus
reddat rationem.“
(l) L. 62 pr. de rei vind.
(6. 1) „Si navis a malae fidei
possessore petatur, et fructus
aestimandi sunt, ut in taberna
et area quae locari solent.“ —
L. 19 pr. de usur. (22. 1) am
Ende der Stelle.
(m) L. 39 § 1 de leg. 1. (30).
Aus den landüblichen Zinſen folgt,
daß nicht blos die Einkaſſirung,
ſendern auch das Ausleihen von
dem Erben erwartet wird. Denn
wäre die Rede von einem ſchon
ausgeliehenen Capital, ſo würden
nicht landübliche, ſondern die im
Contract verſprochenen Zinſen ge-
fordert werden.
(n) Interpr. L. 1 C. Th. de
fruct. (4. 18).
|0136 : 118|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
quales per diligentem culturam consequi proprii
domini utilitas potuisset.
Die ganze hier widerlegte Meinung ſcheint überhaupt
nur aus einer zu buchſtäblichen Auffaſſung der Worte
percipere und colligere hervor zu gehen, die freilich un-
mittelbar blos den Act des Einſammelns bezeichnen, dem
Sinn nach aber auch die unerläßlichen vorbereitenden
Handlungen mit in ſich ſchließen. Wäre die Rede davon,
dem Beſitzer ungewöhnliche Anſtrengungen von Kraft und
Geſchicklichkeit zuzumuthen, ſo würde jene Meinung richtig
ſeyn; es wird aber nichts von ihm verlangt, als daß er
dasjenige thue, welches Niemand, ſelbſt an ſeinem eigenen
Vermögen, unterlaſſen kann ohne den Vorwurf einer ent-
ſchiedenen Nachläſſigkeit auf ſich zu ziehen.
Zuletzt iſt noch eine Bemerkung hinzuzufügen, über die
Rechtsmittel womit für die verſäumten Früchte Erſatz
verlangt werden kann. Wegen der vorhandenen oder ver-
zehrten Früchte ſind nach Umſtänden ganz verſchiedene
Rechtsmittel anwendbar: die Hauptklage, durch welche
auch die Früchte mit umfaßt werden, dann die Vindi-
cation oder eine Condiction, je nachdem die Früchte vor-
handen oder verzehrt ſind.
Nicht ſo verhält es ſich mit dem Erſatz für die ver-
ſäumten Früchte. Dieſer kann allerdings durch die auf die
Sache ſelbſt gerichtete Hauptklage mit verfolgt werden,
und hierdurch werden in der That die ſo eben aufgeſtellten
Regeln geltend gemacht. Dagegen kann von einer Vindication
|0137 : 119|
§. 267. Wirkung der L. C. — Verſäumte Früchte.
dieſer Früchte nicht die Rede ſeyn, indem dieſelben niemals
im Beſitz des Beklagten geweſen ſind. Eben ſo wenig
aber iſt eine Condiction auf dieſelben möglich, weil die
Grundbedingung einer ſolchen, nämlich die Bereicherung
aus fremder Sache, fehlt (o).
Dieſer letzte Satz wird in folgender Stelle anerkannt,
welche leicht misverſtanden werden kann (p):
Si ejus fundi, quem alienum possideres, fructum
non coëgisti, nihil ejus fundi fructuum nomine te
dare oportet.
Flüchtig angeſehen, könnte dieſe Stelle als ein Wider-
ſpruch gegen die ganze Lehre von dem Erſatz für verſäumte
Früchte aufgefaßt werden. Wenn man aber die unzweifel-
hafte techniſche Bedeutung der Worte dare oportere erwägt,
ſo liegt in der angeführten Stelle nichts Anderes, als die
ſo eben gerechtfertigte Verneinung einer ſelbſtſtändigen
Condiction. Der Verfaſſer der Stelle will alſo nur
ſagen, daß für verſäumte Früchte niemals mit einer Con-
diction Erſatz gefordert werden könne; er widerſpricht aber
damit nicht der Forderung dieſes Erſatzes überhaupt, indem
ja die Vindication der Hauptſache dieſen Erſatz mit um-
faſſen kann (q).
Man darf auch nicht glauben, daß dieſe Unter-
ſcheidung ein blos theoretiſches Intereſſe habe, und practiſch
(o) S. o. B. 5. S. 524. b.
(p) L. 78 de rei vind. (6. 1).
(q) Dieſe richtige Erklärung der
Stelle findet ſich bei Heimbach,
Lehre von der Frucht, S. 94. 95.
|0138 : 120|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
werthlos ſey. Denn wenn der unredliche Beſitzer den
Beſitz der Hauptſache ohne ſeinen Dolus verliert, ſo kann
gegen ihn eine Vindication überhaupt nicht mehr angeſtellt
werden, ſo daß auch eine Rachforderung der etwa früherhin
verſäumten Früchte nicht mehr möglich iſt. Wäre dagegen
für dieſe eine ſelbſtſtändige Condiction zuläſſig, ſo würde
dieſelbe auch jetzt noch angeſtellt werden können.
Eine eigenthümliche Beſtimmung über die ſ. g. fructus
percipiendi enthält das Preußiſche A. L. R. Es ver-
pflichtet nicht, ſo wie das R. R., jeden Beklagten, die
Früchte zu erſetzen, welche zu gewinnen er während der
Dauer des Rechtsſtreits etwa verſäumt haben möchte,
ſondern nur Den, welcher es weiß, daß die Sache, die er
als ſeine eigene beſitzt, einem Anderen zugehöre, alſo den
wahren, eigentlichen malae fidei possessor (r). — Dieſe
Abweichung kann ich nicht billigen. Jedem Beklagten, auch
wenn er noch ſo feſt von ſeinem Recht überzeugt iſt, kann
man ohne Unbilligkeit zumuthen, daß er die Möglichkeit
bedenke, den Prozeß zu verlieren, und für dieſen möglichen
Fall ſich als den Verwalter eines fremden Gutes anſehe,
(r) A. L. R. Th. 1 Tit. 7 § 229.
Auf den erſten Blick könnte man
glauben, es ſey hier nur derſelbe
unredliche Beſitzer gemeint wie in
§ 222, d. h. eben der Beklagte über-
haupt. Daß aber in der That ein
Unterſchied, ein Gegenſatz gemeint
iſt, zeigt erſtlich der verſchiedene
Ausdruck beider §§, zweitens die
Vergleichung der § 223—228 mit
§ 229, welcher letzte offenbar etwas
Neues ſagen will, drittens die Be-
merkungen von Suarez bei Si-
mon Zeitſchrift B. 3 S. 330 N. 2,
S. 172. Vgl. auch ebendaſ. S. 633
und oben § 264.
|0139 : 121|
§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.
dem eine beſondere Sorgfalt obliegt. Wenn er alſo in
dieſer Lage aus Trägheit unterläßt, den ſtreitigen Acker zu
beſtellen, oder die Früchte einzuſammeln, ſo trifft ihn, bei
der Verurtheilung in der Hauptſache, auch die Entſchädigung
für dieſe verſäumten Früchte mit allem Recht. Ich glaube,
daß dieſe unrichtige Beſtimmung lediglich aus dem falſchen
Standpunkte hervorgegangen iſt, welcher überhaupt im
A. L. R. bei der Feſtſtellung der eigenthümlichen Prozeß-
verpflichtungen gewählt worden iſt (§ 264). Man wollte
Alles auf das unredliche Bewußtſeyn des Beſitzers zurück
führen, und glaubte nun, in dieſem ſtets verſchiedene
Grade unterſcheiden, und mit verſchiedenen Wirkungen
verſehen zu müſſen.
§. 268.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —
a) Erweiterungen. (Fortſetzung. Prozeßzinſen.)
Unter den Erweiterungen, von deren Erſatz in Folge
der L. C. bisher die Rede geweſen iſt, befindet ſich eine,
deren Behandlung vorzugsweiſe zweifelhaft und beſtritten,
und zugleich practiſch ſehr wichtig iſt; dieſes ſind die
Prozeßzinſen. Zu einer erſchöpfenden Behandlung der-
ſelben iſt es unumgänglich nöthig, eine zuſammenhängende
Überſicht des Zinſenſyſtems überhaupt vorauszuſchicken.
Ohne eine ſolche Überſicht iſt es nicht möglich, eine falſche
Auffaſſung und Benutzung mancher der wichtigſten Quellen-
zeugniſſe mit Sicherheit abzuwehren.
|0140 : 122|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Dem allgemeinen Begriff der Zinſen liegt zum Grunde
die Unterſcheidung eines zweifachen im täglichen Verkehr
vorkommenden Werthes: des Sachwerthes (Eigenthums-
werthes) und des Gebrauchswerthes. Die Rechts-
geſchäfte, worin beide vorzüglich zur Anſchauung kommen,
ſind der Kauf und der Miethsvertrag. Da der Gebrauchs-
werth auf einer fortgeſetzten Thätigkeit der gebrauchenden
Perſon im Verhältniß zur Sache beruht, ſo hat er über-
haupt nur Bedeutung, in ſofern ein durch dieſe Thätigkeit
erfüllter Zeitraum hinzugedacht wird.
Für den Gebrauchswerth wie für den Sachwerth, iſt
ein Erſatz oder eine Vergütung möglich in der verſchiedenſten
und willkührlichſten Weiſe: durch eine Geldſumme, durch
Arbeit, durch den gegenſeitigen Gebrauch anderer Sachen
u. ſ. w. Für die meiſten Fälle ſolcher Art iſt weder die
Möglichkeit noch das Bedürfniß einer gemeinſamen Be-
handlung und Regulirung vorhanden; ein ſolches Bedürfniß
findet ſich nur bei einer Art von Sachen, deren eigenthüm-
liche Natur hier zunächſt zu beſtimmen iſt.
Es ſind dies diejenigen Sachen, deren Werth nach der
im Verkehr vorherrſchenden Anſicht nicht auf ihrer Indivi-
dualität, ſondern lediglich auf Zahl, Maaß oder Gewicht
innerhalb einer gewiſſen Gattung beruht, ſo daß bei gleichem
Umfange verſchiedene Individuen derſelben Gattung völlig
gleichgeltend ſind. Die Römer bezeichnen dieſe Eigenthüm-
lichkeit durch den Ausdruck: res quae pondere, numero,
mensura continentur (consistunt), welcher genau richtige
|0141 : 123|
§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.
Ausdruck durch ſeine Weitläufigkeit zum gewöhnlichen
Gebrauch unbequem iſt. Die neueren Schriftſteller nennen
ſie ſeit Jahrhunderten mit einem barbariſch gebildeten Aus-
druck res fungibiles (a). Ich werde dafür den Ausdruck:
Quantitäten gebrauchen, der die entſchiedene Autorität
der Römiſchen Juriſten für ſich hat. Denn obgleich in
vielen, ja den meiſten, Stellen der Ausdruck quantitas ſo
viel bedeutet als: Größe oder Umfang, alſo eine allgemeine
Eigenſchaft die den verſchiedenſten Sachen zukommt, ſo
wird er doch auch in mehreren unzweifelhaften Stellen geradezu
gebraucht um die hier erwähnte beſondere Art von Sachen
zu bezeichnen, alſo Sachen die nach Zahl, Maaß oder
Gewicht einer beſtimmten Gattung, nicht nach ihrer Indi-
vidualität, als Gegenſtände von Rechtsverhältniſſen be-
handelt zu werden pflegen. Eine Sache ſolcher Art heißt
quantitas, im Gegenſatz von corpus oder species, d. h. einer
Sache, die den individuellen Gegenſtand eines Rechts-
geſchäfts bildet (b).
(a) Die Veranlaſſung zu dieſem
Ausdruck liegt in L. 2 § 1 de reb.
cred. (12. 1) „quia in genere
suo functionem recipiunt per
solutionem.“ Es ſcheint, daß
der Ausdruck res fungibiles ein-
geführt worden iſt von Zasius in
§ 30 J. de actionibus N. 17. 18,
wenigſtens thut er ſich etwas darauf
zu gut, die anderen Schriftſteller zu-
recht zu weiſen, die dafür quanti-
tas ſagen „sed male et barbare:
sola enim pecunia quantitas
dicitur, quia per eam quanta
quaeque res sit aestimatur.“
(b) L. 34 § 3—6 de leg. 1. (30),
L. 15 § 4 de usufr. (7. 1), L. 94
§ 1 de solut. (46. 3). Allerdings
iſt in dieſen Stellen zunächſt von
Geldſummen die Rede, die ohnehin
die häufigſte und wichtigſte quan-
titas bilden. Allein in der erſten
Stelle wird damit auch alles Übrige
quod pondere, numero, men-
|0142 : 124|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
An Quantitäten nun kann der Gebrauchswerth, eben
ſo wie an allen anderen Sachen, auf die verſchiedenſte
Weiſe beſtimmt werden; es kann dies u. a. aber in Quoten
gleichartiger Sachen geſchehen, und dieſe Behandlung iſt
für den Verkehr ſo wichtig und bequem, daß dafür zu
allen Zeiten beſondere Beſtimmungen nöthig gefunden
worden ſind. Hierauf bezieht ſich das Rechtsinſtitut der
Zinſen (usura auch usurae).
Zins heißt ein beſtimmtes Maaß einer Quantität,
welches als Erſatz oder Vergütung dient für den Gebrauch
einer gleichartigen Quantität, welche das Kapital genannt
wird. Das Zinſenverhältniß iſt an ſich anwendbar auf
Quantitäten aller Art, alſo auf Getreide, Wein, Oel, und
u. a. auch auf Geld. Dieſe letzte Anwendung iſt aber ſo
ſehr die wichtigſte und häufigſte, daß man gewöhnlich an
ſie allein denkt, wenn von Verzinſung überhaupt die Rede
iſt. — Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß Zinſen im
juriſtiſchen Sinn als Früchte des Kapitals betrachtet
werden (c). Dies iſt jedoch nicht ſo zu verſtehen, als ob
sura continetur, zuſammengeſtellt,
und der Gegenſatz von corpus und
species paßt auf alles Dieſes
gleichmäßig. Daher iſt der Tadel
des Zaſius gegen dieſe Benennung
(Note a) ungegründet. — Die von
Mehreren neuerlich verſuchte Be-
nennung: vertretbare Sachen
iſt ohne hinzugefügte Erklärung
kaum verſtändlich, da auch alle
andere Sachen einer Vertretung
(durch Geldentſchädigung) empfäng-
lich ſind. — Die Eigenſchaften der
Quantitäten und der ver-
brauchbaren Sachen ſind an
ſich ſelbſt ganz verſchieden, obgleich
ſie in der Anwendung meiſt an
denſelben Sachen zuſammentreffen.
(c) L. 34 de usuris (22. 1),
L. 121 de V. S. (50. 16), L. 62
pr. de rei vind. (6. 1). Vgl. oben
§ 265. a. b.
|0143 : 125|
§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.
hierin das baare Geld (die Zinſen) eine Frucht des baaren
Geldes (des Kapitals) wäre; vielmehr wird die Zinſen-
forderung als eine aus der Kapitalforderung ent-
ſprungene Frucht betrachtet.
Die wichtigſte Frage iſt nun die, auf welchen Wegen
überhaupt eine Zinſenforderung entſtehen kann. Es giebt
dafür im Allgemeinen zwei Entſtehungsgründe:
I. Der Wille des Schuldners, welcher faſt immer in
der Form eines Vertrages erſcheint, und II. eine
allgemeine Rechtsregel.
I. Vertrag als Entſtehungsgrund einer Zinſenfor-
derung. Ein ſolcher konnte bei den Römern vorkommen,
ſowohl in der Form einer Stipulation, als in der eines
bloßen Pactum.
A. Die Stipulation von Zinſen war überall an-
wendbar, und konnte ſtets eine Klage bewirken. Sie konnte
geſchloſſen werden ohne Unterſchied, ob die Kapitalſchuld
ſelbſt aus einer Stipulation mit oder ohne Darlehn, aus
einem bloßen Darlehn ohne Stipulation, oder aus irgend
einer anderen obligatoriſchen Handlung entſprungen war.
Bei den Römern war der wichtigſte und häufigſte Fall
der, in welchem beide Obligationen, des Kapitals und der
Zinſen, durch Stipulation begründet und zwar auf Geld
gerichtet wurden. Ob dieſes, der wörtlichen Faſſung nach,
in zwei abgeſonderten Verträgen geſchah (alſo mit einem
doppelten spondes? spondeo), oder aber in einem zuſammen-
gefaßten einfachen Vertrag, an deſſen Schluß jene Frage
|0144 : 126|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
und Antwort ausgeſprochen wurde, dieſes war für den
Erfolg gleichgültig. Denn auch in dem letzten Fall waren
in der That ebenſo wie in dem erſten, zwei verſchiedene,
und zwar ſogar ungleichartige Stipulationen geſchloſſen:
eine certa auf das Kapital, und eine incerta auf die
Zinſen (d). Die Kapitalsſtipulation war nothwendig certa,
weil die Summe des Kapitals völlig gewiß und überſehbar
war; die Zinſenſtipulation nothwendig incerta, weil ſich
nicht vorherſehen ließ, wie viele Zinspoſten fällig werden
würden, und wie hoch daher die einzuklagende Zinſenſumme
im Ganzen ſeyn werde. Waren es aber zwei verſchieden-
artige Stipulationen, ſo mußten hierauf nothwendig auch
zwei verſchiedene Klagen gegründet werden, eine certi und
eine incerti condictio (beide bekanntlich von ganz verſchie-
dener Natur), indem ſtets der Stipulation die Klage
genau entſprechen mußte, und hierin eine Willkühr des
Klägers durchaus nicht zuläßig war (e).
Ganz eben ſo verhielt es ſich, wenn neben einem bloßen
Darlehn (ohne Stipulation) Zinſen ſtipulirt waren. Auch
hier mußten nothwendig zwei verſchiedene Klagen angeſtellt
werden, eine certi und eine incerti condictio.
(d) L. 75 § 9 de verb. obl.
(45. 1) „qui sortem stipulatur,
et usuras quascunque, certum
et incertum stipulatus videtur:
et tot stipulationes sunt, quot
res sunt“ (alſo hier zwei. Dieſe
letzten Worte verweiſen auf eine
allgemeine ſprüchwörtliche Rechts-
regel; vgl. L. 86 eod.). — L. 8
de eo quod certo loco (13. 4)
„ibi enim duae stipulationes
sunt“ (es war von Kapital und
Zinſen die Rede).
(e) Gajus IV. § 53. „sicut
ipsa stipulatio concepta est,
ita et intentio formulae con-
cipi debet.“
|0145 : 127|
§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.
B. Ein Pactum auf Zinſenzahlung hatte eine ver-
ſchiedene Wirkung je nach der verſchiedenen Natur der
Hauptſchuld. Es konnte nämlich vorkommen, a) neben
einem b. f. contractus, b) neben einer Stipulation,
c) neben einem Darlehn.
a) Das Pactum auf Zinſen neben einem b. f. contractus
war nach allgemeinen Grundſätzen klagbar, jedoch nicht
mit einer ſelbſtſtändigen Klage, ſondern nur in Verbindung
mit der aus dem Contract entſpringenden Hauptklage (f).
Dieſes auf bekannten allgemeinen Rechtsregeln beruhende
Rechtsverhältniß wird namentlich anerkannt bei dem Kauf,
der Miethe, dem Mandat, dem Depoſitum (g).
b) Auch wenn neben einer Stipulation auf das Kapital
ein bloßes Pactum auf Zinſen gleichzeitig geſchloſſen war,
ſo ſollte dennoch auf die Zinſen wie aus einer Stipulation
(alſo mit einer incerti condictio) geklagt werden können.
Dieſer Rechtsſatz war der alten ſtrengen Natur der Stipu-
lation fremd, und wurde erſt durch die neue freiere Be-
handlung des Vertrages vermittelt. Auch wird ausdrücklich
bemerkt, daß dieſer Satz erſt allmälig und nicht ohne
Widerſpruch anerkannt worden ſey (h). Es lag dabei
(f) L. 4 C. depos. (4. 34) „non
duae sunt actiones, alia sortis
alia usurarum sed una.“ Hier
gilt alſo gerade die entgegengeſetzte
Regel von der für die ſtipulirten
Zinſen ſo eben bemerkten.
(g) L. 5 C. de pact. int. emt.
(4. 54), L. 17 § 4 de usuris
(22. 1), L. 24 pr. in f. mandati
(17. 1), L. 24 L. 26 § 1 depos.
(16. 3).
(h) L. 40 de reb. cred. (12. 1).
Über dieſe, durch ihre Schwierig-
keit berühmte, Stelle (L. Lecta)
vgl. Glück B. 4 S. 268—276,
Schulting notae III. 31. Auf
|0146 : 128|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
folgender Gedanke zum Grunde. Wenn die Parteien die
Vorſicht gebraucht hätten, zuerſt den ganzen Inhalt ihrer
Verabredung (wegen Kapital und Zinſen) auszuſprechen
und dann am Schluß die allgemeine Formel hinzuzufügen:
ea omnia dare spondes? spondeo, ſo würde unſtreitig die
Stipulation alle Theile des Verſprechens, auch die Zinſen,
umfaßt haben. Daß ſie nun hierin ungenau verfuhren
und die rechte Form verſäumten, ſollte ihnen, wie ſo
mancher andere Verſtoß gegen die ſtrenge alte Form, nicht
ſchaden. Es wurde alſo gewiſſermaaßen fingirt, es ſey die
in der Mitte der ganzen Handlung ausgeſprochene Stipu-
lationsformel am Schluß der Handlung wiederholt worden. —
Dieſe freiere Behandlung der Stipulation war ganz gleich-
artig mit derjenigen, nach welcher ſchon zur Zeit der alten
Juriſten in einer fremden Sprache, in verſchiedenen
Sprachen, und mit nicht buchſtäblicher Gleichförmigkeit,
gefragt und geantwortet werden durfte, ohne die Wirk-
ſamkeit der Stipulation zu ſchwächen.
c) Endlich das Pactum auf Zinſen neben dem bloßen
Darlehn führt am meiſten Verwicklungen mit ſich, und
hat Gelegenheit zur irrigen Auffaſſung mehrerer ſchwierigen
eine vollſtändige Erklärung der-
ſelben kann es hier nicht an-
kommen; der hierher gehörende
Theil, den ich für nicht zweifelhaft
halte, iſt in folgenden Worten ent-
halten: „pacta incontinenti fa-
cta stipulationi inesse credun-
tur … Pactum autem, quod
subjectum est, quidam dicebant
.. tantum ad exceptionem prod-
esse … et si, ut ille putabat,
ad exceptionem tantum prod-
esset pactum, quamvis senten-
tia diversa obtinuerit“ rel.
|0147 : 129|
§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.
Stellen des R. R. gegeben, weshalb hierbei eine beſonders
genaue Behandlung nöthig iſt.
Vergleichen wir zuerſt das Darlehn mit der ſo eben
abgehandelten Stipulation, ſo finden wir die Regel aus-
geſprochen, daß dem Darlehn alles Dasjenige rechtsgültig
hinzugefügt werden könne, welches in einer Stipulation
zuläſſig ſey:
„Omnia quae inseri stipulationibus possunt, eadem
possunt etiam numerationi pecuniae: et ideo et
conditiones“(i).
Da nun ſo eben gezeigt worden iſt, daß das Pactum
auf Zinſen neben der Stipulation als Grund einer Klage
ſpäterhin zugelaſſen wurde, ſo würde die Conſequenz dahin
geführt haben, dieſelbe Wirkung auch neben dem Darlehn
zuzulaſſen, ohne daß deſſen ſtrenge Contractsnatur (die ja
nicht ſtrenger war, als die der Stipulation) ein Hinderniß
hätte darbieten können. Ich ſage, ſo hätte es conſequenter
Weiſe ſeyn müſſen ſowohl bei dem Darlehn in Geld, als
bei dem in anderen Quantitäten. Auch wurde dieſe Con-
ſequenz in der That durchgeführt und anerkannt in dieſem
zweiten Fall des Darlehns (an Getreide u. ſ. w.), wie
ſogleich gezeigt werden wird. Bei dem Gelddarlehn da-
gegen war es anders, dieſe Verſchiedenheit hatte aber ihren
Grund nicht in der Natur des Contracts, ſondern vielmehr
in der ganz eigenthümlichen Natur der dieſem Contract
ausſchließend angewieſenen Klage.
(i) L. 7 de reb. cred. (12. 1).
VI. 9
|0148 : 130|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Die einzig mögliche Klage nämlich aus einem Gelddar-
lehn war die certi condictio, worin die Intentio nothwen-
dig eine beſtimmte Geldſumme ausſprechen und die Con-
demnatio mit dieſer Summe übereinſtimmen mußte. Nun
hatte der Juder keine andere Wahl, als entweder freizu-
ſprechen, oder auf die ausgedrückte Summe zu verurtheilen.
Hätte er dieſe Summe durch die verſprochenen Zinſen in
dem Urtheil erhöht, ſo würde er das Ganze aus eigenem
Vermögen haben erſetzen müſſen (k).
Hierin allein liegt der Grund der in ſo vielen Stellen
ausgeſprochenen Regel, daß bei einem Gelddarlehn auf
Zinſen niemals geklagt werden könne, wenn nicht dieſe Zinſen
in einer Stipulation verſprochen worden ſeyen (l). Lag
aber der Grund hierin, alſo in der Klagformel, und nicht
in der Natur des Contracts, ſo war es ganz inconſequent,
im Juſtinianiſchen Recht (in welchem die Klagformeln gänz-
(k) Gajus IV. § 52 „alioquin
litem suam facit.“
(l) L. 24 pr. de praescr. verb.
(19. 5), L. 10 § 4 mand. (17. 1),
L. 11 § 1 de reb. cred. (12. 1),
L. 3. 7 C. de usur. (4. 32). Paul.
II. 14 § 1. — Der Unterſchied von
dem vorhergehenden Fall, wo das
Pactum der Stipulation angehängt
war, lag darin, daß hier der bloße
Formfehler durch milde Auslegung
verbeſſert wurde, indem man es ſo
anſah, als wäre die Stipulations-
formel erſt am Ende des ganzen
Akts ausgeſprochen worden. Neben
dem Darlehn war dieſe Behand-
lung unmöglich, da bei den Zinſen
die Fiction eines Darlehns keinen
Sinn gehabt hätte, ohne dieſelbe
aber die Klage aus dem Pactum
ohne allen Entſtehungsgrund ge-
weſen wäre. — Man darf übri-
gens die aufgeſtellte Regel nicht
ſo verſtehen, als ob ein ſolches
Pactum ganz wirkungslos geweſen
wäre; es ſollte nur keine Klage
begründen, eine naturalis obli-
gatio entſprang daraus allerdings.
L. 5 § 2 de sol. (46. 3), L. 3. 4.
22 C. de usur. (4. 32). Auch
zweifelte hieran ſelbſt die ſtrengſte
Partei der Juriſten nicht (Note h).
|0149 : 131|
§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.
lich verſchwunden ſind) dieſe Regel dennoch beizubehalten;
ſie hätte ſchon hier gänzlich aufgegeben werden müſſen (m).
Daß dieſe Auffaſſung richtig iſt, geht unwiderſprechlich
hervor aus der Art, wie das R. R. das Darlehn an Ge-
treide und anderen Quantitäten, wenn dabei Zinſen durch
bloßes Pactum verſprochen waren, unzweifelhaft behandelt,
obgleich dieſes Darlehn ein völlig eben ſo ſtrenger Con-
tract war und durchaus keine andere Contractsnatur hatte,
als das Gelddarlehn. Hierüber ſind folgende Stellen
ganz entſcheidend.
1. „Frumenti vel hordei mutuo dati accessio ex nudo
pacto praestanda est“ (n).
Hier iſt ausdrücklich anerkannt, daß bei einem Dar-
lehn von Getreide, Zinſen aus einem bloßen Pactum
eingeklagt werden konnten, nur iſt die Klage nicht
genannt.
2. „Oleo quidem vel quibuscunque fructibus mutuo
datis, incerti pretii ratio, additamentum usurarum
ejusdem materiae suasit admitti“ (o).
Dieſe Stelle iſt zu allen Zeiten Gegenſtand großer
(m) Zweifelhaft iſt die Behand-
lung des nauticum foenus, wobei
die Klage nicht angegeben wird
(L. 5 § 1, L. 7 de naut. foen.
22. 2). Vielleicht wurde dabei ſtets
eine Stipulation angewendet; es
ließ ſich aber auch ohne Stipula-
tion eine Klage nach den Grund-
ſätzen der Innominatcontracte wohl
denken. Denn die Form des Dar-
lehns war dabei nur ein äußerer
Schein, in der That war es das
Geben einer Summe auf die Ge-
fahr des Verluſtes, mit dem gegen-
ſeitigen Verſprechen einer höheren
Summe für den Fall wenn der
Verluſt nicht eintrat, alſo ein Ge-
ſchäft nach der Form do ut des.
(n) L. 12 C. de usur. (4. 32).
(o) L. 23 C. de usur. (4. 32).
9*
|0150 : 132|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Zweifel und Misverſtändniſſe geweſen. Vor Allem iſt
darin nicht geſagt, von welcherlei Zinſen die Rede iſt.
Man könnte dabei denken an Verzugszinſen oder Prozeß-
zinſen, welches jedoch ſchlechthin verworfen werden muß,
da dieſe, wie unten gezeigt werden wird, nur bei baarem
Gelde vorkommen können. Eben ſo wenig iſt an ſtipulirte
Zinſen zu denken, da bei dieſen die Klagbarkeit ohnehin
keinen Zweifel haben konnte, welches zu dem Ausdruck der
Stelle nicht paßt. Es bleibt alſo nur der einzige Fall an-
zunehmen übrig, wenn die Zinſen durch bloßes Pactum
verſprochen waren, alſo genau derſelbe Fall wie in der
vorhergehenden Stelle, nur hier mit dem wichtigen Zuſatz,
daß die Klagbarkeit ſolcher Zinſen nicht auf der ſtrengen
Rechtsregel, ſondern auf einer neueren Zulaſſung aus
Billigkeit beruhe („suasit admitti“). — Einer beſonderen
Erklärung bedürfen aber noch die Worte incerti pretio
ratio. Dieſe drücken geradezu den oben aufgeſtellten Ge-
genſatz eines ſolchen Darlehns gegen das Gelddarlehn aus.
Anſtatt daß bei dem Gelddarlehn die certi condictio jede
Ausdehnung des Urtheils auf Zinſen unmöglich machte,
war hier in der Klage eine incerta Condemnatio enthalten
(quanti ea res est), deren unbeſtimmter Ausdruck dem
Juder die prozeſſualiſche Freiheit gewährte, auch die Zinſen
mit in das Urtheil aufzunehmen, während die materielle
Zuläſſigkeit der Zinſen aus den oben angegebenen Gründen
ohnehin anerkannt werden mußte (p).
(p) Ich muß daher folgende neuerlich verſuchte Erklärungen der
|0151 : 133|
§. 269. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
§. 269.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —
a) Erweiterungen. (Prozeßzinſen. Fortſetzung).
Unter den zwei möglichen Entſtehungsgründen einer
Zinſenforderung (§ 268) iſt die erſte (der Vertrag) bisher
abgehandelt worden; es bleibt noch übrig, auch die zweite
darzuſtellen.
II. Allgemeine Rechtsregel als Entſtehungsgrund
einer Zinſenforderung.
Dieſe Rechtsregel beruht auf folgender, in der Erfah-
rung begründeten, Betrachtung. Bei entwickeltem Verkehr
iſt die zinsbare Benutzung des baaren Geldes in ſolchem
Grade üblich und verbreitet, daß man als durchſchnittliche
Regel ohne Bedenken annehmen darf, es könne jede große
oder kleine Geldſumme in jedem beliebigen Zeitraum zins-
bar benutzt werden. Die Richtigkeit dieſer Annahme wird
beſonders anſchaulich, wenn man dabei an das Daſeyn
von öffentlichen Banken oder Sparkaſſen denkt, oder auch
an das Verhältniß laufender Rechnung, in welches irgend
Stelle verwerfen. Die incerti
pretii ratio ſoll nach Einigen den
ſchwankenden Preis des Getreides
bedeuten; es iſt aber durchaus kein
Grund denkbar, warum bei ganz
unwandelbaren Preiſen nicht auch
Zinſen zuläſſig ſeyn ſollten. —
Von Anderen wird alles Gewicht
auf die Worte ejusdem materiae
gelegt, ſo daß die Stelle eigentlich
die Abſicht habe, ein Zinsverſprechen
in anderen Stoffen zu unterſagen.
Allein dieſe Worte ſind daraus zu
erklären, daß auf ein Verſprechen
anderer Stoffe der Begriff und
Name der Zinſen überhaupt nicht
paßt; ein Verbot ſollte darin nicht
enthalten ſeyn. — Nach der hier
gegebenen Erklärung der Stelle iſt
nun auch die Behauptung zu be-
richtigen, welche auf eine irrige
Auffaſſung derſelben oben (B. 5
S. 465) gegründet worden war.
|0152 : 134|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Jemand zn einem Banquier eintritt, wobei jede eingezahlte
oder erhobene Summe von dem Tage der Zahlung an
zinsbar berechnet wird. Es darf dabei nur nicht der Vor-
ſtellung Raum gegeben werden, als ob das Darlehn
gerade die einzige Form zinsbarer Benutzung des Geldes
wäre. Auch würde es unrichtig ſeyn, die aufgeſtellte An-
nahme nur für unſeren heutigen ſehr entwickelten Geld-
verkehr zuzulaſſen, für die Römiſchen Zuſtände aber zu
verneinen. Gerade die Römiſchen Juriſten gehen ent-
ſchieden von der hier aufgeſtellten Vorausſetzung aus, wie
ſogleich gezeigt werden wird. Auch diente bei ihnen das
Inſtitut der Argentarien zu einer beſonders leichten Ver-
mittelung des Zinsgeſchäftes (a).
Die hier aufgeſtellte Anſicht führt zu folgender Be-
handlung der Rechtsverhältniſſe. Wenn der Gebrauch
irgend einer Sache eine Zeit hindurch bei Demjenigen ſich
findet, dem er nicht gebührt, alſo einem Anderen mit Un-
recht entzogen wird, und zugleich ein Rechtsgrund vor-
handen iſt, für dieſes Unrecht Vergütung zu fordern, ſo
kommt es in jedem einzelnen Fall darauf an zu beweiſen,
wie hoch ſich das Intereſſe dieſes erlittenen Unrechts belaufe,
worüber aber eine durchgreifende Regel durchaus nicht auf-
geſtellt werden kann.
(a) Eine merkwürdige Aner-
kennung der hier behaupteten all-
gemeinen Sitte und Erfahrung,
auch in Beziehung auf die Zu-
ſtände des Alterthums, findet ſich
an einem Orte, wo man es kaum
erwarten ſollte, in dem Gleichniß
von dem faulen Knechte, Mat-
thäus 25, 27 und Lucas 19, 23.
|0153 : 135|
§. 269. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Hierin tritt nun für Denjenigen, der eine ſolche Ver-
gütung fordert, eine große Erleichterung ein, wenn der
Gegenſtand des mit Unrecht entbehrten Gebrauchs in
baarem Gelde beſteht. Ein beſonderer Beweis für den
Betrag des erlittenen Schadens wird dadurch entbehrlich,
daß der Kläger die landüblichen Zinſen des entbehrten
Geldes fordern kann. Allerdings kann in einzelnen Fällen
auch wohl eine höhere Entſchädigung gefordert werden,
dazu aber bedarf es jedesmal einer ſpeciellen geſetzlichen
Vorſchrift, oder auch eines beſonderen Beweiſes. Für die
landüblichen Zinſen dagegen bedarf es eines beſonderen
Beweiſes nicht, indem derſelbe durch den oben aufgeſtellten
durchgreifenden Erfahrungsſatz entbehrlich gemacht wird.
Dieſe practiſch höchſt wichtige Regel findet u. a., und
vorzüglich, Anwendung auf die Verzugszinſen, indem
als Erſatz für die Mora bei einer Geldſchuld, ohne weite-
ren Beweis des erlittenen Schadens, landübliche Zinſen
gefordert werden können (b). Es iſt aber ganz unrichtig
dieſen Fall, wie es gewöhnlich geſchieht, als eine ganz be-
ſondere Klaſſe von Zinſen anzuſehen, und davon andere
Klaſſen unter verſchiedenen Namen ſtrenge zu unterſcheiden (c).
(b) L. 32 § 2 de usuris (22. 1).
(c) So z. B. werden mitunter
folgende Klaſſen von Zinſen auf-
geſtellt: usurae exmora, legales,
punitoriae (Schilling Inſtitu-
tionen III. 108). — Es ſoll durch
dieſe Bemerkung keinesweges in
Zweifel gezogen werden, daß für
manche einzelne Rechtsverhältniſſe
poſitive Beſtimmungen, z. B. wegen
ungewöhnlich hoher Zinſen, beſte-
hen; namentlich in den Fällen,
worin der Verwalter eines frem-
den Vermögens das verwaltete
Geld unredlich in eignen Nutzen
verwendet. L. 38 de neg. gest.
|0154 : 136|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap IV. Verletzung.
Vielmehr liegt in den Verzugszinſen nur der häufigſte
Fall der Anwendung, während ganz daſſelbe Princip auch
ohne Mora bei vielen Rechtsverhältniſſen zur Anwendung
kommt. So ſoll insbeſondere Jeder, der fremde Geſchäfte
verwaltet, und dafür aus eigenem Vermögen Auslagen
macht, landübliche Zinſen des ausgelegten Geldes fordern
können, auch wenn ſeinem Gegner eine Mora nicht zur
Laſt fällt (d).
Es iſt ferner unrichtig, wenn Manche die Verzugs-
zinſen als ein beſonderes Privilegium derjenigen Verträge
und Klagen anſehen, die den beſonderen Namen bonae
fidei actiones führen. Vielmehr beruhen ſie auf einer
durchgreifenden Regel für alle Obligationen überhaupt,
deren Anwendung nur bei den Condictionen (den ſtrengen
Klagen) durch die beſondere Natur dieſer Klagen gehindert
wird. Daher galten die Verzugszinſen ohne Zweifel von
jeher auch bei allen denjenigen freien Klagen, welche nicht
den Namen bonae fidei actiones führten, alſo insbeſondere bei
den prätoriſchen Klagen und den extraordinariae actiones (e).
(3. 5); eben ſo die usurae rei
judicatae nach Juſtinians
neuen Vorſchriften. Nur iſt der
Entſtehungsgrund der Zinſenfor-
derung in dieſen einzelnen Fällen
nicht ſpecifiſch verſchieden, anſtatt
daß die Vertragszinſen von den aus
einer allgemeinen Rechtsregel ent-
ſtehenden durchaus verſchieden ſind.
(d) So z. B. bei dem Mandat,
der negotiorum gestio, der So-
cietät und Tutel. L. 12 § 9 mand.
(17. 1), L. 19 § 4 de neg. gest.
(3. 5). Wenn in dieſen Fällen
der Geſchäftsführer beweiſen kann,
daß er zu ungewöhnlich hohen
Zinſen Geld anfnehmen mußte um
die Auslage zu machen, ſo kann
er auch dafür Erſatz fordern. Das
liegt wieder außer den Grenzen
unſrer allgemeinen Präſumtion.
(e) So gelten Verzugszinſen
|0155 : 137|
§. 269. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Es muß aber wohl bemerkt werden, daß die hier auf-
geſtellte Anſicht mit ihren wichtigen Folgen nicht auf
Quantitäten überhaupt, ſondern lediglich auf Geld-
ſchulden Anwendung findet; hierin eben liegt ein ſehr
wichtiger Unterſchied zwiſchen den Vertragszinſen, die auf
Quantitäten aller Art angewendet werden können, und
den aus einer allgemeinen Rechtsregel abgeleiteten Zinſen,
welche nur bei Geldſchulden vorkommen (f).
Der Grund dieſes wichtigen Unterſchiedes iſt darin zu
ſuchen, daß die zinsbare Benutzung des Geldes zu jeder Zeit
möglich iſt, anſtatt daß das Zinsgeſchäft bei Getreide und
anderen Quantitäten nur in ſeltenen Fällen und unter ſehr
zufälligen Umſtänden vorzukommen pflegt. Wenn daher der
Gebrauch des Getreides einem Anderen mit Unrecht ver-
weigert wird, ſo ſoll keinesweges dem Beſchädigten ein
Erſatz wegen des erlittenen Unrechts verſagt werden. Nur
muß er die Höhe des Intereſſe beweiſen, und er ſoll nicht
den Vortheil wie bei einer Geldſchuld genießen, dieſen
Beweis durch die Präſumtion zu erſetzen, daß er das Ge-
treide einſtweilen hätte gegen Zinſen ausleihen können.
Denn gerade zu einer ſolchen Präſumtion, welche bei einer
bei der Pollicitation, die gewiß
nicht ein bonae fidei contractus
iſt. L. 1 pr. de pollic. (50. 12). —
Ebenſo werden in L. 38 § 8—16
de usur. (22. 1) die bonae fidei
actiones mit den prätoriſchen
Klagen in der Lehre von der Cauſa
ganz auf gleichen Fuß geſtellt. —
Endlich gelten Verzugszinſen auch
bei den Fideicommiſſen, welche
gleichfalls nicht mit einer bonae
fidei actio verbunden waren.
(f) So liegt denn auch hierin
der entſcheidende Beweis dafür,
daß die L. 23 C. de usur. (ſ. o.
§. 268 Note o) durchaus nicht
von Verzugszinſen verſtanden wer-
den darf.
|0156 : 138|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Geldſchuld wohl begründet wäre, iſt bei dem Getreide und
anderen Quantitäten kein Grund vorhanden (g).
§. 270.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —
a) Erweiterungen. (Prozeßzinſen. Fortſetzung).
Die ganze bisher angeſtellte Unterſuchung über das
Zinſenrecht (§ 268. 269) ſollte nur als Grundlage dienen
für denjenigen Theil deſſelben, welcher allein in den Kreis
unſrer gegenwärtigen Aufgabe gehört, nämlich für die
Prozeßzinſen, für welche nur von jenem vollſtändigen Zu-
ſammenhang aus eine befriedigende Einſicht gewonnen
werden kann.
Der verurtheilte Beklagte ſoll für die Früchte des
Streitgegenſtandes Erſatz leiſten, welche dem Kläger durch
die Dauer des Rechtsſtreits entzogen worden ſind (§ 265).
Wenn nun der Gegenſtand des Rechtsſtreits in einer Geld-
ſumme beſteht, ſo entſteht die practiſch ſehr wichtige Frage,
ob die Zinſen dieſes Geldes als ſolche zu vergütende
Früchte zu betrachten ſind, ob alſo überhaupt ein Anſpruch
des Klägers auf Prozeßzinſen zu behaupten iſt. Dieſe
Frage iſt im hohen Grade beſtritten, und der Streit darüber
hat ſich bis in die neueſte Zeit fortgeſetzt.
(g) Man könnte die Sache ſo
denken, als ob nicht eben Getreide-
zinſen für das entbehrte Getreide,
wohl aber Geldzinſen für den Kauf-
preis des Getreides gefordert werden
könnten. Allein dieſe Anſicht würde
wiederum nicht den Quantitäten
eigenthümlich ſeyn, ſondern auch
auf alle andere Sachen angewendet
werden können, und ſie iſt im All-
gemeinen durchaus zu verwerfen,
wie unten gezeigt werden wird.
|0157 : 139|
§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Bevor eine Antwort auf dieſe Frage verſucht werden
kann, iſt für den Fall, daß in der That Prozeßzinſen an-
zunehmen ſeyn möchten (alſo hypothetiſch), das Verhältniß
derſelben zu den Verzugszinſen feſtzuſtellen. Wenn nämlich
vor dem Anfang eines Rechtsſtreits ein Anſpruch auf Ver-
zugszinſen entſtanden iſt, ſo gehen dieſe während des
ganzen Rechtsſtreits fort, und es kann daneben von Prozeß-
zinſen nicht die Rede ſeyn, indem dieſe von den früher
entſtandenen Verzugszinſen abſorbirt werden. Daher kann
von Prozeßzinſen überhaupt nur in ſolchen Fällen die
Frage entſtehen, in welchen entweder eine Mora für die
eingeklagte Geldſchuld (als Bedingung der Verzugszinſen)
gar nicht vorhanden iſt, oder bei vorhandener Mora dennoch
keine Verzugszinſen gefordert werden können.
Der letzte Fall trat entſchieden ein bei den ſtrengen
Klagen des R. R. Da hier Verzugszinſen auch bei vor-
handener Mora nicht gefordert werden konnten (§ 269), ſo
war für die Entſtehung von Prozeßzinſen allerdings die
Möglichkeit vorhanden. — Der erſte Fall (der Mangel
der Mora ſelbſt) kann verſchiedene Gründe haben. Er
kann darin gegründet ſeyn, daß die Forderung an ſich
zweifelhaft, oder in ihrem Umfang ungewiß (illiquid) iſt (a).
Ferner darin, daß eine Mahnung an den Schuldner über-
haupt nicht ergangen iſt, oder nicht für einen beſtimmten
Zeitpunkt bewieſen werden kann. Oft iſt auch die Zwiſchen-
(a) L. 24 pr., L. 21. 47. 3 pr. de us. (22. 1), L. 42. 63 de R. J.
(50. 17).
|0158 : 140|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
zeit zwiſchen der Mahnung und dem Anfang des Rechts-
ſtreits zu unbedeutend als daß es der Mühe lohnte, den
Beweis der Mahnung zur Begründung früherer Verzugs-
zinſen zu unternehmen. — In allen dieſen Fällen iſt für
den Anſpruch auf Prozeßzinſen hinlänglicher Raum vor-
handen, und die Erfahrung zeigt es auch, daß von ihnen
ſogar noch häufiger als von Verzugszinſen die Rede iſt.
Die Hauptfrage aber iſt die, ob überhaupt Prozeßzinſen
gefordert werden können. Ich habe kein Bedenken, dieſe
Frage zu bejahen, und zwar ſelbſt für das ältere R. R.
ohne Unterſchied der ſtrengen und der freien Klagen. Die
folgende Unterſuchung wird zuerſt das Princip feſtzuſtellen,
dann die Anwendung auf die wichtigſten einzelnen Klagen
zu machen haben.
I. Princip der Prozeßzinſen.
Dieſes wird im Allgemeinen anerkannt durch die ſchon
oben angeführte Stelle, welche geradezu ausſpricht, daß Zinſen
die juriſtiſche Natur der Früchte an ſich tragen (b). Der
Text derſelben muß hier vollſtändig angegeben und erklärt
werden:
„Usurae vicem fructuum obtinent, et merito non
debent a fructibus separari. Et ita in legatis et
fideicommissis, et in tutelae actione, et in ceteris
(b) L. 34 de usur. (22. 1) aus
Ulpian. lib. XV. ad Ed., vgl.
oben § 265. b. Der ſcheinbare Wi-
derſpruch, der aus L. 121 de V. S.
(50. 16) hergenommen werden
könnte, iſt ſchon oben §. 265. a. b.
beſeitigt worden.
|0159 : 141|
§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
judiciis bonae fidei servatur. Hoc idem igitur in
ceteris obventionibus dicemus.“
Daß dieſe wichtige Stelle gerade auf die hier vorlie-
gende Frage wegen der Verpflichtungen des Beklagten im
Prozeß bezogen werden muß, wird unzweifelhaft durch die
Inſcription der Stelle, wodurch dieſelbe in Verbindung
tritt mit einer ſehr ausführlichen Stelle Ulpians, nach
welcher der Beklagte bei der Erbſchaftsklage Früchte und
Zinſen herausgeben muß (c). — Daß in dem zweiten
Satz der angeführten Stelle die b. f. actiones erwähnt
werden, könnte den Gedanken veranlaſſen, als ſollte nach
dem arg. a contrario für die ſtrengen Klagen das Gegen-
theil behauptet werden. Dazu iſt indeſſen kein Grund vor-
handen, vielmehr ſcheint dieſe Erwähnung blos eine
beiläufige Hindeutung auf die bei den b. f. actiones allein
geltenden Verzugszinſen (verſchieden von den Prozeß-
zinſen) zu enthalten. Umgekehrt könnte man in dem
Schlußſatz die ceterae obventiones auf die str. j. actiones
beziehen wollen, für welche dann die Anwendbarkeit der
Prozeßzinſen durch unſre Stelle unmittelbar bewieſen
wäre. Allein auch dieſe Erklärung muß verworfen werden;
obventio heißt das aus einer Sache Aufkommende, und die
ceterae obventiones ſind alſo andere Arten von Nutzungen,
welche eben ſowohl als die Zinſen unter den allgemeinen
Begriff der fructus bezogen werden ſollen.
(c) L. 20 de her. pet. (5. 3).
Von dieſer Stelle wird unten bei
der Anwendung auf einzelne Kla-
gen Gebrauch gemacht werden.
|0160 : 142|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Sind nun nach dieſem Zeugniß die Zinſen eine Art von
Früchten, und ſteht es nach anderen, oben angeführten
Stellen, feſt, daß der Beklagte von der L. C. an alle
Früchte erſetzen muß, ohne Unterſchied der freien und
ſtrengen Klagen (d), ſo folgt aus dieſer Combination un-
widerſprechlich, daß der Beklagte von der L. C. an bei
allen Arten von Klagen Zinſen zahlen muß. — Damit
ſind alſo die Prozeßzinſen als ſolche erwieſen, ver-
ſchieden von den Verzugszinſen, indem die L. C. eine
Mora in der That nicht erzeugt (§ 264), aber mit den
Verzugszinſen gleichartig und auf demſelben Boden ruhend,
nämlich eben ſo wie ſie aus der allgemeinen Rechtsregel
entſpringend, nach welcher die Entſchädigung für jede
widerrechtlich entbehrte Geldſumme in der Zahlung land-
üblicher Zinſen für dieſe Summe beſteht (§ 269).
Auch noch folgende Stelle iſt häufig als eine Aner-
kennung unſres Princips behandelt worden:
„Lite contestata usurae currunt“(e).
Dieſe Stelle läßt jedoch zwei verſchiedene gleich be-
rechtigte Auslegungen zu, und kann wegen dieſer Zweideu-
tigkeit nicht als Beweis benutzt werden. Das currunt
kann nämlich erſtens heißen: currere incipiunt (f); dann
enthält die Stelle in der That den Ausſpruch unſres
(d) S. o. § 266 die Noten o bis s.
(e) L. 35 de usur. (22. 1).
(f) Für dieſe Bedeutung ſind
Parallelſtellen L. 40 de reb. cred.
(12. 1), L. 7 § 7 de administr.
(26. 7). Beide Bedeutungen ſind
richtig nachgewieſen von Huber
praelect. in Pand. XXII. 1. § 17.
|0161 : 143|
§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Princips. Es kann aber auch heißen: currere pergunt (g),
d. h. die Zinſen werden durch die L. C. nicht unterbrochen,
nicht gehindert; dann hat die Stelle keine Verbindung mit
unſrem Princip, ſie enthält vielmehr den ganz anderen,
ohnehin unzweifelhaften Satz, daß die in der Klage auf
ein Kapital vollzogene L. C. nicht die Wirkung einer Con-
ſumtion auf die Zinſenforderung ausübt. Beide Erklärungen
ſind an ſich zuläſſig; jedoch erhält die zweite eine größere
Wahrſcheinlichkeit durch folgende Parallelſtelle, welche durch
die Inſcription mit der unſrigen zuſammenhängt:
„Novatione legitime facta liberantur hypothecae et
pignus, usurae non currunt“(h).
Hält man beide Stellen zuſammen, ſo ergeben ſie fol-
genden Sinn. Die wahre Novation (d. h. die Stipulation
außer dem Prozeß) zerſtört unter andern auch den Zinſen-
lauf. Die L. C., obgleich auch ſie in manchen Fällen als
Novation bezeichnet wird, zerſtört den Zinſenlauf nicht (i).
Könnte nun nach dieſen allgemeinen Gründen die
Wahrheit des Princips noch irgend zweifelhaft bleiben, ſo
würde doch jeder Zweifel durch die unten folgenden An-
wendungen auf einzelne Klagen gehoben werden, worin das
Princip ſelbſt deutlich anerkannt iſt, und dieſe Anwendungen
(g) Parallelſtelle für dieſe Be-
deutung: das non currunt in L.
18 de nov. (46. 2).
(h) L. 18 de nov. (46. 2).
Beide Stellen ſind genommen aus
Paulus lib. LVII. ad Ed.
(i) Dieſe Erklärung findet ſich
bei Madai Mora S. 369—371,
Wächter III. S. 24, wo nur
etwas zu excluſiv die Richtigkeit
derſelben behauptet wird, da die
erſte Erklärung an ſich auch nicht
verwerflich iſt.
|0162 : 144|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
würden die Wahrheit des Princips beweiſen, auch wenn
es in keiner Stelle allgemein ausgeſprochen wäre.
Bevor aber dieſe einzelnen Anwendungen dargeſtellt
werden, müſſen noch an das Princip ſelbſt einige Fol-
gerungen und nähere Beſtimmungen angeknüpft werden.
1. Prozeßzinſen können nur gefordert werden wenn der
Rechtsſtreit Geld, nicht wenn er andere Quantitäten,
z. B. Getreide, zum Gegenſtand hat. Alle Gründe, die
für dieſen Satz ſchon oben (§ 269) bei den Verzugszinſen
ausgeführt worden ſind, finden völlig gleiche Anwendung
auch auf die Prozeßzinſen (k).
Hier muß aber noch eine beſondere Wendung näher
erwogen werden, wodurch man verſuchen könnte, die größere
Ausdehnung der Prozeßzinſen, nicht blos auf andere
Quantitäten, ſondern ſogar auf alle Sachen überhaupt, zu
retten.
Man könnte nämlich nicht ohne einigen Schein folgende
Betrachtung anſtellen. Wenn der Kläger die Sache zur
Zeit der L. C. erhalten hätte, ſo konnte er ſie verkaufen
und aus dem erlöſten Gelde Zinſen ziehen. Da er dieſen
Vortheil entbehrt hat, ſo muß ihm derſelbe durch Zins-
zahlung erſetzt werden. — Allein es kommt hier zunächſt
auf die Stellung und Verpflichtung des Beklagten an.
Wollte man ihm den Erſatz dieſer Zinſen aufbürden, ſo
(k) Damit iſt denn auch der
Beweis geführt, daß die L. 23
C. de usur. (§ 268. o) durchaus
nicht von Prozeßzinſen verſtanden
werden darf, eben ſo wenig als
von Verzugszinſen (§ 269. f).
|0163 : 145|
§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
könnte dieſes nur unter der Vorausſetzung geſchehen, daß
man darauf das Princip der verſäumten Früchte (§ 265. 266)
anwendete, d. h. daß man ihm den unterlaſſenen Verkauf
als eine Culpa anrechnete. Dieſes iſt aber deswegen un-
möglich, weil er ſelbſt bei den ſtrengen Klagen das Recht
hat, ſich auch während des Rechtsſtreits durch Naturalreſti-
tution von jedem weiteren Anſpruch wegen der Sache ſelbſt
zu befreien (§ 261). — Die richtige Anſicht der Sache
iſt in folgender Entſcheidung eines einzelnen Falles ausge-
ſprochen. Wenn Gefäße von Gold oder Silber durch
Fideicommiß hinterlaſſen werden, und der Erbe mit der
Entrichtung in Mora iſt, ſo braucht er doch nur dann
Zinſen zu zahlen, wenn der Erblaſſer die Geräthe zum
Verkauf beſtimmt hatte, außerdem nicht; alſo nur dann,
wenn eigentlich ein Geldfideicommiß gemeint war, welches
nur durch den Verkauf jener Gefäße zur Ausführung ge-
bracht werden ſollte (l).
2. Sehr verbreitet iſt die Meinung, daß Prozeßzinſen
zwar bei freien, aber nicht bei ſtrengen Klagen gefordert
werden könnten. Dieſe Meinung hat vielen Schein durch
die ganz unzweideutige Vorſchrift, nach welcher mit der
condictio indebiti lediglich das irrig gezahlte Geld ſelbſt,
durchaus keine Zinſen deſſelben, gefordert werden können (m).
(l) L. 3 § 4 de usur. (22. 1). —
In L. 51 § 1 de her. pet. (5. 3), aus
der man noch einen Zweifel her-
nehmen könnte, iſt offenbar voraus-
geſetzt, daß der Erbe die vor der
L. C. gewonnenen Früchte verkauft,
alſo in baares Geld, welches er
nun ſchuldig iſt, verwandelt hat.
S. u. § 271. c.
(m) L. 1 C. de cond. ind.
VI. 10
|0164 : 146|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
In dieſer unbedingten Verneinung liegt dreierlei: es können
keine Zinſen gefordert werden von der irrigen Zahlung an,
aber auch nicht von der Mora, und endlich auch nicht von
der L. C. an, welcher letzte Satz unmittelbar hierher
gehört. Dabei liegt es nun ſehr nahe, dieſe Entſcheidung
daraus abzuleiten, daß jene Klage eine Condiction war,
alſo eben darin einen Ausdruck der Regel zu finden, nach
welcher bei allen Condictionen keine Prozeßzinſen gefordert
werden könnten. Dennoch iſt dieſe Annahme ohne Grund,
und die Sache hat vielmehr folgenden Zuſammenhang.
Wenn baares Geld aus einem Darlehn, oder einer
Stipulation, oder einem gezahlten Indebitum gefordert
wurde, ſo konnte Dieſes nicht anders geſchehen als ver-
mittelſt einer certi condictio. Die beſondere Natur dieſer
Klage führte es mit ſich, daß die beſtimmte Geldſumme
in der Intentio und Condemnatio übereinſtimmend ange-
geben werden mußte, und dieſe unabänderliche Anweiſung
an den Juder ſchloß jede zuſätzliche Erhöhung der Summe
in dem Urtheil, alſo auch jede zuſätzliche Rückſicht auf
Zinſen, gänzlich aus.
Wenn dagegen eine Stipulation zwar auch Geld zum
Gegenſtand hatte, aber die Geldſumme ſelbſt nicht ausſprach,
ſondern von einem außer ihr liegenden Umſtand abhängig
machte (n), ſo war zwar auch eine ſtrenge Klage, eine
(4. 4) „… Usuras autem ejus
summae praestari tibi frustra
desideras: actione enim con-
dictionis ea sola quantitas re-
petitur, quae indebita soluta
est.“
(n) z. B. quanti fundus Cor-
nelianus est, dare spondes?
|0165 : 147|
§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Condiction, begründet, aber dieſe konnte nur eine incertae
pecuniae Condemnatio haben (o), und darin lag kein
Hinderniß für den Juder, die oben entwickelte allgemeine
Regel der Prozeßzinſen zur Anwendung zu bringen.
Demnach war es ſelbſt bei den Römern nicht die
Natur der ſtrengen Klagen an ſich, welche die Verurtheilung
auf Prozeßzinſen ausſchloß, ſondern lediglich die beſondere
Natur der certi condictio, da wo dieſe zur Anwendung
kam, und wir müſſen daher behaupten, daß die Prozeß-
zinſen auch bei den ſtrengen Klagen (nur mit Ausnahme
jeder certi condictio) zur Anwendung kamen (p). Incon-
ſequent aber war es, daß Juſtinian bei der condictio indebiti
den unbedingten alten Grundſatz aufnahm, obgleich zu ſeiner
Zeit alle Formeln längſt verſchwunden waren.
3. Endlich iſt unter Denen, die überhaupt Prozeßzinſen
zulaſſen, die Frage ſtreitig geworden, ob dieſelben blos bei
liquiden, oder auch bei illiquiden eingeklagten Geldſummen
anzuwenden ſeyen (q). Soll die Sache irgend einen prac-
(o) Gagus IV. § 49—51. Die
Formel ging nun auf quanti res
est, oder quidquid dari fieri
oportet.
(p) Die Meinungen ſind über
dieſe Frage von jeher ſehr getheilt
geweſen. Verneint werden die
Prozeßzinſen bei allen stricti ju-
ris actiones von Noodt de foe-
nore et us. III. 12, Winckler
p. 345, Madai Mora S. 369,
Liebe Stipulation S. 52; dage-
gen werden ſie zugelaſſen von
den Gloſſatoren Martinus und
Jacobus (Haenel diss. do-
minorum § 56 p. 42), Huber,
praelect. in pand. XXII. 1. § 17,
Keller § 21 Note 2 und 10. —
Ich ſelbſt hatte früher die erſte
Meinung angenommen (B. 5 S. 141.
142. 465), welche ich jetzt zurück-
nehme.
(q) Für die einſchränkende Mei-
nung iſt Cannegiesser decis.
Cassell. T. 1 Dec. 56 No. 6,
indem er erſt von der feſtgeſtellten
10*
|0166 : 148|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
tiſchen Werth haben, ſo darf ein ſolcher Unterſchied nicht
gemacht werden, vielmehr müſſen auch bei illiquiden
Summen Zinſen gezahlt werden. Damit geſchieht dem
Beklagten kein Unrecht, weil ja dieſe ganze Zinszahlung
auf der Vorausſetzung beruht, daß Geld überhaupt nicht
müßig aufbewahrt, ſondern ſtets in irgend einer Form zu
einem Ertrag benutzt wird. Wollte man aber jenen Unter-
ſchied zulaſſen, ſo würde es niemals dem Beklagten ſchwer
fallen, unabhängig von der Beſtreitung des Anſpruchs
ſelbſt, in die Höhe deſſelben irgend einen Zweifel zu bringen,
und dadurch das ganze Princip der Prozeßzinſen in der
Anwendung zu vereiteln.
§. 271.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —
a. Erweiterungen. (Prozeßzinſen. Fortſetzung.)
II. Anwendung der Prozeßzinſen auf die
wichtigſten einzelnen Klagen.
Die Zeugniſſe hierüber ſind im R. R. ſeltener als man
bei der practiſchen Wichtigkeit des Gegenſtandes erwarten
möchte. Allein die wirklich vorhandenen ſind ſehr ent-
ſcheidend, und es fehlt nicht an Erklärungsgründen, wes-
halb bei vielen Klagen ſolche Zeugniſſe nicht vorkommen,
Liquidität an Zinſen zuläßt. Da-
bei ſcheint der unrichtige Gedanke
einer Strafe zum Grunde zu liegen,
die den Beklagten nicht treffen
dürfe, ſo lange eine Ungewißheit
vorhanden ſey. Für die unbe-
ſchränkte Zulaſſung iſt Hommel
rhaps. Obs. 234.
|0167 : 149|
§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
ſo daß jene Seltenheit an der Wahrheit des Princips
keinen Zweifel erregen darf.
1. Bei der Eigenthumsklage auf beſtimmte Geld-
ſtücke kann das Princip gewiß nicht zur Anwendung
kommen. Sollte es angewendet werden, ſo müßte dabei
die Zumuthung an den Beklagten zum Grunde liegen, das
vindicirte Geld zu veräußern um es zinsbar zu benutzen;
aber gerade die Veräußerung und Verzehrung der vin-
dicirten Sache iſt dem Beklagten durchaus unterſagt
(§ 264. p. q. r). Der Unterſchied von der perſönlichen
Schuldklage auf eine Geldſumme liegt alſo darin, daß
durch dieſe dem Beklagten ſein eigenes Geld abgefordert
wird, deſſen Veräußerung und zinsbare Benutzung ihm
nicht unterſagt iſt (a).
2. Bei der Erbſchaftsklage verhält es ſich ganz
anders, und gerade hier finden ſich die vollſtändigſten
Zeugniſſe für die Anwendung unſres Princips. Zwar iſt
auch dieſe Klage in rem, ſo gut als die Eigenthums-
klage, allein ſie bezieht ſich nicht ſo wie dieſe auf eine
beſtimmte einzelne Sache, ſondern auf eine Vermögens-
maſſe, und umfaßt alſo nothwendig auch viele Gegen-
(a) Dieſe Eigenthümlichkeit der
Vindication in Beziehung auf die
Prozeßzinſen iſt richtig bemerkt
von Buchka Einfluß des Pro-
zeſſes S. 265. — Man möchte
Daſſelbe erwarten bei der (perſön-
lichen) actio depositi, da auch
hier beſtimmte Geldſtücke gefordert
werden, und deren Veräußerung
gleichfalls rechtswidrig iſt. Allein
hier ſind meiſt die Prozeßzinſen
durch die Mora abſorbirt, die oft
ſchon vor dem Rechtsſtreit ein-
tritt, ſpäteſtens aber mit der In-
ſinnation der Klage, alſo in bei-
den Fällen vor der L. C. (Vgl.
unten Note h).
|0168 : 150|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſtände, die für ſich betrachtet eine obligatoriſche Natur
haben. — Bei dieſer Klage finden ſich folgende einzelne
Beſtimmungen über Prozeßzinſen.
a) Der Beſitzer zahlt, von der L. C. an, Zinſen des-
jenigen Geldes, welches er vor der L. C. aus verkauften
Erbſchaftsſachen gelöſt hat, und das dadurch Beſtandtheil
der Erbſchaftsmaſſe geworden iſt (b). Unter dieſe ver-
kaufte Erbſchaftsſachen gehören natürlich auch die Natural-
früchte, die er bezogen und dann veräußert hat (c); eben
ſo ohne Zweifel auch das eingenommene Mieth- und
Pachtgeld.
Hierin nun ſind unverkennbar reine Prozeßzinſen enthalten,
welches ſich auch darin zeigt, daß das Princip der ver-
ſäumten Früchte darauf angewendet wird. Wenn näm-
lich der Beklagte das bedungene Kaufgeld einzutreiben
unterläßt, ſo muß er dennoch auch davon Zinſen zahlen (d). —
Gegen den unredlichen Beſitzer hat der Kläger die Wahl,
ob er, ſo wie gegen den redlichen, das erlöſte Kaufgeld
mit Zinſen, oder aber den wahren Werth der Sache mit
(b) L. 1 § 1 C, de her. pet.
(3. 31) „usuras pretii rerum
ante L. C. venditarum, ex die
contestationis computandas, om-
nimodo reddere compellan-
tur.“ — Damit ſtimmt überein
L. 20 § 11 de her. pet. (5. 3),
nur daß hier, wie oben bemerkt,
die denuntiatio anſtatt der L. C.
erwähnt wird. Die in L. 20 § 6
eod. verneinte Zinsverpflichtung
iſt von den vor dem Rechtsſtreit
durch den redlichen Beſitzer erho-
benen Zinſen zu verſtehen.
(c) Darauf geht L. 51 § 1 de
her. pet. (5. 3), wobei nur hin-
zugedacht werden muß, daß die
vor der L. C. gewonnenen Früchte
verkauft worden ſind, ſ. o.
§ 270. l. —
(d) L. 20 § 15 de her. pet.
(5. 3).
|0169 : 151|
§ 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Einrechnung der möglichen Früchte derſelben, fordern
will (e). Das will ſagen, er kann den geſchloſſenen Ver-
kauf mit ſeinen Folgen anerkennen oder nicht, je nachdem
ihm das Eine oder das Andere vortheilhafter dünkt.
(b) Das Geld, wovon der Beklagte nach der eben auf-
geſtellten Regel Zinſen zahlen ſoll, war von ihm ſelbſt in
die Erbſchaftsmaſſe gebracht worden. Es fragt ſich aber,
ob er auch von dem in der Erbſchaft vorgefundenen baaren
Geld Zinſen zu zahlen hat. Nach allgemeiner Betrach-
tung müſſen wir geneigt ſeyn, dieſes ganz nach derſelben
Regel, wie das vorher erwähnte, zu behandeln. Er iſt
Verwalter eines möglicherweiſe fremden Vermögens, und
hat daher deſſen Beſtandtheile, je nach ihrer Art, als guter
Hausvater zu behandeln. Ein ſolcher aber wird nicht
Geldſummen müßig liegen laſſen. Wenn alſo z. B. der
Verſtorbene kurz vor ſeinem Tode ein zinsbares Capital
eincaſſirt, und nicht Zeit genug gehabt hat, es wieder
auszuleihen, ſo dürfte der Beſitzer ſchwerlich zu rechtfertigen
ſeyn, der es während des ganzen Rechtsſtreits unbenutzt
liegen laſſen wollte.
Dennoch ſcheint ganz unerwartet Papinian in fol-
gender von Ulpian angeführten Stelle ſagen zu wollen,
daß der Beſitzer der Erbſchaft von allem vorgefundenen
baaren Geld niemals Zinſen zu zahlen habe:
„Papinianus autem libro tertio quaestionum, si pos-
sessor hereditatis pecuniam inventam in hereditate
(e) L. 20 § 12. 16, L. 36 § 3 de her. pet. (5. 3).
|0170 : 152|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
non attingat, negat eum omnino in usuras conve-
niendum.“(f).
Glücklicherweiſe haben wir aber aus demſelben Werke
des Papinian, welches hier von Ulpian angeführt
wird, eine Stelle, welche dazu dient, den aufgeſtellten
Grundſatz nicht nur gegen dieſen ſcheinbaren Widerſpruch
des Papinian zu retten, ſondern zugleich durch eine
nothwendige nähere Beſtimmung vollſtändiger auszubilden:
„de pecunia deposita, quam heres non attingit, usu-
ras praestare non cogitur“(g).
In beiden Stellen iſt die Rede von einer pecunia
quam non attingit, nur wird in der erſten, als der nicht
Berührende, der possessor hereditatis genannt, in der
zweiten der heres, und dieſer Ausdruck, verbunden mit
der Erwähnung der pecunia deposita, führt zunächſt dahin,
die Stelle von einer actio depositi gegen den wahren Er-
ben des Depoſitars zu erklären. Dennoch glaube ich dieſe
Erklärung ſchlechthin verwerfen zu müſſen. Die ganze
Stelle, woraus dieſes kleine Stück genommen iſt, ſpricht
von dem Beklagten in einer Vindication, und mit dieſem
kann wohl der Beklagte in einer Erbſchaftsklage, aber nicht
der Beklagte in einer actio depositi, zuſammen geſtellt
werden. Daher halte ich folgende Erklärung für richtiger (h).
(f) L. 20 § 14 de her. pet.
(5. 3).
(g) L. 62 pr. de rei vind.
(6. 1) aus Papinianus lib. VI.
Quaestionum.
(h) Ich will jedoch nicht ver-
ſchweigen, daß auch noch eine
andere Erklärung der Stelle ju-
riſtiſch möglich iſt. Es kann
allerdings die Rede ſeyn von dem
|0171 : 153|
§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Heres ſteht hier für possessor hereditatis, wodurch beide
Stellen auf einen und denſelben Fall bezogen werden.
Pecunia deposita heißt eine Geldſumme, welche der Ver-
ſtorbene dazu beſtimmt hatte, nicht in der Haushaltung
verbraucht, auch nicht ausgeliehen, ſondern vielmehr als
ein Rothpfennig baar aufbewahrt zu werden, welcher Fall
anderwärts genau angegeben und mit dem ganz ver-
wandten Ausdruck: pecunia praesidii causa reposita
(oder auch seposita) bezeichnet wird (i). Solches Geld
Erben eines Depoſitars, gegen
welchen die actio depositi ange-
ſtellt wird. Nur müſſen dann fol-
gende Vorausſetzuugen hineinge-
tragen werden: 1. daß nicht ſchon
der Verſtorbene in Mora war,
denn ſonſt würde die Mora (mit
der Zinſenverpflichtung) auf den
Erben übergegangen ſeyn, ohne
daß dieſen das Nichtberühren des
Geldes ſchützen könnte (L. 87
§ 1 in f. de leg. 2); 2. daß auch
er ſelbſt, nicht durch Mahnung
in Mora verſetzt war, aus dem-
ſelben Grunde. Dieſes letzte ließe
ſich allerdings ſo denken, daß der
Erbe Nichts von dem Depoſitum
gewußt hätte, welches die Mora
abwendet (L. 42 de R. J.), und
daß er doch zugleich aus Gewiſ-
ſenhaftigkeit erklärte, er wolle das
Geld einſtweilen unberührt laſſen,
wodurch dieſer Fall dem des vin-
dicirten Geldes ähnlich würde
(Note a). — Daß nun aber bei
dieſer Erklärung ſo Vieles hinzu-
gedacht werden muß, wenn der
Ausſpruch nicht durch andere un-
zweifelhafte Rechtsregeln widerlegt
werden ſoll, macht dieſe Erklärung
ſehr bedenklich, und giebt der erſten
den Vorzug, welche ohnehin durch
die wörtliche Ähnlichkeit bei-
der Stellen unterſtützt wird.
(i) L. 79 § 1 de leg. 3 (32)
„His verbis: quae ibi mobilia
mea erunt do lego, nummos
ibi repositos ut mutui darentur,
non esse legatos Proculus ait:
at eos, quos praesidii causa
repositos habet, ut quidam bellis
civilibus factitassent, eoslegato
contineri: Et audisse se rusti-
cos senes ita dicentes, pecu-
niam sine peculio fragilem esse:
peculium appellantes, quod
praesidii causa seponeretur.“ —
Dieſe Erklärung iſt ſchon ange-
geben von Glück B. 8 S. 297.
298. Zur Unterſtützung derſelben
kann noch folgende Bemerkung
dienen. Die von Papinian an
zwei Orten erwähnte pecunia in-
venta (deposita) in hereditate
quam heres (possessor here-
ditatis) non attingit hat offen-
|0172 : 154|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſoll auch der Beſitzer der Erbſchaft fernerhin unberührt
aufbewahren dürfen, ohne dafür Zinſen zu bezahlen, in-
dem er nur die von dem Erblaſſer angefangene Behand-
lungsweiſe dieſes Geldes fortſetzt. — Erklärt man nun
die von Ulpian referirte Äußerung des Papinian von
dieſem ganz beſonderen Fall, wofür die ähnlichen Aus-
drücke (das non attingit) ſehr deutlich ſprechen, ſo iſt der
oben aufgeſtellte Grundſatz gegen jeden Widerſpruch ge-
rettet: denn es wird Niemand zweifeln, daß ein ſolches
Verfahren ganz in den Gränzen verſtändiger Vermögens-
verwaltung liegt, nnd die Freiſprechung von Prozeßzinſen
gründet ſich alsdann darauf, daß der erwähnte Nothpfennig
überhaupt gar nicht als baares, zum Umlauf beſtimmtes,
Geld in Betracht kommt.
3. Bei der Klage auf Legate oder Fideicommiſſe,
die in baarem Gelde beſtehen, ſind Zinſen eben ſo wie
andere Früchte von der Zeit der L. C. an zu entrichten (k),
und darin liegt eine entſchiedene Anerkennung des Princips
der Prozeßzinſen. Indeſſen muß dabei ſtets die Voraus-
ſetzung hinzugedacht werden, daß aus zufälligen Gründen
bar das Anſehen einer ſprüchwört-
lich erzählten Curioſität, ſo wie
Gajus III. § 196 „quod veteres
scripserunt de eo qui in aciem
perduxisset,“ und Gajus III.
§ 202 „et hoc veteres scrip-
serunt de eo qui panno rubro
fugavit armentum.“ Dieſes paßt
nun ſehr gut zu dem von Procu-
lus erwähnten ſingulären Fall der
praesidii causa nummi repositi.
(k) L. 1. 2 C. de usur. et
fruct. (6. 47). — Für die Früchte
allein (ohne Erwähnung der Zin-
ſen) wird die L. C. als Anfangs-
punkt bezeichnet in L. 51 pr. fam.
herc. (10. 2), L. 4 C. de usur.
et fruct. (6. 47).
|0173 : 155|
§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
nicht etwa ſchon früher eine Mora begründet war, da die
Prozeßzinſen überall durch die Verzugszinſen abſorbirt
werden.
Daß nämlich bei Legaten und Fideicommiſſen die Mora
an ſich, vor allem Rechtsſtreit, die Forderung von Ver-
zugszinſen begründet, eben ſo wie von allen anderen
Früchten, iſt unzweifelhaft. Anfangs galt dieſes blos bei
Fideicommiſſen, ſpäter auch bei dem legatum sinendi modo,
zuletzt eben ſo bei dem damnationis und vindicationis
legatum (l).
Die Stellen nun, welche bald die Mora, bald die L. C.
als Anfangspunkt einer ſolchen Verpflichtung erwähnen,
ſind nicht ſo zu verſtehen, als ob über dieſen Gegenſatz
entweder Streit, oder eine Verſchiedenheit des älteren und
neueren Rechts, beſtanden hätte; vielmehr war die Mora
allgemeine Regel, und die L. C. trat oft nachhelfend ein,
da wo im einzelnen Fall die Bedingungen der Mora
fehlten (§ 264. g). Ganz beſonders aber ſollten beide
Ausdrücke, ohne unter ſich einen wahren Gegenſatz zu
bilden, vielmehr den gemeinſamen Gegenſatz feſtſtellen gegen
die auch wohl denkbare Meinung, nach welcher Früchte
und Zinſen von der Zeit des Todes an zu rechnen ge-
(l) Gajus II. § 280 (Fidei-
commiß und leg. sinendi modo),
L. 51 pr. fam. herc. (10. 2 Vin-
dicationslegat), L. 91 § 7 de leg. 1
(30. Damnationslegat), L. 3 pr.
de usuris (22. 1. Fideicommiß),
L. 39 § 1 de leg. 1 (30. unbe-
ſtimmt), L. 4 C. de us. et fruct.
(6. 47. Fideicommiß, leg. damn.
und vind. zugleich, ſ. u. Note m).
|0174 : 156|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
weſen wären. Dieſe Meinung ſollte durch alle jene Stellen
vorzugsweiſe zurück gewieſen werden (m).
4. Bei den perſönlichen Klagen endlich werden
die Prozeßzinſen zufällig gar nicht erwähnt; die Gründe
dieſer Erſcheinung ſind ſchon oben angedeutet worden. Bei
den freien Klagen nämlich wurden die Prozeßzinſen oft
durch die vorhergehende Mora abſorbirt, und konnten alſo
nur in ſolchen Fällen zur Anwendung kommen, worin die
Mora zufällig fehlte. Bei den ſtrengen Klagen aber waren
die Prozeßzinſen gerade für die wichtigſte Art derſelben, die
certi condictio, ausgeſchloſſen, und daher auf den engeren
Kreis der übrigen Condictionen beſchränkt.
In der ſchwierigen Lehre von den Prozeßzinſen würden
noch immer manche Zweifel zurück bleiben können, wenn
nicht eine dem älteren R. R. angehörende Frage, die mit
manchen Stellen des Juſtinianiſchen Rechts in Verbindung
ſteht, unterſucht und beantwortet wird. Es iſt nämlich
oben bemerkt worden, daß die L. C. bei allen Klagen eine
Conſumtion des Klagerechts, bei manchen perſönlichen
Klagen auch eine Novation der zum Grunde liegenden
Obligation zur Folge hatte: die Novation jedoch mit weit
beſchränkteren Wirkungen als die, welche aus einer gewöhn-
lichen, nichtprozeſſualiſchen, Novation entſprangen (§ 258).
(m) L. 4 C. de us. et fruct.
(6. 47) „In legatis et fideicom-
missis fructus post litis con-
testationem non ex die mortis
consequuntur, sive in rem sive
in personam agatur.“
|0175 : 157|
§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Die Frage iſt nun die: wirkte die Conſumtion und die
Novation auf eine Zinſenforderung?
Dabei müſſen die oben dargeſtellten Gattungen der
Zinſen genau unterſchieden werden.
A. Viele derſelben hatten gar keinen ſelbſtſtändigen
Rechtsgrund, indem ſie nur entweder ein Stück einer
anderen Obligation bildeten (wie das Pactum auf Zinſen
neben einem b. f. contractus), oder überhaupt nicht auf
einer eigentlichen Obligation, ſondern nur auf dem officium
judicis beruhten (wie die Verzugszinſen und die Prozeß-
zinſen).
Bei dieſen hat die Sache keinen Zweifel. Die An-
ſtellung der Hauptklage conſumirte gewiß die Zinſenfor-
derung, ſo daß niemals ſpäterhin eine neue Klage auf ſolche
Zinſen angeſtellt werden konnte.
Eine Novation konnte für dieſe Zinſenforderungen nicht
eintreten, weil ſie überhaupt nicht auf einer vorhergehenden
Obligation, wenigſtens nicht auf einer ſelbſtſtändigen,
beruhten.
B. Andere dagegen hatten einen ſelbſtſtändigen Ent-
ſtehungsgrund, wohin namentlich die auf einer Stipulation
beruhenden Zinſen (neben Darlehn, oder Stipulation, als
Hauptobligation) gehörten.
Hier iſt vor Allem die oben durchgeführte Regel in
Erinnerung zu bringen, daß in dieſen Fällen niemals mit
Einer Klage auf Kapital und Zinſen geklagt werden konnte,
ſondern ſtets mit zwei verſchiedenen Klagen, einer certi und
|0176 : 158|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
einer incerti condictio. War die Hauptobligation ein
b. f. contractus, ſo waren es gleichfalls zwei verſchiedene
Klagen: die b. f. actio und die incerti condictio.
Wenn nun auf das Kapital geklagt wurde, ſo konnte
dieſe Klage die völlig verſchiedene Zinſenklage nicht con-
ſumiren, d. h. dieſe war durch die Kapitalklage nicht
in judicium deducirt.
Die in der L. C. der Hauptklage liegende Novation
konnte die bereits fällig gewordenen Zinspoſten gewiß nicht
tilgen, da dieſe ja ſelbſt durch baare Zahlung des Kapitals
nicht getilgt worden wären. Eine andere, und zwar be-
ſtrittene Frage aber iſt es, ob durch die Novation der
Hauptklage die Entſtehung neuer Zinſen, alſo namentlich
für die ganze Zeit des dauernden Rechtsſtreits, unmöglich
gemacht wurde. Man könnte dieſes mit einigem Schein
behaupten, weil ja die Zinsobligation eine acceſſoriſche
Natur hat; iſt nun die Kapitalforderung durch Novation
getilgt, ſo ſcheint dadurch auch der acceſſoriſche Zinſenlauf
für die Folge vernichtet zu ſeyn. Indeſſen muß aus fol-
gendem Grunde das Gegentheil behauptet werden.
Es giebt außer den Zinſen auch noch manche andere
Acceſſionen einer Obligation: namentlich Pfänder und
Bürgſchaften. Alle dieſe Acceſſionen gehen durch eine ei-
gentliche, vertragsmäßige Novation, eben ſo wie durch baare
Zahlung, wirklich unter. Wollte man nun dieſelbe Wirkung
auch der in der L. C. liegenden Prozeß-Novation zuſchreiben,
ſo würde durch die L. C. der Kläger in Nachtheil gerathen,
|0177 : 159|
§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
da dieſelbe doch dazu beſtimmt iſt, ihm Vortheil zu bringen.
Daher gehen durch die L. C. die Acceſſionen nicht unter.
Für das Pfand iſt dieſes ausdrücklich geſagt (n). Für die
Zinſen (worauf allein es hier ankommt) ſoll es ſogleich
durch ein Reſcript von Severus bewieſen werden. Nur
bei den Bürgſchaften verhält es ſich anders, aber nicht
wegen der Novation, ſondern aus einem ganz anderen, viel
weiter greifenden Grunde, der auch bei ſolchen Klagen ein-
wirkte, in welchen die L. C. nicht mit einer Novation ver-
bunden war. Die Klage gegen den Bürgen hatte mit der
Klage gegen den Hauptſchuldner eine und dieſelbe Intentio,
war alſo mit ihr (wenn auch nicht in der Bezeichnung der
Perſonen, doch objectiv) identiſch, und deswegen wurde
durch die Hauptklage zugleich die Klage gegen den Bürgen
in judicium deducirt und conſumirt. Dieſer Satz wird
von Cicero bezeugt, und galt bis auf Juſtinian, der
ihn ausdrücklich aufhob (o). Ein ähnlicher Grund trat bei
den Zinſen nicht ein, deren Lauf daher durch die L. C. über
die Hauptklage nicht unterbrochen wurde.
Wenn ferner auf die Zinſen geklagt wurde, ſo wurde
damit die ganze Zinſenſtipulation in judicium deducirt und
conſumirt, alſo ſowohl für die verfallenen als für die noch
(n) L. 11 pr. § 1 de pign.
act. (13. 7), L. 13 § 4 de pign.
(20. 1). Eben ſo iſt es mit dem
privilegium dotis et tutelae.
L. 29 de nov. (46. 2), wo zugleich
der allgemeine Grund ausgeſpro-
chen iſt.
(o) Cicero ad Att. XVI. 15.
L. 28 C. de fidejuss. (8. 41).
Ausführlich und gründlich handelt
von dieſem Satz Keller § 52,
wo alle hierher gehörende Quellen-
zeugniſſe angeführt ſind.
|0178 : 160|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
künftig zu erwartenden Zinſen, weil beide auf einer und
derſelben Stipulation beruhten, die als Obligation ein
Ganzes bildete. Auf die verfallenen ſprach der Juder nun
wirklich, auf die künftigen zu ſprechen hatte er gegenwärtig
noch keinen Grund; da aber die Klage auf dieſelbe con-
ſumirt war, ſo waren dieſe künftigen Zinſen für immer
verloren. Um dieſe Gefahr zu vermeiden, mußte der Kläger
eine Präſcription: cujus rei dies fuit ſeiner Klage hinzu
fügen (p).
Dieſe Sätze mußten voran geſchickt werden, um die Er-
klärung der folgenden wichtigen Stelle vorzubereiten, die
auf mancherlei Weiſe misverſtanden worden iſt:
„Judicio coepto, usurarum stipulatio non est peremta;
superest igitur, ut debitorem ejus temporis quod
non est in judicium deductum convenire possis“(q).
Der erſte Satz dieſer Stelle beſtätigt unmittelbar die
ſo eben aufgeſtellte Behauptung, daß die Anſtellung der
Kapitalklage keine Conſumtion und keine Novation für die
Zinſenſtipulation bewirke, dieſe Stipulation alſo nicht zer-
ſtöre. Der zweite Satz knüpft daran die Folgerung, daß
auch nach angeſtellter Kapitalklage noch immer eine abge-
ſonderte Zinſenklage angeſtellt werden könne. Dieſes Letzte
jedoch mit der Einſchränkung, wenn nicht etwa die Klage
auf die jetzt fällig gewordenen Zinspoſten durch eine ſchon
früher angeſtellte Zinſenklage conſumirt ſey. Eine ſolche
(p) Gajus IV. § 131.
(q) L. 1 C. de jud. (3. 1) von Severus und Antoninus.
|0179 : 161|
§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Conſumtion aber war nicht vorhanden, ſowohl wenn noch
gar nicht auf Zinſen geklagt worden war, als wenn bei
einer früheren Zinſenklage die oben erklärte Präſcription
angewendet war, um die Conſumtion der künftig eintretenden
Zinspoſten abzuwenden (r).
Um die Lehre von den Prozeßzinſen ganz abzuſchließen,
bleibt nur noch übrig, die Meinung neuerer Schriftſteller
über den Zuſtand des heutigen Rechts in dieſer Lehre kurz
anzugeben.
Neuerlich iſt von Mehreren die Zuläſſigkeit von Prozeß-
zinſen gänzlich verworfen worden, indem ſie dieſelben nicht
ſowohl negirt, als ignorirt haben. Sie gehen nämlich da-
von aus, es gebe überhaupt, aus Veranlaſſung eines
Rechtsſtreits, keine andere Zinſen als Verzugszinſen. Da
nun (welches auch ich annehme) die L. C. keine Mora be-
gründe, ſo könnten Prozeßzinſen, d. h. Zinſen die durch die
(r) Mayer Litisconteſtation
S. 35—38 behauptet, im Wider-
ſpruch mit den hier aufgeſtellten
Sätzen, die Kapitalklage habe durch
die Novation der L. C. den ferneren
Zinſenlauf zerſtört. Er verwechſelt
dabei die Conſumtion und Nova-
tion, ſo wie er die zwei verſchie-
denen Klagen auf Kapital und
Zinſen nicht unterſcheidet, und ohne
Grund einen practiſchen Unterſchied
zwiſchen Pfändern und Zinſen be-
hauptet, welche ſelbſtgemachte
Schwierigkeit er dann nicht ohne
Scharfſinn zu beſeitigen ſucht durch
die Unterſcheidung alter und neuer
Rechtsinſtitute. Sein Hauptbeweis
liegt in L. 90 de V. O. (45. 1),
welche für den Fall der poenae
stipulatio (einer anderen Form
als das Zinsgeſchäft, aber mit
ähnlichem Zweck und Erfolg) ganz
richtig daſſelbe behauptet, welches
in L. 1 C. de jud. für die Zinſen
geſagt iſt. Er ſieht darin eine ver-
ſteckte Anſpielung darauf, daß bei
den Zinſen das Gegentheil gelte,
trägt alſo ganz willkührlich ein ar-
gumentum a contrario in die
Stelle hinein.
VI. 11
|0180 : 162|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
L. C. als ſolche begründet würden, niemals vorkommen.
Insbeſondere ſeyen ſie bei den stricti juris Contracten ganz
unmöglich, weil für dieſe überhaupt keine Verzugszinſen
zugelaſſen würden (s). Das practiſch Wichtige in dieſer
Meinung liegt nicht ſowohl darin, daß man den Namen
der Prozeßzinſen nicht zulaſſen, ſondern nur von Verzugs-
zinſen reden will, als vielmehr darin, daß in allen Fällen,
in welchen die beſonderen Bedingungen einer Mora nicht
vorhanden ſind, überhaupt gar keine Zinſen gelten ſollen.
Die hier vertheidigte Meinung dagegen hat zu allen
Zeiten zahlreiche Anhänger gefunden. Eigentlich gehören
dahin alle Schriftſteller, welche für das R. R. die Gültig-
keit der Prozeßzinſen bei den ſtrengen Klagen behaupten
(§ 270. p). Dieſe meinen damit in der That die allge-
meine Gültigkeit der Prozeßzinſen überhaupt im gemeinen
Recht, wie ſich denn namentlich Huber zur Unterſtützung
ſeiner Meinung auf die heutige Praxis beruft. Außerdem
aber haben ſich auch mehrere Andere von dem rein practi-
ſchen Standpunkt aus für die Annahme von Prozeßzinſen
als ſolchen erklärt (t).
Bei dem Oberappellationsgericht zu Lübeck, welches für
die Praxis der Vier freien Städte Zeugniß giebt, werden
(s) Göſchen Vorleſungen B. 1.
S. 478. — Madai Mora S. 369
bis 373. Wächter Heft 2 S. 54.
55, Heft 3 S. 24.
(t) Bayer Prozeß S. 233. 234.
Linde Prozeß § 200 Note 5.
Daß dieſe zugleich den Anfang von
der Inſinuation berechnen, anſtatt
von der L. C., ändert in dem We-
ſen der Sache Nichts. Von dieſer
Veränderung des Anfangspunktes
wird unten beſonders die Rede ſeyn.
|0181 : 163|
§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)
Prozeßzinſen ganz allgemein angenommen, und zwar von
der Inſinuation der Klage an. In dieſem Gerichtsſprengel
findet ſich ein Fall, in welchem die eigenthümliche Natur
der Prozeßzinſen, verſchieden von den Verzugszinſen, beſon-
ders ſcharf hervortritt. In Hamburg werden (wenigſtens
nach der Meinung mancher Schriftſteller) Verzugszinſen zu
Fünf, Prozeßzinſen zu Sechs Procent berechnet, ſo daß bei
einer vor dem Anfang des Rechtsſtreits wirklich vorhande-
nen Mora die Zinſen durch die Inſinuation um Ein Pro-
cent ſteigen (u).
Der Reviſions- und Caſſationshof zu Berlin, welcher
als Oberappellationsgericht für die vormals Naſſauiſchen
Landestheile nach gemeinem Recht und gemeinem Prozeß
entſcheidet, erkennt regelmäßig auf Prozeßzinſen von der
Inſinuation an (v). In den Gründen eines Urtheils vom
J. 1832 wurde hier die eigenthümliche Natur der Prozeß-
zinſen, als verſchieden von den etwa ſchon vorhergegangenen
Verzugszinſen, bei einer beſonderen Veranlaſſung ausdrück-
lich anerkannt.
Genau dieſelbe Praxis findet ſich auch bei der Juriſten-
facultät zu Berlin, die in ihrer Eigenſchaft als Spruch-
collegium gleichfalls für Länder, worin das gemeine Recht
gilt, Recht zu ſprechen hat (w).
(u) Ich verdanke dieſe Notiz
einer ſchriftlichen Mittheilung mei-
nes Freundes Blume.
(v) Die Bezeichnung des An-
fangs des Zinſenlaufs lautet ver-
ſchieden: von der Inſinuation, von
der Zuſtellung der Klage, von der
Klage an. Es iſt überall die In-
ſinuation gemeint.
(w) Auch hier kommen dieſelben
11*
|0182 : 164|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Die Preußiſche Geſetzgebung ſchließt ſich ganz an die
hier aufgeſtellten Regeln des gemeinen Rechts an, nur
werden die Prozeßzinſen nicht wörtlich von den Verzugs-
zinſen unterſchieden, ſondern bloß als ein einzelner Fall
derſelben behandelt, der jedoch bei jeder Geldforderung ſtets
eintreten ſoll, wenn nicht ſchon vorher zufällig Verzugs-
zinſen laufend waren. Außergerichtlich nämlich entſteht der
Verzug, und durch ihn eine Zinſenforderung, durch den
Eintritt eines vorbeſtimmten Zahlungstages, oder wo ein
ſolcher fehlt durch Interpellation (x). War nun ein ſolcher
Verzug vor dem Rechtsſtreit nicht vorhanden, ſo entſteht
derſelbe mindeſtens mit der Inſinuation der Klage, und von
dieſer Zeit fängt dann auch der Zinſenlauf an (y).
§. 272.
Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der Ver-
urtheilung. — b. Verminderungen.
Die Veränderungen in dem Gegenſtand eines Rechts-
ſtreits, durch deren Eintritt eine Einwirkung der L. C. auf
das materielle Rechtsverhältniß nöthig werden kann, ſind
theils Erweiterungen, theils Verminderungen (§ 264). Von
dieſen letzten ſoll nunmehr gehandelt werden.
Varietäten vor, welche in der
Note v erwähnt werden, jedoch mit
überwiegender wörtlicher Erwäh-
nung der Inſinuation, die oh-
nehin dem Sinn nach allgemein
gedacht iſt.
(x) A. L. R. Th. 1 Tit. 16 § 15.
16. 20. 64. 67. 68, und Tit. 11
§ 827—829.
(y) A. G. O. Th. 1 Tit. 7
§ 48. d.
|0183 : 165|
§. 272. Wirkung der L. C. — Verminderungen.
Auch bei ihnen kommt die oben dargeſtellte Verwandt-
ſchaft und Zuſammenwirkung von drei an ſich verſchiedenen
Rechtsbegriffen in Betracht: Mora, mala fides, und Litis-
conteſtation, und es ſind dadurch nicht blos unter den
neueren Schriftſtellern große Streitigkeiten entſtanden, ſon-
dern ſelbſt in den Quellen des R. R. fehlt es nicht an
verſchiedenen Meinungen, ſo wie an zweifelhaften und
ſchwankenden Zeugniſſen. Ich will es verſuchen, diejenigen
Regeln anzugeben, welche nach unbefangener Betrachtung
und Vergleichung der Quellenzeugniſſe als letztes Reſultat
aus denſelben hervorgehen.
Ehe aber die auf die Verminderungen bezüglichen Rechts-
regeln aufgeſtellt werden können, iſt es nöthig, über die
Natur dieſer Verminderungen ſelbſt und die verſchiedenen
möglichen Gründe derſelben eine Ueberſicht zu geben.
Dahin gehört vor Allem der körperliche Untergang der
Sache die den Gegenſtand eines Rechtsſtreites bildet,
wohin der Tod eines Thieres, oder (bei den Römern) eines
Sclaven, das Aufzehren der Sache, die durchgreifende Ver-
arbeitung derſelben mit Zerſtörung ihrer bisherigen Form
und Individualität, zu rechnen iſt. — Eben ſo aber auch der
partielle Untergang, wenn das auf einem ſtreitigen Grund-
ſtück ſtehende Gebäude einſtürzt oder abbrennt, ſo wie wenn
ein Thier verwundet oder verſtümmelt wird.
Es gehört dahin ferner der Verluſt des Beſitzes einer
ſtreitigen Sache, indem dadurch die Herausgabe derſelben
|0184 : 166|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
dem Beklagten eben ſo unmöglich gemacht wird wie durch
den Untergang.
Alle dieſe Veränderungen ſind Gegenſtände ſinnlicher
Wahrnehmung, indem ſie theils den körperlichen Zuſtand
einer Sache, theils deren räumliches Verhältniß zu dem
Beſitzer betreffen. Daß dieſe durch die jetzt anzuſtellende
Unterſuchung betroffen werden, kann keinem Zweifel unter-
worfen ſeyn.
Allein es giebt noch andere, und zwar unſichtbare, Fälle
der Verminderung, welche darin beſtehen, daß der Geld-
werth einer Sache abnimmt, während ihre Integrität und
das bisherige Beſitzverhältniß unverändert bleibt; ein Fall,
der beſonders bei ſchwankenden Waarenpreiſen im Handels-
verkehr Statt findet. Dieſe Veränderlichkeit des Geld-
werthes kommt auch bei dem Untergang einer Sache in
Betracht, indem dabei, wenn überhaupt eine Entſchädigung
zu leiſten iſt, die Frage entſteht, nach welcher Zeit der
Geldwerth beſtimmt werden ſoll, welche Frage weiter unten
beantwortet werden wird. Von dieſer Frage nun iſt aller-
dings die eben berührte verſchieden, welche dahin geht, ob,
auch bei unveränderter objectiven Beſchaffenheit der Sache,
die bloße Verminderung des Geldwerthes Grund einer
Entſchädigung werden kann. Indeſſen ſtehen doch dieſe
beiden Fragen in einem ſo nahen Zuſammenhang, daß eine
gemeinſame Unterſuchung durchaus räthlich erſcheint. Für-
jetzt alſo werden wir uns ganz auf die Folgen derjenigen
|0185 : 167|
§. 272. Wirkung der L. C. — Verminderungen.
Veränderungen beſchränken müſſen, welche blos eine ob-
jective, äußerlich erkennbare Beſchaffenheit haben.
Ich will zuerſt diejenigen Regeln aufſtellen, die am
wenigſten Zweifel mit ſich führen.
Wenn der Untergang oder der Beſitzverluſt einer ſtreiti-
gen Sache nach der L. C. bewirkt wird durch Dolus
oder Culpa des Beklagten, ſo muß dafür unbedingt Ent-
ſchädigung geleiſtet werden, der Beklagte mag redlicher oder
unredlicher Beſitzer ſeyn, in einer Mora ſich befinden oder
nicht. Dieſes gehört unter die wichtigſten Wirkungen der
L. C., und iſt eine Folge der obligatoriſchen Natur der
L. C., welche den Beklagten verpflichtet, die Sache mit der
größten Sorgfalt zu verwalten. — Die aufgeſtellte Regel
wird in folgenden wichtigen Anwendungen anerkannt.
1. Bei der Eigenthumsklage, wenn der Untergang
der Sache durch nachläſſiges Thun oder Unterlaſſen
bewirkt wird (a).
Eben ſo wenn durch Nachläſſigkeit der Verluſt des
Beſitzes herbeigeführt wird (b).
Eine wichtige Erweiterung erhält dieſe Regel für den
Fall des unredlichen Beſitzers; dieſer ſoll auch für den in
dem Zeitraum vor der L. C. begangenen Dolus oder Culpa
Entſchädigung leiſten. Dieſes iſt der wahre Inhalt folgen-
der, nicht ſelten unrichtig aufgefaßter, Stelle (c):
(a) L. 36 § 1, L. 33, L. 51 de
rei vind. (6. 1), L. 91 pr. de
verb. obl. (45. 1).
(b) L. 63, L. 36 § 1, L. 21,
L. 17 § 1 de rei vind. (6. 1),
L. 21 § 3 de evict. (21. 2).
(c) L. 45 de rei vind. (6. 1)
aus Ulpianus lib. LXVIII. ad ed.
|0186 : 168|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
„Si homo sit, qui post conventionem restituitur(d),
si quidem a bonae fidei possessore, puto cavendum
esse de dolo solo debere: ceteros, etiam de culpa
sua(e): inter quos erit et bonae fidei possessor post
litem contestatam“(f).
Der redliche Beſitzer, ſagt hier Ulpian, iſt verpflichtet
für Dolus und Culpa einzuſtehen, die er nach der L. C.
begeht, der unredliche Beſitzer auch für die vorher began-
genen Handlungen ſolcher Art. Hat aber die von dem
redlichen Beſitzer vor der L. C. begangene Handlung die
Natur eines Dolus, ſo muß dafür allerdings auch er ein-
ſtehen (g). — Dieſe ſtrengere Behandlung des unredlichen
(d) post conventionem heißt,
ſo wie auch anderwärts, ſo viel
als post litis contestationem
(§ 257. u). — Die hier erwähnte
Reſtitution iſt die, welche bei den
arbiträren Klagen auf die Auffor-
derung des Judex geſchah. Dieſe
ſollte nur dann genügen, wenn
Caution geſtellt wurde, daß dadurch
dem Kläger eben ſo viel, wie au-
ßerdem durch das Urtheil, verſchafft
wurde: Daher iſt der Inhalt dieſer
Caution zugleich ein Zeugniß für
den Inhalt des Urtheils (§ 260
Num. 1), in welchem Sinn es auch
in meiner Erklärung aufgefaßt wird.
(e) Durch den Gegenſatz der
folgenden Worte iſt es klar, daß
die Culpa vor und nach der L. C.
den unredlichen Beſitzer verant-
wortlich machen ſoll.
(f) d. h. für diejenigen
Handlungen, die er nach der
L. C. begeht, die ihn alſo wegen
Dolus und Culpa verantwortlich
machen ſollen.
(g) Es ſcheint widerſprechend,
daß der redliche Beſitzer eines Do-
lus fähig ſeyn ſoll. Die Sache
iſt aber ſo zu denken. Wenn er
vor der L. C. den Sclaven manu-
mittirt oder verpfändet hat, ſo war
das zwar damals eine ehrliche
Handlung. Wenn er ſie aber jetzt,
bei der Reſtitution (die dadurch
unwirkſam wird), verſchweigt, ſo
macht er ſich dadurch eines Dolus
ſchuldig; daher muß er Caution
ſtellen, daß dergleichen nicht vor-
gefallen ſey. — Wetzell Vindica-
tionsprozeß S. 206—211 erklärt
die Stelle willkührlich und gezwun-
gen, indem er unter andern einen
grundloſen Unterſchied zwiſchen der
Eigenthumsklage und Erbrechts-
klage behauptet.
|0187 : 169|
§. 272. Wirkung der L. C. — Verminderungen.
Beſitzers für die Zeit vor der L. C. ſcheint im Zuſammen-
hang zu ſtehen mit dem oben bei den Erweiterungen er-
wähnten, durch das Sc. Juventianum eingeführten, dolus
praeteritus (§ 266. e. g), obgleich ſie über den Buchſtaben
dieſes Ausdrucks noch hinaus geht.
2. Bei den perſönlichen Klagen, und zwar namentlich
bei den Condictionen, bei welchen man es am erſten
bezweifeln könnte, gilt dieſelbe Regel. Der Beklagte
muß alſo Entſchädigung leiſten, wenn er nach der
L. C. durch Dolus oder Culpa irgend einer Art den
Untergang oder den Beſitzesverluſt der Sache bewirkt
hat. Es liegt Dieſes in der omnis causa, zu welcher
auch ihn die L. C. verpflichtet, und die darauf geht,
dem Kläger alle Nachtheile zu vergüten, die aus der
Dauer des Rechtsſtreites entſpringen (h). Vor der
L. C. iſt der Stipulationsſchuldner (wenn keine Mora
vorhanden iſt) nur ſchuldig die poſitiven Handlungen
zu unterlaſſen, wodurch die Erfüllung unmöglich
werden würde (i).
(h) L. 31 pr. de reb. cred.
(12. 1) „Cum fundus vel homo
per condictionem petitus esset,
puto hoc nos jure uti, ut post
judicium acceptum causa omnis
restituenda sit: id est, omne
quod habiturus esset actor, si
litis contestandae tempore so-
lutus fuisset.“ — Eben ſo iſt
bei der Eigenthumsklage die omnis
causa zu leiſten (L. 17 § 1 de rei
vind. (6. 1), und auch daraus folgt
die Entſchädigungspflicht für jeden
durch Culpa bewirkten Verluſt der
Sache. L. 36 § 1 de rei vind.
(6. 1).
(i) L. 91 pr. de verb. obl.
(45. 1).
|0188 : 170|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
§. 273.
Wirkung der L. C. II. Umfang der Verurtheilung. —
b) Verminderungen. (Fortſetzung.)
Schwieriger und beſtrittener als die bisher unterſuchten
Fälle der Verminderung iſt der Fall, wenn ohne Dolus
und Culpa des Beklagten, alſo durch Zufall, die Ver-
minderung bewirkt, z. B. die Sache zerſtört oder dem
Beſitz des Beklagten entzogen wird.
Unzweifelhaft iſt es, daß in vielen Fällen dieſer Art
der Beklagte Entſchädigung leiſten muß, und daß insbeſon-
dere bei perſönlichen Klagen die Mora, bei Klagen in rem
der unredliche Beſitz, Beſtimmungsgründe für dieſe
Verpflichtung ſind. Allein theils die näheren Beſtimmungen
hierüber, theils das Verhältniß der L. C. zu den beiden
erwähnten Momenten, iſt in hohem Grade ſtreitig.
Unter den neueren Schriftſtellern iſt die Meinungsver-
ſchiedenheit großentheils ſo zu beſtimmen. Einige ſagen,
dem unredlichen Beſitz nach der L. C. ſey völlig gleiche
Wirkung mit der Mora zuzuſchreiben; beide nämlich be-
gründeten eine Verpflichtung zum Erſatz nur unter gewiſſen
Einſchränkungen. Andere dagegen nehmen an, dieſe Ein-
ſchränkungen ſeyen nur auf den unredlichen Beſitz anzu-
wenden, die Verpflichtung aus der Mora dagegen ſey ganz
unbedingt (a).
(a) Buchka Einfluß des Prozeſſes S. 202, wo viele Schriftſteller
angeführt werden. Wächter H. 3 S. 133.
|0189 : 171|
§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
Aber nicht blos unter den Neueren iſt ein ſolcher
Widerſtreit wahrzunehmen; auch bei den Römiſchen Juriſten
finden ſich theils unter den Schulen, theils unter den Ein-
zelnen, ſehr abweichende Meinungen (b). Insbeſondere
werden von Einzelnen extreme Meinungen nach beiden
Richtungen hin, d. h. bald zu unbedingter Bejahung, bald
zu unbedingter Verneinung der Verbindlichkeit zum Erſatz
angeführt. Die ſpäteren großen Juriſten aber ſuchten dieſe
Extreme zu einer billigen Vermittelung hinzuführen.
Die oben angedeuteten Einſchränkungen beziehen ſich
auf zwei Punkte. Es ſoll, wie behauptet wird, die Ent-
ſchädigung davon abhängig gemacht werden, ob der Kläger
die Sache, wenn ſie nicht untergegangen wäre, verkauft
haben würde; imgleichen davon, ob der jetzt eingetretene
Untergang auch dann eingetreten ſeyn würde, wenn der
Kläger den Beſitz der Sache früher erhalten hätte. Beide
Einſchränkungen werden bald einzeln, bald in Verbindung
behauptet. Bei beiden endlich kommt es noch darauf an,
wer von beiden Theilen das Daſeyn oder die Abweſenheit
beider thatſächlichen Bedingungen zu beweiſen hat. — Ich
werde dieſe Fragen zunächſt ganz unberührt laſſen, und erſt
am Schluß dieſer Unterſuchung darauf zurückkommen.
I. Bei den perſönlichen Klagen iſt die Mora das
entſcheidende Moment, und hierüber ſind bei folgenden ein-
zelnen Klagen ausdrückliche Beſtimmungen vorhanden.
(b) Keller S. 170.
|0190 : 172|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
A. Bei der Stipulation findet ſich in vielen un-
zweifelhaften Stellen der unbedingte Ausſpruch, daß von
der Mora an, alſo oft vor allem Rechtsſtreit, der zufällige
Untergang der verſprochenen Sache den Schuldner zur
Entſchädigung verpflichte (c). Dieſe Regel erhält ihre
vollſtändige Beſtimmung durch den Gegenſatz des Rechts-
zuſtandes, welcher vor der Mora, in Folge des blos ge-
ſchloſſenen Vertrages, ſtattfindet. In dieſem Zeitraum
haftet der Schuldner nur für denjenigen Untergang, welcher
durch ſeine Abſicht, oder durch ſeine culpoſe Handlungen
(nicht durch bloße Unterlaſſungen) bewirkt wird (d).
B. Ganz derſelbe Grundſatz einer unbedingten Ver-
pflichtung ſoll gelten bei allen Obligationen, auch außer
der Stipulation, welche mit einer Klage auf dare opor-
tere (einer Condiction) verbunden ſind (e). — Eine
bloße Anwendung dieſer Regel iſt es, daß der Dieb von
dem Augenblick des Diebſtahls an, durch welchen er ſtets
in eine Mora verſetzt wird, den zufälligen Untergang
(c) L. 82 § 1, L. 23 de verb.
obl. (45. 1), L. 39 § 1 de leg. 1
(30). — Weniger direct ausge-
ſprochen, aber dennoch erkennbar,
findet ſich dieſelbe Regel auch in
L. 91 pr. de verb. obl. (45. 1),
L. 5 § 4 de in litem jur. (12. 3),
L. 23 de pec. const. (13. 5).
(d) L. 91 pr. de verb. obl. (45. 1).
Aber ſelbſt bei der abſichtlichen
Veräußerung, welche hiernach ge-
wiß zum Erſatz verpflichtet, kann
dieſe Wirkung hinterher dadurch
entkräftet werden, daß die Sache
durch Zufall untergeht, indem nun
die Veräußerung keinen Unterſchied
mehr macht. L. 45 de verb. obl.
(45. 1).
(e) L. 5 de reb. cred. (12. 1).
Das dare oportere iſt, hier wie
in vielen anderen Stellen, die Be-
zeichnung der Condictionen und
zwar gerade der ſtrengeren Arten
derſelben, mit Ausſchluß der auf
dare facere oportere gerichteten
incerti condictio.
|0191 : 173|
§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
der geſtohlenen Sache erſetzen muß; denn gegen ihn geht
die auf dare oportere gerichtete condictio furtiva (f).
C. Bei dem Kaufcontract haftet gleifalls der Ver-
käufer für den zufälligen Untergang der verkauften Sache (g).
D. Dieſelbe Regel wird endlich auch bei Legaten
erwähnt, wenn dem Erben zur Zeit des zufälligen Unter-
gangs der Sache eine Mora zur Laſt fällt (h).
Es bedarf keines Beweiſes, daß in allen dieſen Fällen
der Schuldner um ſo mehr zur Entſchädigung verpflichtet
iſt, wenn der Untergang der ſtreitigen Sache durch ſeine
Culpa, nicht durch Zufall, bewirkt wird.
Als Grund dieſer ſtrengen, durch die Mora herbeige-
führten Verpflichtung wird in einer der angeführten Stellen
der Umſtand angegeben, daß durch die Mora (alſo durch
eine bewußte Rechtsverletzung) dem Berechtigten jede Mög-
lichkeit entzogen worden ſey, die Sache zu verkaufen,
wodurch er ſich gegen allen Verluſt geſchützt haben
würde (i).
Wenn nun dieſe ſtrenge Verpflichtung von der Mora
an behauptet werden muß, ſo wird dieſelbe in den meiſten
hierher gehörenden Fällen um ſo weniger bezweifelt werden
können, wenn es (ohne daß eine frühere Mora nachzuweiſen
iſt) in dem Rechtsſtreit zur Inſinuation der Klage, oder
(f) L. 20, L. 8 § 1 de cond.
furt. (13. 1), L. 9 C. de furtis
(6. 2).
(g) L. 4. 6 C. de peric. (4. 48).
(h) L. 39 § 1, L. 47 § 6, L. 108
§ 11 de leg. 1 (30), L. 23 de verb.
obl. (45. 1).
(i) L. 47 § 6 de leg. 1 (30).
|0192 : 174|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſogar zur L. C. gekommen iſt. Denn gerade in dieſen
Fällen, bei dem Rechtsſtreit über eine beſtimmte einzelne
Sache (bei welcher allein von dem Untergang die Rede iſt),
wird nicht leicht ein Rechtsſtreit anfangen, ohne daß der
Schuldner in einer Mora ſich befände. Beſonders wird
dieſes gelten bei der Stipulation, deren formelle Natur
meiſt allen Zweifel über das Daſeyn der Schuld aus-
ſchließen muß (k).
Dieſe Bemerkung iſt wichtig für die Erklärung einiger
anderen Stellen, in welchen leicht ein Widerſpruch gegen
die aufgeſtellte Regel angenommen werden könnte. In
dieſen Stellen nämlich wird geſagt, eine Verpflichtung
wegen des zufälligen Unterganges ſey vorhanden von der
L. C. an. Dieſes wird namentlich erwähnt bei der Sti-
pulation, dem Legat, dem Depoſitum, und der Obligation
aus einer in jure confessio (l).
Es liegt ſehr nahe, in dieſe Stellen ein argumentum
a contrario hineinzutragen, ſo daß der Sinn derſelben ſeyn
würde: nur von der L. C., und nicht ſchon von der
Mora an. Dadurch würden dieſe Stellen in einen unauf-
löslichen Widerſpruch mit den vorher angeführten zahl-
reichen Zeugniſſen treten, und es würde dieſer Widerſpruch
(k) In dieſer Bemerkung liegt
noch eine Beſtätigung der oben in
§ 264. d aufgeſtellten Erklärung
der L. 82 § 1 de verb. obl. (45. 1)
„Et hic moram videtur fecisse,
qui litigare maluit quam resti-
tuere,“ nach welcher dieſe (von
der Stipulation handelnde) Stelle
nicht von jeder Prozeßführung über-
haupt, ſondern nur von einer fri-
volen, böswilligen, zu verſtehen iſt.
(l) L. 8 de re jud. (42. 1),
L. 12 § 3 depos. (16. 3), L. 5
de confessis (42. 2).
|0193 : 175|
§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
als eine aus Verſehen in die Digeſten aufgenommene Con-
troverſe der alten Juriſten anzuſehen ſeyn. — Allein dieſe
Erklärung iſt ſchon deswegen entſchieden zu verwerfen,
weil derſelbe Pomponius in Einer Stelle die Mora, in
einer andern die L. C. als unzweifelhaften Grund jener
ſtrengen Verpflichtung bei der Stipulation angiebt (m).
Jene ſcheinbar widerſprechende Stellen ſind alſo dahin zu
vereinigen, daß die ſtrenge Verpflichtung von der Mora,
und wo dieſe zufällig fehlt, von dem Rechtsſtreit anfängt,
wobei nach den beſonderen Umſtänden des einzelnen Falles
gerade die L. C. der Zeitpunkt ſeyn kann, in welchem der
Richter die ſichere Annahme einer anfangenden Mora
zuläſſig findet (§ 264. g). Vielleicht waren auch einige
dieſer Äußerungen veranlaßt durch wirkliche Fälle, in
welchem der Untergang zufällig in die Zeit nach der L. C.
fiel, ſo daß ein Zurückgehen auf die frühere Zeit (von der
Mora an) ohne practiſche Erheblichkeit war.
Außerdem aber findet ſich noch die Erwähnung, daß
Sabinus und Caſſius jede Verpflichtung des Beklagten
wegen des zufälligen Unterganges für unbillig und ver-
werflich erklärten (n). Dieſe Erwähnung einer ſo ſtark
(m) L. 5 de reb. cred. (12. 1)
und L. 12 § 3 depos. (16. 3), beide
aus Pomponius lib. XXII. ad
Sabinum. Dabei iſt doch wohl
an eine Controverſe gar nicht zu
denken.
(n) L. 14 § 1 depos. (16. 3)
„… veluti si homo mortuus
fuerit, Sabinus et Cassius, ab-
solvi debere eum cum quo
actum est dixerunt: quia ae-
quum esset, naturalem interi-
tum ad actorem pertinere: uti-
que cum interitura esset ea
res, etsi restituta esset actori.“
Der letzte Satz der Stelle wird
unten berückſichtigt werden.
|0194 : 176|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
abweichenden Meinung hat nur eine hiſtoriſche Bedeutung,
wie denn ſelbſt der Juriſt bei dem ſie ſich findet, eine
eigene Beſtätigung derſelben nicht hinzufügt.
Ich habe abſichtlich die ſchwierigſte unter den hierher
gehörenden Stellen erſt zum Schluß erwähnen wollen, um
nicht das Ergebniß der ſicheren Zeugniſſe durch Einmiſchung
eines dunklen unnöthig zu verwirren und zu ſchwächen.
Dieſe von Ulpian herrührende Stelle hat folgenden
Inhalt (o). Wenn ein Sclave durch Drohungen dem
Eigenthümer abgenöthigt wird, ſo hat dieſer eine actio
quod metus causa auf Rückgabe des Sclaven. Stirbt nun
der Sclave durch Zufall, ſo kann das geſchehen entweder
nach dem rechtskräftigen Urtheil, oder vor demſelben. Im
erſten Fall, ſagt Ulpian, braucht der Beklagte Nichts
mehr zu bezahlen, weil er ſchon wegen der verweigerten
Natural-Reſtitution den dreifachen Werth als Strafe hat
entrichten müſſen, wodurch jede fernere Leiſtung abſorbirt
wird. Im zweiten Fall dagegen muß er den Werth des
zufällig verlornen Sclaven erſetzen (p). Dieſer zweite Fall
muß nun ſo gedacht werden, daß der Untergang des
Sclaven in die Zeit zwiſchen der L. C. und dem Urtheil
fiel (q), ſo daß dieſe Stelle in die Reihe der ſo eben ange-
(o) L. 14 § 11 quod metus
(4. 2).
(p) l. c. „si autem ante sen-
tentiam .. mortuus fuerit, te-
nebitur (nämlich auf einfachen
Schadenserſatz) … Itaque inter-
dum hominis mortui pretium
recipit.“
(q) Und zwar muß noch beſtimm-
ter angenommen werden, daß der
Tod auch vor dem Reſtitutions-
befehl des Judex Statt fand, ſonſt
|0195 : 177|
§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
führten Stellen gehört, nach welchen der zufällige Unter-
gang nach der L. C. zum Erſatz verpflichten ſoll (r).
Ulpian fügt hinzu, Daſſelbe müſſe auch gelten bei den
beiden Interdicten de vi und quod vi.
Wenn man übrigens die Wirkung der L. C. in der
hier dargeſtellten Weiſe auffaßt, ſo iſt es einleuchtend,
daß, bei dieſem Fall der ſtrengen Verpflichtung des Be-
klagten, die L. C. als ſolche (d. h. durch ihre obliga-
toriſche Kraft) eigentlich gar nicht für ein entſcheidendes
Moment angeſehen werden kann.
II. Bei den Klagen in rem finden ſich über die Ent-
ſchädigung wegen des zufälligen Untergangs folgende
Ausſprüche.
A. Eigenthumsklage.
Viele ältere Juriſten hatten behauptet, durch den zu-
fälligen Untergang der Sache, ſelbſt nach der L. C., werde
der Beklagte durchaus nicht zum Erſatz verpflichtet.
Ulpian berichtigt dieſe extreme Meinung auf folgende
Weiſe (s). Wenn der Untergang erfolge, nachdem ſchon
würde wegen des Ungehorſams die
Strafe des dreifachen Werthes ein-
getreten ſeyn, welche ſo wie in
dem erſten Fall den einfachen
Schadenserſatz abſorbirt hätte. Es
wäre nun eine eigentliche Mora
geweſen.
(r) Ich will es nicht für un-
möglich erklären, daß auch die
Analogie der Eigenthumsklage hier
vorgeſchwebt haben kann, indem
allerdings bei den drei hier ge-
nannten perſönlichen Klagen der
Beklagte auch als ein unredlicher
Beſitzer angeſehen werden kann,
und indem die Klage quod metus
eine in rem scripta iſt. — Ueber-
haupt mag es dahin geſtellt blei-
ben, ob das allerdings ſehr con-
fuſe Ausſehen dieſer Stelle dem
Verfaſſer zur Laſt fällt oder von
einer ungeſchickten Behandlung der
Compilatoren herrührt.
(s) L. 15 § 3 de rei vind. (6. 1).
VI. 12
|0196 : 178|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
der Judex das Recht des Klägers vorläufig anerkannt und
die Natural-Reſtitution anbefohlen hatte (welches vor dem
eigentlichen Urtheil geſchah § 221), ſo ſey der Beklagte
allerdings zum Erſatz verpflichtet, indem nun die verzögerte
Reſtitution eine wahre Mora enthalte, und daher die (oben
entwickelten) Grundſätze der Mora in Obligationen anwend-
bar ſeyen. Dies iſt der Sinn folgender Worte der ange-
führten Stelle:
„Si servus petitus, vel animal aliud demortuum sit
sine dolo malo et culpa possessoris, pretium non
esse praestandum plerique ajunt. Sed est verius,
si forte distracturus erat petitor si accepisset(t),
moram passo debere praestari(u): nam si ei resti-
tuisset, distraxisset, et pretium esset lucratus.“
(t) Dieſe Worte werden weiter
unten berückſichtigt werden.
(u) Die Mora in dieſer und
der gleich folgenden Stelle wer-
den gewöhnlich in dem allgemei-
nen Sinn aufgefaßt, als ob ſie
blos die in der Natur des Rechts-
ſtreits liegende Verzögerung be-
deuteten, alſo von Seiten des Be-
klagten die (an ſich nicht zu ta-
delnde) Prozeßführung anſtatt des
freiwilligen Nachgebens. Schon
an ſich iſt es unwahrſcheinlich,
daß ein ſo beſtimmter und wich-
tiger Kunſtausdruck in einer ſo
vagen Bedeutung, völlig verſchie-
den von dem wahren und techni-
ſchen Sinn, gebraucht ſeyn ſollte.
Seitdem wir aber die Natur der
arbiträren Klagen aus Gajus
kennen, kann es keinem Zweifel
unterliegen, daß die hier erwähnte
mora den Ungehorſam gegen den
Reſtitutionsbefehl des Judex be-
zeichnet, alſo daſſelbe, welches
anderwärts contumacia heißt.
L. 1. L. 2 § 1 de in litem jur.
(12. 3). Ohne Zweifel iſt in
dieſer Stelle von einem redlichen
Beſitzer die Rede. Die Mora iſt
hier übrigens im eigentlichſten
Sinn zu nehmen, und zwar auf
die Obligation in der L. C. zu
beziehen (§ 258. v). — Die rich-
tige Erklärung der mora in dieſen
Stellen hat Wetzell Vindications-
prozeß S. 179 — 181, der aber
außerdem die Stelle gezwungen
und unrichtig erklärt.
|0197 : 179|
§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
Eine Beſtätigung dieſes Ausſpruchs enthält auch die
Fortſetzung derſelben Stelle (v) in folgenden Worten:
„Idem Julianus eodem libro scribit, si moram fece-
rit in homine reddendo possessor et homo mortuus
sit, et fructuum rationem usque ad rei judicatae
tempus spectandam esse“(w).
Außerdem aber iſt, unabhängig von dieſer Mora und
ſchon vor derſelben, der Beklagte für den zufälligen Unter-
gang verhaftet, wenn er ein unredlicher Beſitzer iſt, und
der Untergang nach der L. C. erfolgt (x).
B. Erbrechtsklage.
Hier hatten die älteren Juriſten eine unbedingte Ver-
pflichtung des Beklagten wegen des nach der L. C. ein-
getretenen zufälligen Untergangs behauptet. Sie waren
dazu veranlaßt worden durch die zu abſolut gefaßten Aus-
drücke des Sc. Inventianum. Paulus berichtigt dieſe zu
weit gehende Behauptung durch die Unterſcheidung des
(v) L. 17 § 1 de rei vind.
(6. 1).
(w) Wenn ſogar dieſe ver-
ſäumten Früchte erſetzt werden
ſollen, ſo iſt gewiß vor Allem die
Entſchädigung für den Werth
des Sclaven ſelbſt als ein begrün-
deter Anſpruch des Klägers gedacht.
(x) Vgl. die ſogleich folgende
L. 40 pr. de her. pet. (5. 3), die
ausdrücklich auch von der Eigen-
thumsklage ſpricht. — Wenn übri-
gens Paulus in L. 16 pr. de
rei vind. (6. 1) ſagt: „non enim
post litem contestatam utique
et fatum possessor praestare
debet,“ ſo reiht er ſich damit
nicht etwa an die plerique an,
die Ulpian in L. 15 § 3 eod.
anführt und widerlegt; denn er
verneint hier nur die unbedingte
Erſatzverpflichtung, und dieſe ne-
gative Behauptung iſt eben ſo
vereinbar, mit der durch die
mora neu entſtehenden Verpflich-
tung (wie ſie Ulpian aufſtellt),
als mit der beſonderen Verpflich-
tung des unredlichen Beſitzers,
(wie ſie Paulus ſelbſt in L. 40
pr. de her. pet. anerkennt).
12*
|0198 : 180|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
redlichen und unredlichen Beſitzers. Gegen den unredlichen
Beſitzer ſey dieſe Strenge allerdings begründet, gegen den red-
lichen durchaus nicht. Er fügt hinzu, ganz Daſſelbe wie bei der
Erbrechtsklage, müſſe auch bei der Eigenthumsklage zur Anwen-
dung kommen. — Dies iſt der Sinn folgender Worte (y):
„quid enim, si post litem contestatam mancipia, aut
jumenta, aut pecora deperierint? damnari debebit
secundum verba orationis, quia potuit petitor, resti-
tuta hereditate distraxisse ea. Et hoc justum esse
in specialibus petitionibus Proculo placet. Cassius,
contra sensit. In praedonis persona Proculus recte
existimat: in bonae fidei possessoribus Cassius. Nec
enim debet possessor aut mortalitatem praestare, aut
propter metum hujus periculi temere indefensum
jus suum relinquere.“
Es hat jedoch keinen Zweifel, auf die Erbrechtsklage
auch den Fall der unbedingten Verpflichtung des Beklagten
anzuwenden, welcher oben bei der Eigenthumsklage in
Folge einer eigenthümlichen Art der Mora, nachgewieſen
(y) L. 40 pr. deher. pet. (5. 3).
Nach einer buchſtäblichen Inter-
pretation könnte man die Sache
ſo auffaſſen. Bei der Eigenthums-
klage werde in der That von Pau-
lus zwiſchen dem redlichen und
unredlichen Beſitzer unterſchieden.
Aber bei der Erbrechtsklage müſſe
die (obgleich harte) Vorſchrift
des Senatsſchluſſes auch für den
redlichen Beſitzer gelten. Offen-
bar will jedoch Paulus ſagen,
die Härte des Scts. gegen den
redlichen Beſitzer liege zwar in
den Worten, aber nicht in dem
Sinn deſſelben. In dieſer Hin-
ſicht will er beide Klagen völlig
gleich behandelt wiſſen. Die Rich-
tigkeit dieſer Erklärung geht aus
den Schlußworten unwiderſprech-
lich hervor, die ja auf beide Kla-
gen gleichmäßig paſſen.
|0199 : 181|
§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
worden iſt. Denn beide Klagen waren gleichmäßig arbi-
trariae, bei beiden kam eine vorläufige Anerkennung des
Rechts und ein Reſtitutionsbefehl des Judex vor, und bei
beiden mußte der Ungehorſam gegen dieſen Befehl gleich
ſtrenge Wirkungen hervorbringen.
Es ergiebt ſich aus dieſer Zuſammenſtellung, daß in
dieſen beiden Klagen die extremen Behauptungen der älteren
Juriſten ſpäterhin zu einer billigen Mitte, die eine von
Ulpian, die andere von Paulus, hingeführt worden ſind.
Zugleich geht aus der hier gegebenen Darſtellung für
die eigenthümliche Wirkung der L. C. als ſolcher Fol-
gendes hervor. In dem Fall der beſonderen Mora (des
Ungehorſams gegen den Reſtitutionsbefehl) iſt die L. C.
ſelbſt gar kein entſcheidendes Moment; ſie iſt nur mittel-
bar wichtig, indem gerade durch ihre vorhergehende Voll-
ziehung der nachher eintretende Ungehorſam die Natur
einer wahren Mora annimmt. Dagegen iſt im Fall des
unredlichen Beſitzes die L. C. als ſolche das Entſchei-
dende; dieſer Fall iſt daher der einzige überhaupt, von
welchem man behaupten kann, daß der Zeitpunkt der L. C.
die Verpflichtung des Beklagten für jeden nachher ein-
tretenden zufälligen Untergang beſtimmt.
C. Man kann dieſen Klagen in rem auch noch die
actio ad exhibendum hinzufügen, welche zwar eine per-
ſönliche Klage iſt, aber doch großentheils nach den Regeln
der Eigenthumsklage beurtheilt wird. Auch bei dieſer
Klage wird eine Verpflichtung des Beklagten wegen des
|0200 : 182|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
zufälligen Untergangs ausgeſprochen, jedoch ohne nähere
Angabe der Gränzen derſelben (z).
Fragen wir zuletzt, welche unter den bisher aufge-
ſtellten Regeln auch noch im heutigen Recht anwendbar
ſind, ſo kann die Antwort kaum zweifelhaft ſeyn. — Die
allgemeine Verpflichtung des im Zuſtand der Mora befind-
lichen Schuldners iſt unbedenklich anwendbar. Eben ſo
auch die Verbindlichkeit des unredlichen Beſitzers bei den
Klagen in rem von der L. C. an. Dagegen kann die
eigenthümliche Art der Mora bei der Eigenthumsklage und
der Erbrechtsklage bei uns nicht mehr vorkommen, da ſie
durch das ganz beſondere, für uns ſpurlos verſchwundene,
Prozeßverfahren bei den arbiträren Klagen des R. R.
bedingt iſt. Bei uns kann daher der Fall gar nicht mehr
eintreten, in welchem das R. R. den Beklagten wegen
einer ſolchen eigenthümlichen Mora, nämlich wegen des
Ungehorſams gegen den vor dem Urtheil erlaſſenen Reſti-
tutionsbefehl, den zufälligen Untergang zu vergüten ver-
pflichtete.
Das Preußiſche A. L. R. ſchließt ſich hier im Allge-
meinen dem R. R. an. Es verpflichtet zur Vergütung
(z) L. 12 § 4 ad exhib. (10. 4)
„interdum .. damnandus est.“
Mit dieſem Ausdruck wird auf
beſchränkende Bedingungen der Ver-
pflichtung hingedeutet, ohne dieſe
näher zu bezeichnen. Ohne Zwei-
fel ſind es dieſelben Bedingungen
wie bei der Eigenthumsklage:
alſo entweder der unredliche Beſitz
des Beklagten, oder deſſen Mora,
d. h. der Ungehorſam gegen den
Exhibitionsbefehl des Judex, in-
dem auch dieſe Klage unter die
arbiträren gehört.
|0201 : 183|
§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
des Zufalls nicht jeden Beklagten überhaupt, obgleich dem-
ſelben von der Inſinuation an ein fingirter unredlicher
Beſitz zugeſchrieben wird, ſondern nur allein den eigent-
lich unredlichen Beſitzer, alſo den, welcher wirklich
weiß, daß er mit Unrecht beſitzt (aa). Dieſelbe Verpflich-
tung aber trifft auch den Schuldner, der mit der Ueber-
gabe einer Sache im Verzug ſich befindet (bb). — Es
findet ſich hier zwiſchen beiden Rechten völlige Ueberein-
ſtimmung, nur unter verſchiedenen Ausdrücken, wie ſie
aus der Verſchiedenheit der allgemeinen Auffaſſung her-
vorgehen mußte.
§. 274.
Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der Ver-
urtheilung. — b) Verminderungen. (Fortſetzung.)
Ich wende mich jetzt zu der oben (§ 273) ausgeſetzten
Frage wegen der angeblichen Einſchränkungen der ſtrengen
Erſatzverbindlichkeit des Beklagten.
(aa) A. L. R., Th. 1 Tit. 7
§ 241. Der „eigentlich unred-
liche Beſitzer“ iſt hier allerdings
zunächſt geſagt im Gegenſatz des
unrechtfertigen (§ 240), der hierin
gelinder behandelt werden ſoll.
Wenn aber ſchon der unrechtfer-
tige, deſſen Bewußtſeyn doch immer
etwas fehlerhaft iſt, von dieſer
ſtrengen Verpflichtung frei ſeyn
ſoll, ſo muß dieſelbe Befreiung
um ſo mehr demjenigen gebühren,
dem blos die fingirte Unredlich-
keit wegen der Inſinuation (§ 222)
zugeſchrieben werden kann, und
deſſen Bewußtſeyn daneben viel-
leicht vollkommen tadellos iſt.
Inſofern bezeichnet das eigent-
lich auch (wenigſtens indirect)
einen Gegenſatz gegen den § 222. —
Von der Einſchränkung am Schluß
des § 241 wird im folgenden §
die Rede ſeyn.
(bb) A. L. R., Th. 1 Tit. 16
§ 18.
|0202 : 184|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
I. Die erſte dieſer Einſchränkungen wird darin geſetzt,
daß der Kläger die ſtreitige Sache, wenn ſie ihm zu rechter
Zeit gewährt worden wäre, verkauft und eben dadurch
jeden Schaden für ſein Vermögen abgewendet haben müßte.
Natürlich wird dabei hinzugedacht, daß der Kläger beweiſen
müſſe, er würde verkauft haben.
Betrachten wir zuerſt dieſe Frage im Allgemeinen, nach
der inneren Natur des Rechtsverhältniſſes, ſo muß uns
jene Behauptung ſehr bedenklich erſcheinen. Wer einem
Andern eine Sache zu geben ſchuldig iſt, und dieſes mit
wahrer Mora unterläßt, begeht dadurch ein Unrecht mit
Bewußtſeyn, welches unter andern die Folge hat, daß dem
Creditor einſtweilen der Verkauf der Sache unmöglich
gemacht wird (a). Für dieſen Nachtheil kann er dem
Gegner im Fall eines zufälligen Untergangs nur dadurch
wahren, vollſtändigen Erſatz leiſten, daß er ihm den Werth
der Sache bezahlt. Dabei erſcheint alſo die entzogene
Möglichkeit des Verkaufs als Motiv der ſtrengen Ver-
pflichtung. Durch die oben angegebene Behauptung ſoll
nun dieſes Motiv in eine Bedingung verwandelt werden,
ſo daß der Kläger nur dann einen Erſatz fordern könnte,
wenn er bewieſe, daß er von jener Möglichkeit Gebrauch
gemacht, alſo in der That verkauft haben würde. Dadurch
wird aber die ganze Regel ſo gut als völlig entkräftet.
(a) Nämlich factiſch unmöglich
faſt immer, ſo lange der Beſitz
(vielleicht auch das zu verſchaffende
Eigenthum) dem Kläger entzogen
iſt; zuweilen auch juriſtiſch un-
möglich, während des Rechtsſtreits,
wegen der Vorſchriften über das
litigiosum.
|0203 : 185|
§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
Denn der Beweis, daß der Kläger unter einer gewiſſen
(jetzt fehlenden) Vorausſetzung Etwas gethan haben würde,
iſt ſchon an ſich als eigentlicher Beweis unmöglich, ſo daß
Diejenigen, die ihn dennoch fordern, anſtatt des Beweiſes
eine gewiſſe factiſche Wahrſcheinlichkeit anzunehmen ge-
nöthigt ſeyn werden, die doch in der That kein Beweis
iſt (b). Beſonders einleuchtend iſt Dieſes gerade in dem
vorliegenden Fall, indem ſelbſt derjenige, der zu einem
Verkauf entſchiedene Neigung hätte, einen Käufer nicht
wird ſuchen und finden können, ſo lange ihm der Beſitz
der Sache (bei perſönlichen Klagen auf Tradition ſogar
das Eigenthum) fehlt. Nach dieſer allgemeinen Betrachtung
müſſen wir alſo den für den Kläger verhinderten Verkauf
als Motiv der ganzen Rechtsregel, nicht als Bedingung
ihrer Anwendung, betrachten.
Sehen wir nun zu, in welcher Weiſe das R. R. dieſe
Frage auffaßt.
A. Für den Fall der Mora bei den perſönlichen Klagen
ſagen die meiſten unter den zahlreichen Stellen des R. R.
hierüber gar Nichts. Sie ſprechen die unbedingte
Verpflichtung des Beklagten zum Erſatz für den zufälligen
Untergang aus, ohne irgend eine Ausnahme, ohne Erwäh-
nung eines dem Kläger verhinderten Verkaufs.
(b) Allerdings giebt es Fälle,
worin es factiſch größere Wahr-
ſcheinlichkeit hat, daß der Kläger
verkauft haben würde: namentlich
wenn der Kläger Kaufmann iſt,
und Waaren einklagt, die zu ſei-
nem Handelsgeſchäft gehören. Aber
auch in dieſem Fall bleibt es noch
ungewiß, ob er vor dem eingetre-
tenen Untergang Käufer zu den
von ihm geſtellten Preiſen gefunden
hätte.
|0204 : 186|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Eine einzige unter dieſen zahlreichen Stellen, die von
Ulpian herrührt, erwähnt den Verkauf, und zwar in
folgenden Worten (c):
„Item si fundus chasmate periit, Labeo ait, utique
aestimationem non deberi: quod ita verum est, si
non post moram id evenerit: potuit enim eum ac-
ceptum legatarius vendere.“
Hier iſt die Sache genau ſo aufgefaßt, wie ich ſie ſo
eben nach allgemeiner Betrachtung zu begründen geſucht habe.
Die Verpflichtung zum Erſatz, von der Zeit der Mora an,
wird unbedingt ausgeſprochen. Als Motiv der Verpflichtung
wird die bloße Möglichkeit des Verkaufs angegeben; nicht
aber wird die hypothetiſche Wirklichkeit des Verkaufs in
eine Bedingung verwandelt, ohne deren Beweis die Ver-
pflichtung nicht gelten ſollte.
Allerdings kann außer der ſo eben angeführten Stelle
des Ulpian auch noch die ſchon oben angeführte, ſehr ver-
worrene, Stelle deſſelben Juriſten über die actio quod metus
causa in Betracht kommen, die von einer perſönlichen Klage,
und in derſelben von den Wirkungen der Mora, oder der
die Mora vertretenden L. C. ſpricht (d). Allein dieſe
Stelle iſt durch die zweideutige Unbeſtimmtheit ihres Aus-
drucks für die vorliegende Streitfrage ganz unentſcheidend.
Sie lautet ſo:
(c) L. 47 § 6 de leg. 1 (30)
aus Ulpianus lib. XXII. ad Sa-
binum.
(d) L. 14 § 11 quod metus
(4. 2). Vgl. oben § 273.
|0205 : 187|
§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
„Itaque interdum hominis mortui pretium recipit, qui
eum venditurus fuit, si vim passus non esset.“
Das qui kann hier ſprachlich eben ſowohl den Sinn
von quia, als von si haben. Es kann alſo heißen: „weil
er ihn vielleicht verkauft haben wird,“ als „wenn er ihn
etwa verkauft haben wird.“ Die Stelle beweiſt alſo Nichts,
weil ſie für beide Meinungen ausgelegt werden kann. Am
wenigſten beweiſt ſie für die Annahme der Bedingung,
weil derſelbe Ulpian in der unmittelbar vorher angeführten
Stelle den Verkauf nicht als Bedingung, ſondern als
Motiv aufgefaßt hat, welche Auffaſſung alſo auch in der
gegenwärtig vorliegenden Stelle bei ihm für den Fall der
Mora (oder L. C.) in perſönlichen Klagen vorauszuſetzen iſt.
B. Genau auf dieſelbe Weiſe wird von Paulus bei
den Klagen auf Erbrecht oder Eigenthum die Verpflichtung
des unredlichen Beſitzers von der L. C. an behandelt (e):
„post acceptum judicium . . . . damnari debebit se-
cundum verba orationis, quia potuit petitor, restituta
hereditate, distraxisse ea. Et hoc justum esse in
specialibus petitionibus Proculo placet … In prae-
donis persona Proculus recte existimat.“
Auch hier wieder iſt die vorausgeſetzte allgemeine
Möglichkeit des Verkaufs als Motiv einer unbedingten
Verpflichtung ausgedrückt, und es iſt daraus nicht eine
einſchränkende Bedingung für den Fall eines wirklichen
Verkaufs gemacht.
(e) L. 40 pr. de her. pet. (5. 3). Vgl. § 273.
|0206 : 188|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
C. Bei den Klagen in rem, in welchen die ſtrenge Ver-
pflichtung des Beklagten durch die dieſen Klagen eigen-
thümliche Art der Mora (den Ungehorſam gegen den
Reſtitutionsbefehl) begründet wird, drückt ſich Ulpian ſo
aus (f):
„Sed est verius, si forte distracturus erat petitor
si accepisset, moram passo debere praestari: nam si
ei restituisset, distraxisset, et pretium esset lucratus.“
Hier iſt allerdings ein Ausdruck gebraucht, der ein
Bedingungsverhältniß bezeichnet. Wollten wir nun deshalb
einen Widerſpruch mit den vorhergehenden Stellen an-
nehmen, ſo würde Dieſes dadurch ſehr bedenklich werden,
daß eine dieſer Stellen gleichfalls von Ulpian herrührt.
Wollten wir, um dieſem Widerſpruch zu entgehen, an-
nehmen, es habe hierin bei der Mora in den Klagen in rem
ein anderes Recht gegolten, als bei der Mora in Obliga-
tionen und bei dem unredlichen Beſitzer, ſo würde dieſe
Vorausſetzung kleinlich und unwahrſcheinlich ſeyn.
Dieſen Schwierigkeiten können wir jedoch durch folgende
Erklärung der zuletzt angeführten Stelle entgehen, die
zugleich eine vermittelnde Natur für die ganze hier vor-
liegende Controverſe hat. Si forte distracturus erat heißt
wörtlich: „wenn es als eine Möglichkeit erſcheint, daß er
verkauft hätte“ (alſo forte für: möglicherweiſe). Geſetzt
nun, der Beklagte könnte in einem einzelnen Fall den
(f) L. 15 § 3 de rei vind. (6. 1) aus Ulpianus lib. XVI. ad ed.
Vgl. § 273.
|0207 : 189|
§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
Beweis führen, daß der Kläger gewiß nicht verkauft
haben würde, ſo wäre durch dieſen Beweis (der freilich
nur höchſt ſelten zu führen ſeyn wird und darum practiſch
ziemlich unerheblich iſt) die Möglichkeit des Verkaufs
ausgeſchloſſen, worauf doch die ganze Verpflichtung beruhen
ſoll. Dieſe Einſchränkung könnte dann ohne Gefahr auch
in die anderen Fälle hinein getragen werden, in welchen
die Möglichkeit nur als Motiv, nicht als Bedingung aus-
gedrückt iſt. Daß ſie bei dieſen Fällen nicht erwähnt wird,
erklärt ſich befriedigend aus der ſchon erwähnten ſeltenen
Anwendbarkeit. Aus demſelben Umſtand erklärt es ſich auch,
daß ſo viele Stellen über die Mora in Obligationen die
Verpflichtung des Schuldners zur Vergütung des zufälligen
Untergangs unbedingt ausſprechen, dadurch alſo gar keinen
Raum für irgend eine Art der Einſchränkung zu laſſen
ſcheinen. — Zugleich würde dieſe Erklärung auch auf die
ſchwierige Stelle des Ulpian über die actio quod metus
causa (Note d) Anwendung finden, und jeden Schein eines
Widerſpruchs derſelben mit den übrigen Stellen beſeitigen. —
Ein Beiſpiel des (immerhin höchſt ſeltenen) Beweiſes des
Beklagten wäre etwa Folgendes. Ein Lehn- oder Fidei-
commißgut oder auch ein fundus dotalis wird gegen einen
unredlichen Beſitzer vindicirt. Ein Blitzſtrahl (alſo der
Zufall) verzehrt die Gebäude durch Feuer. Hier läßt ſich
die Möglichkeit des Verkaufs durch die unveräußerliche Natur
des Grundſtücks widerlegen. Aber ſelbſt ohne die Vor-
ausſetzung eines aus Rechtsgründen unveräußerlichen Ge-
|0208 : 190|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
genſtandes läßt ſich der Beweis der unmöglichen Veräußerung
denken; wenn z. B. der Kläger in der ganzen Zeit, worin
die Mora oder der unredliche Beſitz des Beklagten beſtand,
in weiter Entfernung von der Heimath gelebt hat, ohne
einen Bevollmächtigten zurück zu laſſen, der in ſeinem
Namen den Verkauf hätte vornehmen können.
Nimmt man dieſe Erklärung an, ſo würde ſich für alle
Fälle der ſtrengen Verpflichtung die Sache ſo ſtellen. Die
Verpflichtung wäre in ſofern unbedingt, daß der Kläger,
um ſie geltend zu machen, niemals einen beſonderen Beweis
zu führen hätte. Grund der Verpflichtung wäre die dem
Berechtigten entzogene Möglichkeit die ſtreitige Sache vorher
zu verkaufen, und dadurch jeden Schaden von ſeinem Ver-
mögen abzuwenden. Dieſe Möglichkeit verſteht ſich im
Allgemeinen von ſelbſt, und nur in den ſeltenen Fällen,
worin der Beklagte beweiſt, daß die Möglichkeit nicht
vorhanden war, fällt auch die durch ſie begründete Ver-
pflichtung zur Entſchädigung hinweg.
II. Die zweite Einſchränkung hat den Sinn, daß
der zufällige Untergang nicht zum Erſatz verpflichten ſoll,
wenn er auch den Kläger als Beſitzer getroffen haben
würde, ſondern nur dann, wenn er eine Folge des unrecht-
mäßigen Beſitzes des Beklagten war (g).
(g) Wenn ein Grundſtück durch
einen Erdſturz untergeht (Note c),
ſo iſt Dieſes ein Ereigniß, welches
ohne Unterſchied des Beſitzers ein-
getreten wäre; eben ſo wenn ein
Gebäude durch einen Blitzſtrahl
eingeäſchert wird. Wenn dagegen
eine eingeklagte bewegliche Sache
mit dem ganzen Hauſe des Be-
klagten verbrennt, ſo iſt dieſer Unter-
|0209 : 191|
§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
Betrachten wir auch dieſe Einſchränkung zuerſt im All-
gemeinen, nach der Natur des vorliegenden Rechtsverhält-
niſſes. Eine ſcheinbare Rechtfertigung derſelben liegt in
dem Umſtand, daß in dem erſten der beiden angegebenen
Fälle der Kläger durch den vorenthaltenen Beſitz keinen
bleibenden Nachtheil erlitten zu haben ſcheint, indem ſein
Vermögen nach eingetretenem Untergang denſelben Umfang
haben würde, der Beſitz möchte ihm vorenthalten worden
ſeyn oder nicht.
Allein dieſer Schein verſchwindet, wenn man die er-
wähnte Einſchränkung mit der ſo eben verſuchten Erörterung
der erſten Einſchränkung zuſammenhält. Denn auch wenn
der Untergang ſo allgemeiner Natur iſt, daß er überall
Statt gefunden haben würde, ſo iſt doch nicht die Mög-
lichkeit abzuleugnen, daß der Kläger hätte rechtzeitig ver-
kaufen und dadurch von ſeinem Vermögen allen Verluſt
abwenden können. Gerade auf dieſer entzogenen Möglich-
keit aber beruht, wie oben gezeigt worden iſt, die ſtrenge
Verpflichtung des Beklagten überhaupt.
Fragen wir jetzt, was in den Quellen des R. R.
über dieſe zweite Einſchränkung vorkommt.
Alle klare und entſcheidende Stellen, welche oben für
die Feſtſtellung der ſtrengen Regel ſelbſt benutzt worden
ſind, ſchweigen darüber gänzlich. Wenn alſo in vielen
gang der ſtreitigen Sache eine Folge
davon, daß eben dieſer Beklagte ſie
beſaß. — Allerdings werden aber
auch in dieſer Hinſicht viele Fälle
unentſchieden in der Mitte liegen
bleiben.
|0210 : 192|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Stellen unbedingt ausgeſprochen wird, daß bei der Stipu-
lation der Schuldner durch die Mora verpflichtet werde,
den zufälligen Untergang der verſprochenen Sache zu ver-
güten, ohne irgend eine Erwähnung jener Einſchränkung,
ſo würden wir durch Annahme der Einſchränkung wenig-
ſtens mit dieſen Stellen in entſchiedenen Widerſpruch
treten, und es würde ſehr klarer, unzweideutiger Zeugniſſe
bedürfen, wenn wir auch nur zu einem Zweifel, und zu
dem Verſuch einer Vereinigung der ſcheinbar widerſprechen-
den Stellen veranlaßt werden ſollten. Ganz eben ſo ver-
hält es ſich mit der ſtrengen Verpflichtung des unredlichen
Beſitzers, ſo wie mit der eigenthümlichen Art der Mora
bei den Klagen in rem.
Was wir nun in der That über jene angebliche Ein-
ſchränkung im R. R. finden, läßt ſich auf folgende Äuße-
rungen zurück führen.
A. Bei der actio ad exhibendum iſt ſchon oben der
Satz vorgetragen worden, daß der zufällige Untergang der
Sache nach der L. C. den Beklagten zuweilen zur Ent-
ſchädigung verpflichte, welches ſo zu verſtehen iſt, daß die
ſtrenge Verpflichtung unter denſelben Bedingungen ein-
treten ſoll, wie bei der Eigenthumsklage (§ 273. z).
Dieſem Ausſpruch fügt Paulus folgende Worte hinzu (h):
„Tanto magis, si apparebit, eo casu mortuum esse,
qui non incidisset, si tum exhibitus fuisset.“
In dieſen Worten liegt Nichts als eine beſondere Be-
(h) L. 12 § 4 ad exhib. (10. 4).
|0211 : 193|
§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ)
kräftigung des Ausſpruchs für den hier bezeichneten Fall:
es liegt aber darin keinesweges die Erklärung, daß das
Gegentheil gelten ſolle, wenn der Untergang auf andere
Weiſe erfolgt ſey. Eine Einſchränkung der ſtrengen Ver-
pflichtung liegt in dieſen Worten durchaus nicht.
B. Bei der actio depositi war von Sabinus und
Caſſius jede Verpflichtung des Depoſitars zum Erſatz
des zufälligen Untergangs ſchlechthin verneint worden,
welche Meinung von Gajus blos hiſtoriſch, ohne Billi-
gung, erwähnt wird, und auch von den ſpäteren Juriſten,
ſo wie ſpäterhin in der Compilation, verworfen worden iſt
(§ 273. n). Dieſe verworfene ältere Meinung bekommt
am Schluß der Stelle noch folgenden Zuſatz (i):
„utique, cum interitura esset ea res, etsi restituta
esset actori.“
Dieſe Worte laſſen eine doppelte Auslegung zu. Sie
können heißen: die Verneinung ſey beſonders außer Zwei-
fel in dieſem Fall (obgleich ſie auch außerdem wahr und
richtig ſey). Sie können aber auch ſo verſtanden werden:
die Verneinung ſey nur in dieſem Fall ſchlechthin wahr
(anſtatt daß in anderen Fällen etwa noch Ausnahmen zu-
gelaſſen werden könnten). Für das in der Compilation
anerkannte, geltende Recht ſind dieſe Worte in jedem Fall
ganz gleichgültig, da ſie ſich blos auf eine verworfene
ältere Meinung beziehen: nach der einen Erklärung als
(i) L. 12 § 4 depos. (16. 3).
VI. 13
|0212 : 194|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Bekräftigung dieſer Meinung, nach der anderen als Ein-
ſchränkung derſelben.
C. Endlich bleibt noch die öfter erwähnte ſehr ver-
worrene Stelle des Ulpian über die actio quod metus
causa übrig (k). Darin wird geſagt, bei dem zufälligen
Untergang während des Rechtsſtreits ſey der Beklagte zum
Erſatz verpflichtet:
„si tamen peritura res non fuit, si metum non ad-
hibuisset, tenebitur reus“(l).
In dieſen Worten ſcheint allerdings, nach einem ſehr
nahe liegenden argumentum a contrario, für den entgegen-
geſetzten Fall (wenn die Sache in jedem Fall untergegangen
wäre, z. B. bei dem natürlichen Tode des Sclaven vor
Alter) jede ſtrenge Verpflichtung des Beklagten verneint zu
werden, und Dieſes iſt in der That die einzige ſcheinbare
Stütze der hier bekämpften Meinung. Es ſcheint mir je-
doch aus folgenden Gründen durchaus unzuläſſig, den ſo
(k) L. 14 § 11 quod metus
(4. 2). Vgl. oben § 273.
(l) Vollſtändig lautet der hier-
her gehörende Theil der Stelle ſo:
Nachdem zuerſt geſagt war, für
einen Sclaven, der ohne Schuld
des Beklagten entlaufen ſey, habe
der Beklagte blos Caution zu
ſtellen, fährt Ulpian fort: „Sed
et si non culpa ejus cum quo
agetur obierit, si tamen per-
itura res non fuit, si metum
non adhibuisset tenebitur reus.“
Die hier curſiv gedruckten Worte
ſind aus Haloander genommen, und
geben folgenden Sinn. Vorher
war die Rede geweſen von dem
entlaufenen Sclaven („Ergo
si in fuga sit servus sine dolo
malo et culpa ejus cum quo
agetur, cavendum esse“ rel). —
Dagegen bildet den Gegenſatz der
Fall des verſtorbenen Sclaven
(„Sed et si … obierit“). — Die
Leſeart der Florentina und der
Vulgata: „Sed et si non culpa
ab eo cum quo agetur aberit“
giebt durchaus keinen erträglichen
Sinn.
|0213 : 195|
§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
eben mitgetheilten Ausſpruch dieſer Stelle zum Grunde einer
allgemeinen Regel zu legen, und daraus für alle Klagen
überhaupt eine ſolche Einſchränkung der ſtrengen Verpflich-
tung des Beklagten zu conſtruiren. Die entſcheidendſten und
unzweifelhafteſten Stellen über dieſe ſtrenge Verpflichtung, ſo-
wohl bei den wichtigſten obligatoriſchen Verträgen, als
bei den Klagen auf Eigenthum und Erbrecht, ſtellen die
ſtrenge Verpflichtung unbedingt, ohne eine ſolche Ein-
ſchränkung, auf, ſtehen alſo mit derſelben in Widerſpruch.
Die Einſchränkung müßte in dieſelben aus der ange-
führten Stelle erſt hinein getragen werden, und dazu iſt
dieſe Stelle keinesweges geeignet. Der verworrene Inhalt
derſelben iſt ſchon oben bemerklich gemacht worden. Be-
ſonders von dem hier einſchlagenden Stück läßt ſich
zwar einigermaßen errathen und vermuthen, in welchen
beſonderen Fall, in welchen Theil des Prozeſſes es
eingreifen möge, eine ſichere Behauptung iſt darüber
nicht möglich. Dazu kommt noch, daß dieſe ganze Stelle
von der actio quod metus causa handelt, einer für den
Zuſammenhang des ganzen Rechtsſyſtems wenig erheb-
lichen Klage. Eine bei dieſer gelegentlich eingeſtreute Be-
merkung darf nicht maaßgebend gemacht werden für den
ganzen Umkreis aller Klagen überhaupt. Ein ſolches Ver-
fahren würde den richtigen Grundſätzen über den Aufbau
des Rechtsſyſtems aus den Quellenzeugniſſen, alſo dem
wahren Verhältniß zwiſchen Syſtem und Exegeſe, gänzlich
widerſprechen.
13*
|0214 : 196|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Erwägt man nun das oben erörterte Verhältniß beider
Einſchränkungen zu einander, ſo ergiebt ſich daraus das
folgende practiſche Reſultat.
1. Wenn die Urſache des Untergangs mit dem unrecht-
mäßigen Beſitz des Beklagten dergeſtalt zuſammenhängt,
daß ohne dieſen Beſitz der Untergang ſelbſt gar nicht
erfolgt wäre, ſo iſt unbedingt Entſchädigung zu leiſten,
und es kommt in dieſem Fall nicht darauf an, ob der
Kläger die Sache hätte verkaufen können (m).
2. Im entgegengeſetzten Fall iſt zwar auch in der Regel
Entſchädigung zu leiſten, jedoch nur weil es dem
Kläger möglich geweſen wäre, durch rechtzeitigen Ver-
kauf den Verluſt von ſich abzuwenden. Eben deshalb
fällt die Entſchädigung hinweg, wenn der Beklagte
beweiſt, daß ein Verkauf gewiß nicht Statt gefunden
hätte.
Nimmt man dieſes Verhältniß zwiſchen beiden Sätzen
an, ſo erſcheint dann das, welches als eine zweite Ein-
ſchränkung oben aufgefaßt und geprüft wurde, vielmehr als
eine Ausnahme der erſten, nunmehr einzigen, Ein-
ſchränkung der ſtrengen Verpflichtung des Beklagten.
Beide Sätze laſſen ſich alsdann in die gemeinſame Formel
zuſammen faſſen, deren Natürlichkeit und Billigkeit nicht zu
verkennen iſt:
die ſtrenge Verbindlichkeit des Beklagten zum Erſatz
(m) Die erläuternden Beiſpiele für dieſen und den folgenden Fall
ſind aus der Note g zu entnehmen.
|0215 : 197|
§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)
für den zufälligen Untergang leidet alsdann eine Aus-
nahme, wenn der Kläger, ſelbſt im Fall des ihm recht-
zeitig eingeräumten Beſitzes der ſtreitigen Sache, nicht
im Stande geweſen wäre, den Verluſt von ſich ab-
zuwenden.
Dieſe Auffaſſung der Sache ſtimmt mit der ſchwierigen
Stelle des Ulpian über die actio quod metus causa
inſofern überein, als auch in dieſer Stelle beide Sätze
neben einander genannt werden. Ich will keinesweges
behaupten, daß in derſelben gerade dasjenige logiſche
Verhältniß beider Sätze zu einander ausgeſprochen ſey,
welches ich hier angenommen habe. Aber ich muß auch
ſehr bezweifeln, daß es jemals gelingen werde, in jener
Stelle irgend eine andere practiſche Bedeutung der beiden
Sätze klar und ſicher nachzuweiſen.
Das Preußiſche A. L. R. behandelt dieſen Gegenſtand
in folgender Weiſe.
Die Möglichkeit des Verkaufs von Seiten des Klägers,
wodurch Dieſer jeden Schaden von ſeinem Vermögen hätte
abwenden können, wird hier ganz mit Stillſchweigen über-
gangen. Dagegen wird die andere Frage aufgefaßt, ob
der Zufall die Sache im Beſitze des Eigenthümers ebenfalls
würde getroffen haben; dieſer Umſtand ſoll die Vergütung
ausſchließen. In einem älteren Entwurf war Dieſes in
der Art beſtimmt worden, daß der Kläger beweiſen ſolle,
ihn würde der Zufall nicht betroffen haben. Späterhin iſt
|0216 : 198|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
es dahin abgeändert worden, daß der Beklagte die
Thatſache zu beweiſen hat, wovon ſeine Befreiung ab-
hängt (n).
Es gilt jedoch eine Ausnahme dieſer Ausnahme, alſo
die unbedingte Nothwendigkeit der Vergütung, wenn der
unredliche Beſitz des Beklagten durch eine ſtrafbare
Handlung erworben wurde (o), womit hauptſächlich der
Diebſtahl gemeint iſt.
§. 275.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —
b. Verminderungen. Zeitpunkt der Schätzung.
In den Fällen, worin der Beklagte eine Verminderung
in dem Gegenſtande des Rechtsſtreits zu vergüten hat
(§ 272 — 274), iſt ſtets eine Schätzung in Gelde erforder-
lich. Dieſelbe iſt nöthig bei jeder objectiven Verminderung,
ohne Unterſchied ob dieſe in einer totalen oder partiellen
Zerſtörung des Gegenſtandes, oder in dem (der Zerſtörung
gleich wirkenden) Verluſt des Beſitzes beſteht. Wie, auch
ohne objective Verminderung, die bloße Veränderung des
Preiſes zu behandeln iſt (§ 272), wird am Schluſſe unter-
ſucht werden. Ich beſchränke mich zunächſt noch auf den
Fall der objectiven Verminderung, und will jetzt verſuchen,
(n) A. L. R., Th. 1 Tit. 7 § 241.
Vgl. Simon Zeitſchrift B. 3
S. 328. 329.
(o) A. L. R., Th. 1 Tit. 7 § 242.
Vgl. Simon S. 332 Num. 12
(Bemerkung von Suarez).
|0217 : 199|
§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.
den Zeitpunkt feſtzuſtellen, für welchen die Schätzung des
zu vergütenden Werthes vorzunehmen iſt.
Die Frage nach dieſem Zeitpunkt hatte für das mittlere
R. R. eine viel ausgedehntere Anwendung und Wichtigkeit
als für das älteſte, ſo wie für das Juſtinianiſche und heu-
tige Recht. Da nämlich in der Zeit des Formularprozeſſes
alle Verurtheilung nur auf baares Geld gerichtet werden
durfte (a), ſo war damals eine Schätzung in Geld auch
da nöthig, wo der urſprüngliche Gegenſtand des Rechts-
ſtreits gar keine Verminderung erlitten hatte; im Juſtinia-
niſchen und heutigen Recht dagegen, ſo wie in der älteſten
Zeit, iſt die Schätzung nur im Fall einer ſolchen Vermin-
derung erforderlich, weil außerdem das Urtheil auf den ur-
ſprünglichen Gegenſtand ſelbſt unmittelbar gerichtet wird.
Ich will eine Ueberſicht der für den Zeitpunkt der
Schätzung geltenden Regeln voraus ſchicken; dadurch wird
es leichter werden, die nicht geringen Schwierigkeiten zu
überwinden, die mit der Begründung jener Regeln durch
die Ausſprüche unſrer Rechtsquellen verbunden ſind.
Der Regel nach iſt zu unterſcheiden zwiſchen den ſtren-
gen und freien Klagen. Bei den ſtrengen richtet ſich die
Schätzung nach der Zeit der L. C., bei den freien nach der
Zeit des rechtskräftigen Urtheils.
Zwei Ausnahmen ſind auf beide Regeln anzuwenden.
Wenn durch Vertrag eine beſtimmte Zeit der Erfüllung
für eine Obligation vorgeſchrieben war, ſo iſt dieſe Zeit
(a) Gajus IV. § 48.
|0218 : 200|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
auch für die Schätzung maaßgebend. — Wenn ſich der
Schuldner in Mora befindet, ſo hat der Gläubiger die
Wahl, ob die Schätzung nach den oben angegebenen regel-
mäßigen Zeitpunkten, oder vielmehr nach dem Anfangspunkt
der Mora, vorgenommen werden ſoll; natürlich wird er
den Zeitpunkt wählen, der auf die höhere Summe führt.
In einem einzelnen Fall (bei dem Diebſtahl) kommt ſogar eine
noch ſtrengere Behandlung des Schuldners zur Anwendung.
Alle dieſe Regeln gelten jedoch nur für die perſönlichen
Klagen aus Rechtsgeſchäften (Verträgen und Quaſicontrac-
ten), ſo wie für die Klagen in rem; für die perſönlichen
Klagen aus Delicten ſind andere Regeln anzuwenden, in-
dem ſich bei ihnen die Schätzung mehr an die Zeit des
begangenen Delicts anſchließt.
Die hier zuſammengeſtellten Vorſchriften ſollen nunmehr
im Einzelnen dargeſtellt, und zugleich durch quellenmäßige
Zeugniſſe begründet werden.
Für die als Regel an die Spitze geſtellte Unterſcheidung
der ſtrengen und freien Klagen findet ſich eine ſo klare und
principielle Entſcheidung in folgender Stelle des Ulpian (b),
wie ſie in vielen anderen Rechtslehren nicht anzutreffen iſt,
wo eine ſolche vielmehr erſt aus der Beurtheilung einzelner
Rechtsverhältniſſe abſtrahirt werden muß:
„In hac actione, sicut in ceteris bonae fidei judiciis,
(b) L. 3 § 2 commod. (13. 6)
aus Ulpianus lib. XXVIII. ad ed.
Die Stelle ſpricht zunächſt vom
Commodat, knüpft aber daran ei-
nen durchgreifenden allgemeinen
Grundſatz.
|0219 : 201|
§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.
similiter in litem jurabitur: et rei judicandae(c)
tempus quanti res sit, observatur: quamvis in stricti
juris judiciis(d)litis contestatae tempus spectetur.“
Ehe ich andere, beſtätigende Stellen hinzu füge, will
ich an dieſe Hauptſtelle noch einige allgemeine Bemerkungen
anknüpfen.
a) Die für die bonae fidei judicia aufgeſtellte Regel
wird hier offenbar als die billigere, der neueren Rechts-
entwicklung angemeſſene, betrachtet. Daher würde es
ganz unrichtig ſeyn, ſie als ein Privilegium der dieſen
beſonderen Namen (bonae fidei) führenden Klagen anzu-
ſehen. Sie iſt vielmehr unbedenklich auch anzuwenden auf
die Klagen in rem, ſo wie auf die prätoriſchen und die
extraordinären Klagen, alſo auf die freien Klagen überhaupt.
Dieſes iſt beſonders einleuchtend für diejenigen freien
Klagen, welche zugleich arbitrariae ſind, weil bei dieſen
durch eine beſondere Anſtalt auf die freiwillige Erfüllung
vor dem Urtheil hingewirkt wird; dieſe Einrichtung würde
mit einer Schätzung nach der Zeit der L. C. ganz im
Widerſpruch ſtehen.
b) Das ganze Rechtsinſtitut der L. C. dient im
Allgemeinen dazu, den Vortheil des Klägers zu befördern
(§ 260. No. II.): Sehen wir zu, inwiefern dieſe allgemeine
(c) Die Vulgata lieſt judica-
tae; beide Leſearten ſind gleich
annehmbar.
(d) Über dieſe Leſeart vgl. oben
B. 5 S. 462. Dieſelbe gehört
der Vulgata an; die Florentina
lieſt blos: in stricti mit allzu har-
ter Auslaſſung der Worte: juris
judiciis. Der Sinn iſt in beiden
Leſearten nicht verſchieden.
|0220 : 202|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Richtung bei der Anwendung unſrer Regel feſt gehalten
wird, oder welches der Grund einer Abweichung ſeyn mag.
Nehmen wir an, daß bei einer ſtrengen Klage die
Preiſe von der Zeit der L. C. an ſtets ſinkend geweſen
ſind, ſo wird jener Zweck unmittelbar erreicht; der Kläger
erhält nun wirklich den höheren Preis, den er zur Zeit der
L. C. erwarten konnte, und er wird gegen den Verluſt ge-
ſchützt, den er durch die Dauer des Rechtsſtreits erlitten
haben würde. Nehmen wir umgekehrt ſteigende Preiſe an,
ſo entgeht allerdings dem Kläger der Gewinn, den er aus
dem Steigen hätte ziehen können; allein der Zweck iſt auch
überhaupt nicht die Zuwendung eines Gewinnes, ſondern
nur die Abwendung des eben erwähnten Schadens.
Bei den freien Klagen wird im Fall ſinkender Preiſe
der Verluſt des Klägers, der aus der Dauer des Rechts-
ſtreits hervorgeht, nicht abgewendet. Man kann dieſe
Abweichung von dem Grundſatz der ſtrengen Klagen und
von deſſen Folgen aus der Rückſicht erklären, daß dem Be-
klagten nicht die aus redlichem Bewußtſeyn hervorgehende
Vertheidigung ſeiner Anſprüche durch eine Art von Straf-
drohung erſchwert werden ſollte (e). Dieſe Auffaſſung
wird unterſtützt durch den Grundſatz der Sabinianer:
omnia judicia esse absolutoria (f), d. h. das freiwillige
(e) L. 40 pr. de her. pet. (5. 3).
„Nec enim debet possessor …
indefensum jus suum relin-
quere“ (ſ. o. S. 180). Der ſin-
kende Preis iſt analog dem zufäl-
ligen Untergang der Sache.
(f) Gajus IV. § 114.
|0221 : 203|
§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.
Nachgeben ſollte ſtets, und während der ganzen Dauer des
Rechtsſtreits, die Freiſprechung bewirken. In dieſem
Grundſatz lag gewiſſermaßen die Beförderung der frei-
willigen Erfüllung durch eine Art von Prämium, welche
Beförderung bei den arbiträren Klagen ohnehin noch durch
deren beſondere Einrichtung unterſtützt wurde (g).
Wir finden alſo hier einen Conflict zwiſchen zwei ver-
ſchiedenen Zwecken und Principien, die auf entgegengeſetzte
Folgen hinführten. Dem in den freien Klagen befolgten
Princip aber wurde bei fortgehender Rechtsentwicklung der
überwiegende Werth zugeſchrieben. — Im heutigen Recht
kann ohnehin nur noch von dieſem Princip die Rede ſeyn.
c) So verſchieden auch die beiden, für zwei Arten der
Klagen aufgeſtellten, Regeln ſeyn mögen, ſo bilden ſie doch
einen gemeinſamen Gegenſatz gegen eine andere, gleichfalls
denkbare, Beſtimmung, die alſo durch ſie gleichmäßig ver-
neint werden ſoll. Dieſes iſt der Anfang der Obliga-
tion, nach deſſen Zeitpunkt auch wohl die Schätzung
verſucht werden könnte (h). Der Hauptgedanke iſt alſo dieſer:
es ſoll die Schätzung nicht nach dem Zeitpunkt der ent-
(g) Wenn die ſtreitige Sache
noch vorhanden war, ſo konnte
ohnehin auch bei den ſtrengen Kla-
gen der Beklagte durch Anwendung
dieſes Grundſatzes jeden Verluſt
von ſich abwenden. Der Verluſt
trat alſo nur dann ein, wenn ent-
weder der Beklagte Dieſes hart-
näckig unterließ, oder die Sache
nicht mehr vorhanden war.
(h) Dieſer Zeitpunkt iſt bei den
Delictsklagen wirklich berück-
ſichtigt worden, wie unten gezeigt
werden wird. Hier iſt nur von
den perſönlichen Klagen aus Rechts-
geſchäften, und von Klagen in rem
die Rede.
|0222 : 204|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſtandenen Obligation vorgenommen werden, ſondern viel-
mehr — nach der Zeit des Rechtsſtreits, wobei ſich
nun die untergeordnete Differenz zeigt, daß in den ſtrengen
Klagen nach der Zeit der L. C., in den freien nach der Zeit
des Urtheils, geſchätzt wird. Die Rechtfertigung jenes
Gedankens liegt aber darin, daß es dem Gläubiger ſelbſt
eine Zeit lang gleichgültig oder ſelbſt vortheilhaft ſcheinen
kann, die Erfüllung einſtweilen nicht zu verlangen, daß es
aber ſtets in ſeiner Macht ſteht, die Klage anzuſtellen, und
dadurch unter andern auch die Schätzungszeit zu fixiren.
d) Dieſe letzte Bemerkung iſt nicht unwichtig, indem ſie
einen natürlichen Anknüpfungspunkt darbietet zur Erklärung
und Begründung der oben angegebenen zwei Ausnahmen. —
Wenn nämlich in dem Vertrag die Zeit der Erfüllung be-
ſonders beſtimmt iſt, ſo liegt darin zugleich die vorbedachte
Anerkennung des Zeitpunktes, in welchem die Erfüllung
von dem Gläubiger erwartet wird und für ihn Werth hat,
wodurch alſo der oben angegebene Zuſtand des unbeſtimmten
Willens des Gläubigers ausgeſchloſſen iſt. Daſſelbe gilt
von dem Fall der Mora; denn wenn der Kläger, auch nur
außergerichtlich, zur Erfüllung auffordert, ſo fixirt er da-
durch gleichfalls den Zeitpunkt der Schätzung, indem außer-
dem der Schuldner von ſeiner rechtswidrigen Zögerung
Vortheil ziehen würde.
e) Die hier aufgeſtellten Anſichten und Rechtsregeln
haben auch in dem Römiſchen Formelweſen ihren gegen-
ſätzlichen Ausdruck gefunden, welches ſich theils beſtimmt
|0223 : 205|
§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.
nachweiſen, theils ſehr wahrſcheinlich machen läßt. Der
Ort der Formel, an welchem der Prätor über die Zeit der
Schätzung eine Anweiſung zu geben hatte, war unſtreitig
die Condemnatio, und hier mußte die Anweiſung anders
gefaßt werden, je nachdem man die Schätzung in die Ver-
gangenheit ſetzen wollte (die Zeit der entſtandenen
Obligation), oder in die Gegenwart (Zeit der L. C.),
oder in die Zukunft (Zeit des Urtheils). Für dieſe ver-
ſchiedene Möglichkeiten boten ſich folgende Ausdrücke dar:
quanti res fuit,
quanti res est,
quanti res erit
condemna.
Der erſte dieſer Ausdrücke iſt auch wirklich gebraucht
worden bei einer Delictsklage, der actio legis Aquiliae, in
welcher der Werth zur Zeit des begangenen Delicts maaß-
gebend ſeyn ſollte, nur noch mit einer gewiſſen Ausdehnung
zum Nachtheil des Schuldners, und als Strafe für den-
ſelben (i).
(i) L. 2 pr. ad L. Aqu. (9. 2)
„quanti id in eo anno plurimi
fuit, tantum aes domino dare
damnas esto.“ — L. 27 § 5 eod.
„quanti ea res fuit in diebus
triginta proximis, tantum aes
domino dare damnas esto.“
In beiden Fällen ſollte von der
Zeit des (in der Vergangenheit
liegenden) Delicts zurück gerech-
net werden. — Allerdings lieſt in
der zweiten angeführten Stelle ſo-
wohl die Florentina, als die Vul-
gata: erit anſtatt fuit. Nur Ha-
loander hat fuit. Allein die Rich-
tigkeit dieſer letzteren Leſeart wird
ganz außer Zweifel geſetzt durch
die gleich nachfolgenden Worte
Ulpians aus dem Commentar
zu dieſer Geſetzesſtelle: „haec
verba: quanti in triginta die-
bus proximis fuit“ rel. (L. 29
§ 7 eod., eben ſo wie die vorige
Stelle aus Ulpianus lib. XVIII.
ad ed.)
|0224 : 206|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Der dritte Ausdruck wurde auch wirklich gebraucht bei
den freien Klagen, von welchen wir aus unſrer Regel
ohnehin wiſſen, daß bei ihnen die Schätzung auf die Zeit
des Urtheils gerichtet werden ſollte (k).
Erwägt man dieſe erweislich gebrauchten Ausdrücke, ſo
wird man kaum zweifelhaft darüber ſeyn können, daß der
in der Mitte liegende zweite Ausdruck (quanti res est)
bei den ſtrengen Klagen angewendet wurde; denn für dieſe
wurde nach unſrer ſicheren Regel die Schätzung auf die
Zeit der L. C. gerichtet, welche für den die Formel feſt-
ſtellenden Prätor die Gegenwart war. Für dieſe letzte Be-
hauptung kann ich allerdings ein beweiſendes Zeugniß nicht
vorbringen, welches jedoch blos aus der großen Armuth an
aufbewahrten wirklichen Formeln überhaupt herrührt. Jeder
andere Ausdruck würde an dieſer Stelle faſt unmöglich
ſeyn, da er einen entſchieden falſchen, unſrer ſicheren Regel
widerſprechenden, Gedanken enthalten müßte.
Ich will jetzt noch einige andere Stellen angeben, worin
die von Ulpian aufgeſtellte Regel über die Schätzungszeit
in einzelnen Anwendungen beſtätigt wird. — Mit dieſen
aber ſollen zugleich die Zeugniſſe für die erſte Ausnahme
jener Regeln (im Fall der vorbeſtimmten Zeit der Erfüllung)
(k) Gajus IV. § 47 bei der
actio depositi in factum con-
cepta: „quanti ea res erit,
tantam pecuniam … condem-
nato.“ — Gajus IV. § 51 bei
der Eigenthumsklage und der actio
ad exhibendum: „quanti ea
res erit, tantam pecuniam …
condemna.“
|0225 : 207|
§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.
zuſammengefaßt werden, weil in der That mehrere Stellen
die Regel und dieſe erſte Ausnahme neben einander aus-
ſprechen:
1. Bei der Stipulation einer beſtimmten Sache ſpricht
Africanus die Regel in folgenden Worten aus (l):
„Aliter in stipulatione servatur: nam tunc id
tempus spectatur, quo agitur.“
2. Bei der Stipulation auf Wein und andere Quantitäten
hat Gajus die Regel und die erſte Ausnahme, mit
dem Zuſatz, daß Daſſelbe auch bei allen anderen
Sachen gelte (m):
„Si merx aliqua, quae certo die dari debebat,
petita sit, veluti vinum, oleum, frumentum, tanti
litem aestimandam Cassius ait, quanti fuisset eo
die, quo dari debuit: si de die nihil convenit,
quanti tunc cum judicium acciperetur … Quod
et de ceteris rebus juris est.“
3. Bei einem Darlehen auf Wein drückt Julian die
Regel und die erwähnte Ausnahme aus, mit aus-
drücklicher Verneinung der Zeit des Contracts, ſo wie
des Urtheils (n):
„Vinum quod mutuum datum erat, per judicem
petitum est: quaesitum est, cujus temporis aesti-
matio fieret: utrum cum datum esset, an cum
(l) L. 37 mandati (17. 1).
(m) L. 4 de cond. tritic. (13. 3).
(n) L. 22 de reb. cred. (12. 1).
Die kleine Lücke in der Florenti-
niſchen Handſchrift kann keinen
Zweifel erregen.
|0226 : 208|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
litem contestatus fuisset, an cum res judicaretur?
Sabinus respondit, si dictum esset, quo tempore
redderetur, quanti tunc fuisset: si non, quanti
tunc cum petitum esset.“
4. Die Ausnahme allein, bei einer Stipulation in diem
oder sub conditione, wird anerkannt von Julian und
von Celſus (o).
Nachdem ſowohl die Regel, als die erſte Ausnahme
(die vertragsmäßig beſtimmte Erfüllungszeit betreffend)
dargeſtellt worden iſt, bleibt noch die Unterſuchung der
zweiten Ausnahme übrig, welche ſich auf den Fall
der Mora des Schuldners (p) bezieht. Daß überhaupt eine
ſolche Ausnahme gilt, und daß ſie auf eine nachtheiligere
Behandlung des Schuldners, in Vergleichung mit der
außerdem geltenden Regel, gerichtet iſt, darüber iſt kein
Streit. Der Nachtheil ſoll überhaupt unſtreitig darin be-
ſtehen, daß der Gläubiger zwiſchen verſchiedenen Zeitpunkten
für die Schätzung die Wahl haben, d. h. den vortheilhafteſten
Zeitpunkt zu wählen berechtigt ſeyn ſoll. Welches aber die
verſchiedenen, zur Auswahl ſtehenden, Zeitpunkte ſind,
darüber haben ſich zwei Meinungen gebildet. — Nach der
(o) L. 59 de verb. obl. (45. 1),
L. 11 de re jud. (42. 1).
(p) Ich ſpreche hier blos von
dieſer, welche allein von practiſcher
Erheblichkeit iſt. Für die Mora
des Gläubigers (im Abnehmen der
Sache) gilt aber dieſelbe Ausnahme
wie für die des Schuldners, näm-
lich daß ihm ſeine Mora keinen
Vortheil bringen ſoll, d. h. daß
der Gegner zwiſchen zwei Zeit-
punkten der Schätzung die Wahl
hat. Nur ſind hierüber die Stel-
len weniger klar und entſcheidend.
L. 37 mand. (17. 1), L. 3 § 4
de act. emt. (19. 1).
|0227 : 209|
§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.
einen Meinung ſoll der Gläubiger die Wahl haben zwiſchen
dem Zeitpunkt der Mora, und demjenigen Zeitpunkt welcher
ohne Mora nach der allgemeinen Regel gelten würde. Nur
in dem einzigen Fall, wenn mit der condictio furtiva gegen
den Dieb geklagt wird, ſoll dieſe Ausnahme noch dadurch
geſchärft werden, daß der höchſte Werth der ganzen
Zwiſchenzeit (nicht blos der unter jenen zwei einzelnen
Zeitpunkten) vergütet werden ſoll (q). — Die zweite Meinung
geht dahin, die ſo eben bei dem Diebe erwähnte ſtrengere
Behandlung bei jeder Mora allgemein eintreten zu laſſen,
ſo daß in jedem Fall der Mora der Schuldner den höchſten
Werth bezahlen müßte, welchen die Sache in der ganzen
Zwiſchenzeit jemals erreicht hat (r).
Ich nehme die erſte Meinung, welche zwiſchen dem
Diebe und den übrigen Schuldnern unterſcheidet, als richtig
an, und gründe dieſelbe zunächſt auf folgende einzelne
Zeugniſſe.
I. Von dem Fall der Mora im Allgemeinen han-
deln dieſe Stellen:
1. L. 3 § 3 de act. emti (19. 1):
„Si per venditorem vini mora fuerit, quo minus tra-
(q) Donelli Comm. in var. tit.
Dig. Antverp. 1582. f. Lib. 12 T. 1
L. 22 N. 26 p. 157. — Schulting
theses contr. Th. 37 N. 8 (Com-
ment. ac. T. 3 p. 118). — Madai
Mora § 48, der gleichfalls zwiſchen
dem Diebe und anderen Schuldnern
unterſcheidet, außerdem aber manches
Unrichtige beimiſcht.
(r) Huber praelect. Pand.
XIII. 3. § 7—11. — Glück B. 13
§ 844. — Thibaut § 99 ed. 8,
und Braun zu Thibaut § 103.—
Puchta Pandekten § 268 Note f.
— Buchka Einfluß des Prozeſſes
S. 187 — 198.
VI. 14
|0228 : 210|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
deret, condemnari eum oportet, utro tempore pluris
vinum fuit, vel quo venit(s), vel quo lis in con-
demnationem deducitur(t): item quo loco pluris fuit,
vel quo venit, vel ubi agatur.“
In dieſer Stelle iſt augenſcheinlich nur von der Wahl
zwiſchen zwei einzelnen Zeitpunkten die Rede, durchaus
nicht von den in die Zwiſchenzeit fallenden Veränderungen.
Dafür ſpricht auch die völlige Gleichſtellung der Zeit mit
dem Orte, indem bei dieſem letzten offenbar nur die Wahl
zwiſchen zwei einzelnen Orten in Frage kam, nicht auch
die zwiſchen allen in der Mitte liegenden Orten.
2. L. 21 § 3 de act. emti (19. 1):
„Cum per venditorem steterit quo minus rem tradat
… nec major fit obligatio, quod tardius agitur,
quamvis crescat si vinum hodie pluris sit: merito:
quia sive datum esset, haberem emptor, sive non:
quoniam saltem hodie dandum est, quod iam olim
dari oportuit.“
(s) Dabei wird ſtillſchweigend
vorausgeſetzt, daß die Ablieferung
auf der Stelle gefordert worden
ſey, die Zeit des Contracts alſo
mit der Mora zuſammenfalle.
Sonſt würde die Mora als gleich-
gültig gedacht werden müſſen,
welches gewiß nicht die Meinung
des Pomponius iſt, der ja
gleich in den Anfangsworten die
Mora als Bedingung der nach-
folgenden Ausſprüche angiebt.
(t) Lis in condemnationem
deducitur heißt: der bisher ge-
führte Rechtsſtreit wird zur
Condemnation gebracht; es iſt eine
Umſchreibung der Zeit des Urtheils.
— Res in judicium, oder auch
in intentionem condemnatio-
nemve deducitur (L. 2 pr. de
exc.) heißt: Das Rechtsver-
hältniß wird gerichtlich anhän-
gig gemacht, in einen Rechtsſtreit
verwandelt; es iſt eine Umſchrei-
bung der L. C.
|0229 : 211|
§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.
Auch in dieſer Stelle iſt keine Rede von den ſchwan-
kenden Preiſen der Zwiſchenzeit; es wird nur verglichen
der Preis zur Zeit der Mora, mit dem Preiſe welcher ho-
die ſtattfindet; d. h. zur Zeit des Urtheils, für deſſen
richtigen Inhalt ja eben hier eine Anweiſung gegeben wer-
den ſoll.
3. L. 37 mandati (17. 1):
„Aliter in stipulatione servatur: nam tunc id tempus
spectatur, quo agitur: nisi forte aut per promissorem
steterit, quo minus sua die solveret, aut per credi-
torem, quo minus acciperet: etenim neutri eorum
frustratio sua prodesse debet.“
Der Zweck der ganzen Ausnahme wird hier richtig
darin geſetzt, daß dem Schuldner ſeine rechtswidrige Ver-
zögerung keinen Vortheil bringen dürfe; dieſer Zweck aber
wird vollſtändig erreicht durch die Wahl des Klägers
zwiſchen den zwei angegebenen Zeitpunkten, auf welche
allein auch in der angegebenen Stelle hingedeutet wird.
4. L. 3 de cont. tritic. (13. 3) (u).
II. Die Mora bei dem Diebe wird in folgender
Stelle behandelt (v):
(u) Dieſe wichtige Stelle wird
erſt in dem folgenden §. erklärt,
und dann auch für den gegenwär-
tigen Zweck benutzt werden.
(v) L. 8 § 1 de cond. furt.
(13. 1) von Ulpian. — Eben ſo
bei der actio rerum amotarum
nach folgender Stelle, die zugleich
den im Text aufgeſtellten Satz
ſelbſt beſtätigt. L. 29 rer. amot.
(25. 2) von Tryphonin: „Rerum
amotarum aestimatio ad tem-
pus quo amotae sunt referri
debet: nam veritate furtum fit,
etsi lenius coercetur mulier …
sed si pluris factae (res) non
14*
|0230 : 212|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
„Si ex causa furtiva res condicatur, cujus temporis
aestimatio fiat, quaeritur. Placet tamen, id tempus
spectandum, quo res unquam plurimi fuit: maxime,
cum deteriorem rem factam fur dando non liberatur:
semper enim moram fur facere videtur.“
Ich füge dieſen einzelnen Stellen noch eine allgemeine
Betrachtung hinzu. Diejenigen, welche die für den Dieb
vorgeſchriebene ſtrengſte Behandlung auf alle Fälle der
Mora anwenden wollen, gehen dabei von der Anſicht aus,
daß der Kläger, wenn er die Sache zur rechten Zeit bekom-
men hätte, den Augenblick des höchſten Preiſes der Zwiſchen-
zeit zum Verkauf hätte benutzen können; wie verſchiedene
Wendungen auch für dieſe Anſicht in neuerer Zeit verſucht
worden ſind. Allein die Vorausſetzung, daß er dieſen
Vortheil wirklich benutzt haben würde, iſt ſehr willkührlich
und unwahrſcheinlich; gewiß ungleich unwahrſcheinlicher,
restituuntur, quae amotae sunt,
crescit aestimatio, ut in con-
dictione furtivae rei.“ — Be-
denklich iſt folgende, auch von Ul-
pian herrührende Stelle: L. 2
§ 3 de priv. del. (47. 1). Es
wird aus Pomponius angeführt,
durch die cond. furtiva werde die
a. L. Aquiliae wegen derſelben
Sache nicht ausgeſchloſſen: „nam-
que Aquilia eam aestimationem
complectitur, quanti eo anno
plurimi fuit: condictio autem
ex causa furtiva non egreditur
retrorsum judicii accipiendi
tempus.“ Daß hier die Zurück-
rechnung verneint wird, iſt unbe-
denklich; daß aber die Schätzung
auf die Zeit der L. C., (anſtatt des
Verbrechens) geſtellt wird, wider-
ſpricht geradezu den übrigen Stel-
len, ſowohl über die Condiction
als über die furti actio. Wahr-
ſcheinlich iſt dieſe Angabe blos ein
Stück der aus Pomponius an-
geführten Meinung, welches Ul-
pian mit aufnimmt, ohne es ge-
rade zu billigen. Es muß dann
hierüber eine Controverſe beſtanden
haben, wohin auch das Placet in
L. 8 § 1 de cond. furt. zu deuten
ſcheint.
|0231 : 213|
§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.
als die oben erwähnte Annahme, daß er überhaupt verkauft
haben könnte (S. 184. 190). Für den gerechten Anſpruch
des Klägers iſt genug gethan, wenn demſelben zwiſchen zwei
Zeitpunkten die Wahl gelaſſen wird, insbeſondere da es ja
immer von ſeinem freien Entſchluß abhängt, die Klage zu
der Zeit anzuſtellen, worin er es gerade am vortheilhafteſten
findet.
Dagegen hat die hier vertheidigte Unterſcheidung zwiſchen
dem Diebe und allen übrigen Schuldnern folgenden inneren
Grund. Der Dieb iſt ſo zu betrachten, als ob er in jedem
Augenblick ſeinen Diebſtahl wiederholte. Dies iſt nicht ſo
zu verſtehen, als ob die gegen ihn geltenden Klagen ins
Unendliche vervielfältigt, und dadurch zu einem völlig
ſchrankenloſen Ertrag gebracht werden dürften, welches
widerſinnig ſeyn würde. Es hat vielmehr den Sinn, daß
er in jedem Augenblick denſelben (nicht einen neuen) Dieb-
ſtahl wirklich begeht, ſo daß der Beſtohlene völlig in ſeinem
Rechte iſt, wenn er ſich den vortheilhafteſten Zeitpunkt
ausſucht, um zu behaupten, daß der Diebſtahl gerade damals
begangen worden ſey. Dies iſt der wahre Sinn der ſo
eben mitgetheilten Worte: semper enim moram fur facere
videtur. Dieſe Worte ſollen eine eigenthümliche Verpflich-
tung des Diebes bemerklich machen. Deswegen dürfen ſie
nicht verſtanden werden von der ſtetigen Fortdauer und
Wirkſamkeit der Mora überhaupt; denn dieſe Natur hat
die Mora auch bei allen übrigen Schuldnern. Sie bekommt
ihre wahre Bedeutung durch die eben gegebene Erklärung,
|0232 : 214|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
deren Richtigkeit ſogleich noch durch eine Stelle über die
Delictsklage aus dem Diebſtahl (die actio furti) außer
Zweifel geſetzt werden wird. — Ein rein practiſcher Grund
der härteren Behandlung des Diebes, gerade in der hier
vorliegenden Beziehung, liegt auch noch darin, daß meiſt
der Beſtohlene den Dieb lange Zeit nicht kennt, die An-
ſtellung der Klage alſo nicht ſo, wie bei anderen Klagen,
in ſeiner Macht ſteht. Derſelbe Grund hat auch veranlaßt,
daß in dieſem Fall die Mora ohne Interpellation ent-
ſtehen ſoll.
Die ganze bisherige Unterſuchung beſchränkte ſich auf
die perſönlichen Klagen aus Rechtsgeſchäften und die Klagen
in rem. Es bleibt nur noch übrig, mit wenigen Worten
von der Schätzungszeit bei den Delictsklagen zu ſprechen.
Hier iſt als feſter Zeitpunkt, von welchem ausgegangen
werden muß, nicht der Rechtsſtreit (wie bei den bisher
betrachteten Klagen), ſondern vielmehr die begangene
That zu betrachten, jedoch mit einigen Modificationen zum
Nachtheil des Schuldners. Wir finden hierüber folgende
Zeugniſſe:
A. Bei der actio L. Aquiliae richtet ſich die Schätzung
nach der Zeit der begangenen That, jedoch ſo, daß dabei
zugleich der höchſte Werth innerhalb eines gewiſſen rück-
wärts liegenden Zeitraums berückſichtigt wird (w).
(w) L. 21 § 1 ad L. Aquil. (9. 2).
|0233 : 215|
§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.
B. Bei der actio furti wird gleichfalls der Zeitpunkt
der begangenen That zum Grunde der Schätzung gelegt (x).
Wenn jedoch in der nachfolgenden Zeit die Sache einen
höheren Werth bekommt, ſo muß dieſer höhere Werth zum
Grund gelegt werden, da auch in dieſer ſpäteren Zeit der
Diebſtahl wirklich begangen worden iſt (y):
„… Idemque etsi nunc deterior sit, aestimatione
relata in id tempus, quo furtum factum est. Quod
si pretiosior facta sit, ejus duplum, quanti tunc cum
pretiosior facta sit, fuerit, aestimabitur: quia et
tunc furtum ejus factum esse verius est.“
In dieſen letzten Worten iſt die vollſtändige Beſtäti-
gung der vorher für die Mora bei der condictio furtiva
aufgeſtellten Behauptung unverkennbar enthalten.
Wenn wir zum Schluß erwägen, in wiefern die hier
über die Schätzungszeit aufgeſtellten Regeln auch noch im
heutigen Recht anwendbar ſind, ſo können wir über fol-
gende Annahme kaum zweifelhaft ſeyn. Zwei Regeln ſind
es, welche ihre practiſche Bedeutung für uns verloren
haben: die eigenthümliche Behandlung der ſtrengen Klagen,
weil wir ſolche nicht mehr haben; imgleichen die für die
Delictsklagen aufgeſtellten Regeln, weil auch dieſe für uns
verſchwunden ſind. Alles Übrige, alſo der bei weitem
größte Theil der über die Schätzungszeit aufgeſtellten Re-
(x) L. 9 de in litem jur.
(12. 3).
(y) L. 50 pr. de furtis (47. 2).
|0234 : 216|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
geln, iſt für uns völlig eben ſo anwendbar, wie er es im
R. R. war.
§. 276.
Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —
b) Verminderungen. Zeitpunkt der Schätzung. L. 3
de cond. tritic.
In der eben angeſtellten Unterſuchung über den Zeit-
punkt der Schätzung (§ 275) waren zwar einzelne Fragen
vielfach beſtritten worden; die Hauptpunkte aber ſchienen
feſt und gewiß, welches namentlich von der allgemeinſten
Regel behauptet werden mußte, nach welcher für die
ſtrengen Klagen die L. C., für die freien Klagen das Ur-
theil, den Zeitpunkt der Schätzung beſtimmen ſollte. Über
dieſe Hauptregel war ein ſo klarer, unzweideutiger Aus-
ſpruch vorhanden (§ 275. b), daß daneben für keinen
möglichen Zweifel Raum übrig zu bleiben ſchien.
Dieſe beruhigende Sicherheit aber wird ſehr erſchüt-
tert durch eine Stelle des Ulpian, welche für den dem
alten, ſtrengen Recht angehörenden Theil jener Regel,
worin am wenigſten Zweifel zu erwarten waren, gerade
das Gegentheil zu ſagen ſcheint. Die Stelle fängt näm-
lich an mit folgenden Worten (a):
„In hac actione si quaeratur, res quae petita est
cujus temporis aestimationem recipiat, verius est,
quod Servius ait, condemnationis tempus spectandum.“
(a) L. 3 de cond. trit. (13. 3) aus Ulpianus lib. XXVII. ad ed.
|0235 : 217|
§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.
Es iſt hier von keiner anderen Klage die Rede, als
von der condictio triticaria, d. h. von einer ſtrengen Klage,
womit irgend etwas Anderes als eine beſtimmte Geldſumme
gefordert wird (b); ohne Zweifel wird dabei eine Stipu-
lation als Grund der Klage vorausgeſetzt. — Daß aber
in der That an keine andere als dieſe Klage gedacht
werden kann, folgt nicht etwa blos aus dem Digeſtentitel,
in welchen die Stelle aufgenommen iſt (denn Dieſes
könnte auf einem Verſehen der Compilatoren beruhen),
ſondern auch aus dem Umſtand, daß die Stelle demſelben
Theil eines Werks des Ulpian angehört, wie eine andere
Stelle, die unmittelbar vorher ausführlich von jener Klage
handelt (Note a. b).
Von dieſer Condiction nun ſagt hier Ulpian, es müſſe
die Schätzung auf die Zeit der Condemnation gerichtet
werden, alſo auf die Zeit des Urtheils, nicht wie man
erwarten mußte, auf die Zeit der L. C.
Dieſer ſchneidende und unerwartete Widerſpruch hat
von jeher die größten Bemühungen zur Beſeitigung des-
ſelben hervorgerufen; die meiſten derſelben ſind aber ſo
willkührlich und bodenlos, daß es kaum begreiflich iſt, wie
man ſich damit hat begnügen können.
So iſt behauptet worden, die condictio triticaria ſey
gar nicht stricti juris, ſondern bonae fidei, und ſie gehöre
(b) L. 1 pr. de cond. trit.
(13. 3), welche aus demſelben Buch
des Ulpian ad ed. genommen
iſt, wie die L. 3 cit. — Vgl. oben
B. 5 S. 622. 626.
|0236 : 218|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
dem jus gentium an (c): eine Behauptung, die ſelbſt vor
der Entdeckung des Gajus völlig unerlaubt war.
Andere haben geſagt, die verſchiedene Schätzungszeit
richte ſich gar nicht nach dem Unterſchied der ſtrengen und
freien Klagen, ſondern nach dem Gegenſtand der Obli-
gation; bei Quantitäten ſoll nach der Zeit der L. C. ge-
ſchätzt werden, bei individuellen Sachen nach der Zeit des
Urtheils (d). Dabei wird die Hauptſtelle des Ulpian,
welche die allgemeinſte Regel in klarem, unzweideutigem
Ausſpruch enthält (§ 275. b) durch willkührliche Behand-
lung in den Hintergrund gedrängt, beſonders aber wird
die Stelle des Gajus (§ 275. m) ohne die ihr gebührende
Beachtung gelaſſen, welche zuerſt von der Condiction auf
Quantitäten ſagt, daß nach der Zeit der L. C. geſchätzt
werden müſſe, und dann die entſcheidenden Worte hinzu-
fügt: quod et de ceteris rebus juris est (e).
(c) Cocceji jus controv. XIII.
3 qu. 2 mit der Anmerkung von
Emminghaus. Hier kamen die
wunderlichſten und bodenloſeſten
Anſichten über die Claſſification
der Klagen vor.
(d) Dieſe ſchwer zu begreifende
Meinung findet ſich bei Donellus,
der ſich an mehreren ſeiner Schrif-
ten ſehr weitläufig mit dieſer
Stelle beſchäftigt hat. Donelli
comm. in var. tit. Dig. Ant-
verp. 1582. f, und zwar Lib. 12
T. 1 L. 22 N. 5. 19. 21 — 26,
und Lib. 13 T. 3 L. 3 N. 12.
13. 25. Von der erſten dieſer zwei
Stellen wird ſogleich erwähnt
werden, welche Merkwürdigkeit ſie
außerdem darbietet.
(e) Es wird überhaupt bei den
Erklärungsverſuchen zu dieſer Stelle
recht anſchaulich, wie im R. R.
aller Erfolg der Quellenforſchung
davon abhängt, die vorzugsweiſe
entſcheidenden Stellen heraus zu
finden, an die Spitze zu ſtellen,
und feſtzuhalten, dabei aber mit
völliger Unbefangenheit zu ver-
fahren, anſtatt daß die Meiſten,
in ſchwierigen Fällen wie der vor-
liegende, vorgefaßte Theorieen fer-
tig mitbringen, und dieſen die
Quellenzeugniſſe gut oder ſchlecht
anzupaſſen ſuchen.
|0237 : 219|
§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.
Andere haben das Daſeyn einer Mora, welches augen-
ſcheinlich erſt in dem Fortgang der Stelle mit in die Be-
trachtung gezogen wird, und dann zu ganz anderen Re-
geln führt, mit in dieſen erſten Satz herein gezogen, und
dadurch den inneren Zuſammenhang der Stelle gänzlich
zerſtört (f).
Neuerlich iſt der Verſuch gemacht worden, der Stelle
durch Emendation des Textes zu helfen (g). Es ſoll ge-
leſen werden: contestationis, anſtatt condemnationis, wo-
durch die oben aufgeſtellte Hauptregel auch in unſrer
Stelle eine einfache Beſtätigung erhielte. Allein erſtens
fehlt es an jeder Erklärung, wie in alle Handſchriften ohne
Ausnahme die Veränderung jenes Wortes gekommen ſeyn
ſollte, ohne auch nur in kleinen Abweichungen der Hand-
ſchriften irgend eine Spur zu hinterlaſſen; ein Bedenken,
das durch die geringe Zahl der zu verändernden Buchſtaben
nicht gehoben wird. Zweitens kommt contestatio allein,
ohne den Zuſatz von litis oder judicii, in dieſer Bedeutung
anderwärts nicht vor (§ 257. f).
Man könnte auch noch den Verſuch machen, den
ſcheinbaren oder wirklichen Widerſpruch daraus zu erklä-
ren, daß eine Controverſe einzelner Juriſten, oder eine
Aenderung des älteren R. R. durch das neuere, ange-
nommen würde. Allein jeder Verſuch ſolcher Art muß
(f) Cujacius in L. 59 de verb.
oblig. — Glück B. 13 § 844
S. 271 — 300. — Liebe Stipu-
lation S. 54. 55.
(g) Huſchke in der Zeitſchrift
von Linde B. 20 S. 267.
|0238 : 220|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſogleich aufgegeben werden, wenn man erwägt, daß
gerade die zwei Hauptſtellen, auf deren Vereinigung es
ankommt, aus zwei ganz nahe an einander liegenden
Stücken eines und deſſelben Werks von Ulpian herge-
nommen ſind (h).
Das ganze Gewicht unſrer Stelle und die ganze
Schwierigkeit liegt in dem Ausdruck: condemnationis
tempus. Condemnatio aber hat im R. R. zwei verſchie-
dene, wiewohl verwandte, Bedeutungen, für welche die
Anwendung jenes Wortes völlig gleich berechtigt iſt, und
die alſo auch mit gleichem Rechte vorausgeſetzt werden
dürfen, wo es auf die Erklärung einer Stelle, die jenes
Wort enthält, ankommt.
Condemnatio heißt zuerſt einer der Vier Haupttheile
der formula, die practiſche Anweiſung des Prätors an
den Judex über Verurtheilung oder Freiſprechung. Es iſt
die condemnatio a praetore concepta.
Condemnatio heißt aber auch das vom Judex ausge-
ſprochene Urtheil, die res judicata, in ſofern das Urtheil
gerade zum Nachtheil des Beklagten ausfällt. Es iſt die
condemnatio a judice prolata, die Vollziehung des ihm
vom Prätor gegebenen Auftrags.
Es iſt einleuchtend, daß die Erwähnung der erſten
Art der condemnatio in die Juſtinianiſchen Rechtsbücher
(i)
(h) Unſre Stelle iſt aus dem
27., die L. 3 § 2 commod. aus
dem 28. Buch des Ulpian ad
edictum entnommen.
(i) Gajus IV. § 39. 43. 44.
|0239 : 221|
§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.
eigentlich nicht mehr gehörte, aber auch ſehr begreiflich,
wenn ſie daraus, wie ſo manches Andere, dennoch nicht
gänzlich verſchwunden iſt. Wir haben ſogar eine Stelle,
worin dieſe fortdauernde Erwähnung ganz unzweifel-
haſt iſt (k):
„Exceptio … opponi actioni cujusque rei solet, ad
excludendum(l)id, quod in intentionem condem-
nationemve deductum est.“
Setzen wir jene erſte Bedeutung in unſrer Stelle voraus,
ſo iſt Alles klar, und der ſcheinbare Widerſpruch ver-
wandelt ſich in vollſtändige Einſtimmung. Das condem-
nationis tempus iſt dann ſo viel als formulae conceptae
tempus (indem nur der Theil für das Ganze genannt iſt),
oder, mit anderen Worten, die Zeit der L. C., indem
die Aufſtellung der Formel mit der L. C. ganz gleich-
zeitig iſt (m).
(k) L. 2 pr. de except. (44. 1)
aus Ulpianus lib. LXXIV. ad
ed. — Man könnte verſuchen,
eben dahin zu beziehen die Worte
der L. 3 § 3 de act. emti: „quo
lis in condemnationem dedu-
citur“; allein dieſe gehen in der
That auf die Zeit des Urtheils,
ſ. o. § 275. t.
(l) Die Florentina lieſt: clu-
dendum, woraus man Emenda-
tionen hat bilden wollen; allein
die hier aufgenommene Vulgata
iſt unbedenklich.
(m) Es iſt ſehr merkwürdig,
daß Donellus dieſe Bedeutung
der condemnatio mit ſolcher Klar-
heit und Beſtimmtheit entwickelt
hat, als ob er den Gajus vor
ſich gehabt hätte. (S. o. Note d;
die Stelle findet ſich in N. 26. p.
156). Aber eben ſo auffallend iſt
es, daß er von dieſer ſeiner be-
wundernswürdigen Divination den
verkehrteſten Gebrauch macht. Es
fällt ihm nicht ein, die richtig
aufgefundene Bedeutung von con-
demnatio auf unſre L. 3 de cond.
trit. anzuwenden, um ſo deren
Widerſpruch mit anderen Stellen
zu beſeitigen; er wendet ſie viel-
mehr auf die L. 3 § 3 de act.
|0240 : 222|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Ich bin weit entfernt, die Einwürfe zu verkennen, die
ſich gegen dieſe Erklärung erheben laſſen, und die ich nun-
mehr einzeln prüfen will.
1. Man kann ſagen, Ulpian würde ſich durch die Wahl
dieſes Ausdrucks einer gefährlichen Zweideutigkeit ſchuldig
gemacht haben, indem er den Gegenſatz gegen das rei judicatae
tempus durch ein Wort bezeichnet hätte, welches eben ſo
leicht gerade von dieſer Zeit, die er ausſchließen wollte,
verſtanden werden konnte.
Dieſer Einwurf würde Gewicht haben, wenn noth-
wendig angenommen werden müßte, daß dem Schrift-
ſteller gerade dieſer Gegenſatz vorgeſchwebt habe. Allein
bei der Stipulation, wie ſie hier vorauszuſetzen iſt, lag
ein anderer Gegenſatz ſogar viel näher: dieſes iſt die Zeit
des geſchloſſenen Contracts, an welche man bei der
buchſtäblich bindenden Natur der Stipulation ſehr leicht
denken konnte. Die vorherrſchende Rückſicht auf dieſen
Gegenſatz erſcheint noch durch folgende Betrachtung beſon-
ders natürlich und wahrſcheinlich. Zwiſchen dem Contract
und der L. C. konnte eine lange Zeit in der Mitte liegen,
und in dieſer konnten viele Veränderungen mit dem Gegen-
ſtand vorgegangen ſeyn. Dagegen iſt dem Zeitraum
zwiſchen der L. C. und dem Urtheil, bei einer ſo ein-
fachen Sache wie die Stipulationsklage auf einen Sclaven,
im Römiſchen Prozeß nur eine geringe Dauer zuzuſchreiben,
emti an, wohin ſie gar nicht ge-
hört, und die durch dieſes irrige
Verfahren einen ganz falſchen
Sinn erhält.
|0241 : 223|
§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.
die alſo auch nicht ſo leicht erhebliche Veränderungen in
ſich ſchließen konnte. Wenn nun Ulpian gerade dieſen
Gegenſatz vor Augen hatte und ausſchließen wollte (n),
ſo war der Gebrauch des Ausdrucks condemnatio, um die
Zeit der L. C. zu bezeichnen, ohne alle Gefahr.
2. War der Gebrauch des Ausdrucks condemnatio in
dieſer Bedeutung auch nicht gefährlich, ſo könnte man ihn
doch wegen der Seltenheit dieſes Sprachgebrauchs für
unwahrſcheinlich halten.
Darauf iſt zu antworten, daß es eben ſo wenig ge-
wöhnlich iſt, den Ausdruck condemnatio anſtatt res judicata
zu gebrauchen, wo es auf die Bezeichnung des Zeitpunktes
ankommt, indem faſt immer von res judicata allein, ohne
Abwechſlung der Ausdrücke, geſprochen wird.
3. Noch mehr Schein endlich hat der Einwurf, daß es
an einem Motiv fehle, weshalb Ulpian anſtatt des ein-
fachen, ganz unbedenklichen, Ausdrucks: litis contestationis
den mindeſtens künſtlichen, indirecten Ausdruck: condem-
nationis tempus gebraucht haben ſollte.
Es wird ſchwer ſeyn, bei jeder etwas ungewöhnlichen
Redeweiſe, ſtets das Motiv anzugeben; hier aber fehlt
es auch ſelbſt an einem ſolchen nicht. Der Ausdruck,
der hier gewählt wurde, ſollte zugleich den Beweis der
(n) Ganz eben ſo findet es
Julian nöthig, in L. 22 de
reb. cred. (ſ. o. S. 207) die Zeit
des Contracts, eben ſo wie die
des Urtheils, ausdrücklich auszu-
ſchließen, um die Zeit der L. C.
als Regel aufzuſtellen. Durch
dieſes Beiſpiel erhält der von mir
vorausgeſetzte Gedanke des Ulpian
noch größere Wahrſcheinlichkeit.
|0242 : 224|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wahrheit des ausgeſprochenen Satzes andeuten. Da es
nämlich, je nach den verſchiedenen Zeitpunkten der Schätzung,
dreierlei Condemnationsformen gab: quanti res fuit,
oder est, oder erit, und im vorliegenden Fall die Con-
diction die zweite Form (quanti res est) mit ſich führte,
alſo das Präſens gebrauchte (S. 205. 206), ſo folgte daraus
von ſelbſt, daß hier die Schätzung nach der Zeit der con-
demnatio, d. h. der L. C., geſchehen ſollte. Der ge-
brauchte Ausdruck mußte in dieſer Beziehung für jeden
Römiſchen Leſer ſogleich verſtändlich und überzeugend ſeyn,
da die Faſſung der verſchiedenen Formeln aus dem täg-
lichen Gebrauch Jedem geläufig war.
Nachdem nun der wichtigſte und ſchwierigſte Theil der
Stelle behandelt iſt, wird es möglich ſeyn, den ganzen
Inhalt derſelben im Zuſammenhang darzuſtellen, wozu
eine vorläufige Ueberſicht den Weg bahnen ſoll.
Die Stelle ſpricht von der condictio triticaria aus der
Stipulation einer Sache, die Anfangs unbeſtimmt gelaſſen,
dann aber ſogleich als ein Sclave bezeichnet wird. — Die
Schätzungszeit deſſelben ſoll beſtimmt werden. — Dieſes
geſchieht erſtens für den Fall, wenn keine Mora vorhanden
iſt, zweitens für den Fall der Mora. — Im erſten Fall
wird weiter unterſchieden, ob der Sclave lebt oder todt
iſt. — Daraus ergeben ſich drei Fälle überhaupt. Im
Fall des Lebens ohne Mora iſt nach der Zeit der L. C.
zu ſchätzen. Im Fall des Todes ohne Mora nach der Zeit
des Todes. Im Fall der Mora darf der Kläger, wenn
|0243 : 225|
§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.
die Zeit der Mora einen höheren Werth ergiebt, dieſe
Zeit für die Schätzung in Anſpruch nehmen, der Sclave
mag leben oder todt ſeyn. — Dieſe Sätze ſollen jetzt im
Einzelnen in der Stelle nachgewieſen und näher beſtimmt
werden.
Erſter Fall. Der Sclave lebt, und es iſt keine
Mora vorhanden. Nun wird nach der Zeit der L. C.
(condemnationis tempus) geſchätzt.
„In hac actione … spectandum.“ Dieſer Theil iſt
ſchon ausführlich erklärt worden.
Zweiter Fall. Der Sclave iſt geſtorben, und es iſt
keine Mora vorhanden.
„Si vero desierit esse in rebus humanis, mortis
tempus .. erit spectandum“ … (o).
Hier kommt es darauf an, die Zeit zu beſtimmen, in
welcher, nach der Vorausſetzung des Ulpian, der Sclave
geſtorben iſt. Dieſes iſt ſicher nicht die Zeit nach der
L. C., da durchaus kein Grund denkbar iſt, warum nicht
in dieſem Fall, ganz ſo wie im erſten, nach der Zeit der
L. C. geſchätzt werden ſollte. Der Tod iſt alſo in der
Zeit zwiſchen dem Vertrag und der L. C., d. h. vor dem
Prozeß, zu denken. Natürlich muß noch hinzugedacht
(o) Dazwiſchen ſteht noch ein
untergeordneter Satz, der mit un-
ſeren Fragen Nichts zu ſchaffen
hat, und den ich oben im Text
übergangen habe, um nicht den
Zuſammenhang der Hauptgedanken
zerſtreuend zu unterbrechen. Die
Todeszeit, heißt es, ſoll nicht zu
buchſtäblich von dem Augenblick
des Verſcheidens verſtanden wer-
den, da auch der Sclave, der in
den letzten Zügen liegt, obgleich
er noch lebt, doch ſchon faſt völlig
werthlos iſt.
VI. 15
|0244 : 226|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap IV. Verletzung.
werden, daß der Tod zugleich unter ſolchen Umſtänden
erfolgt iſt, die den Beklagten zum Erſatz verpflichten, da
ſonſt von einer Schätzung gar nicht die Rede ſeyn könnte.
Es muß alſo der Tod erfolgt ſeyn nicht durch Zufall,
ſondern durch den Dolus oder durch culpoſe Handlungen
des Schuldners (p). — In dieſem Fall nun ſoll der Werth
des Sclaven geſchätzt werden nach der Zeit des Todes,
nicht wie in dem erſten Fall nach der Zeit der L. C.;
ſehr natürlich, weil zu dieſer Zeit kein Sclave mehr da
iſt, der geſchätzt werden könnte.
Dritter Fall. Es iſt eine Mora vorhanden, und
dabei ſoll es keinen Unterſchied machen, ob der Sclave
noch lebt oder todt iſt.
„In utroque autem(q), si post moram deterior res
facta sit, Marcellus scribit lib. XX., habendam aesti
mationem quanti deterior res facta sit. Et ideo, si
quis post moram servum eluscatum dederit, nec
liberari eum. Quare ad tempus morae in his erit
reducenda aestimatio.“
Es wird nicht geſagt, daß im Fall der Mora die vor-
hergehenden Regeln nicht eintreten ſollen. Dieſe gelten
auch dann, aber es tritt nur eine mögliche Modification
(p) L. 91 pr. de verb. obl.
(45. 1). Vgl. oben § 272 am
Ende des §.
(q) D. h. sive vivat servus,
sive mortuus sit. Aus dieſem
Zuſammenhang der fortſchreitenden
Sätze ergiebt ſich die Grundloſig-
keit der Erklärung, welche auch
ſchon in den Anfang der Stelle
die Vorausſetzung der Mora hin-
ein tragen will (Note f).
|0245 : 227|
§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.
zum Vortheil des Klägers hinzu. Iſt der Werth des
Sclaven nach der Mora gleich geblieben oder geſtiegen, ſo
iſt von der Modification nicht die Rede: anders wenn der
Sclave an Werth abgenommen hat (si deterior res facta
sit), z. B. wenn ihm ein Auge ausgeſchlagen worden iſt.
Nun kann der Kläger verlangen, daß der nach den vorher-
gehenden Regeln abzuſchätzende Werth des Sclaven um ſo
viel erhöhet werde, als der Sclave nach der Mora an
Werth verloren hat (quanti deterior res facta sit); oder
mit anderen Worten: der Kläger hat nun das Recht, die
Schätzung nach der Zeit, worin die Mora anfing, vor-
nehmen zu laſſen (ad tempus morae in his erit reducenda
aestimatio). — Hieraus iſt es klar, daß der Kläger für
die Schätzung zwiſchen zwei Zeitpunkten die Wahl haben
ſoll; von einem höheren Werth der Zwiſchenzeit iſt nicht
die Rede (§ 275. u). Zugleich iſt es klar, warum im Fall
der Mora in utroque daſſelbe gelten ſoll. Durch die Mora
nämlich wird überhaupt Nichts geändert, als daß der Kläger
für die Schätzungszeit zwiſchen L. C. und Mora, oder
zwiſchen Tod und Mora, die Wahl haben ſoll.
§. 277.
Wirkung der Litis Conteſtation. II. Umfang der Ver-
urtheilung. — b) Verminderungen. Preisveränderung.
Bisher iſt nur von den objectiven Verminderungen die
Rede geweſen, deren Natur darin beſteht, daß der Gegen-
ſtand des Rechtsſtreits ſelbſt eine äußerlich wahrnehmbare
15*
|0246 : 228|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Veränderung erleidet. Es ſind nun noch diejenigen Ver-
minderungen zu betrachten, die eine unſichtbare Natur haben,
indem ſie in einer bloßen Preisverminderung gegründet
ſind (§ 272). Dieſe unterſcheiden ſich von den objectiven
Verminderungen durch die Möglichkeit einer viel ausge-
dehnteren Anwendung. Denn anſtatt daß die objectiven
nur bei individuell beſtimmten Gegenſtänden vorkommen,
da nur dieſe durch Verſchuldung oder Unglück zerſtört, ver-
dorben, verloren werden können, ſo tritt die Preisvermin-
derung eben ſowohl bei generiſch beſtimmten, als bei indi-
viduellen Gegenſtänden eines Rechtsſtreits ein; alſo ſowohl
bei der übernommenen Lieferung von Hundert Scheffel
Weizen, als wenn eine beſtimmte, im Beſitz eines Anderen
befindliche, Maſſe Weizen vindicirt wird.
Um aber von dieſem Theil der Unterſuchung eine er-
ſchöpfende Überſicht zu geben, iſt es nöthig, die Erwägung
nach zwei Seiten hin auszudehnen: erſtens, auf die Fälle,
worin die Veränderung nicht in vermindertem, ſondern in
erhöhtem Preiſe des Gegenſtandes beſteht; zweitens, auf
die zuſammengeſetzten Fälle, in welchen neben der Preis-
verminderung zugleich auch eine objective Verminderung des
Gegenſtandes ſelbſt Statt findet.
Im R. R. werden die Fälle der Preisverminderung
nicht beſonders hervorgehoben, noch von den Fällen der
objectiven Verminderung unterſchieden. Daß ſie aber nicht
unbeachtet geblieben ſind, läßt ſich beſtimmt behaupten,
indem mehrere Stellen ausdrücklich von ſolchen Gegen-
|0247 : 229|
§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.
ftänden handeln, die (wie Wein und Getreide) zum öffent-
lichen Marktverkehr gehören (a). Bei dieſen aber iſt
gerade der ſchwankende Preis ſo vorzugsweiſe wichtig, daß
er als Moment juriſtiſcher Entſcheidung unmöglich überſehen
werden konnte.
Allerdings können die hier angeregten Fragen auch bei
ſolchen Gegenſtänden vorkommen, die nicht als Waaren
zum Marktverkehr gehören. Selbſt bei Grundſtücken kommt
es nicht ſelten vor, daß die Preiſe im Allgemeinen ſteigen
oder fallen. Dennoch iſt bei ihnen die hier vorliegende
Frage deswegen von geringerer practiſcher Erheblichkeit,
weil dabei die Veränderung der Preiſe nicht leicht auf
feſte und ſichere Zahlenſätze zurückgeführt werden kann, ſo
daß die Anwendung der jetzt aufgeſtellten Regel nur ſelten
wird begründet werden können. Es kommt hinzu, daß bei
ſolchen Gegenſtänden die Schwankung der Preiſe im
Großen meiſt erſt nach längeren Zeiträumen deutlich her-
vortritt, und daher für die Dauer eines Rechtsſtreits nicht
leicht Einfluß erhält, anſtatt daß dieſelbe Schwankung im
Marktverkehr oft eben ſo ſicher als ſchnell wechſelnd wahr-
zunehmen iſt.
Es iſt nun zunächſt die juriſtiſche Natur der hier
angegebenen Veränderungen feſtzuſtellen. Die Erhöhung
des Preiſes hat ganz die Natur des aus einem anderen
Vermögensſtück entſpringenden zufälligen Erwerbs
(a) L. 3 § 3, L. 21 § 3 de act. emti (19. 1), L. 4 de cond.
trit. (13. 3), L. 22 de reb. cred. (12. 1.), ſ. o. § 275.
|0248 : 230|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
(§ 265). Es iſt ein innerer Zuwachs des Gegenſtandes,
ganz ähnlicher Natur, wie der durch Alluvion bewirkte
Zuwachs des Grundeigenthums. — Die Verminderung
des Preiſes hat dagegen ganz die Beſchaffenheit einer
zufälligen Verminderung überhaupt, d. h. einer
ſolchen, die ohne Dolus oder Culpa des Schuldners bewirkt
wird, ſo wie dieſer Rechtsbegriff oben (§ 273) aufgeſtellt
und auf die Fälle objectiver Verminderung angewendet
worden iſt. Ich nenne dieſe (auf den Preis bezügliche)
Verminderung eine zufällige, weil ſie ſtets auf allgemeinen
Conjuncturen beruht und außer dem Bereich individueller
Einwirkung liegt, es mögen nun jene Conjuncturen im
Welthandel oder in den vorübergehenden Zuſtänden einzelner
Länder oder Städte ihren Grund haben.
Die völlige Gleichartigkeit der Preisverminderung mit
der oben abgehandelten objectiven Verminderung wird durch
folgende Betrachtung einleuchtend werden. Wenn die
Eigenthumsklage auf eine Anzahl individuell bezeichneter
Actien einer Fabrik-Unternehmung gerichtet wird, ſo können
im Lauf des Rechtsſtreits folgende Veränderungen eintreten.
Es können dieſe Actien von ihrem urſprünglichen Pari-
werth (100) auf 50 herabſinken, oder auch (wenn das
Unternehmen völlig untergeht) auf 0. — Es können aber
ferner die eingeklagten Actien zur Hälfte oder auch ins-
geſammt durch Feuer zufällig zerſtört werden. Hier iſt es
augenſcheinlich, daß die eine und die andere Art der Ver-
|0249 : 231|
§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.
minderung gleich wichtig iſt, und auf das Vermögen des
Berechtigten ganz denſelben Einfluß ausübt.
Dieſe Betrachtungen ſollten nur als Vorbereitung dienen
zu den Rechtsregeln über die verſchiedenen Fälle der
Preisverminderung, zu deren Aufſtellung ich mich jetzt
wende. Ich ſchließe mich dabei ganz an diejenigen Regeln
an, die oben (§ 275) über die Behandlung der objectiven
Verminderung, ſowie über die dabei zu beobachtende Zeit
der Schätzung, aufgeſtellt worden ſind.
Erſter Fall. Strenge Klagen, bei welchen kein Grund
einer exceptionellen Behandlung vorliegt. Dabei ſollte die
Schätzung nach der Zeit der L. C. vorgenommen werden,
welches im heutigen Recht nicht mehr vorkommt.
Hier iſt die Erhöhung wie die Verminderung des
Preiſes vor der L. C. ohne Einfluß, da in jedem Augen-
blick der Schuldner durch Erfüllung die Obligation tilgen,
der Creditor aber durch Anſtellung der Klage die L. C.
herbeiführen kann.
Desgleichen iſt jede Veränderung des Preiſes nach der
L. C. ohne Einfluß, da der Sinn der auf die L. C. als
Schätzungszeit gerichteten Regel eben darin beſteht, daß
hierdurch die Schätzung unabänderlich fixirt werden ſoll.
Es gilt alſo unbedingt die Schätzung nach der Zeit
der L. C. ebenſowohl für die ſchwankenden Preiſe, wie für
die objective Verminderung des Gegenſtandes.
Zweiter Fall. Freie Klagen, bei welchen kein Grund
einer exceptionellen Behandlung vorliegt. Hier ſoll die
|0250 : 232|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Schätzung nach der Zeit des rechtskräftigen Urtheils vor-
genommen werden, welches im heutigen Recht auch für
diejenigen Klagen gilt, die das R. R. unter die Regel des
erſten Falles geſtellt hatte.
Bei dieſer Regel bleibt es unbedingt, wenn etwa eine
Erhöhung des Preiſes vor dem Urtheil (ſey es vor oder
nach der L. C.) eingetreten ſeyn ſollte. Wenn durch dieſe
Erhöhung der Beklagte einen Nachtheil erleidet, ſo hat er
ſich dieſen ſelbſt zuzuſchreiben, da es jeden Augenblick in
ſeiner Macht ſtand, durch Erfüllung die Schuld zu tilgen,
und ſo den Nachtheil aus den ſpäter ſteigenden Preiſen ab-
zuwenden.
Auch wenn eine Verminderung des Preiſes vor dem
Urtheil eintritt, iſt dieſelbe Regel anzuwenden, jedoch hier
mit folgender Ausnahme. Wenn nämlich die Eigenthums-
klage gegen einen unredlichen Beſitzer geführt wird, ſo muß
dieſer die Preisverminderung vergüten, die nach der L. C.
eingetreten iſt; gerade ſo wie er auch Entſchädigung leiſten
müßte, wenn in dieſem Zeitraum nicht durch Preisvermin-
derung, ſondern durch Untergang oder Beſchädigung der
Sache ein zufälliger Schade entſtanden wäre (S. 179).
Dritter Fall. Perſönliche Klage aus einer Obliga-
tion, deren Erfüllung durch Vertrag auf einen beſtimmten
Zeitpunkt geſetzt iſt.
Hier iſt der Preis dieſes Zeitpunktes zum Grunde zu
legen.
Der höhere oder niedere Preis der früheren Zeit iſt
|0251 : 233|
§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.
gleichgültig, weil die Parteien ſelbſt eine frühere Erfüllung
nicht wollten oder erwarteten.
Die Erhöhung und Verminderung der ſpäteren Zeit
iſt gleichgültig, da der Vertrag ſelbſt die Zeit der Erfüllung
mit ihren Folgen fixirt hat, beide Theile alſo in dieſe be-
ſonderen Folgen eingewilligt haben. Jedoch wird in dieſem
Fall meiſt zugleich eine Mora eintreten, da denn die fol-
gende Regel zur Anwendung kommen muß.
Dieſer dritte Fall iſt übrigens practiſch beſonders häufig
und wichtig; es gehören dahin die zahlreichen Verträge,
welche auf Lieferung von Handelsgegenſtänden in einer
beſtimmten Zeit geſchloſſen werden.
Vierter Fall. Perſönliche Klage, wenn dabei eine
Mora, ſey es vor oder mit dem Rechtsſtreit, eintritt.
Jede Erhöhung oder Verminderung des Preiſes vor
der Mora iſt gleichgültig.
Die Erhöhung oder Verminderung nach der Mora kann
dem Kläger niemals Nachtheil bringen, weil er ein unbe-
dingtes Wahlrecht hat, nach welchem Zeitpunkt die Schätzung
vorgenommen werden ſoll.
Dem Beklagten geſchieht dadurch kein Unrecht, da er
eben durch die Mora jeden möglichen Nachtheil wohl ver-
dient hat.
Es bleibt nur noch übrig, die verſchiedenartige An-
wendung dieſer Rechtsregeln näher zu beſtimmen.
Dabei ſind folgende Fälle zu unterſcheiden.
1. Im älteren R. R. war dieſe Anwendung weit ausge-
|0252 : 234|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
dehnter, als in der ſpäteren Zeit. Da nämlich alle Ver-
urtheilungen nur auf baares Geld lauten durften (b), ſo
mußten jene Regeln in jedem einzelnen Fall unmittelbar
und einfach dadurch zur Anwendung gebracht werden, daß
in der auszuſprechenden Geldſumme nicht nur der objective
Zuſtand der Sache, ſondern auch (nach den eben aufge-
ſtellten Regeln) der Preis berückſichtigt wurde.
2. Dieſes hat ſich völlig geändert im Juſtinianiſchen
Recht, welches zugleich die heutige Regel bildet. Hier wird,
wenn der Gegenſtand des Rechtsſtreites noch vorhanden iſt,
auf deſſen Naturalleiſtung, nicht mehr auf eine Geldſumme,
erkannt. Dieſes heißt für den letzten Erfolg eben ſo viel,
als ob (nach der oben aufgeſtellten zweiten Regel) auf den
Geldwerth zur Zeit des rechtskräftigen Urtheils erkannt
würde. In denjenigen Fällen nun, worin vor dem Urtheil
eine Preisverminderung eingetreten iſt, und zugleich der
Beklagte die exceptionelle Verpflichtung hat, für alle zufällige
Verminderungen einzuſtehen (alſo im Fall der Vindication
gegen den unredlichen Beſitzer, ſo wie im Fall der Mora)
iſt zwar auch auf die Naturalleiſtung zu erkennen, jedoch
mit einer zuſätzlichen Ausgleichung in Geld, damit die oben
aufgeſtellten Regeln rein und vollſtändig zur Anwendung
gebracht werden.
3. Eine beſondere Erwägung bedarf der Fall, wenn
der Beklagte das Urtheil nicht abwartet, ſondern dadurch
abwendet, daß er den Anſpruch des Klägers freiwillig
(b) Gajus IV. § 48.
|0253 : 235|
§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.
erfüllt. Dazu war bei den arbiträren Klagen in dem
Reſtitutionsbefehl des Judex eine beſondere Aufforderung
gegeben; bei allen übrigen Klagen aber ſollte der Beklagte
wenigſtens das Recht dazu haben (c).
Nun ſcheint es, daß durch dieſe Einrichtung dem Be-
klagten in den Fällen, worin er nach den aufgeſtellten
Regeln einen höheren Werth als den der Gegenwart zu
leiſten hatte, ein Mittel dargeboten würde, das Recht des
Klägers zu vereiteln, indem er ſich durch die einfache
Natural-Reſtitution von jeder weiteren Verpflichtung frei-
machte.
Allein gegen dieſe Umgehung des Rechts ſchützt den
Kläger der juriſtiſche Begriff der Reſtitution. Eine ſolche
wird nämlich nicht unbedingt vollführt durch die materielle
Herausgabe des Gegenſtandes; vielmehr gehört dazu auch
die omnis causa, welche in dem hier vorliegenden Fall
gerade die Ausgleichung des höheren Werthes durch eine
zuſätzliche Geldſumme in ſich ſchließt (d).
4. Zuletzt iſt noch der zuſammengeſetzte Fall zu be-
trachten, wenn in einem und demſelben Rechtsſtreit die
(c) Gajus IV. § 114.
(d) L. 75 de V. S. (50. 16)
„Restituere is videtur qui id
restituit, quod habiturus esset
actor, si controversia ei facta
non esset.“ Eben ſo L. 35,
L. 246 § 1 eod., und L. 9 § 8 ad
exhib. (10. 4). In Anwendung
dieſes Grundſatzes wird ferner aus-
drücklich geſagt, daß der Schuldner,
der in Mora iſt, nicht dadurch
frei wird, daß er die verſprochene
Sache herausgiebt, wenn dieſe in
der Zwiſchenzeit (wiewohl durch
Zufall) ſchlechter geworden iſt.
L. 3 de cond. trit. (13. 3), ſ. o.
S. 226.
|0254 : 236|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
objective Verminderung der ſtreitigen Sache mit einer
Preisverminderung zuſammentrifft.
Die Beurtheilung dieſes Falles kann keinem Zweifel
unterliegen, indem die vollſtändige Anwendung der aufge-
ſtellten Regeln auf ein Urtheil führen kann, deſſen Inhalt
aus zwei Factoren hervorgeht. Folgendes Beiſpiel wird
dieſe Behauptung anſchaulich machen.
Wenn Actien durch eine Eigenthumsklage gefordert, und
während des Prozeſſes geſtohlen werden, ſo kommen bei
dem Urtheil folgende Umſtände in Betracht. Zunächſt muß
der Beklagte den Werth der geſtohlenen Actien vergüten,
weil bei jedem Diebſtahl eine Culpa des Beſitzers präſumirt
wird; der Werth dieſer Actien wird in der Regel nach der
Zeit des Urtheils beſtimmt. — Wenn aber der Beklagte
ein unredlicher Beſitzer iſt, und in der Zeit zwiſchen der
L. C. und dem Urtheil der Curs dieſer Actien ſinkt, ſo
muß der Beklagte noch ſo viel Geld zulegen, als die Curs-
differenz beträgt. Er hat alſo in dieſem Fall zwei von
einander unabhängige, auf verſchiedenen Rechtsgründen
beruhende, Entſchädigungen zu leiſten: erſtens für den durch
Diebſtahl entſtandenen Verluſt, wegen ſeiner Culpa; zweitens,
für den zufälligen Verluſt durch das Sinken des Curſes,
weil überhaupt der unredliche Beſitzer nach der L. C. für
jeden zufälligen Nachtheil einſtehen ſoll.
|0255 : 237|
§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.
§. 278.
Stellung der Litis Conteſtation und ihrer Folgen im
heutigen Recht.
Das Weſen der L. C. im Formularprozeß des älteren
R. R. iſt oben ausführlich dargeſtellt worden (§ 257).
Characteriſtiſch war dabei die große Nähe, in welcher ſich
(verglichen mit den möglichen Ereigniſſen in unſrem Pro-
zeßverfahren) die L. C. nebſt den daran geknüpften Folgen
neben dem erſten Anfang des Rechtsſtreits befand.
Dieſes Verhältniß, ſo wie das Weſen der L. C. über-
haupt, erſcheint zwar im Juſtinianiſchen Recht nicht von
Grund aus verändert; indeſſen waren doch ſchon bedeutende
Modificationen eingetreten, und namentlich hatte die geſetz-
liche Friſt von Zwei Monaten die L. C. weiter als früher
von dem Anfang des Rechtsſtreits entfernt.
Das Canoniſche Recht hat dieſe vorgefundene neueſte
Geſtalt der L. C. nicht abgeändert. Wichtiger und bedenk-
licher war die abgeänderte Stellung, welche der L. C. im
ganzen Zuſammenhang des Prozeſſes durch die Reichsgeſetze
gegeben wurde (§ 259).
Allein auch bei dieſer Geſtalt des gemeinen Deutſchen
Prozeſſes iſt es nicht geblieben, vielmehr hat ſich das Be-
dürfniß ſpäterer Zeiten neue Bahnen gebrochen.
Zwar in dem Protokollar-Prozeß der von einzeln ſtehenden
Richtern verwalteten Untergerichte läßt ſich die frühere Ge-
ſtalt der L. C. leicht wieder erkennen und ohne Nachtheil
|0256 : 238|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
durchführen, ſo daß es bei ihm nur auf eine ſtrenge und
verſtändige Ausführung ankommt, um dem practiſchen Be-
dürfniß wahrhaft zu genügen.
Anders aber ſteht es mit dem weit wichtigeren, auf
vier regelmäßigen Schriftſätzen beruhenden gemeinen Deut-
ſchen Prozeß, wie er in allen höheren collegialiſchen Ge-
richten und auch in vielen Untergerichten, herrſchend ge-
worden iſt. Es würde eine bloße Täuſchung ſeyn, wenn
man glauben wollte, daß hier die Prozeßvorſchriften des
R. R., oder auch der Reichsgeſetze, wirklich zur Ausführung
gebracht würden. — Wollte man den Buchſtaben des R. R.
feſthalten, und die der L. C. beigelegten Wirkungen an den
Zeitpunkt unſres ſchriftlichen gemeinen Prozeſſes anknüpfen,
in welchem gerade dasjenige vorgegangen iſt, welches im
R. R. als Inhalt der L. C. vorausgeſetzt wird, ſo müßte
man dieſen entſcheidenden Abſchnitt des Prozeſſes an das
Ende des erſten Verfahrens ſetzen, alſo entweder mit der
Einreichung der Duplik, oder mit der Abfaſſung des Be-
weis-Interlocuts verknüpfen; denn erſt in dieſem Zeitpunkt
kann man mit Sicherheit annehmen, daß die Exceptionen,
Replicationen und Duplicationen vorgebracht ſeyn werden,
ſo wie es das R. R. für den Zeitpunkt der L. C. unzwei-
felhaft vorausſetzt.
Dennoch iſt eine ſo ſtrenge und buchſtäbliche Gleichſtel-
lung mit der alten L. C. niemals verſucht worden, ſchon
deswegen nicht, weil man von dieſer Prozeßhandlung des
R. R. keine hinreichende Kenntniß hatte; auch war dazu
|0257 : 239|
§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.
ein practiſches Bedürfniß in der That nicht vorhanden. —
Vielmehr wurde nunmehr die L. C., im Anſchluß ſowohl
an die Reichsgeſetze als an die gänzlich umgebildete Bedeu-
tung dieſes aus dem R. R. zu uns herübergekommenen
Kunſtausdrucks (§ 259), als die Einlaſſung des Beklagten
auf die thatſächlichen Behauptungen der Klage aufgefaßt,
und ſomit in die erſte Prozeßſchrift des Beklagten (die Ex-
ceptionsſchrift) verſetzt. Dieſe Stellung der L. C. iſt jedoch
ohne weſentlichen Nutzen für den letzten Zweck des Pro-
zeſſes, und zugleich nicht ohne erhebliche Bedenken und
Gefahren, indem ſie dem Beklagten ein leichtes Mittel dar-
bietet, dieſe Handlung willkührlich hinauszuſchieben und
dadurch die Rechte des Klägers zu gefährden (§ 259).
Man kann dieſe Gefahren dadurch beſeitigen oder wenig-
ſtens vermindern, daß man die Wirkung der L. C. unbe-
dingt an die Einreichung der erſten Prozeßſchrift des Be-
klagten knüpft, ohne Rückſicht auf den Inhalt dieſer Schrift;
ſo daß eine L. C. fingirt würde, wenn etwa der Beklagte
unredlicher Weiſe die factiſche Erklärung auf die Klage
verweigerte oder verzögerte (a). Allein erſtens wäre dieſes
nicht ſowohl eine Anwendung des beſtehenden Prozeßrechts,
als eine in guter Abſicht vorgenommene Umbildung deſſel-
ben; zweitens, wäre damit in der That Nichts gewonnen.
Dieſe fingirte L. C. wäre eine leere Formalität, und es
erſcheint als ganz willkührlich und grundlos, gerade an die
(a) Pufendorf Obs. IV. 94, Göſchen Vorleſungen B. 1 S. 475,
Wächter H. 3 S. 87.
|0258 : 240|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Einreichung der erſten Schrift des Beklagten, ohne Rück-
ſicht auf deren Inhalt, wichtige materielle Wirkungen zu
knüpfen. — Das Bedürfniß, deſſen Anerkennung in dieſem
Verfahren liegt, führt offenbar dahin, noch einen Schritt
weiter rückwärts zu gehen, und jene wichtige Wirkungen
an den Zeitpunkt des Prozeſſes zu knüpfen, in welchem
zuerſt der Beklagte ſicher und auf amtliche Weiſe ein Be-
wußtſeyn des erhobenen Rechtsſtreits erhält. Dieſer Zeit-
punkt aber iſt kein anderer, als der der Inſinuation
der Klage. Daß dabei der Beklagte blos leidend, ohne
eigene Thätigkeit erſcheint, iſt kein Hinderniß, dieſe That-
ſache als den Entſtehungsgrund einer Obligation, d. h. als
Quaſicontract, anzuerkennen; denn wenn auch im R. R.
der Beklagte bei der L. C. als thätig erſcheint, ſo beruht
doch dieſe Thätigkeit eben ſo wenig auf ſeinem freien Ent-
ſchluß, als die Empfangnahme der Klagſchrift und das
dadurch erzeugte Bewußtſeyn. Wenn wir uns alſo ent-
ſchließen, das hier angegebene Verfahren einzuſchlagen, ſo
entfernen wir uns dadurch weniger von dem wahren Weſen
des R. R., als es auf den erſten Blick ſcheinen mag,
und wir vermeiden dennoch gänzlich die oben bemerkten
Gefahren.
Ehe nun die durch die vorſtehenden Bemerkungen vor-
bereitete Unterſuchung weiter geführt wird, iſt es nöthig,
den Erfolg und die practiſche Wichtigkeit derſelben näher
zu beſtimmen. — Vor Allem muß dieſe Unterſuchung
lediglich auf die materiellen Wirkungen beſchränkt bleiben,
|0259 : 241|
§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.
von welchen allein auch in der ganzen bisherigen Darſtellung
die Rede geweſen iſt. Der Einfluß der L. C. auf den
Gang des Prozeſſes liegt ganz außer dem Bereich unſrer
Betrachtung, und beruht auch auf ganz anderen Gründen
als die hier zu beſtimmende materielle Einwirkung. So
z. B. wird geſagt, durch die L. C. würden alle zu dieſer
Zeit nicht vorgebrachte Einreden ausgeſchloſſen; eben ſo
ſey von dieſer Zeit an eine Veränderung der Klage nicht
mehr zuläſſig. Dieſe Folgen entſpringen aber in der That
aus der erſten Erklärung des Beklagten als ſolcher, ohne
Rückſicht darauf, ob dieſe Erklärung gerade eine L. C. ent-
hält, und worin dieſe beſteht. — Eben ſo wird behauptet,
durch die L. C. werde die Incompetenz des Richters be-
ſeitigt. Allein auch dies iſt nicht eine Folge der L. C.
als ſolcher, und ihres etwa ſo oder anders zu beſtimmenden
Inhalts, ſondern die Einlaſſung ohne Widerſpruch gegen
die Incompetenz wirkt als Prorogation, d. h. als freiwillige
Unterwerfung unter dieſes Gericht.
Das ſo eben bemerkte dringende Bedürfniß führte dahin,
die Wirkungen der L. C. auf einen früheren Zeitpunkt des
Prozeſſes zu verlegen, und dadurch das R. R. der Form
nach abzuändern, dem Sinn und Weſen nach aber feſtzu-
halten. Dieſes Bedürfniß iſt auch ſchon längſt und häufig,
wenngleich oft bewußtlos, anerkannt worden. Es hat ſich
offenbart in der oben dargeſtellten Verwandlung des Begriffs
der L. C., indem man dem im R. R. aufgeſtellten vollſtändigen
Begriff die bloße Erklärung des Beklagten auf die That-
VI. 16
|0260 : 242|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſachen der Klagen untergeſchoben, und dadurch den ur-
ſprünglichen Begriff weſentlich eingeſchränkt hat. Dieſe
einſchränkende Verwandlung bezweckte recht eigentlich, das
Eintreten der L. C. zu erleichtern und früher herbeizuführen.
Daſſelbe Bedürfniß offenbarte ſich aber ferner in der
Annahme, daß ſchon das neue R. R. ſelbſt die L. C. rück-
wärts in einen früheren Zeitpunkt verſetzt habe. Es iſt oben
gezeigt worden, daß dieſe Annahme mit hiſtoriſchen Mis-
verſtändniſſen in der Lehre von der Erbſchaftsklage zuſam-
menhängt (§ 264). Möge man aber auch hierüber denken
wie man wolle, ſo beſchränken ſich doch ohne Zweifel die
Stellen des R. R., welche man jener Annahme zum Grunde
legt, allein auf die Erbſchaftsklage, während bei den zahl-
reichen übrigen Klagen im R. R. ſtets nur von der L. C.
als dem entſcheidenden Zeitpunkt die Rede iſt. Daß man
nun dieſes Verhältniß der Quellenzeugniſſe ſo allgemein
überſah oder ignorirte, und den Ausſprüchen über die Erb-
rechtsklage eine allgemeine Bedeutung, im Widerſpruch mit
ſo vielen anderen Ausſprüchen einräumte, erklärt ſich lediglich
aus dem richtigen Gefühl des oben erwähnten Bedürfniſſes,
dem man nur nicht auf dem richtigen Wege, ſondern auf
unkritiſche Weiſe, Befriedigung zu verſchaffen ſuchte.
Ich will es nunmehr verſuchen, eine Überſicht zu geben
über den Stand der ſehr auseinandergehenden Meinungen
über die hier behandelte Frage.
Einige nehmen als Regel an, daß das urſprüngliche
Princip des R. R. noch jetzt gelte, daß alſo die materiellen
Wirkungen ſtets auf den Zeitpunkt der L. C. zurückzuführen
|0261 : 243|
§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.
ſeyen, wenngleich ſie mitunter einzelne Ausnahmen geſtatten
wollen (b).
Andere behaupten eine gänzliche Umwandlung jenes
Princips, indem an die Stelle der L. C. im heutigen Recht
als Grund und Anfang wichtiger materieller Wirkungen,
die Inſinuation der Klage an den Beklagten getreten ſey (c).
Auch in dieſer Meinung kommen einzelne untergeordnete
Modificationen vor.
Noch Andere endlich, und zwar in neuerer Zeit die
Meiſten, wollen weder das erſte noch das zweite Princip
gelten laſſen, indem ſie annehmen, daß für jede einzelne
materielle Wirkung der Anfangspunkt beſonders unterſucht
und feſtgeſtellt werden müſſe (d).
Ich erkläre mich aus den ſchon entwickelten Gründen,
in offener Anerkennung des neu eingetretenen unabweislichen
Bedürfniſſes, für die zweite Meinung, und nehme daher
die Inſinuation der Klage als das heutige Surrogat der
Römiſchen L. C. an, ſo daß von der Inſinuation an alle
materielle Wirkungen eintreten müſſen, welche das R. R.
an die L. C. knüpft. Hierin liegt das einzige durchgreifende
Mittel, den Anſpruch des Klägers auf die ſchützenden Vor-
ſchriften, welche das R. R. an die L. C. knüpft, gegen die
(b) Glück B. 6 S. 205,
Hofacker § 1020. 4385, Thi-
baut § 709 ed. 8, Mühlenbruch
§ 144. 372 ed. 4.
(c) Hommel rhaps. Obs. 234,
Sintenis Erläuterungen des Ci-
vilprozeſſes § 12. 15. 16, Kierulff
S. 280—284.
(d) Winckler p. 355—365,
Martin Prozeß § 152. 156, Linde
§ 200. 206, Bayer S. 229—234,
S. 248—250, Heffter § 346.
350 ed. 2., Wächter H. 3
S. 86—119.
16*
|0262 : 244|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
verzögernde Willkühr des Beklagten zu ſichern, für welchen
Zweck außerdem der heutige gemeine Prozeß keine aus-
reichende Hülfe gewährt. Auch hat die Praxis der meiſten
Gerichte dieſe wichtige Veränderung, wenigſtens in den
wichtigſten und häufigſten Anwendungen, längſt anerkannt.
Für das aufgeſtellte Princip ſind aber noch folgende
nähere Beſtimmungen nöthig.
Bei manchen einzelnen Wirkungen iſt von einigen
Schriftſtellern noch ein Unterſchied gemacht worden zwiſchen
der Einreichung und der Inſinuation der Klage, um
durch das Zurückgehen auf jene einen noch früheren An-
fangspunkt der materiellen Wirkungen zum Vortheil des
Klägers zu gewinnen; dies iſt insbeſondere für die Unter-
brechung der Klagverjährung behauptet worden, da außer-
dem in der Zwiſchenzeit die Verjährung ablaufen könnte.
Dieſe Behauptung hat keinen Anhalt in unſren Rechts-
quellen, und iſt ſchon als kleinlich zu verwerfen. Beſonders
aber widerſpricht ſie gänzlich dem Princip, nach welchem
es weſentlich darauf ankommt, daß in dem Beklagten ein
Bewußtſeyn des erhobenen Rechtsſtreits entſtanden ſeyn
müſſe. Wo in der That ein ſolcher Verluſt eintritt, wird
es nicht leicht ohne Nachläſſigkeit des Klägers geſchehen,
und wo dieſe gar nicht vorhanden iſt, wird durch Reſtitu-
tion geholfen werden können (e). Man könnte ſogar in der
ängſtlichen Vorſorge noch weiter gehen, und zwiſchen der
Abſendung der Klagſchrift und deren Empfang von Seiten
(e) Etwa ſo, wie gegen die ſchuldlos verſäumte damni infecti sti-
pulatio Reſtitution gegeben wird. L. 9 pr. de damno inf. (39. 2).
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§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.
des Richters unterſcheiden, indem ja auch noch in dieſer
Zwiſchenzeit ein Ablauf der Verjährung denkbar iſt.
Es iſt ferner behauptet worden, wenn man auch die
Inſinuation als heutiges Surrogat der L. C. im Allge-
meinen anerkennen wollte, ſo müßte doch noch die beſchrän-
kende Bedingung hinzugefügt werden, daß es in Folge
derſelben auch wirklich zu einem Rechtsſtreit gekommen ſey,
indem außerdem weder eine lis noch eine contestatio
(Kriegsbefeſtigung) angenommen werden könne; ohne das
Daſeyn einer ſolchen aber ſey für die materiellen Wirkungen
kein rechtfertigender Grund vorhanden. — Obgleich dieſe
Behauptung vielen Schein hat, ſo muß ich doch das prac-
tiſche Bedürfniß für die erwähnte Einſchränkung verneinen.
Erwägt man nämlich die verſchiedenen Gründe, welche die
wirkliche Entſtehung des Rechtsſtreits verhindern können,
ſo liegt in denſelben kein Bedürfniß, durch jenes Mittel
einen ungerechten Nachtheil von dem Beklagten abzuwenden,
welches doch eigentlich der Sinn jener Behauptung iſt. —
Der Grund kann zuerſt darin liegen, daß der Beklagte gar
keinen Streit führen will, indem er den Anſpruch des Klägers
einräumt; dann iſt von Wirkungen der L. C. ohnehin nicht die
Rede. — Oder der Rechtsſtreit wird deswegen nicht erfolgen,
weil die Klage vor einem incompetenten Richter, oder gegen
einen unrichtigen Beklagten angeſtellt iſt. Auch dann kann
von Wirkungen der L. C. nicht die Rede ſeyn, indem dieſer
irrige Verſuch eines Rechtsſtreits mit dem vielleicht nachher
folgenden wahren Rechtsſtreit keinen Zuſammenhang hat (f).
(f) So bewirkt z. B. die Anſtellung der Klage eine Unterbrechung der
|0264 : 246|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
§. 279.
Stellung der Litis Conteſtation und ihre Folgen im
heutigen Recht. (Fortſetzung.)
Nachdem nunmehr das Princip für das heutige Recht
aufgeſtellt worden iſt, ſind die einzelnen Anwendungen
deſſelben, mit Rückſicht auf die Meinungen neuerer Schrift-
ſteller, durchzugehen. Ich werde dabei die Ordnung be-
folgen, nach welcher in der gegenwärtigen Abhandlung die
materiellen Wirkungen der L. C. zuſammen geſtellt worden
ſind. Dabei muß noch die Bemerkung vorausgeſchickt
werden, daß zwei dieſer Wirkungen durch ihr häufiges
Vorkommen, ſo wie durch ihre practiſche Wichtigkeit, vor
allen anderen ſich auszeichnen. Ich meine die Unterbrechung
der Klagverjährung, und die omnis causa, d. h. die Ver-
gütung der Vortheile, die dem Kläger durch die Dauer
des Rechtsſtreits entzogen worden ſind, insbeſondere Früchte
und Zinſen. Bei dieſen Punkten hat ſich denn auch vor-
zugsweiſe eine feſte Praxis der Gerichte ausgebildet.
1. Der Quaſicontract in der L. C., d. h. die
in der Römiſchen L. C. enthaltene contractähnliche Obliga-
tion (§ 258).
Darin liegt nicht ſowohl eine einzelne practiſche Folge,
als vielmehr die Grundlage und der zuſammenfaſſende
Ausdruck für die einzelnen Folgen, welche nun der Reihe
nach aufgeführt werden ſollen. Daher hat ſich auch dafür,
Klagverjährung nur zwiſchen dieſem beſtimmten Kläger und Beklagten.
S. o. B. 5 S. 320.
|0265 : 247|
§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)
wegen der abſtracten oder theoretiſchen Natur dieſer Wirkung,
eine Praxis der Gerichte nicht eigentlich ausbilden können.
Dagegen iſt ſie vorzugsweiſe dazu geeignet, den wahren
Sinn der hier behaupteten Neuerung, im Gegenſatz der ihr
widerſprechenden Behauptung, zur Anſchauung zu bringen.
Die Meinung geht nämlich dahin, daß im heutigen
gemeinen Prozeß der Quaſicontract mit allen ſeinen Folgen
zu Stande kommt im Augenblick der Inſinuation der Klage.
Die entgegen geſetzte Behauptung, welche das R. R.
aufrecht zu erhalten vorgiebt, dieſes aber nur ſcheinbar
und dem Buchſtaben nach thut, geht dahin: der Quaſi-
contract ſey geſchloſſen in dem Augenblick, worin ſich der
Beklagte zuerſt auf den thatſächlichen Inhalt der Klage
erklärt. Ein innerer Grund dieſer Verbindung des Quaſi-
contracts mit der thatſächlichen Erklärung des Beklagten
iſt nicht vorhanden, wird auch in der That von Keinem
behauptet. Jene Verbindung iſt vielmehr die blos zufällige
Folge des Umſtandes, daß das R. R. den Quaſtcontract
an die L C. knüpfte (die damals etwas Anderes bedeutete),
und daß man ſich vom Mittelalter her allmälig gewöhnt
hat, den Römiſchen Namen litis contestatio für die Er-
klärung des Beklagten über die Thatſachen zu gebrauchen.
2. Unterbrechung der Klagverjährung (§ 261.
No. I.).
Dieſes war eine der wichtigſten Wirkungen der L. C.,
ſie ſteht aber mit ihr nicht mehr in Verbindung, ſeitdem
das neuere R. R. dieſe Wirkung an den früheren Zeitpunkt
der Inſinuation ausdrücklich angeknüpft hat (§ 242. 243).
|0266 : 248|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
In dieſem einzelnen Fall alſo hat ſchon das R. R. die
wichtige Umwandlung wirklich vollzogen, die hier dem
heutigen Recht auch für alle übrigen Fälle zugeſchrieben wird.
Der richtigeren Meinung nach iſt mit dieſer Unter-
brechung der bisher laufenden Klagverjährung (die oft
eine ſehr kurze iſt) ſtets auch die Begründung einer neuen
Klagverjährung, und zwar nun von Vierzig Jahren, ver-
bunden. Manche wollen ohne Grund dieſe beide Wirkungen
von einander trennen, und an verſchiedene Zeitpunkte des
Prozeſſes knüpfen; ſie nennen dann die Begründung der
vierzigjährigen Verjährung die Perpetuation der Klage (a).
3. Entkräftung der Uſucapion (§ 261. No. II.).
Manche behaupten eine wirkliche Unterbrechung der
Uſucapion, und wenden dann die Unterbrechung der Klag-
verjährung, mit dem Zeitpunkt derſelben, unmittelbar auf
die Uſucapion an. Dieſe Meinung iſt oben widerlegt
worden.
Dagegen iſt es richtig, daß der Beklagte die Verpflich-
tung hat, wenn während des Rechtsſtreits die Uſucapion
abläuft, die Folgen derſelben dadurch auszutilgen, daß er
das ſo erworbene Eigenthum zurück auf den Kläger über-
trägt. Dieſe Verpflichtung iſt eine einzelne Folge des
Quaſicontracts, entſteht alſo mit dieſem im Augenblick der
Inſinuation.
4. Übergang der nicht vererblichen Klagen
auf die Erben des Beklagten (§ 262. IV.) (b).
(a) S. o. B. 5 S. 323.
(b) nicht auch auf die Erben des Klägers (§ 264. a).
|0267 : 249|
§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)
Hier behaupten die Meiſten, daß noch jetzt die L. C.
als Anfang des Übergangs feſtgehalten werden müſſe (c).
Gerade hier aber iſt die practiſche Unhaltbarkeit dieſer An-
ſicht recht augenſcheinlich. Wenn Jemand durch ein Delict
zur Entſchädigung verpflichtet iſt, ſo ſoll die hierauf gerich-
tete Pönalklage nur mit großen Beſchränkungen auf die
Erben des Beklagten übergehen (§ 211); dagegen läßt
das R. R., von der L. C. an, den Uebergang unbedingt
zu. Es iſt aber wohl einleuchtend, daß es einem ſolchen
Beklagten am wenigſten zukommen darf, durch abſichtliche
Verzögerung der L. C. den Übergang auf die Erben zu
vereiteln. — Auch liegt der Grund, der hier eine ſo viel-
ſtimmige Vertheidigung des alten Rechtsſatzes veranlaßt,
nicht etwa in einem inneren Bedürfniß dieſes beſonderen
Falles, welches von keinem behauptet wird; er liegt viel-
mehr nur darin, daß viele Stellen des R. R. die L. C.
als Zeitpunkt des Übergangs anerkennen. Dieſes nun
ſoll gewiß nicht bezweifelt werden, aber es iſt in dieſem
Fall nicht mehr wahr, als in manchen anderen Anwen-
dungen, worin doch jene Vertheidiger ſelbſt (ohne gehörige
Conſequenz) die L. C. Preis geben.
Einige Schriftſteller dagegen behaupten gerade für
dieſen Fall den Übergang von der Zeit der Inſinuation
an, jedoch aus einem irrigen Grunde (d). Ein Reichs-
(c) Carpzov jurispr. for.
P. 4 Const. 46 Def. 6. — Winck-
ler p. 357. — Pufendorf obs. IV.
94. — Glück B. 6 S. 205. —
Martin Prozeß § 156. — Linde
Prozeß § 206. — Bayer Civil-
prozeß S. 248. — Wächter H. 3
S. 112—114.
(d) Francke Beiträge S. 43. —
Sintenis Erläuterungen S. 148;
dieſer will ſogar auf die Zeit der
Einreichung der Klage zurückgehen.
|0268 : 250|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung
geſetz verordnet nämlich für den Fall des Landfriedensbruchs
ausdrücklich, daß die Strafe auch gegen die Erben des
Thäters gehen ſoll, ſelbſt wenn er vor der L. C. ſtirbt (e).
Dieſes iſt aber ſo wenig Ausdruck einer allgemeinen Regel
für alle Klagen überhaupt, wofür es doch von jenen
Schriftſtellern ausgegeben wird, daß es vielmehr als ein
Zeugniß in entgegengeſetzter Richtung angeſehen werden
könnte, da es offenbar die Abſicht des Geſetzes iſt, jenes
Verbrechen mit beſonderer Strenge zu behandeln.
Nach der Praxis des Oberappellationsgerichts zu Lübeck
tritt der Übergang auf die Erben mit der Inſinuation ein.
5. Entſtehung des Rechts des Klägers erſt
während des Rechtsſtreits (§ 262. N. V.).
Wenn der Kläger eine Eigenthumsklage anſtellt, ohne
Eigenthum zu haben, dieſes aber nach der L. C. erwirbt,
ſo ſoll er in dieſem Prozeß nicht gewinnen können, ſondern
genöthigt ſeyn eine neue Klage anzuſtellen.
Daß auch hier die Inſinuation an die Stelle der L. C.
geſetzt werde, iſt zwar nicht ſehr wichtig, folgt aber aus
dem Princip. Auch iſt es in dieſem früheren Stadium des
Prozeſſes für den Kläger noch weniger als ſpäter läſtig,
die erſte Klage fallen zu laſſen, und eine neue anzuſtellen.
Dagegen kann es, wie oben bemerkt worden iſt, den Be-
klagten ohne Grund gefährden, wenn dieſer in Voraus-
ſetzung des früheren Rechtszuſtandes ſeine Vertheidigung
einrichtet, ohne die eingetretene neue Thatſache zu kennen
und zu berückſichtigen.
(e) K. G. O. 1555 Th. 2 Tit. 9 § 6.
|0269 : 251|
§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)
6. Entſtehung der Mora und der mala fides
(§ 264).
Die von vielen aufgeſtellte Behauptung, welche jene
Momente an die L. C. anknüpft, iſt im Princip ohnehin
zu verwerfen, wie ſchon oben gezeigt worden iſt. Was
aber dabei an relativer Wahrheit etwa zugegeben werden
kann, daß nämlich oft, nach den Umſtänden des einzelnen
Falles, einzelne Momente des Prozeſſes den Richter zur
Annahme einer Mora beſtimmen können (§ 264. g), — dieſes
iſt von der Inſinuation eben ſo wahr als von der L. C.
7. Omnis causa, insbeſondere Früchte und
Zinſen, mit Einſchluß der verſäumten Früchte
(§ 265 — 271).
Dieſe Wirkung iſt geradezu die wichtigſte unter allen.
Wir müſſen ſie an die Inſinuation knüpfen, in Anwendung
des allgemeinen Princips, deſſen practiſche Wahrheit
gerade bei dieſer Anwendung recht anſchaulich wird. Der
Beklagte wird hier zu gewiſſen Leiſtungen verpflichtet,
und ſelbſt mit einer beſonderen Strenge verpflichtet, weil
er ſich eventuell als den Verwalter fremder Vermögens-
ſtücke anzuſehen hat. Dieſes Bewußtſeyn können wir ihm
mit gutem Grunde zuſchreiben, ſobald er durch die Inſi-
nuation von dem Rechtsſtreit Kenntniß erhält. Es iſt abe
durchaus kein innerer Grund vorhanden, den Anfang
dieſes Bewußtſeyns gerade in den Zeitpunkt zu ſetzen, in
welchem er ſich über die thatſächlichen Behauptungen der
Klage erklärt.
Hierin ſind die Meinungen getheilt. Einige halten feſt
|0270 : 252|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
an der L. C. (f). Die Meiſten dagegen nehmen bei dieſem
wichtigſten Punkte ganz richtig die Inſinuation als Anfang
jener Verpflichtung an (g), aber freilich indem ſie großen-
theils dieſer ihrer Behauptung einen nicht haltbaren Grund
unterlegen. Sie berufen ſich dabei auf mehrere Ausſprüche
des R. R. über die Erbrechtsklage, indem ſie den beſonderen
hiſtoriſchen Zuſammenhang dieſer Ausſprüche unbeachtet laſſen,
und zugleich den Inhalt derſelben generaliſiren, dabei aber
die zahlreichen Stellen des R. R. unbeachtet laſſen, die für ſo
viele andere Klagen entgegengeſetzte Beſtimmungen enthal-
ten. Der Grund dieſes unkritiſchen Verfahrens liegt in
einer allgemeinen Anſicht, die für die ganze Auffaſſung
unſres Gegenſtandes ſo wichtig iſt, daß ich dabei noch
etwas verweilen muß.
Man geht davon aus, das ältere R. R. habe die L. C.
an die Spitze des ganzen Rechtsſtreits geſtellt, und als
Anfangspunkt wichtiger materieller Wirkungen behandelt;
es gehöre aber zu einem an ſich vollkommneren Zuſtand
des Prozeßrechts, daß dieſe wichtige Stelle vielmehr der
Vorladung des Beklagten eingeräumt werde. Dieſes habe
Hadrian wohl erkannt, und daher ſey in dem Sc. Juven-
(f) Linde Prozeß § 206. Bei
ihm ſcheint mir dieſe Behauptung
beſonders inconſequent, da er doch
im § 200 die Mora und die mala
fides mit der Inſinuation an-
fangen läßt.
(g) Winckler p. 365 (nach
der Praxis der meiſten Gerichte). —
Kind quaest. for. T. 3 C. 88,
T. 4 C. 46. — Martin § 152. —
Bayer S. 233. — Kierulff
S. 278 in Verbindung mit S. 281.
— Wächter H. 3 S. 105 — 110.
Mit dieſer richtigen Meinung ſtimmt
überein die Praxis des O. A. G. zu
Lübeck, welches von der Inſi-
nuation an Zinſen zuerkennt. Eben
ſo die Praxis des Reviſionshofs
zu Berlin, ſo wie die der Juriſten-
facultät zu Berlin (§ 271. u. v. w).
|0271 : 253|
§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)
tianum bei der Erbrechtsklage der große Fortſchritt gemacht
worden, nicht mehr bei der L. C. ſtehen zu bleiben, ſondern
jene Wirkungen in einem früheren Zeitpunkt eintreten zu
laſſen. Es liege nur an der einſichtsloſen Juſtinianiſchen
Compilation, wenn dieſer Gedanke nicht rein und allge-
mein durchgeführt erſcheine, ſondern Altes und Neues un-
verbunden neben einander liege. Wir aber handelten ganz
im Sinn der Entwicklung des R. R., wenn wir jene
Durchführung noch jetzt vornähmen, den Gedanken Ha-
drians generaliſirten, und Alles von der Vorladung ab-
hängig machten (h).
Dieſe Auffaſſung muß ich für durchaus verwerflich
erklären. Ob es überhaupt beſſer iſt, die Vorladung oder
die L. C. an die Spitze zu ſtellen und als entſcheidenden
Punkt zu behandeln, läßt ſich im Allgemeinen nicht ſagen;
es hängt von der Einrichtung des ganzen Prozeßverfahrens
ab. So lange der alte ordo judiciorum in ſeiner Reinheit
und Vollſtändigkeit beſtand (wie ganz gewiß in Hadrians
Zeit), war die alte Stellung der L. C. dem Zweck des
Prozeſſes völlig entſprechend, alſo durchaus gut und keiner
Veränderung bedürftig. Hadrians Neuerungen hierin ſind
auch gar nicht aus der Abſicht einer Vervollkommnung des
Prozeßrechts im Allgemeinen entſprungen, ſondern lediglich
aus den ganz eigenthümlichen Bedürfniſſen der Erbrechtsklage.
Hätte er die ihm untergeſchobene Abſicht eines Fortſchritts
(h) Mehr oder weniger liegt
der im Text entwickelte und be-
kämpfte Gedanke bei den Meiſten
ſtillſchweigend zum Grunde. Am
vollſtändigſten ausgebildet findet
er ſich bei Kierulff S. 280
bis 284.
|0272 : 254|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
im Prozeßrecht gehabt, ſo wäre es doch wunderbar, daß
die großen Juriſten einer weit ſpäteren Zeit, daß Papi-
nian und Ulpian nicht hinter das Geheimniß jenes Ge-
dankens gekommen ſeyn ſollten; daß ſie ſtets von der L. C.
als dem entſcheidenden Zeitpunkt ſprechen, anſtatt die Vor-
ladung allgemein an deren Stelle zu ſetzen.
8. Vergütung des Untergangs und der Be-
ſchädigung der Sache, wenn dieſe während des
Rechtsſtreits durch Dolus oder Culpa des Be-
klagten erfolgt (§ 272).
9. Vergütung des zufälligen Untergangs in
demſelben Zeitraum, wenn der Beklagte ein un-
redlicher Beſitzer iſt (§ 273).
Dieſe beide Folgen ſtehen, eben ſo wie die Verpflichtung
für die Früchte, in unmittelbarem Zuſammenhang mit dem
Quaſicontract, und müſſen alſo, genau ſo wie dieſer, von
der L. C. auf die Zeit der Inſinuation übertragen werden.
Ich faſſe dieſe Unterſuchung über den Zuſtand des
heutigen Rechts kurz zuſammen. Das R. R. knüpft die
wichtigſten materiellen Wirkungen an den Eintritt der
L. C. Durch die ſehr veränderte Lage des Prozeſſes ſind
wir genöthigt, dieſen Grundſatz dem Buchſtaben nach zu
verlaſſen, und nur dem Sinn und Zweck nach feſt zu halten,
indem wir den Anfang jener Wirkungen von der L. C.
auf die Inſinuation übertragen.
Wenn ich neben dieſer Überzeugung den Namen der
L. C. überall beibehalten, und ſelbſt an die Spitze der
|0273 : 255|
§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)
gegenwärtigen Abhandlung geſtellt habe, ſo iſt Dieſes mit
Abſicht geſchehen. Es iſt geſchehen, weil es dazu dient,
den Schatz juriſtiſcher Einſicht, der uns in den Quellen
des R. R. auch für dieſe Lehre aufbewahrt iſt, zugänglicher
zu erhalten, und weil uns zugleich der Zuſammenhang mit
der geſammten juriſtiſchen Literatur, vom Mittelalter bis
auf unſre Zeit, geſtört wird, wenn wir jene Bezeichnung
aufgeben.
Gemeint aber iſt in dieſer ganzen Unterſuchung der
materielle Einfluß der Dauer des Rechtsſtreits
auf das ſtreitige Rechtsverhältniß. Wenn dabei
die L. C. von den Römern als entſcheidendes Moment
bezeichnet wurde, ſo geſchah es nicht, als ob man ihr eine
beſondere, geheimnißvolle Kraft hätte beilegen wollen. Es
geſchah, weil ſie dazu geeignet war, den genauen Anfangspunkt
des Rechtsſtreits zu bezeichnen, und ſo in ihr den Rechts-
ſtreit gleichſam zu perſonificiren. Wir aber haben wichtige
Gründe, hierin die Inſinuation an ihre Stelle treten zu laſſen.
Eine Beſtätigung der hier entwickelten, großentheils
auch von neueren Schriftſtellern anerkannten, Meinung
über das wahre Bedürfniß des heutigen Rechts, finde ich
in dem Wege, den die Preußiſche Geſetzgebung eingeſchlagen
hat. Bei der Feſtſtellung derſelben kam es zur Sprache,
mit welchem Zeitpunkt die eigenthümlichen Prozeßverpflich-
tungen anfangen ſollten, die daſelbſt mit dem Namen des
unredlichen Beſitzes bezeichnet werden (§ 264). An die
L. C., wie ſie die neueren Romaniſten annahmen, d. h. an
|0274 : 256|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
die Zeit der eingereichten Exceptionsſchrift, konnte man nicht
denken, weil man den ſchriftlichen Prozeß des neueren
gemeinen Rechts verlaſſen hatte (i). Daher wurde zuerſt
vorgeſchlagen, die Verkündigung des Urtheils als Zeitpunkt
anzunehmen; es wurde aber dieſer Vorſchlag verworfen,
und die Inſinuation der Klage als Zeitpunkt angenommen
(§ 264. z). Und ſo findet ſich hier, neben einer ſehr ver-
ſchiedenen Auffaſſung und Ausdrucksweiſe, dennoch ein
hoher Grad innerer Übereinſtimmung, hervorgegangen aus
dem richtigen Gefühl des wahren practiſchen Bedürfniſſes.
(i) Hätte man ſich ganz an
den wahren Sinn des R. R. an-
ſchließen wollen, ſo fand man in
dem status causae et contro-
versiae des Preußiſchen Prozeſſes
einen richtigen Vergleichungspunkt
(§ 259. o). Allein jener wahre
Sinn war damals auch unter den
Romaniſten faſt ganz vergeſſen,
und ſo kam der hier erwähnte Zeit-
punkt nicht einmal in Frage. Auch
iſt gar nicht meine Meinung es
zu tadeln, daß dieſer Zeitpunkt
nicht gewählt wurde; denn aller-
dings wäre derſelbe nicht auf alle
Arten des Prozeſſes anwendbar
geweſen, wie es die Inſinuation in
der That iſt. — Faſt möchte man
aber glauben, Suarez habe an-
genommen, die L. C. ſey im R.
R. mit der Inſinuation identiſch.
Denn er ſagt in Kamptz Jahrb.
B. 41 S. 8. 9: „daß das R. R. ..
mit dem Tage, da der Possessor
b. F. per litis contestationem
in malam fidem verſetzt worden;“
und gleich nachher: „Nach der
Römiſchen Theorie hängt es blos
vom Zufall ab, zu welcher Zeit
der Beſitzer durch Inſinuirung
der Citation in malam Fidem
verſetzt wird.“ Die Stellen ſind
richtig abgedruckt, ſie ſtehen Vol. 88
f. 47 der Materialien, und ſind in
der Zeit des letzten Abſchluſſes der
Geſetzgebung niedergeſchrieben.
Gedruckt in der Deckerſchen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei.
|0275 : 257|
§. 280.
Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.
Hauptquelle: Tit. Dig. de exceptione rei judicatae
(Lib. 44 Tit. 2) (a).
Schriftſteller:
Donellus Lib. 20 C. 5.
Keller über Litisconteſtation und Urtheil. Zürich
1827. 8.
Buchka Einfluß des Prozeſſes auf das materielle
Rechtsverhältniß. Th. 1. 2. Roſtock und Schwerin
1846. 1847.
Wächter Handbuch des in Württemberg geltenden
Privatrechts B. 2 (1846) § 73 S. 557 fg., und:
Erörterungen Heft 3 (1846) S. 43—61.
Das Weſen jedes Rechtsſtreits beſteht in einem Gegen-
ſatz von Behauptungen und Anſprüchen der Parteien
(§ 256), und die Aufgabe geht dahin, dieſen Gegenſatz
(a) Nach der Überſchrift könnte
man als die wichtigſte Quelle den
Titel de re judicata (XLII. 1)
betrachten; allein dieſer handelt
von der Execution des Urtheils,
den Mitteln und Einſchränkungen
derſelben, alſo von der formellen
oder prozeſſualiſchen Seite des Ge-
genſtandes, welche nicht zu unſrer
Aufgabe gehört.
VI. 17
|0276 : 258|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
von einem höheren Standpunkt aus in Einheit aufzu-
löſen.
Dieſe Auflöſung hat, eben ſo wie die bisher abgehan-
delten Stücke des Rechtsſtreits, ihre formelle und ihre
materielle Seite. Jene beſteht bei dem ganzen Rechtsſtreit
in der Thätigkeit der Parteien und des Richters, alſo in
der Form und Einrichtung der Prozeßhandlungen, ihrer
Folge und ihrem Zuſammenhang; insbeſondere bei dem
Theil des Rechtsſtreits, wovon gegenwärtig die Rede iſt,
in der Art, wie der Richter zum Ausſpruch eines Urtheils
gelangt, ſo wie in der Form und dem Inhalt des Ur-
theils. — Die materielle Seite des Urtheils beſteht in der
Rückwirkung deſſelben auf den Inhalt und Umfang der
Rechte ſelbſt; ſie allein gehört zur Aufgabe unſres Rechts-
ſyſtems, und bildet in demſelben einen Theil des Actio-
nenrechts (§ 204).
Dieſe Lehre gehört unter die wichtigſten des ganzen
Rechtsſyſtems. Sie iſt von ſehr häufiger Anwendung, und
die Wirkungen derſelben ſind noch bedeutender, als die der
Litisconteſtation. Daher muß es auffallen, daß gerade
dieſe Lehre ſowohl in Vorleſungen als in Rechtsſyſtemen
meiſt vernachläſſigt worden iſt, und auch durch beſondere
Schriften keine hinreichende Bearbeitung erfahren hat (b).
Selbſt in umfaſſenden neueren Geſetzgebungen iſt derſelben
nur geringe Beachtung zu Theil geworden.
(b) Dieſe auffallende Vernachläſſigung wird gerügt von Puchta
im rhein. Muſeum B. 2 S. 251.
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§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.
Daß aber das richterliche Urtheil eine ſolche Rückwir-
kung auf den Inhalt der Rechte ausübt, wie es oben als
die Aufgabe des gegenwärtigen Abſchnitts bezeichnet worden
iſt, das verſteht ſich keinesweges von ſelbſt, und iſt nicht
etwa eine aus dem Begriff des Richteramtes abzuleitende
natürliche oder nothwendige Folge. Aus dieſem Begriff
folgt nur, daß jeder Rechtsſtreit entſchieden, und daß dieſe
Entſcheidung durch äußere Macht, ſelbſt gegen den Willen
der unterliegenden Partei, zur Ausführung gebracht werde.
Wenn aber in irgend einem ſpäteren Rechtsſtreit die Rich-
tigkeit des früheren Urtheils in Zweifel gezogen wird, ſo
ſcheint es natürlich, eine neue Prüfung vorzunehmen.
Wird dabei das Urtheil als ein irriges erkannt (ſey es von
demſelben oder von einem anderen Richter), ſo ſcheint es
eine einfache Forderung der Gerechtigkeit, den früheren
Irrthum zu berichtigen, und das begangene Unrecht gut
zu machen, indem das zuletzt erkannte wahre Recht geltend
gemacht wird.
Betrachten wir jedoch näher die Folgen, die mit einem
ſolchen, ſcheinbar natürlichen und gerechten Verfahren un-
vermeidlich verbunden ſeyn würden. Hier müſſen wir vor
Allem anerkennen, daß ſehr häufig die Entſcheidung eines
Rechtsſtreits ungemein zweifelhaft ſeyn kann, bald wegen
einer ſtreitigen Rechtsregel, bald wegen ungewiſſer That-
ſachen, bald weil die Thatſachen in ganz verſchiedener
Weiſe unter die Rechtsregeln bezogen werden können. Da-
her würde es oft geſchehen können, daß ein richterliches
17*
|0278 : 260|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Urtheil ſpäter durch ein entgegengeſetztes Urtheil entkräftet
würde. Mit dieſer Abänderung aber wäre die Sache noch
keinesweges zu Ende. Denn ein noch ſpäterer Richter
könnte wieder das zweite Urtheil als irrig anſehen, und
nun das erſte wieder herſtellen, oder auch eine von beiden
verſchiedene Meinung durchführen. Die nothwendige Folge
jenes Verfahrens alſo würde eine wahrhaft endloſe Un-
ſicherheit des Rechtszuſtandes ſeyn, ſobald einmal irgend ein
Rechtsverhältniß Gegenſtand eines Streites geworden wäre.
Aus dieſer Betrachtung geht hervor, daß wir zwei ſehr
ernſte Gefahren von entgegengeſetzter Art vor uns haben.
Auf der einen Seite ſteht die Gefahr, daß wir ein aus
dem Irrthum oder böſen Willen eines Richters entſprunge-
nes Urtheil aufrecht halten müſſen, auch wenn wir deſſen
Ungerechtigkeit mit voller Ueberzeugung einſehen. Auf der
anderen Seite die Gefahr einer völlig gränzenloſen Unge-
wißheit der Rechts- und Vermögensverhältniſſe, die ſich
durch viele Geſchlechter hindurch ziehen kann. Zwiſchen
dieſen beiden Gefahren haben wir zu wählen. Es iſt eine
Frage der Rechtspolitik, welches unter den Uebeln, die aus
dieſen entgegengeſetzten Gefahren hervorgehen können, das
größere iſt, und auf dieſe Frage kann nur die erfahrungs-
mäßige Erwägung der wirklichen Zuſtände und Bedürfniſſe
eine ſichere Anwort geben.
Dieſe Erwägung hat von ſehr alter Zeit her, und in
der Geſetzgebung verſchiedener Völker, dahin geführt, die
zuletzt erwähnte Gefahr der Rechtsunſicherheit als die weit
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§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.
größere, ja völlig unerträgliche, anzuerkennen, und für ihre
Abwendung durch ein poſitives Rechtsinſtitut die nöthige
Anſtalt zu treffen. Damit wird zugleich mit deutlichem
Bewußtſeyn die entgegengeſetzte Gefahr übernommen, daß
zuweilen ungerechte Urtheile ohne Abhülfe aufrecht erhalten
werden müſſen; dieſe Gefahr aber iſt nicht nur an ſich
ſelbſt die geringere, ſondern es iſt auch noch das Mittel
gefunden worden, ſie durch eine beſondere künſtliche Anſtalt
(die Inſtanzen) zu vermindern, von welcher weiter unten
die Rede ſeyn wird (§ 284).
Das höchſt wichtige Rechtsinſtitut, wodurch der ange-
gebene Zweck erreicht werden ſoll, läßt ſich im Allgemeinen
als die Rechtskraft der richterlichen Urtheile bezeichnen,
welche nichts Anderes iſt, als die Fiction der Wahr-
heit, wodurch das rechtskräftige Urtheil gegen jeden künf-
tigen Verſuch der Anfechtung oder Entkräftung geſichert
wird. Ein geiſtreicher Schriftſteller hat dafür den Aus-
druck des förmlichen Rechts, im Gegenſatz des wirk-
lichen Rechts, gebraucht (c). Der allgemeinſte Ausſpruch
über den Inhalt und die Gründe dieſes Rechtsinſtituts
findet ſich in folgender Stelle aus dem Commentar des
Paulus zum Edict:
L. 6 de exc. rei jud. (44. 2.)
Singulis controversiis singulas actiones (d), unum-
(c) Möſer patriotiſche Phan-
taſieen B. 4 N. 30.
(d) Den Worten nach könnte
das ſo verſtanden werden, jedem
Rechtsverhältniß dürfe ſtets nur
Eine Klage entſprechen, welches
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
que judicati finem sufficere, probabili ratione placuit;
ne aliter modus litium multiplicatus summam atque
inexplicabilem faciat difficultatem, maxime si diversa
pronuntiarentur. Parere ergo exceptionem (e) rei
judicatae frequens est.
falſch wäre, da man oft zwiſchen
vielen Klagen die Wahl hat.
Singulas actiones sufficere heißt
vielmehr: man ſoll nicht mehrmals
aus demſelben Rechtsgrund klagen.
Es iſt der Ausdruck für die Kla-
genconſumtion, alſo derſelbe Ge-
danke, wie in dem alten Rechts-
ſpruch, welchen Quinctilian. inst.
or. VII. 6 anführt, indem er deſſen
zweideutige Faſſung bemerklich
macht: „quod scriptum est:
bis de eadem re ne sit actio.“
(e) Dieſes iſt die Florentiniſche
Leſeart; die Vulgata hat excep-
tioni. Man ſollte kaum glauben,
wie mancherlei Erklärungen dieſe
wenigen Schlußworte der Stelle
zulaſſen. Nach der Vulgata kön-
nen ſie nur ſo verſtanden werden:
es geſchieht häufig, daß man der
exc. rei judicatae gehorchen
(Folge leiſten) muß. So verſteht
die Stelle Cujacius recit. in
Paulum ad ed. lib. 70; dabei
fehlt es aber an der Andeutung
eines gehorchenden Subjects. —
Nach der Florentina kann man
auf zweierlei Weiſe erklären. Zu-
erſt wenn man lieſt: parĕre, und
nun ſo deutet: es geſchieht häufig,
daß eine exc. r. j. erzeugt wird.
So verſteht die Stelle Brissonius
v. parĕre N. 3; dabei aber fehlt
wieder die Andeutung des erzeu-
genden Subjects, ſo daß dieſer
Gedanke nur durch: nasci excep-
tionem, oder durch: sententiam
parere exceptionem fehlerfrei
und ohne Härte ausgedrückt werden
könnte. — Zweitens indem man
lieſt parēre, in dem Sinn von
apparere, alſo mit dieſem Ge-
danken: es geſchieht oft, daß die
exc. r. j. erſcheint, gebraucht
wird. Dieſe letzte Erklärung iſt
wenigſtens frei von den Einwen-
dungen, welchen die beiden erſten
unterliegen. — Eine ſehr beſchei-
dene, alle Schwierigkeiten löſende,
Emendation wäre dieſe: parĕre
ergo exceptionem rem judica-
tam frequens est. (Vergl. als
Parallelſtelle L. 7 § 4 de pactis
„Nuda pactio obligationem non
parit, sed parit exceptionem,“
und L. 7 pr. eod.). Die Ent-
ſtehung des gegenwärtigen Textes
würde ſich dann theils aus der
Überſchrift des Titels, theils aus
der etwas verſteckten Conſtruction
des Satzes, leicht und befriedigend
erklären.
|0281 : 263|
§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.
Es iſt einleuchtend, daß mit dieſer, dem rechtskräftigen
Urtheil beigelegten Fiction der Wahrheit eine ſehr ſtarke
Rückwirkung der bloßen Prozeßhandlung auf die Rechte
ſelbſt verbunden iſt. Denn durch dieſe Fiction kann es
geſchehen, daß ein vorher nicht vorhandenes Recht neu
erzeugt, oder daß ein vorhandenes Recht zerſtört, vermindert,
oder in ſeinem Inhalt verändert wird.
Der praktiſche Werth dieſes Rechtsinſtituts bedarf noch
einer kleinen Erläuterung. Auf den erſten Blick könnte
man glauben, die Rechtskraft ſey wichtig bei ungerechten
Urtheilen, durch welche das vorhandene Rechtsverhältniß in
ſein Gegentheil verkehrt wird, unwichtig bei gerechten,
durch welche nur dasjenige beſtätigt wird, welches ohnehin
und ohne Rechtskraft wahr iſt. Wäre dem alſo, ſo müßte
man die Abſchaffung des ganzen Inſtituts wünſchen; es
verhält ſich aber in der That ganz anders. Zwar iſt
allerdings die Einwirkung der Rechtskraft beſonders ſtark
und auffallend in dem unglücklichen Fall eines ungerechten
Urtheils, für welchen Fall es gewiß nicht eingeführt iſt,
und deſſen Möglichkeit wir nur mit hinnehmen müſſen als ein
unvermeidliches Übel; aber wichtig und heilſam iſt die Rechts-
kraft auch im Fall des gerechten Urtheils, deſſen Befeſti-
gung eben ihren ganzen Zweck ausmacht. Wenn man
erwägt, wie viele Rechtsverhältniſſe an ſich ſchwankend
und zweifelhaft ſind, wie oft es geſchieht, daß ein jetzt
vorhandenes Beweismittel ſpäterhin fehlt, daß ein ſpäterer
Richter irren kann, wo der gegenwärtige richtig urtheilte
|0282 : 264|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
und daß die Entſchiedenheit an ſich (abgeſehen von dem
Inhalt des Urtheils), im Gegenſatz der fortdauernden Un-
gewißheit, für alle Theile wünſchenswerth iſt — wenn man
dieſes Alles erwägt, ſo wird man geneigt ſeyn, die hohe
Wichtigkeit des Einfluſſes der Rechtskraft auch für den
Fall gerechter Urtheile anzuerkennen.
Die nun folgende Lehre von der Rechtskraft ruht, ſo
wie das ganze vorliegende Werk, auf dem Boden des Rö-
miſchen Rechts; aber die Fragen, die hier zur Erörterung
kommen müſſen, ſind ſo allgemeiner Natur, daß ſie überall
ihre Beantwortung fordern, auch da, wo von dem Römi-
ſchen Recht keine Anwendung gemacht wird. — Ferner
würde es irrig ſeyn anzunehmen, daß der Werth und
Erfolg dieſer Unterſuchung an irgend eine beſondere Form
des Prozeßverfahrens gebunden wäre. Sie wird ſchon
hier angeſtellt für den altrömiſchen Formularprozeß, den
Prozeß der Juſtinianiſchen Zeit, und den gemeinen
deutſchen Prozeß. Das Bedürfniß derſelben tritt aber auch
gleichmäßig hervor im Prozeß des Preußiſchen, ſo wie in
dem des Franzöſiſchen Rechts.
Das Rechtsinſtitut, welches nunmehr abgehandelt werden
ſoll, und zu deſſen Einleitung die vorſtehende Betrachtung
beſtimmt iſt, ſetzt den regelmäßigen Gang eines Rechts-
ſtreits voraus. Der vollſtändigen Überſicht wegen muß
aber ſchon hier auf die anomalen Entwicklungen ſtreitiger
|0283 : 265|
§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.
Rechtsverhältniſſe hingedeutet werden, die neben dem rechts-
kräftigen Urtheil vorkommen können.
Dahin gehören einige Rechtsinſtitute, welche die Stelle
eines Urtheils vertreten können, und eben deshalb das
Urtheil unnöthig machen. Unter dieſe Surrogate des
Urtheils gehört der Eid, die in jure confessio und re-
sponsio.
Es gehört dahin aber auch ein Rechtsinſtitut, welches,
ſo wie das Urtheil, auf der Thätigkeit einer richterlichen
Obrigkeit beruht, aber eine andere und weiter gehende Be-
ſtimmung hat. Anſtatt daß das Urtheil keine andere Auf-
gabe hat, als das vorhandene Recht zu erkennen und zur
Geltung zur bringen, beruht die in integrum restitutio
vielmehr auf der beſondern Macht der Obrigkeit, unter ge-
wiſſen Bedingungen in das vorhandene Recht mit Abſicht
und Bewußtſeyn einzugreifen und daſſelbe abzuändern.
Dieſe Inſtitute werden nach Beendigung der Lehre vom
Urtheil abgehandelt werden.
§. 281.
Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte.
Die mit der Rechtskraft verbundene Fiction der Wahr-
heit iſt bisher nur erſt als ein Zweck, der erreicht werden
ſoll, aufgeſtellt worden. Es fragt ſich nunmehr, durch
welche Mittel dieſer Zweck herbeizuführen iſt, durch welche
Rechtsform jenes Inſtitut in das Leben eingeführt werden
ſoll. Dieſe Frage läßt ſich nur durch die geſchichtliche
|0284 : 266|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Entwicklung der Rechtskraft beantworten. Dabei iſt es vor
Allem nöthig, die verſchiedenen Fälle zn betrachten, in
welchen jene Aufgabe hervortreten kann. Es iſt nämlich
möglich, daß der Richter zum Vortheil des Klägers ent-
ſcheidet durch Verurtheilung des Beklagten: oder zum Vor-
theil des Beklagten durch Abweiſung des Klägers. In
beiden Fällen ſollen dem Sieger für alle Zukunft die Vor-
theile geſichert werden, die ihm das Urtheil zuſpricht. Wie
kann Dieſes geſchehen?
Für den erſten Fall ſcheint eine künſtliche Anſtalt kaum
nöthig. Durch Execution wird der Beklagte zur Erfüllung
des Urtheils gezwungen, und dadurch ſcheint der Kläger
für immer befriedigt und geſichert. Daher hatte das ältere
Römiſche Recht für dieſen Fall keine beſondere Vorſorge ge-
troffen, und in den meiſten Fällen iſt auch keine nöthig.
Es wird aber weiterhin gezeigt werden, daß es Verwick-
lungen der Rechtsverhältniſſe giebt, für welche dieſe ein-
fache Behandlung nicht ausreicht.
Anders verhält es ſich in dem zweiten Fall. Der Be-
klagte, der völlig freigeſprochen, oder nicht in dem Umfang,
wie es der Kläger verlangte, verurtheilt iſt, kann immer
wieder durch neue Klagen beunruhigt werden, und gegen
dieſe Gefahr iſt er durch eine künſtliche Anſtalt zn ſchützen.
Das ältere Römiſche Recht gieng dabei ſo zu Werk,
daß es den Schutz des Beklagten ſchon in einen früheren
Zeitpunkt des Rechtsſtreits legte. Jede Klage, welche bis
zur Litis-Conteſtation gebracht war, galt als erſchöpft oder
|0285 : 267|
§. 281. Rechtskraft. Geſchichte.
conſumirt, nnd konnte nie wieder von Neuem vorgebracht
werden, ohne Unterſchied, ob es zu einem Urtheil gekom-
men war oder nicht, und welchen Inhalt das etwa ge-
ſprochene Urtheil haben mochte. Bei manchen perſönlichen
Klagen trat dieſe Vernichtung des früher vorhandenen
Klagerechts ipso jure ein, bei allen anderen Klagen ver-
mittelſt einer exceptio rei in judicium deductae, welche
jede neue Klage ausſchloß (§ 258).
Kam es nun, wie in den meiſten Fällen, in der That
zu einem Urtheil, und zwar zu einem freiſprechenden, ſo
war deſſen Wirkſamkeit für immer geſichert durch die einge-
tretene Conſumtion, die jede Wiederholung der vorigen
Klage unmöglich machte. Nunmehr aber hieß die Exception
gegen die verſuchte neue Klage nicht rei in judicium de-
ductae, ſondern rei judicatae, und dieſe mußte ungleich
häufiger ſeyn, als jene, weil zu allen Zeiten der Aus-
gang eines Rechtsſtreits ohne Urtheil zu den Seltenheiten
gehört (a).
Demnach war in dieſer älteren Zeit für die Sicherheit
eines freigeſprochenen Beklagten geſorgt durch die Con-
ſumtion jeder einmal angeſtellten Klage, welche Conſumtion
zuweilen ipso jure eintrat, häufiger aber durch eine exceptio
rei judicatae geltend gemacht wurde. Dieſe Einrede war
(a) Die exc. rei in judicium
deductae konnte alſo überhaupt
nur vorkommen, wenn der frühere
Prozeß entweder noch im Gang
war, und daneben ein neuer ver-
ſucht wurde, oder wenn derſelbe
liegen geblieben, und vielleicht ſchon
durch die Prozeßverjährung für
immer verloren gegangen war.
|0286 : 268|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
alſo ſchon in der älteren Zeit die häufigſte und praktiſch
wichtigſte Rechtsform zum Schutz geſprochener Urtheile gegen
willkührliche neue Anfechtung.
Der Rechtsſatz, welcher dieſer Einrede in der älteren
Zeit zum Grunde lag, läßt ſich in folgender Formel aus-
drücken:
Eine einmal abgeurtheilte Klage kann nie von Neuem
vorgebracht werden.
Um den eigenthümlichen Charakter dieſer Einrede des
älteren Rechts ſcharf aufzufaſſen, iſt es nöthig, zwei Stücke
feſtzuhalten; erſtlich, daß ſie ſich nur auf das Daſeyn
eines Urtheils gründet, nicht auf deſſen Inhalt; zweitens,
daß ſie nur einen verneinenden Zweck und Erfolg hat,
nämlich, eine Klage zu verhindern, nicht, irgend ein
Recht durchzuſetzen. Die Bedingung der Anwendung dieſes
Rechtsſatzes iſt die Identität einer verſuchten neuen Klage
mit der ſchon früher angeſtellten und abgeurtheilten.
Das hier beſchriebene Rechtsinſtitut, gedacht als ein
Mittel, die Rechtskraft der Urtheile zu begründen, erfüllte
ſeinen Zweck nur nothdürftig, indem es blos den Beklagten
gegen eine Wiederholung der abgeurtheilten Klage ſchützte.
Hatte aber etwa der Kläger durch eine Eigenthumsklage
die Verurtheilung des Beklagten bewirkt, und ſo den Beſitz
ſeiner Sache wieder erlangt, ſo konnte gegen ihn der frühere
Beklagte als Kläger daſſelbe Eigenthum wieder in Frage
ſtellen; denn da Dieſer früher noch gar nicht geklagt, alſo
|0287 : 269|
§. 281. Rechtskraft. Geſchichte.
keine Klage conſumirt hatte, ſo konnte ihm die oben be-
ſchriebene Einrede nicht entgegen geſetzt werden, und es
war nun ein neues Urtheil möglich, wodurch das frühere
in ſeiner Wirkung zerſtört wurde. — Aber auch dem Be-
klagten gab jenes Rechtsmittel für ſolche Fälle keinen Schutz,
in welchen der Kläger den Erfolg des früheren Urtheils
nicht gerade durch Wiederholung der früheren Klage, ſon-
dern bei Gelegenheit eines anderen Rechtsſtreits, alſo auf
mehr indirecte Weiſe zu vereiteln ſuchte. — Ja es konnte
ſogar geſchehen, daß jene Einrede bei etwas verwickelten
Rechtsverhältniſſen dazu misbraucht wurde, den durch das
frühere Urtheil beabſichtigten Vortheil einer Partei zu zer-
ſtören, alſo ſeiner eigentlichen Beſtimmung gerade entgegen
zu wirken.
Auf der anderen Seite aber war dieſes Rechtsinſtitut
in ſeinen Folgen mit manchen Härten verknüpft, die ganz
außer dem Zweck deſſelben lagen, und durch die bloße Con-
ſequenz herbeigeführt, alſo praktiſch in keiner Weiſe gerecht-
fertigt waren. Die Einrede war nämlich auch dann be-
gründet, wenn der Beklagte freigeſprochen war, nicht weil
das Recht des Klägers verneint werden mußte, ſondern
wegen einer blos dilatoriſchen Einrede, die vielleicht auf
einem ganz untergeordneten und vorübergehenden Grunde
beruhte (b); dann ging alſo das wirklich vorhandene Recht
des Klägers aus einem ganz zufälligen Grunde unter. —
(b) Gajus. IV. § 123. — S. o. § 227.
|0288 : 270|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Nicht beſſer war es, wenn der Rechtsſtreit durch die Pro-
zeßverjährung des alten Rechts ohne Ausgang, alſo auch
ohne Urtheil blieb (§ 256. b), welches ohne alle Nachläſſig-
keit des Klägers geſchehen konnte; denn nun war durch die
exceptio rei in judicium deductae jede fernere Verfolgung
des wirklich vorhandenen Rechts für immer unmöglich
gemacht.
Die Wahrnehmung dieſer Mängel führte zum Nach-
denken über das wahre Bedürfniß, und zu dem klaren Be-
wußtſeyn, daß es eigentlich darauf, und nur darauf
ankomme, jeder richterlichen Entſcheidung ihre unzweifelhafte
Wirkſamkeit für alle Zukunft zu ſichern. Man ſuchte nun
das alte bekannte Rechtsinſtitut der exceptio rei judicatae
dahin auszubilden, daß dieſer Zweck erreicht würde,
und zwar vollſtändig erreicht. Dieſes geſchah, indem man
ſie nicht mehr wie bisher auf das bloße Daſeyn des Urtheils
gründete, ſondern auf den Inhalt deſſelben. Deſſen Gel-
tung ſollte für jeden künftigen Rechtsſtreit geſichert werden,
und indem man neben der Exception nach Bedürfniß auch
eine replicatio rei judicatae gab, wurde das Rechtsinſtitut
in dieſer neuen Ausbildung geeignet, dem früheren Kläger
eben ſowohl, als dem Beklagten, alle Vortheile zu ſichern,
die aus dem Inhalt des Urtheils in einem künftigen Streit
hergeleitet werden konnten.
Der Rechtsſatz, welcher nach dieſer Ausbildung dem
Inſtitut zum Grunde gelegt wurde, läßt ſich in folgender
Formel ausdrücken:
|0289 : 271|
§. 281. Rechtskraft. Geſchichte.
Dem Inhalt eines geſprochenen Urtheils ſoll kein ſpä-
teres Urtheil widerſprechen.
Auf den erſten Blick ſcheint dieſe Formel eben ſo, wie
die oben aufgeſtellte ältere Formel, blos verneinend, verhin-
dernd. Da indeſſen kein Richter die Entſcheidung eines
ihm vorgelegten Rechtsſtreits verweigern darf, ſo löſt ſich
jene Formel ſogleich in dieſe andere auf:
Wenn in einem gegenwärtigen Rechtsſtreit eine Frage
vorkommt, worüber ſchon in einem früheren Rechts-
ſtreit ein Urtheil geſprochen worden iſt, ſo muß der
neue Richter den Inhalt jenes Urtheils als wahr an-
nehmen und ſeinem eigenen Urtheil zum Grunde legen.
In dieſer Formel aber nimmt der Rechtsſatz eine völlig
poſitive Geſtalt an, und iſt der unmittelbare Ausdruck der
Fiction der Wahrheit, die ſchon oben (§ 280) als
der eigentliche Sinn der Rechtskraft, und als das wahre
praktiſche Bedürfniß angegeben worden iſt.
Zur Bezeichnung dieſes logiſchen Verhältniſſes beider
Geſtalten der Einrede, der älteren und der neueren, hat
man den paſſenden Ausdruck angewendet: exceptio rei
judicatae in ihrer negativen und ihrer poſitiven
Function (c).
Dieſe wichtige Ausbildung des Rechtsinſtituts iſt nicht
durch eine allgemeine Vorſchrift (Geſetz oder Edict) bewirkt
worden, wodurch etwa das ältere Inſtitut aufgehoben oder
umgebildet, das neuere eingeführt worden wäre; dazu war
(c) Keller S. 223 Note 4.
|0290 : 272|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
in der That kein Bedürfniß vorhanden. Es war und blieb
eine und dieſelbe Einrede der Rechtskraft, welche für das
Urtheil in dem neuen Rechtsſtreit maaßgebend wurde, und
der Unterſchied beider Functionen wird nur ſichtbar bei der
Frage, in welchen Fällen, unter welchen Vorausſetzungen
die Einrede gegeben werden ſollte. Dieſes aber lag bei
jedem einzelnen Rechtsſtreit ganz in der Macht des Prä-
tors, der dabei jederzeit nach der fortſchreitenden Einſicht
in das wahre praktiſche Bedürfniß verfuhr, und einer lei-
tenden allgemeinen Vorſchrift nicht bedurfte.
§. 282.
Rechtskraft des Urtheils. — Geſchichte. (Fortſetzung.)
Das geſchichtliche Verhältniß beider Functionen der Ein-
rede der Rechtskraft ſoll nunmehr näher feſtgeſtellt werden.
Daß die negative Function die ältere und urſprünglich
einzige Geſtalt der Einrede war, läßt ſich ſchon aus ihrer
unvollkommneren Natur und aus ihrer Verwandtſchaft mit
dem augenſcheinlich alterthümlichen Inſtitut der ipso jure
eintretenden Conſumtion (§ 281) vermuthen. Es folgt
aber auch unmittelbar daraus, daß Gajus in ſeinen In-
ſtitutionen die Lehre von der Conſumtion der Klage, d. h.
die negative Function der Einrede, ausführlich und mit
Sorgfalt darſtellt (a), während er den Grundſatz, worauf
die poſitive Function beruht, in jenem Werke gar nicht
(a) Gajus. III. § 180. 181, IV. § 106 — 108, vergl. mit
§ 104. 105.
|0291 : 273|
§. 282. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)
erwähnt. Man könnte Dieſes ſo deuten, als ob dieſer letzte
Grundſatz überhaupt erſt nach der Zeit des Gajus ent-
ſtanden, ihm ſelbſt alſo unbekannt geweſen wäre. Dieſe
Annahme jedoch wird durch die Wahrnehmung völlig wider-
legt, daß die Einrede in ihrer poſitiven Function (als Auf-
rechthaltung des Inhalts eines jeden Urtheils) ganz be-
ſtimmt in einer Digeſtenſtelle aus Gajus vorkommt (b),
ja ſogar ſchon von Julian anerkannt wird, in einem
Zeugniß, das aus ſeinen Schriften Ulpian anführt (c).
Dieſer ſcheinbare Widerſpruch löſt ſich auf befriedigende
Weiſe, wenn man annimmt, daß neben der alten, längſt
ausgebildeten Conſumtion auch ſchon die Fiction der Wahr-
heit des Urtheils (d. h. die Einrede in ihrer poſitiven
Function) lange vor Gajus in einzelnen Entſcheidungen
angewendet wurde, daß ſie aber zu ſeiner Zeit noch nicht
in der Rechtstheorie ſo ausgebildet und grundſätzlich aner-
kannt war, daß er nöthig gefunden hätte, dieſelbe in ſeinen
Inſtitutionen als ein beſonderes Rechtsinſtitut neben der
Conſumtion zu erwähnen.
Für die Einrede in ihrer poſitiven Funktion bedarf es
beſonderer Beweiſe inſofern nicht, als die ganze folgende
Darſtellung nichts Anderes iſt, als die vollſtändige Ent-
wickelung gerade des Grundſatzes, der in ihr zur Geltung
gebracht wird. Ich will aber hier diejenigen Zeugniſſe der
alten Juriſten zuſammen ſtellen, worin jener Grundſatz,
(b) L. 15 de exc. r. j. (44. 2.)
(c) L. 40 § de proc. (3. 3). — Vgl. Keller S. 230. 231.
VI. 18
|0292 : 274|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
d. h. die Fiction der Wahrheit, auch ſelbſt des ungerechten
Urtheils, in ſeiner allgemeinen durchgreifenden Natur be-
ſonders deutlich ausgeſprochen wird.
L. 25 de statu hom. (1. 5) (Ulpian.)
Ingenuum accipere debemus etiam eum, de quo sen-
tentia lata est quamvis fuerit libertinus: quia res ju-
dicata pro veritate accipitur
(d).
L. 3 pr. de agnosc. (25. 3) (Ulpian.) verbunden mit
L. 1 § 16 eod.
Plane si denuntiante muliere negaverit ex se esse
praegnantem .. non evitabit quo minus quaeratur,
an ex eo mulier praegnans sit. Quae causa si fuerit
acta apud judicem, et pronuntiaverit … in ea causa
est, ut agnosci debeat, sive filius non fuit, sive fuit,
esse suum … Sive contra pronuntiaverit, non fore
(d) Der letzte Satz dieſer Stelle,
welcher die Fiction der Wahrheit
unmittelbar ausdrückt (res judi-
cata pro veritate accipitur),
iſt als Doppelſtelle noch an einem
anderen Ort in die Digeſten auf-
genommen. L. 207 de R. J. (50.
17). — Es muß jedoch bemerkt
werden, daß Ulpian in dieſer
ganzen Stelle urſprünglich gar
nicht von der Rechtskraft in unſe-
rem Sinne (von der exceptio rei
judicatae), d. h. von einem wie-
derholten Rechtsſtreit über die jetzt
abgeurtheilte Frage, ſprechen wollte.
Die Lex Julia hatte die Ehe der
freigebornen Männer mit ehrloſen
Frauen verboten. Hierauf bezieht
ſich der Ausſpruch des Ulpian,
daß eine ſolche Ehe auch dem frei-
gelaſſenen Manne unmöglich ſey,
wenn derſelbe durch ein irriges,
aber rechtskräftiges Urtheil für
einen Freigebornen erklärt worden
war. Im Zuſammenhang des
Juſtinianiſchen Rechts indeſſen muß
die Stelle von der eigentlichen
Rechtskraft verſtanden werden,
worauf auch ihr energiſcher Aus-
druck ſehr gut paßt. Beſonders
die in einen anderen Theil der
Digeſten eingerückte Doppelſtelle
macht dieſe Deutung unzweifel-
haft. — Vgl. über dieſe Stelle
§ 301 n.
|0293 : 275|
§. 282. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)
suum, quamvis suus fuerit. Placet enim ejus rei
judicem jus facere(e).
L. 65 § 2 ad Sc. Trebell. (36. 1) (Maecianus.)
Cum praetor cognita causa per errorem vel etiam
ambitiose juberet hereditatem ut ex fideicommisso re-
stitui, etiam publice interest restitui, propter rerum
judicatarum auctoritatem
(f).
L. 12 § 3 de bonis libert. (38. 2) (Ulpian.)
Si quis, cum esset exheredatus, pronuntiatus vel
perperam sit exheredatus non esse, non repelli-
tur: rebus enim judicatis standum est.
In einer ſchon oben mitgetheilten Stelle des Pau-
lus (g) wird auf beide Geſtalten der Functionen der Ein-
rede neben einander hingedeutet; aber freilich in ſo allge-
meinen Ausdrücken, daß wir dieſe Hindeutung nicht ver-
ſtehen würden, wenn uns nicht in den Inſtitutionen des
Gajus die Lehre von der Conſumtion der Klage in ihrer
(e) In dieſen Worten iſt die
Fiction der Wahrheit, als Erzeu-
gung eines neuen, ſelbſtſtändigen
Rechts, beſonders bezeichnend aus-
gedrückt. — Dieſe Stelle übrigens
geht auf ein ſolches anomales
Verhältniß, worin das Urtheil
eine beſonders ausgedehnte Wir-
kung, auch für und wider fremde
Perſonen, hat. Eben ſo verhält
es ſich mit der in der vorherge-
henden Note erwähnten Stelle.
Vgl. § 301 m.
(f) Es muß beſonders bemerkt
werden, daß in dieſer Stelle von
einem Urtheil die Rede iſt, welches
nicht ein Juder, ſondern der Prä-
tor ſelbſt ſprach, weil die Fidei-
commiſſe Gegenſtand einer extra-
ordinaria cognitio waren. Die
Fiction der Wahrheit, und ſelbſt
die Bezeichnung als res judicata,
wird aber hier eben ſo, wie bei
den ordinariis judiciis, ange-
wendet.
(g) L. 6 de exc. r. j. (44. 2),
ſ. o. S. 261.
18*
|0294 : 276|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ganzen Eigenthümlichkeit klar geworden wäre. Nachdem
nämlich in jener Stelle geſagt worden war, daß aus jedem
ſtreitigen Rechtsverhältniß nur einmal geklagt werden
dürfe, weil die zugelaſſene Wiederholung derſelben Klage
mit großen Nachtheilen für den Rechtszuſtand verknüpft
ſey, wird dann noch hinzugefügt, daß dieſe Nachtheile be-
ſonders ſtark in den Fällen hervortreten würden, wenn
durch wiederholte Klagen ſogar Urtheile von widerſprechen-
dem Inhalt herbeigeführt werden ſollten: maxime si diversa
pronuntiarentur. In dieſen beiden Sätzen ſind die zwei
verſchiedenen, aber verwandten Geſtalten der Einrede un-
verkennbar angedeutet.
So hat die Einrede der Rechtskraft in ihren zwei Ge-
ſtalten während des ganzen Zeitalters der Juriſten fortge-
dauert, aus deren Schriften die Digeſten hervorgegangen
ſind (h), und es zeigt ſich hierin daſſelbe Verfahren,
welches wir auch in anderen Theilen des Römiſchen Rechts
bei der Entwicklung von Rechtsinſtituten angewendet
finden. Man entſchloß ſich nicht leicht, ein Rechtsinſtitut,
deſſen Grundlage ſich bewährt hatte, völlig aufzuheben und
durch ein anderes zu erſetzen, wenn es ſich auch in der
Anwendung von manchen Seiten mangelhaft zeigen mochte,
wie Dieſes von der Klagenconſumtion ſchon oben (§ 281)
anerkannt worden iſt. Man ſuchte vielmehr ſolchen Män-
geln durch mildere Mittel, alſo in feinerer Weiſe, abzu-
helfen. Inſofern die Klagenconſumtion für das praktiſche
(h) Keller S. 231.
|0295 : 277|
§. 281. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)
Bedürfniß unzureichend gefunden wurde, lag die Abhülfe
in der ſtets fortſchreitenden Entwicklung der Einrede in
ihrer neueren Geſtalt (der poſitiven Function), die für jedes
Bedürfniß vollkommen ausreichte. Inſofern die Conſumtion
harte und unbillige Folgen nach ſich zog, ſuchte man durch
ſehr verſchiedenartige Mittel zu helfen (i). Insbeſondere
in den ſchon oben (S. 270) angedeuteten, allerdings ſelt-
neren Fällen, worin beide Geſtalten der Einrede in Wider-
ſtreit kamen, indem die Klagenconſumtion in ihren Folgen
dahin führte, den Inhalt eines früher geſprochenen Urtheils
zu vereiteln, half man in der Form, daß die exceptio rei
judicatae durch eine replicatio deſſelben Namens völlig ent-
kräftet wurde (k). Dieſer letzte Fall iſt beſonders merk-
würdig als ein unmittelbarer Beweis, daß die alten Ju-
riſten ein deutliches Bewußtſeyn von der Verſchiedenheit
beider Geſtalten der Einrede hatten, und daß ſie keinen
Anſtand nahmen, in jedem Fall eines Widerſtreits dem
neueren Grundſatz (der Fiction der Wahrheit) den Vorzug
vor dem älteren (der Klagenconſumtion) einzuräumen, wo-
durch alſo das neuere als das beſſere und befriedigendere
von ihnen anerkannt wurde.
Späterhin iſt die Klagenconſumtion, alſo das ältere
Rechtsinſtitut, gänzlich verſchwunden. Wir haben keine
Rachricht, daß es jemals von einem Geſetzgeber ausdrück-
lich aufgehoben worden wäre; es ſcheint vielmehr allmälig
(i) Keller im ganzen ſechsten Abſchnitt ſeines Werks.
(k) Keller § 70. 71. 72.
|0296 : 278|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
abgeſtorben zu ſein, ſo wie dürres Laub abfällt, wenn das
neue hervorwächſt und zu vollſtändiger Entwicklung kommt.
Der Uebergang des alten ordo judiciorum in die extraor-
dinaria judicia hat die Beſeitigung der Klagenconſumtion
zwar nicht unmittelbar und mit Nothwendigkeit herbeige-
führt, aber ohne Zweifel befördert und beſchleunigt. Denn
die Ausſchließung einer Klage aus dem Grund ihrer frühe-
ren Conſumtion ſetzt voraus, daß beide Klagen identiſch
ſeyen; die Identität zweier Klagen aber wurde in den
meiſten Fällen, und zugleich am leichteſten und ſicherſten,
erkannt mit Hülfe der Klagformeln, die zugleich mit dem
ordo judiciorum völlig verſchwanden. Ganz anders ver-
hält es ſich mit der Fiction der Wahrheit des Urtheils,
worauf die Einrede in ihrer neueren Geſtalt beruht; denn
deren Anwendung ſetzt nur die Bekanntſchaft mit dem In-
halt des Urtheils voraus, iſt alſo mit jeder Form des Pro-
zeßverfahrens gleich vereinbar.
Insbeſondere aber läßt ſich beſtimmt behaupten, daß
diejenige Conſumtion, die im alten Recht bei manchen
Klagen nicht durch eine Einrede, ſondern ipso jure eintrat
(§ 281), nach dem Untergang des ordo judiciorum gar
nicht mehr möglich war, alſo ſogleich völlig verſchwinden
mußte. Denn dieſe Art der Conſumtion ſollte nur ein-
treten bei Prozeſſen, die vor einem einzelnen, von der
Obrigkeit ernannten Judex geführt wurden, und in welchen
eine Formel mit juris civilis intentio vorkam (l); dieſe
(l) Gajus IV. § 107 vgl mit § 104.
|0297 : 279|
§. 282. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)
beiden Umſtände aber konnten in einem extraordinarium
judicium nie eintreten.
Im Juſtinianiſchen Recht wird weder die Klagencon-
ſumtion, noch die mit ihr unzertrennlich verbundene ex-
ceptio rei in judicium deductae erwähnt, woraus unzwei-
felhaft erhellt, daß dieſe Inſtitute damals keine Geltung
mehr hatten. Von einzelnen wichtigen Folgen der Con-
ſumtion iſt auch die Aufhebung noch ausdrücklich ausge-
ſprochen (m).
Dagegen iſt hier die Einrede der Rechtskraft in ihrer
poſitiven Function, als Schutz des Inhalts eines Urtheils,
aus den Schriften der alten Juriſten ſo vollſtändig auf-
genommen, daß dieſe Darſtellung für die Anwendung völlig
genügt, wie ſich aus der folgenden Abhandlung ergeben
wird. Auch iſt dieſe Geſtalt des Rechtsinſtituts ganz in
unſere neuere Praxis übergegangen, und wenn ſich in
dieſer nicht ſelten Abweichungen von dem R. R. einge-
funden haben, ſo ſind dieſelben nicht aus Abſicht und Be-
wußtſeyn entſtanden, indem man das R. R. für unzu-
reichend oder unzweckmäßig gehalten hätte; ſie ſind viel-
mehr lediglich aus mangelhafter Einſicht in die Rechts-
quellen zu erklären.
(m) Dahin gehört L. 28 C. de
fidejuss. (8. 42). — Zum Theil
iſt dahin auch zu rechnen die Auf-
hebung der alten Regel, daß der
Kläger plus petendo ſein Klage-
recht verlieren ſolle, denn dieſe
Regel beruhte allerdings auf der
Conſumtion der Klage, aber frei-
lich nicht auf ihr allein, ſondern
nur in Verbindung mit der certa
intentio, wovon nach dem Unter-
gang des ordo judiciorum ohne-
hin nicht mehr die Rede ſeyn
konnte. Keller § 56.
|0298 : 280|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Allerdings finden ſich in den Ausſprüchen der alten
Juriſten über dieſe neuere Einrede der Rechtskraft einzelne
Äußerungen eingemiſcht, die nur aus dem alten Inſtitut
der Klagenconſumtion zu erklären ſind; dieſe zufällig erhal-
tenen Spuren aber ſind ſo einzeln und unzuſammenhängend,
daß wir ſie erſt verſtehen gelernt haben, ſeitdem uns jenes
Inſtitut durch die Inſtitutionen des Gajus bekannt ge-
worden iſt. Es gehört dahin hauptſächlich die Erwähnung
einer replicatio rei judicatae, wodurch in manchen Fällen
die exceptio gleiches Namens entkräftet werden ſoll (Note k).
Hier iſt allerdings die exceptio nur von dem alten Inſti-
tut der negativen Function zu verſtehen, und die Auf-
nahme ſolcher Stellen in die Digeſten wäre beſſer unter-
blieben, da die Schwierigkeit, zu deren Löſung ſie beſtimmt
ſind, ohnehin verſchwunden war. Indeſſen war dieſe Auf-
nahme praktiſch ungefährlich, indem daraus kein Zweifel
über die letzte Entſcheidung irgend eines ſtreitigen Rechts-
verhältniſſes abgeleitet werden kann.
§. 283.
Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte. (Fortſetzung.)
Die Entdeckung der Einrede der Rechtskraft in ihren
zwei verwandten, aber verſchiedenen, Geſtalten oder Functio-
nen iſt das glänzende Verdienſt des Werks von Keller (a).
Auch ſoll man nicht verſuchen, dieſes Verdienſt durch die
Bemerkung zu verkleinern, ſeit der Bekanntmachung der
(a) Keller § 28. 29. 30.
|0299 : 281|
§. 283. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)
Inſtitutionen des Gajus habe es blos vom Zufall abge-
hangen, wer zuerſt den in ihnen enthaltenen Aufſchluß be-
nutzen wolle. Es iſt vielmehr ſchon oben nachgewieſen
worden, daß weder bei Gajus, noch in einem anderen
Stück unſrer Rechtsquellen, beide Inſtitute neben einander
in ihrem eigenthümlichen Gegenſatz erwähnt werden, ſo
daß die Entdeckung dieſes Gegenſatzes nur durch die ſcharf-
ſinnige Zuſammenſtellung und Vergleichung aller Theile
der Rechtsquellen gefunden werden konnte.
Daß nun ſämmtliche Schriftſteller vor der Bekannt-
machung der Inſtitutionen des Gajus von dieſer beſon-
deren Rechtsentwicklung keine Ahnung hatten, und dadurch
in manche hiſtoriſche Irrthümer verfielen, kann ihnen gewiß
nicht zum Vorwurf gereichen. Dagegen iſt es nicht un-
nütz, die Art, wie ſpätere Schriftſteller die neue Entdeckung
benutzt und verarbeitet haben, einer genauen Prüfung zu
unterwerfen. Hierin nämlich ſind Misverſtändniſſe ganz
verſchiedener Art wahrzunehmen.
Von einer Seite wird die Sache ſo aufgefaßt, als ob
die Einrede in ihren beiden Functionen auch noch im heu-
tigen Rechte fortdauere (b). Daß aber ſchon im Juſtinia-
niſchen Recht der Grundſatz der Klagenconſumtion, der mit
der negativen Function untrennbar zuſammenhängt, völlig
verſchwindet, iſt ſchon oben bemerkt worden (§ 282). Die
eben erwähnte abweichende Meinung iſt jedoch in der That
nicht ſo bedenklich, als ſie auf den erſten Blick ſcheint.
(b) Vangerow Pandekten § 173.
|0300 : 282|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Sie gründet ſich theils auf die ſchon erwähnten einzelnen
Spuren des alten Rechtsinſtituts, welche ſich zufällig im
Juſtinianiſchen Recht erhalten haben, theils darauf, daß
manche wirkliche Beſtandtheile des allein noch übrigen
Rechtsinſtituts mit dem alten Inſtitut der Klagenconſum-
tion irrigerweiſe in Verbindung geſetzt werden; dieſes Letzte
deutlich zu machen, wird erſt weiter unten möglich ſeyn
(§ 286). — Die hier bemerklich gemachte irrige Auffaſſung
hat übrigens eine blos theoretiſche Natur; es wird aus der
angeblichen Fortdauer der negativen Function im heutigen
Recht durchaus keine praktiſche Behauptung abgeleitet, die
nicht auch aus der richtigen Auffaſſung vertheidigt werden
könnte: insbeſondere wird nicht, wie man etwa befürchten
könnte, der Einrede eine ungebührliche Ausdehnung zu
geben verſucht (c).
Eine ganz verſchiedene Geſtalt hat das Misverſtändniß
der neuen Entdeckung bei einigen andern Schriftſtellern an-
genommen (d). Es iſt nämlich oben erwähnt worden, daß
zur Zeit der alten Juriſten beide Rechtsinſtitute neben ein-
ander beſtanden, und daß die aus dieſer Verbindung ent-
ſprungenen Schwierigkeiten von den alten Juriſten wohl
erkannt und mit gutem Erfolg beſeitigt wurden (§ 282).
Jene neueren Schriftſteller aber faſſen die Sache ſo auf.
Nach ihrer Meinung haben ſich die Römer niemals von
(c) Vgl. den Schluß des § 282.
(d) Kierulff Theorie des ge-
meinen Civilrechts Th. 1. S. 250
bis 256. — Buchka B. 2 S. 76.
184. 192. 200.
|0301 : 283|
§. 283. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)
den engen Feſſeln des Formularprozeſſes und der darauf
beruhenden Conſumtion der Klagen befreien können, und
auch noch im Juſtinianiſchen Recht ſoll dieſer unfreie Geiſt
herrſchen. Erſt die Erleuchtung der neueren Praxis, be-
haupten ſie, habe jene Feſſeln abgeworfen, jetzt herrſche die
reine aequitas, und Alles ſey nun in ſolcher Ordnung,
wie man es nur wünſchen könne.
Bei dieſer Auffaſſung ſind zwei Dinge ſchwer zu be-
greifen. Erſtens, daß die ſpäteren Kaiſer, unter deren
Rathgebern mitunter ſehr verſtändige Leute waren, gar
nicht gemerkt haben ſollten, daß mit der Aufhebung des
ordo judiciorum, d. h. des Formularprozeſſes, jeder Grund
zu jener beklagenswerthen Knechtſchaft völlig aufgehört
hatte. Zweitens, daß die Juriſten neuerer Zeit, deren Lehre
und Praxis zuerſt die Feſſeln des R. R. nach jener An-
ſicht bewältigt hat, dieſes gleichfalls nicht gemerkt haben
ſollten; denn es iſt augenſcheinlich, daß dieſe neueren Ju-
riſten ihre Lehre nicht etwa im Widerſtreit mit dem R. R.
durchzuführen ſuchten, ſondern ohne alle Ausnahme gerade
aus den Quellen des R. R. ableiteten. Man müßte alſo
annehmen, daß ſie einſichtiger waren, als ſie ſelbſt ahneten,
und daß es erſt der neueſten Zeit vorbehalten war, ſie
hierüber zu belehren. — Übrigens iſt auch dieſe irrige
Auffaſſung mehr geſchichtlicher, als praktiſcher Natur, indem
für das heutige Recht die Lehre, die in der That ſchon im
R. R. enthalten iſt, anerkannt wird. Sie iſt aber gefähr-
licher, als die vorher erwähnte, indem ſie die richtige Be-
|0302 : 284|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
nutzung der Römiſchen Rechtsquellen durch irrige Voraus-
ſetzungen verhindert, und zugleich in der angeblichen aequi-
tas des heutigen Rechts einer gränzenloſen Willkühr Raum
giebt, wovon vielleicht ſpätere Schriftſteller größeren Mis-
brauch machen dürften, als bisher in der That geſchehen iſt.
Über die Richtigkeit dieſer Auffaſſung muß der Erfolg
die letzte Entſcheidung geben. Die ganze folgende Abhand-
lung der Rechtskraft geht darauf aus, ein in ſich geſchloſ-
ſenes Syſtem dieſer Lehre aus den Quellen des R. R.
abzuleiten, und ich glaube, daß dazu die Digeſten ein völ-
lig befriedigendes Material darbieten. Gelingt dieſer Ver-
ſuch, ſo iſt damit die eben erwähnte Auffaſſung des Ver-
hältniſſes zwiſchen dem Römiſchen Recht und dem heutigen
Recht als grundlos erwieſen.
Aus der nunmehr beendigten geſchichtlichen Grundle-
gung zur Lehre von der Rechtskraft ergiebt ſich folgender
Gang, welchen die jetzt folgende Darſtellung dieſer Lehre
zu nehmen haben wird.
Die Formel des neueſten Rechts für die Rechtskraft
(§ 281) geht dahin, daß jedem rechtskräftigen Urtheil ſeine
Wirkſamkeit für alle Zukunft geſichert bleiben ſoll. Zur
vollſtändigen Entwicklung dieſes Grundſatzes iſt eine zwei-
fache Unterſuchung und Feſtſtellung nöthig:
I. Bedingungen der Rechtskraft:
A. Formelle Bedingungen.
|0303 : 285|
§. 283. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)
B. Inhalt des Urtheils, welcher als wahre Grund-
lage der Rechtskraft anzuſehen iſt.
II. Wirkung der Rechtskraft in die Zukunft, d. h. noth-
wendiges Verhältniß zwiſchen dem rechtskräftig ent-
ſchiedenen Rechtsſtreit und dem künftigen Rechtsſtreit,
auf welchen jene Entſcheidung Einfluß haben ſoll.
Dieſes nothwendige Verhältniß läßt ſich im Allgemei-
nen als Identität ausdrücken, welche in zwei ver-
ſchiedenen Beziehungen vorhanden ſeyn muß, wenn
die Rechtskraft Einfluß haben ſoll:
A. Identität der Rechtsverhältniſſe (objective).
B. Identität der Perſonen (ſubjective).
In einfacheren Worten läßt ſich dieſes nothwendige
Verhältniß ſo ausdrücken. Damit die rechtskräftige Ent-
ſcheidung einer früheren Klage auf die Entſcheidung einer
ſpäteren Klage Einfluß haben könne, müſſen beide Klagen
zwei Stücke mit einander gemein haben:
dieſelbe Rechtsfrage,
dieſelben Perſonen.
§. 284.
Rechtskraft. I. Bedingungen. A. Formelle.
Es iſt zunächſt zu beſtimmen, von welcher formellen
Beſchaffenheit ein richterlicher Ausſpruch ſeyn müſſe, um
den wichtigen Einfluß auf jeden ſpäteren Rechtsſtreit aus-
üben zu können, welcher mit dem Ausdruck der Rechts-
kraft bezeichnet worden iſt (§ 280).
|0304 : 286|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wenn wir, um dieſe Frage nach dem R. R. zu beant-
worten, den Standpunkt des Zeitalterts wählen, in welchem
der Formularprozeß beſtand, ſo hat es keinen Zweifel, daß
die Rechtskraft jedem Urtheil zugeſchrieben werden mußte,
das unter der Autorität einer richterlichen Obrigkeit von
einem Judex ausgeſprochen war. Unter Juder aber iſt
hier zu verſtehen die zur Entſcheidung eines Rechtsſtreits
von der Obrigkeit ernannte Privatperſon, mochte dieſe Er-
nennung an eine einzelne Perſon gerichtet ſeyn, oder an ein
Richtercollegium. Ferner iſt unter dem Urtheil dieſes Judex,
als Grundlage der Rechtskraft, nicht blos die eigentliche
Sententia zu verſtehen (Condemnatio oder Absolutio), ſon-
dern auch die derſelben bei manchen Klagen oft vorher-
gehende Pronuntiatio (§ 287).
Allein dieſer Fall war, wenn auch der regelmäßige und
häufigſte, dennoch keinesweges der einzige, worin die Rechts-
kraft entſtehen konnte. Auch der Prätor konnte, ohne einen
Judex zu ernennen, ſelbſt das Urtheil ausſprechen, und dieſes
ging dann nicht minder in Rechtskraft über. Wenn dieſe Be-
fugniß neuerlich in Zweifel gezogen worden iſt (a), ſo ſcheint
dabei der allzu moderne Gedanke zum Grunde zu liegen, das
Urtheilſprechen durch Privatperſonen ſey eingeführt worden
als eine Theilung der richterlichen Gewalt, zum Schutz
gegen ungerechte Willkühr von Seiten des Prätors. Allein
gegen dieſe Gefahr ſchützten manche andere Schranken der
obrigkeitlichen Gewalt, und die Prozeßführung vor dem
(a) Puchta Curſus der Inſtitutionen B. 2 § 175 Note n.
|0305 : 287|
§. 284. Rechtskraft. Formelle Bedingungen.
Judex war vielmehr eingeführt, und in der Regel unent-
behrlich, weil ohne dieſelbe die Rechtspflege durch zwei
Civilprätoren in Rom gar nicht hätte beſorgt werden kön-
nen. Sie war aber faſt nur nöthig, wenn zweifelhafte
Thatſachen feſtgeſtellt werden mußten, da bei unbeſtrittenen
Thatſachen der Prätor eben ſo ſchnell und ſicher ſelbſt ein
Urtheil ſprechen, als dem Judex eine Formel vorſchreiben
konnte. So war es denn die allgemeine Anſicht der Römer,
daß in Civilſachen, wie im Criminalprozeß, ein Judicium
nur zur Entſcheidung beſtrittener Thatſachen angeordnet
zu werden pflege (b). — Auch fehlt es nicht an aus-
drücklichen Zeugniſſen, daß der Prätor eben ſowohl ſelbſt
ein Urtheil ſprechen konnte, als ein von ihm ernannter
Juder (c).
(b) Tacitus annal. XI. 6
„non judicium (quippe ut in
manifestos), sed poenam statui
videbant.“
(c) L. 81 de jud. (5. 1)
(Ulpian.) „Qui neque jurisdi-
ctioni praeest, … neque ab eo,
qui jus dandorum judicum habet,
datus est, … judex esse non
potuit“ (dieſe Beide alſo ſind
gleich fähig, in einer einzelnen
Sache das Urtheil zu ſprechen). —
Paulus V. 5 A. § 1 „Res ju-
dicatae videntur ab his, qui
imperium potestatemque habent,
vel qui ex auctoritate eorum
inter partes dantur ....“.
Dieſe letzte Stelle emendirt Puchta
a. a. O. ſo: „Res judicatae vi-
dentur a judicibus, qui ab his,
qui imperium etc. Dieſe Emen-
dation aber gründet ſich weder auf
eine Andeutung der Handſchrift,
noch auf innere Nothwendigkeit,
ſondern lediglich auf das Bedürf-
niß, eine Widerlegung der oben
aufgeſtellten Meinung zu beſeitigen.
Der handſchriftliche Text ſtimmt
mit der voranſtehenden Stelle des
Ulpian völlig überein. — Wenn
der Prätor ohne Juder verurtheilte,
ſo hat es kein Bedenken, daß dar-
aus künftig eine eigentliche ex-
ceptio rei judicatae abgeleitet
werden konnte. Wenn dagegen der
Prätor die Klage ſogleich abſchlug,
welches durch ein bloßes Decret
geſchah, ſo konnte wenigſtens jener
|0306 : 288|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Die hier aufgeſtellten Regeln gehen auf die ordinaria
judicia; daneben aber hat es keinen Zweifel, daß in jedem
extraordinarium judicium, z. B. bei Fideicommiſſen, der
obrigkeitliche Beamte, der darüber zu urtheilen hatte, durch
ſein Urtheil gleichfalls Rechtskraft erzeugte, und zwar mit
dem Namen einer res judicata (§ 282. f). Dennoch iſt
auch dieſer Fall der Rechtskraft in neuerer Zeit ohne
Grund in Zweifel gezogen worden (d).
Dieſe letzte Regel, welche zur Zeit des Formularpro-
zeſſes nur als ſehr beſchränkte Ausnahme zur Anwendung
kommen konnte, wurde zur allgemeinen und einzigen Regel
durch die Aufhebung des alten ordo judiciorum. Der nun-
mehr eintretende Zuſtand war ganz derſelbe, welchen allein
wir in der heutigen Gerichtsverfaſſung aller Länder kennen.
Die bisher abgehandelte Seite der formellen Beſchaf-
fenheit des zur Rechtskraft fähigen Urtheils hat eine blos
geſchichtliche Bedeutung. Weit wichtiger, und gerade für
Name nicht wohl angewendet wer-
den. Indeſſen mag man doch ir-
gend eine Form gefunden haben,
um auch dieſem abweiſenden De-
cret die Rechtskraft zu ſichern.
Vgl. den Schluß der folgenden
Note.
(d) Puchta Curſus der In-
ſtitutionen B. 2 § 177 Note o.
Er nimmt an, das gewöhnliche
Urtheil eines Judex habe wirklich
neues Recht erzeugt, und ſey da-
her von jedem ſpäteren Richter
anerkannt worden; das Urtheil
eines Magiſtratus habe nur für
die demſelben untergeordneten Per-
ſonen bindende Kraft gehabt. —
Dieſe Meinung wird unmittelbar
widerlegt nicht nur durch die Rechts-
kraft des Erkenntniſſes über ein
Fideicommiß (§ 282. f.), ſondern
auch durch die Rechtskraft, die dem
Decret der Obrigkeit über Gewäh-
rung oder Verſagung einer Reſti-
tution zugeſchrieben wird. L. 1 C.
si saepius (2. 44). Denn auch
dieſes war eine Entſcheidung extra
ordinem.
|0307 : 289|
§. 284. Rechtskraft. Formelle Bedingungen.
das neuere und heutige Recht beſonders wichtig, iſt die
folgende Seite deſſelben Gegenſtandes.
Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß das Übel eines
unheilbar ungerechten Urtheils, verglichen mit dem Übel
einer endloſen Rechtsungewißheit, das geringere Übel ſey,
und daß daher die Gefahr deſſelben mit deutlichem Be-
wußtſeyn übernommen werden müſſe, um das ſonſt unver-
meidliche größere Übel abzuwenden (§ 280). Bei dieſem
nothwendigen Entſchluß wird jedoch die Natur des Übels,
deſſen Gefahr wir nothgedrungen übernehmen, und ſelbſt
die Wichtigkeit deſſelben nicht verkannt, und es ergiebt ſich
daraus die Aufgabe, dieſe Gefahr ſo viel möglich zu ver-
mindern, ſie in immer engere Gränzen einzuſchließen.
Zu dieſem Zweck dienen alle Anſtalten für die Ausbil-
dung und Auswahl der Richter; eben ſo dient dazu die
Anordnung collegialiſcher Gerichte; endlich aber und ganz
vorzüglich die Einrichtung, nach welcher die Prüfung und
Entſcheidung eines Rechtsſtreits nicht mit einemmal abge-
than wird, ſondern in mehreren Abſtufungen wiederholt
werden kann.
Auf den erſten Blick ſcheint eine ſolche Einrichtung im
Widerſpruch zu ſtehen mit dem großen Werth, der gleich
im Eingang dieſer Abhandlung auf die unabänderliche
Feſtſtellung jedes Rechtsſtreits durch richterliches Urtheil
gelegt worden iſt. Dieſes geſchah aber im Gegenſatz einer
endloſen, unbeſtimmbaren Unſicherheit der Rechtsverhältniſſe
für alle Zukunft. Damit iſt nicht zu vergleichen die hier
VI. 19
|0308 : 290|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
angedeutete Einrichtung, bei welcher nur das Finden des
unabänderlichen Urtheils unter mehrere Stufen richterlicher
Thätigkeit vertheilt wird. Ein ſolches Verfahren läßt ſich
bei guter Rechtspflege in mäßige Zeitgränzen einſchließen,
und es wird dann ſtets in nicht entfernter Zeit ein Zu-
ſtand eintreten, in welchem die wünſchenswerthe unzweifel-
hafte Rechtsſicherheit wirklich erreicht iſt.
Die großen Vortheile einer ſolchen Einrichtung für die
Abwendung ungerechter Urtheile werden durch folgende Be-
trachtung einleuchten. Zunächſt iſt ſchon die blos wieder-
holte Prüfung eines Rechtsſtreits an ſich ſelbſt ein wirk-
ſames Mittel ſowohl für die Parteien, als für den Richter,
zu einer vielſeitigen Einſicht in das Weſen eines ſtreitigen
Rechtsverhältniſſes zu gelangen. Dazu kommt aber zwei-
tens der noch größere Vortheil, daß es bei dieſer Einrich-
tung möglich wird, die letzte Entſcheidung in einem zahl-
reichen, mit größter Sorgfalt beſetzten Gericht zu concen-
triren, welches dann eine höhere Sicherheit für die gründ-
liche Urtheilsfindung gewährt.
Der üblichſte Kunſtausdruck, der in unſrer neueren
Rechtsſprache zur Bezeichnung dieſer Einrichtung gebraucht
wird, iſt folgender. Wir nennen Inſtanzen die ein-
zelnen Stufen richterlicher Prüfung und Entſcheidung. In
der Regel ſind dieſe verbunden mit der Unterordnung eines
Gerichts unter das andere (niedere und höhere Inſtanz).
Es kann aber auch bei demſelben Gericht unter gewiſſen
Bedingungen eine ſolche wiederholte Prüfung vor ſich gehen.
|0309 : 291|
§. 284. Rechtskraft. Formelle Bedingungen.
Wie dieſe Einrichtung im Römiſchen Staat Eingang
gefunden hat, ſoll nunmehr nachgewieſen werden.
Für das Daſeyn derſelben zur Zeit der freien Republik
iſt durchaus kein Zeugniß vorhanden, und es beruht auf
unrichtiger Deutung, wenn man Spuren ſolcher Art in
dieſer Zeit wahrzunehmen geglaubt hat (e). Auch fehlte
dazu eine Hauptbedingung, verſchiedene Obrigkeiten der-
ſelben amtlichen Wirkſamkeit, deren eine der anderen unter-
geordnet geweſen wäre. Die Prätoren waren von gerin-
gerem Rang, als die Conſuln, jedoch in ihrem Amtskreiſe
von dieſen durchaus unabhängig. Wohl hätte es ſich
denken laſſen, daß von dem Urtheil eines Juder die Beru-
fung an das höhere Urtheil des Prätors, der ihn beſtellt
hatte, zugelaſſen worden wäre; aber gerade hierüber fehlt
es aus der Zeit der Republik an Zeugniſſen.
Daran freilich iſt nicht zu zweifeln, daß auch in dieſer
Zeit die Frage ſtreitig werden konnte, ob überhaupt ein
Urtheil, und zwar ein der Form nach gültiges Urtheil,
vorhanden ſey oder nicht (f), und dann mußte über dieſe
(e) Hollweg Prozeß B. 1
S. 347 Note 1 widerlegt dieſe
irrige Meinung, die u. a. von
Zimmern B. 3 S. 500 Note 7
aus wenig haltbaren Gründen ver-
theidigt wird. Beſonders Cicero
in Verrem II. 13 ſpricht gewiß
mehr dagegen als dafür, indem er
dem Verres einen ſchweren Vor-
wurf daraus macht, daß er ſich
durch ein Edict vorbehalten habe,
über die Richtigkeit der Urtheile
der Judices hinterher ſelbſt zu er-
kennen.
(f) Auf dieſen Fall bezog ſich
ein beſonderes Rechtsinſtitut des
älteren Rechts, die sententiae in
duplum revocatio. Cicero pro
Flacco C. 21. Paulus V. 5 A.
§ 5. 7. Auch in den Digeſten wird
dieſer Fall erwähnt. L. 1 pr.
quae sent. (49. 8). „Si quae-
19*
|0310 : 292|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Frage, ſo wie über jedes ſtreitige Rechtsverhältniß, der
Prätor einen Judex entſcheiden laſſen. Allein ein ſolcher
Streit über das Daſeyn, und vielleicht über die Nichtigkeit
eines Urtheils, der zu allen Zeiten nur ausnahmsweiſe
und ſelten vorkommt, iſt völlig verſchieden von den regel-
mäßig eintretenden Inſtanzen, in welchen der gerechte In-
halt jedes geſprochenen Urtheils geprüft werden kann, damit
daſſelbe nach Befinden beſtätigt oder abgeändert werde.
Dagegen findet ſich die Einrichtung von Inſtanzen gleich
im Anfang der Kaiſerregierung, und zwar merkwürdiger-
weiſe nicht allmälig und unmerklich entſtehend und fort-
ſchreitend, ſondern ſogleich in völliger Ausbildung und
Anerkennung. Dieſes erklärt ſich zum Theil daraus, daß
jetzt die oben, in der Zeit der Republik vermißte Bedingung
regelmäßiger Inſtanzen, nämlich die Unterordnung einer
Obrigkeit unter eine andere, eingetreten war. Denn daß
dem Kaiſer alle hohe Obrigkeiten, die alten, wie die neu
erfundenen, untergeben ſeyen, bezweifelte Niemand.
So erſcheint ſchon Auguſt als die regelmäßige höchſte
Inſtanz für alle Civilprozeſſe des ganzen Reichs. Da er
aber die meiſten Geſchäfte dieſer Art unmöglich ſelbſt be-
ſorgen konnte, ſo übertrug er dieſes höchſte Richteramt an
ſtellvertretende Obrigkeiten: die Prozeſſe aus der Stadt an
den Präfecten der Stadt, die aus jeder Provinz an ein-
ratur, judicatum sit, nec ne.“
Die Stelle iſt freilich aus einer
ſpäteren Zeit, aber Gedanke und
Ausdruck paßt eben ſo auch in
die frühere.
|0311 : 293|
§. 284. Rechtskraft. Formelle Bedingungen.
zelne Conſularen, deren jeder für Eine Provinz beſonders
ernannt wurde (g). Neben dem Kaiſer aber übte ein
gleiches höchſtes Richteramt jetzt auch der Senat aus (h).
Eine Berufung vom Senat an den Kaiſer war unmöglich (i),
und eine Berufung vom Kaiſer aufwärts mußte vollends
als eine Thorheit angeſehen werden (k).
Ob dieſe merkwürdige Einrichtung als eine bloße Ver-
waltungsmaaßregel aufgefaßt wurde, die ſich als eine natür-
liche Entwicklung der höchſten Gewalt eines Einzelnen von
ſelbſt verſtand, wiſſen wir nicht. Es iſt aber auch ſehr
möglich, daß ein Volksſchluß ſie eingeführt hat, etwa die
Lex Julia judiciaria. Ihre leichte und ſchnelle Einführung
mag wohl durch ein längſt empfundenes Bedürfniß begün-
ſtigt worden ſein, welches erſt in Folge der großen poli-
tiſchen Umwälzung ſeine Befriedigung finden konnte.
Als die Inſtanzeneinrichtung zu voller Ausbildung ge-
langt war, wurde ſie in folgender Stufenfolge zur Aus-
führung gebracht.
(g) Sueton. August. C. 33.
„Appellationes quotannis urba-
norum quidem litigatorum prae-
fecto delegabat urbis, at pro-
vincialium consularibus viris,
quos singulos cujusque pro-
vinciae negotiis praeposuisset.“
Es war eine übertragene Gerichts-
barkeit, die auch in unſren Rechts-
quellen bald mandata bald dele-
gata jurisdictio heißt. Dig. I.
21 und L. 1 de damno inf. (39. 2).
Daß aber in vielen Sachen auch
die Kaiſer ſelbſt perſönlich ent-
ſchieden, iſt aus den Digeſten be-
kannt. — Vgl. über die Ge-
ſchichte der Inſtanzen im Allgemei-
nen: Zimmern Rechtsgeſchichte
B. 3 § 170. Hollweg Prozeß
B. 1 § 32.
(h) Tacitus annal. XIV. 28.
(i) L. 1 § 2 a quibus app.
(49. 2).
(k) L. 1 § 1 a quibus app.
(49. 2). „Et quidem stultum
est, illud admonere, a principe
appellare fas non esse, cum
ipse sit, qui provocatur.“
|0312 : 294|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Von dem Juder ging die Berufung an die Obrigkeit,
die ihn beſtellt hatte, nie an eine andere oder höhere Obrig-
keit (l); vom Prätor an den Präfecten der Stadt, von
dieſem aufwärts an den Kaiſer (m).
So beſtand dieſe Einrichtung Jahrhunderte lang neben
dem alten ordo judiciorum, und als ein demſelben einge-
fügter völlig neuer Beſtandtheil. Denn es muß wohl be-
merkt werden, daß jede höhere Inſtanz extra ordinem
vollzogen wurde (n), indem über eine Berufung die Obrig-
keit der höheren Inſtanz ſtets in eigener Perſon, ohne
Judex, entſchied. So fand ſich alſo in dieſem langen Zeit-
raum die merkwürdige Erſcheinung, daß gerade der höhere
und mächtigere Theil der Rechtspflege außer derjenigen
Form lag, die noch ſtets als die regelmäßige Grundlage
der ganzen Gerichtsverfaſſung anerkannt wurde. Indeſſen
würde es unrichtig ſeyn, dieſe Erſcheinung als eine In-
conſequenz anzuſehen, oder auch als ein Zeichen, daß man
die erwähnte Grundlage gering geachtet und vielleicht
aufzugeben ſchon damals beſchloſſen habe. Der Grund der-
ſelben liegt vielmehr in dem Weſen des Gerichtsverfahrens
ſelbſt. Die ganze richterliche Thätigkeit läßt ſich auf zwei
(l) L. 1 § 3 L. 21 § 1 de
appell. (49. 1), L. 1 pr. L. 3
quis a quo (49. 3). — Alle dieſe
Stellen ſind aus ſehr ſpäter Zeit,
es iſt aber weder unmöglich, noch
unwahrſcheinlich, daß die Beru-
fung vom Judex an den Prätor
von Anfang an eintrat, ſobald
nur überhaupt die Berufung an
den Kaiſer das ganze Inſtitut der
Inſtanzen hervorgerufen hatte.
(m) L. 38 pr. de minor.
(4. 4).
(n) Hollweg Prozeß B. 1
S. 348.
|0313 : 295|
§. 285. Rechtskraft. Formelle Bedingungen. (Fortſ.)
Hauptſtücke zurückführen: Sammlung des Stoffes, und
Bildung des Urtheils. In erſter Inſtanz nimmt jenes erſte
Stück vorzugsweiſe Zeit und Arbeit in Anſpruch, und dazu
gebrauchte der Prätor eine große Zahl von Privatrich-
tern als Gehülfen, denen er das Urtheil hypothetiſch vor-
ſchrieb. Die höheren Inſtanzen dagegen benutzen den in
erſter Inſtanz geſammelten Stoff, und was in ihnen zu
deſſen Ergänzung vielleicht geſchehen muß, iſt verhältniß-
mäßig von geringer Bedeutung. Darum war hier der
Judex entbehrlich.
§. 285.
Rechtskraft. I. Bedingungen. A. Formelle.
(Fortſetzung.)
Es iſt hier als bloße Thatſache angenommen worden,
daß ein höchſtes Richteramt des Kaiſers, vom Anfang der
neuen Verfaſſung an, ausgeübt wurde, und daß ſich
hieran die vollſtändige Einrichtung eines Inſtanzenzuges
anknüpfte. Bekanntlich gehört es aber zu der eigenthüm-
lichen Natur der ganzen Staatsveränderung, daß man den
äußeren Schein einer ganz neuen Gewalt überall zu ver-
meiden, und die wirkliche neue Macht auf alte, bekannte
obrigkeitliche Würden zu gründen ſuchte, die nur, im
Widerſpruch mit dem Weſen der alten Verfaſſung, in
Einer Perſon vereinigt wurden. Zur Zeit der Republik
nun hatten die höchſte richterliche Gewalt in Civilſachen
zwei Prätoren, und unter den obrigkeitlichen Gewalten,
|0314 : 296|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
deren Titel und Macht dem Kaiſer übertragen wurden,
war keine, in deren Amtskreis eine richterliche Gewalt,
wenigſtens für die Stadt Rom, unmittelbar enthalten ge-
weſen wäre (a). Es bedarf daher einer beſonderen Er-
klärung, durch welche künſtliche Verbindung jenes neue
höchſte Richteramt an alte obrigkeitliche Gewalten ange-
knüpft wurde, indem es nur auf dieſem Wege möglich
war, das eben angegebene Verfahren bei der Gründung
der kaiſerlichen Gewalt auch in dieſer einzelnen Anwen-
dung durchzuführen. Dieſe Unterſuchung iſt in der Bei-
lage XV. angeſtellt worden, wo insbeſondere nachgewieſen
wird, wie man dazu kam, zwei urſprünglich verſchiedene
Kunſtausdrücke der alten Verfaſſung, appellatio und pro-
vocatio, bald als gleichbedeutende Bezeichnungen einer jeden
Berufung auf eine höhere Inſtanz zu gebrauchen.
Unter Vorausſetzung von Inſtanzen wird es nöthig,
zweierlei Urtheile zu unterſcheiden: die, bei welchen es un-
abänderlich bleibt, und die, welche durch eine weitere In-
ſtanz abgeändert werden können. Es verſteht ſich von
ſelbſt, daß die Rückwirkung auf den Inhalt der Rechte
ſelbſt, die allein zu unſrer gegenwärtigen Aufgabe gehört,
(a) Dieſe Gewalten waren:
Tribunitia potestas, procon-
sularis potestas, imperium,
praefectura morum, die Würde
des pontifex maximus. Nur in
der proconsularis potestas lag
unmittelbar eine Gerichtsbarkeit,
aber mit geographiſcher Beſchrän-
kung, und zunächſt nicht als höhe-
res Richteramt mit Unterordnung
anderer Obrigkeiten.
|0315 : 297|
§. 285. Rechtskraft. Formelle Bedingungen. (Fortſ.)
(§ 280), nur den unabänderlichen Urtheilen zugeſchrieben
werden kann, und daß in dieſer Beziehung jedes Urtheil,
das einer ferneren Prüfung unterliegt, vorläufig nur als
der Verſuch eines Urtheils zu betrachten iſt, oder als einer
der vielen Schritte im Laufe eines Prozeſſes, die zu einem
letzten, bleibenden Urtheil zu führen beſtimmt ſind.
Das unabänderliche Urtheil nun, mit welchem allein
wir hiernach uns zu beſchäftigen haben, nennen wir ein
rechtskräftiges, und dieſer Kunſtausdruck der Rechts-
kraft, welcher erſt hierdurch nach der einen Seite hin
ſeine volle Beſtimmtheit erhält, iſt auch ſchon bisher in
dieſer Unterſuchung angewendet worden, um die Einwir-
kung auf den Inhalt der Rechte (welche die andere Seite
der Betrachtung bildet) dadurch zu bezeichnen.
Fragen wir nun, welche Bedingungen vorhanden ſeyn
müſſen, damit einem Urtheil überhaupt die beſondere Be-
ſchaffenheit eines rechtskräftigen Urtheils zugeſchrieben
werden könne, ſo läßt ſich dieſe Frage im Allgemeinen ſo
beantworten. Das Urtheil iſt rechtskräftig:
1. wenn alle Inſtanzen erſchöpft ſind, wenn es alſo in
letzter Inſtanz (in Rom von dem Kaiſer) geſprochen iſt;
2. wenn das Recht der Berufung auf eine fernere In-
ſtanz verloren iſt, oder wenn daſſelbe ausnahmsweiſe
bei manchen Arten von Prozeſſen gar nicht zugelaſſen
wird. Der Verluſt jenes Rechts tritt insbeſondere ein
durch freiwillige Unterwerfung unter das Urtheil, ſo
|0316 : 298|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
wie durch den unbenutzten Ablauf der für eine
Berufung vorgeſchriebenen Friſt.
Dieſe Zuſammenſtellung ſoll übrigens hier nur zu einer
ungefähren Überſicht dienen; die genauere Unterſuchung und
Feſtſtellung gehört lediglich in die Prozeßlehre.
Eine genauere Erwägung bedarf aber noch der Rö-
miſche Sprachgebrauch. Wir ſind gewohnt, das rechts-
kräftige Urtheil res judicata zu nennen, alſo zwiſchen sen-
tentia und res judicata gerade ſo zu unterſcheiden, wie
zwiſchen Urtheil überhaupt und rechtskräftigem Urtheil.
Res judicata aber heißt eigentlich nur ein abgeurtheilter
Rechtsſtreit, alſo ein Urtheil überhaupt. Zur Zeit der
freien Republik nun, in welcher noch keine Inſtanzen be-
ſtanden, war jedes Urtheil ſogleich rechtskräftig, und es
war unbedenklich, ſich damals mit dem Ausdruck: exceptio
rei judicatae zu begnügen, und darunter die Einrede aus
einem rechtskräftigen Urtheil zu verſtehen.
Als aber Inſtanzen eingeführt wurden, unterließ man
es, den Sprachgebrauch näher zu beſtimmen. Res judicata
hieß nach wie vor jedes Urtheil (b), ſelbſt dann, wenn
gegen daſſelbe eine Berufung möglich, oder ſogar wirklich
eingewendet iſt (c). Nunmehr war der Ausdruck exceptio
rei judicatae nicht ganz vorſichtig, indem derſelbe dem
(b) L. 1 de rejud. (42. 1). (Mo-
destinus): „Res judicata dici-
tur, quae finem controversiarum
pronuntiatione judicis accipit.“
(c) L. 7 pr. de transact.
(2. 15). „Et post rem judi-
catam transactio valet, si vel
appellatio intercesserit, vel
appellare potueris.“ Eben ſo
L. 11 eod.
|0317 : 299|
§. 285. Rechtskraft. Formelle Bedingungen. (Fortſ.)
Irrthum Raum laſſen konnte, als ob dieſe Exception auch
durch ein nicht rechtskräftiges, vielleicht gar von einem
höheren Richter abgeändertes Urtheil begründet werden
könnte. Dennoch fiel es gewiß Keinem ein, ſo etwas zu
glauben, und die Gefahr war auch ſchon dadurch praktiſch
ganz unerheblich, daß in allen Fällen ſolcher Art ohnehin
ſchon eine exceptio rei in judicium deductae damals wirk-
lich begründet war, die ungefähr dieſelben Wirkungen her-
vor brachte, wie die exceptio rei judicatae (§. 281).
Das canoniſche Recht änderte den Sprachgebrauch, und
führte ganz denjenigen ein, deſſen wir ſeitdem uns allge-
mein bedienen (d). Nun heißt res judicata nicht mehr ein
Urtheil überhaupt, ſondern ein rechtskräftiges Urtheil, d. h.
ein ſolches, dem nicht mehr eine mögliche Abänderung in
einer ferneren Inſtanz bevorſteht.
Wird nun überhaupt ein Inſtanzenzug und eine den-
ſelben völlig ausſchließende Rechtskraft vorausgeſetzt, ſo iſt
eine Anwendung dieſer Verhältniſſe auch auf das Innere
des Prozeßverfahrens denkbar. Man kann auch bei
manchen Ausſprüchen des Richters, welche nicht zur Ent-
ſcheidung des Rechtsſtreits ſelbſt, ſondern nur zur Vorbe-
reitung dieſer Entſcheidung beſtimmt ſind, z. B. bei pro-
zeßleitenden Decreten, oder bei Beweiserkenntniſſen, die
Unabänderlichkeit, d. h. die Rechtskraft, und zu deren Ab-
wendung eine Berufung auf höhere Inſtanzen annehmen.
(d) C. 13. 15 X. de sentent. (2. 27).
|0318 : 300|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Ob dieſes räthlich iſt, und unter welchen Bedingungen es
zugelaſſen werden ſoll, das ſind Fragen, die lediglich in
das Gebiet der Prozeßlehre gehören, und ganz außer
unſrer Aufgabe liegen. Dieſer Gegenſtand iſt hier nur
berührt worden, um den Vorwurf zu verhüten, als ſey
hier von der Rechtskraft gehandelt worden, ohne den
großen Umfang, deſſen dieſes wichtige Rechtsinſtitut empfäng-
lich iſt, vollſtändig in’s Auge zu faſſen.
§. 286.
Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils,
als Grundlage der Rechtskraft. — Arten des Urtheils.
Das Inſtitut der Rechtskraft iſt dazu beſtimmt, dem
Inhalt jedes Urtheils ſeine Wirkſamkeit für alle Zukunft
zu ſichern (§ 281). Dabei wird eine genaue Kenntniß
dieſes Inhalts vorausgeſetzt, welcher die Grundlage der
Rechtskraft ſeyn ſoll.
Zu dieſer Kenntniß des Inhalts gehört aber erſtlich
die Angabe der verſchiedenen Möglichkeiten, die bei einem
Urtheil vorkommen können, alſo der möglichen Arten
des Urtheils. Damit werden zugleich die Gränzen mög-
licher Urtheile zu ziehen ſeyn, d. h. es iſt anzugeben, was
nicht Inhalt eines Urtheils ſeyn, alſo nicht der Rechts-
kraft theilhaftig werden kann.
Zweitens gehört zu der Kenntniß des Inhalts die An-
gabe der Erkenntnißgründe, aus welchen wir jenen Inhalt
zu ſchöpfen haben.
|0319 : 301|
§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.
Es giebt zwei, und nur zwei Arten möglicher Urtheile
in Beziehung auf ihren Inhalt (a):
A. Verurtheilung des Beklagten, alſo Erkenntniß
nach dem Antrag des Klägers.
B. Freiſprechung des Beklagten, alſo Erkenntniß nach
dem Antrag des Beklagten.
Bevor dieſe beiden Arten des Urtheils in ihrem eigen-
thümlichen Inhalt genauer dargeſtellt werden, iſt es nöthig,
auf einige angebliche andere Arten einzugehen, aus deren
Annahme die Unvollſtändigkeit der angegebenen Aufzählung
hervorgehen würde. Es gehören dahin: 1. Gemiſchte
Urtheile, 2. Unbeſtimmte Urtheile, 3. Verurtheilung des
Klägers.
1. Gemiſchte Urtheile, d. h. die theils Verur-
theilung, theils Freiſprechung enthalten.
Daß dieſe überhaupt vorkommen können, ja daß ſie ſehr
häufig vorkommen, ſoll gewiß nicht in Abrede geſtellt
werden. In der That aber bilden dieſelben keine dritte
Art, ſondern es wird in ſolchen Fällen der Gegenſtand des
Urtheils in mehrere Theile zerlegt, deren jeder durch ein
beſonderes Urtheil (wenngleich in derſelben Formel ver-
einigt) entſchieden wird, ſo daß jedes dieſer einzelnen Ur-
(a) L. 1 de re jud. (42. 1).
„Res judicata dicitur, quae
finem controversiarum pronun-
tiatione judicis accipit: quod
vel condemnatione vel absolu-
tione contingit.“ — L. 3 C. de
sentent. (7. 45). „Praeses pro-
vinciae non ignorat, definitivam
sententiam, quae condemna-
tionem vel absolutionem non
continet, pro justa non haberi.“
|0320 : 302|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
theile eine reine Verurtheilung oder eine reine Freiſprechung
enthält.
Beiſpiele: Aus einem Vertrag werden Hundert gefor-
dert, der Richter verurtheilt auf Sechszig und ſpricht den
Beklagten von Vierzig frei. Oder es wird das Eigenthum
eines Grundſtücks eingeklagt, der Richter verurtheilt auf
Zwei Drittheile des Grundſtücks, oder auf abgegränzte
Stücke deſſelben, und ſpricht frei von Einem Drittheil oder
von den übrigen abgegränzten Stücken.
Dabei iſt zuvörderſt die Eigenthümlichkeit des Römi-
ſchen Formularprozeſſes wohl zu bemerken. Hatte die
Klage eine certa intentio (b), ſo hatte der Juder nur die
Wahl, entweder auf das Ganze zu verurtheilen, oder
völlig freizuſprechen, ſelbſt wenn er die Klage für einen
Theil des eingeklagten Gegenſtandes als begründet anſah.
Hatte alſo der Kläger mehr gefordert, als ihm gebührte,
ſo verlor er auch das, welches er zu fordern hatte, und
zwar nicht zur Strafe für unbillige Übertreibung, ſondern
lediglich in Folge der ſo gefaßten Formel, die dem Juder
nur eine Alternative ſtellte, kein drittes zuließ (c). Bei
der incerta intentio fiel dieſe Gefahr weg, weil der Umfang
der Verurtheilung ganz in das Ermeſſen des Richters
(b) Z. B. Si paret, fundum
Cornelianum Auli Agerii esse,
oder: Si paret, Centum dari
oportere .... condemna, si
non paret, absolve.
(c) In dem: si non paret,
absolve (Note b) war ſowohl
der Fall, wenn der Beklagte Sechs-
zig, als wenn er gar Nichts ſchul-
dig war, enthalten; auf beide Fälle
ging die Anweiſung, zu abſol-
viren. Vgl. oben B. 5 § 215
und Keller § 56.
|0321 : 303|
§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.
geſtellt war. Durch die Aufhebung des Formularprozeſſes
hörte indeſſen dieſe Beſchränkung des Richteramtes mit
allen ihren Folgen auf (d), und es trat für alle Klagen
der natürliche Zuſtand ein, welchen allein wir in unſrem
Prozeßverfahren kennen.
Wenn nun der Kläger einen beſtimmten Gegenſtand
einklagt, z. B. Hundert Thaler, ſo iſt ſtets hinzuzudenken:
Hundert oder weniger, ſo viel, als zu erlangen iſt. Der
Richter iſt dann nur darin gebunden, daß er den einge-
klagten Umfang nicht überſchreiten darf; innerhalb deſſelben
hat er völlig freie Hand. Findet er nun den Anſpruch
auf Sechszig begründet, ſo verurtheilt er auf Sechszig und
ſpricht auf Vierzig frei. Eben ſo, wenn er die auf ein
Grundſtück gerichtete Eigenthumsklage für Zwei Drittheile
oder für beſtimmte Äcker in dieſem Grundſtück gegründet
findet, da auch hier die Klage ſtets ſo gedacht werden muß:
Ich fordere das ganze Grundſtück, oder ſo viel davon irgend
zu erlangen iſt.
Für den Erfolg aber iſt es ganz gleichgültig, ob das
Urtheil dieſen letzten Satz ausdrückt, oder nicht, da er ſich
von ſelbſt verſteht, auch wenn er nicht ausgeſprochen wird.
Man kann Dieſes ſo ausdrücken: Jedes Urtheil, worin der
Beklagte auf weniger verurtheilt wird, als der Kläger for-
derte, iſt ſtets ein gemiſchtes Urtheil, indem darin die Frei-
ſprechung von dem übrigen Theil der Forderung ſtillſchwei-
(d) § 33 J. de act. (4. 6).
|0322 : 304|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
gend mit enthalten iſt. In keinem Fall alſo kann auf
dieſen übrigen Theil jemals wieder geklagt werden, auch
wenn derſelbe in dem früheren Urtheil nicht namentlich
erwähnt iſt. — Ja man kann ſogar noch weiter gehen,
und jede Verurtheilung überhaupt (auch ohne ſichtbare
Abweichung von dem Antrag des Klägers) als ein gemiſch-
tes Urtheil anſehen, indem dabei ſtets der ſtillſchweigende
Zuſatz hinzu zu denken iſt: Ein Mehreres hat der Kläger
nicht zu fordern.
Dieſe Sätze laſſen ſich in folgende Formel zuſammen-
faſſen: Alles, was das rechtskräftige Urtheil nicht zuge-
ſprochen hat, obgleich es Gegenſtand des Rechtsſtreits
geworden war und daher zugeſprochen werden konnte (d. 1),
iſt als abgeſprochen anzuſehen. Oder mit anderen Worten:
Durch das rechtskräftige Urtheil wird ſtets das ſtreitige
Rechtsverhältniß für immer feſtgeſtellt (e). Aus dieſer
(d. 1) Dieſe Beſchränkung des
hier aufgeſtellten Satzes iſt genau
zu beachten, weil nur durch ſie der
Widerſpruch mit den Grundſätzen
von der Concurrenz der Klagen
verhütet werden kann. Wenn da-
her durch die condictio furtiva
auf Entſchädigung wegen des Dieb-
ſtahls geklagt und erkannt worden
iſt, ſo kann noch immer durch die
actio vi bonorum raptorum,
oder durch die actio furti auf
eine Strafe geklagt werden. Denn
in der erſten Klage hatte der Rich-
ter gar nicht die Möglichkeit, auf
Strafe zu erkennen, ſo daß die
Unterlaſſung des Straferkenntniſſes
nicht als ſtillſchweigende Abweiſung
der Strafe angeſehen werden kann.
Vgl. B. 5 § 233. b. § 234. a.
(e) Keller S. 202 S. 584
Note 3. Buchka B. 2 S. 211.
212. — Dieſer ungemein wichtige
und in ſeinen Folgen reichhaltige
Satz ſteht in geſchichtlicher Ver-
bindung mit der vertragsmäßigen
(contractlichen oder quaficontract-
lichen) Unterwerfung beider Parteien
unter das künftige Urtheil. Denkt
man ſich, welches nicht unwahr-
|0323 : 305|
§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.
Regel iſt denn auch für unſer heutiges Recht der praktiſch
wichtige Satz abzuleiten, daß das ſtillſchweigende Übergehen
der omnis causa, ſo wie der Prozeßkoſten, eben ſo zu
betrachten iſt, wie wenn ſie ausdrücklich ausgeſprochen
worden wären (f).
Hält man feſt an dieſen Regeln, ſo vermindert ſich die
Wichtigkeit der oft aufgeworfenen Frage, ob der Kläger,
der nach einer rechtskräftigen Verurtheilung ſeine Befriedi-
gung noch nicht erlangt hat, blos mit der actio judicati
klagen könne, oder auch mit der früheren, bereits abgeur-
theilten Klage. Der Gebrauch der actio judicati macht die
Sache klarer und einfacher, aber auch die frühere Klage iſt
ganz ungefährlich, wenn man ſie nur unter die eben auf-
geſtellten Beſchränkungen ſtellt, ſo daß jeder Anſpruch, der
über die rechtskräftige Verurtheilung hinaus geht, durch
die Einrede der Rechtskraft ſchlechthin ausgeſchloſſen iſt.
Wir müſſen aber hierin noch weiter gehen. Da unſer
heutiger Prozeß weder Klagformeln, noch feſt beſtimmte
Arten und Namen der Klagen kennt, ſondern Alles von
den Behauptungen und Anträgen der Parteien abhängen
läßt, ſo haben wir oft gar kein durchgreifendes Mittel, zu
unterſcheiden, ob die actio judicati, oder vielmehr (unter
ſcheinlich iſt, daß in den Stipu-
lationen bei der L. C. ſtets die
Worte vorgekommen ſeyn möchten:
sententiae stari, amplius non
peti (Brisson. de form. VI. 184),
ſo wird die Sache noch anſchau-
licher. Vgl. oben § 258.
(f) Verzugszinſen. L. 13 C. de
usur. (4. 32), L. 4 C. depos.
(4. 34). — Prozeßkoſten. L. 3
C. de fruct. 7. 51.
VI. 20
|0324 : 306|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
den oben aufgeſtellten Beſchränkungen) die frühere Klage
angeſtellt iſt. Dieſe Unterſcheidung wird nur dann, alſo
nur zufällig, mit Sicherheit vorgenommen werden können,
wenn etwa der Kläger ausdrücklich nur aus dem Urtheil
geklagt hat, ohne das urſprüngliche Rechtsverhältniß genau
zu erwähnen, oder wenn umgekehrt die Klage nur auf
dieſes frühere Verhältniß gegründet iſt, nur etwa mit bei-
läufiger Erwähnung des ſchon geſprochenen Urtheils.
Ganz auf ähnliche Weiſe verhält es ſich auch im Fall
einer völligen Freiſprechung. Dieſe geht nämlich nicht
blos auf das Ganze, ſondern auch auf jeden denkbaren
Theil des Ganzen, weil auch auf dieſen der Richter hätte
ſprechen können. Denn da die Klage auf Hundert ſtets
ſo auszulegen iſt: Auf Hundert oder irgend eine geringere
Summe, ſo hat auch das völlig freiſprechende Urtheil den
Sinn, daß der Beklagte weder Hundert, noch irgend eine
geringere Summe zu zahlen ſchuldig iſt.
Die hier aufgeſtellten Sätze ſind in der Praxis von
jeher angewendet worden, wie verſchieden man ſie auch
ausgedrückt und zu begründen verſucht haben mag. Seit
der Entdeckung des Gajus hat man verſucht, dieſelben
auf verſchiedene Weiſe an die Inſtitute des altrömiſchen
Prozeſſes anzuknüpfen, dieſen alſo theilweiſe eine künſtliche
Wiederbelebung zuzuwenden. Indem ich mich entſchieden
gegen jedes Verfahren dieſer Art erkläre, muß ich voraus
bemerken, daß dieſer Streit eine rein theoretiſche Natur
hat, indem er blos die geſchichtliche Verknüpfung und die
|0325 : 307|
§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.
Bezeichnung von Rechtsſätzen betrifft, deren Inhalt und
Wahrheit außer Streit iſt.
So iſt neuerlich behauptet worden, die Klagenconſum-
tion und die damit verbundene negative Function der Ein-
rede der Rechtskraft gelte noch im heutigen Prozeß (§ 283. b).
Allerdings führten dieſe Rechtsinſtitute auf dieſelben Sätze,
die ſo eben aufgeſtellt worden ſind, und bei einigen der
angeführten Stellen des Römiſchen Rechts (Note f) iſt
auch ohne Zweifel an ſie gedacht worden. Dennoch ſind
jene Inſtitute ſchon im Juſtinianiſchen Recht völlig ver-
ſchwunden, und wir gelangen jetzt zwar zu denſelben prak-
tiſchen Regeln, aber auf einem anderen Wege.
Ganz Daſſelbe muß ich von der Behauptung anderer
Schriftſteller ſagen, daß die Novation des altrömiſchen Pro-
zeſſes noch jetzt fortdauere. Das rechtskräftige Urtheil nämlich
(ſagt man) zerſtöre die frühere Klage gänzlich durch Novation
und ſetze die neue judicati actio an die Stelle (g). Was
man damit praktiſch ausrichten will, iſt wahr, aber die
Herleitung und Bezeichnung iſt nicht wahr. Die Novation
im Prozeß, die ſelbſt in den neu entdeckten Schriften der
alten Juriſten ſo ſehr wenig erwähnt wird, war ohne
Zweifel auf diejenigen Fälle beſchränkt, worin die Klagen-
conſumtion ipso jure eintrat; Fälle, die ſchon Jahrhun-
derte vor Juſtinian völlig unmöglich geworden waren, und
zu keiner Zeit poſitiv ausgedehnt worden ſind. Auf welchem
(g) Dieſe Frage iſt ſchon oben weiter ausgeführt § 258, beſonders
Note f.
20*
|0326 : 308|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wege derſelbe praktiſche Zweck im heutigen Prozeß erreicht
wird, iſt ſo eben bereits gezeigt worden.
Faſſen wir die eben erörterte Streitfrage kurz zuſam-
men. Die Römer hatten in ihrem Prozeß einige alte
Rechtsinſtitute, die zu Juſtinian’s Zeit längſt verſchwunden
waren, uns aber in der neueſten Zeit bekannt geworden
ſind. In dieſen Inſtituten war Vieles ganz formell und
hiſtoriſch: Anderes beruhte auf einem allgemeinen und
bleibenden praktiſchen Bedürfniß, das eben durch jene
geſchichtlichen Formen damals ſeine Befriedigung erhalten
ſollte. In den anderthalb tauſend Jahren, ſeit welchen
jene Formen verſchwanden, hat das praktiſche Bedürfniß
ſtets fortgedauert, und man hat ſich auf andere Weiſe zu
helfen geſucht, beſſer oder ſchlechter, mit mehr oder weniger
deutlichem Bewußtſeyn, wie es eben gelingen wollte. Jetzt
werden jene alten Formen entdeckt, und wir finden, daß
die Römer dieſelben gebraucht haben, um praktiſche Bedürf-
niſſe zu befriedigen, die auch wir bisher anerkannt haben.
Zu verwundern iſt daran nicht viel, da ja die Römer bei
der Aufſtellung jener Formen nicht aus einer wunderlichen
Laune zu Werke gingen, ſondern mit ächt praktiſchem Sinn,
wovon ſie bekanntlich ein nicht geringes Maaß hatten.
Die neue Entdeckung zeigt uns alſo, daß wir uns das
bleibende Weſen jener alten Rechtsinſtitute unter anderen
Formen und Namen wirklich angeeignet haben, und dieſe
Beſtätigung der Richtigkeit unſres Verfahrens iſt ſehr an-
ziehend und belehrend. Sollen wir aber deshalb die alten
|0327 : 309|
§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.
Namen und Formen hervorſuchen, und in dem heutigen
Prozeß von Klagenconſumtion, negativer Function, Nova-
tion ſprechen? Ich muß ein ſolches Verfahren durchaus
für eine falſche, verwirrende Gelehrſamkeit erklären, für
einen Weg, der von der Wahrheit abzuführen geeignet iſt.
Insbeſondere muß dabei noch auf folgende Analogie
des heutigen Rechts mit dem alten Recht aufmerkſam
gemacht werden. Nach der von mir oben aufgeſtellten
Formel kommt Alles darauf an, was und wie viel zum
Gegenſtand des Rechtsſtreits erhoben, und dadurch dem
Urtheil des Richters unterworfen worden iſt (S. 304).
Wir können Das mit einem altrömiſchen Kunſtausdruck ſo
bezeichnen: Es kommt darauf an, was in judicium deducirt
iſt. Dabei iſt nur der Unterſchied zu beachten, daß die
Römer den Umfang des in judicium deductum aus der
formula, und zwar vorzugsweiſe aus der in derſelben ent-
haltenen intentio beurtheilten; wir haben eine ſo feſte, gleich-
förmige Prozeßform nicht, müſſen uns aber an den Inhalt
der Klagſchrift (insbeſondere des Antrags) halten, ſo daß
unſre Beurtheilung dieſes Gegenſtandes auf der einen
Seite freier, auf der anderen Seite aber ſchwankender und
unſicherer iſt, als es die der Römer war. Auch hierin
alſo haben wir die Analogie eines altrömiſchen Rechts-
inſtituts vor uns, deſſen genaues Studium uns ſehr för-
dern und vergleichend belehren, deſſen verſuchte unmittel-
bare Anwendung aber nur irre führen kann.
|0328 : 310|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
2. Unbeſtimmte Urtheile.
Im Römiſchen Criminalprozeß wurden jedem Richter
drei Täfelchen eingehändigt, bezeichnet mit C (condemno),
A (absolvo), NL (non liquet). War die Stimmenmehrheit
für non liquet, ſo wurde, nach einer unter unſren Schrift-
ſtellern ſeit langer Zeit verbreiteten Meinung, der Ange-
klagte nicht für ſchuldlos erklärt, aber er blieb ohne Strafe;
es war nach dieſer Meinung ähnlich unſrer Freiſprechung
von der Inſtanz. Man könnte glauben, ein ähnliches nicht
entſcheidendes Urtheil wäre auch im Civilprozeß möglich
geweſen.
In der That aber verhielt es ſich auch ſchon im Criminal-
prozeß ganz anders. Wenn die meiſten Stimmen auf non
liquet gingen, ſo lautetete der Ausſpruch des vorſitzenden
Prätors nicht: Non liquet, wodurch die Sache auf unbe-
ſtimmte Zeit, vielleicht für immer, unentſchieden geblieben
wäre, ſondern vielmehr: Amplius, welches die Folge hatte,
daß die Verhandlung an irgend einem anderen nahen Tage
fortgeſetzt wurde, bis die Richter glaubten, ein ſicheres
Urtheil ausſprechen zu können. Der Ausgang jedes einge-
leiteten Criminalprozeſſes war alſo ſtets Verurtheilung oder
Freiſprechung, nie Unentſchiedenheit (h).
Eben ſo war aber auch im Civilprozeß zu allen Zeiten
kein anderer Ausgang möglich, als durch Verurtheilung
(h) Dieſer Gegenſtand iſt aus-
führlich und gründlich behandelt
von Geib Geſchichte des römiſchen
Criminalprozeſſes. Leipzig 1842.
S. 568—583.
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§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.
oder Freiſprechung, worunter auch die gemiſchten Urtheile
mit begriffen ſind; ein Urtheil mit non liquet war nie
möglich.
Die regelmäßige Anweiſung in der Formel: Si paret,
condemna, si non paret, absolve, ließ für eine dritte Art
von Urtheilen keinen Raum (Note b), und das zweite Glied
der Alternative: si non paret, umfaßte nicht nur die Fälle,
worin der Juder die beſtimmte Überzeugung hatte, der Be-
klagte ſey nicht verpflichtet, ſondern auch die, worin es ihm
an aller Überzeugung nach beiden Seiten hin gänzlich
fehlte. Derſelbe Satz, deſſen Anerkennung ſo eben aus den
Römiſchen Formeln nachgewieſen worden iſt, wird von dem
Standpunkt unſres wiſſenſchaftlich ausgebildeten Prozeß-
rechts ſo ausgedrückt: Nach der Regel über die Beweislaft
darf und muß der Richter annehmen, die nicht erwieſene
Klage ſey nicht begründet. Es liegt hierin nur eine andere
Auffaſſung und Bezeichnung deſſelben Satzes.
Es ſind nur noch einige Stellen zu erklären, die auf
die Möglichkeit eines ſolchen unentſcheidenden Urtheils gedeu-
tet werden könnten.
Gellius erzählt, er ſelbſt ſey einmal Juder geweſen,
als ein ſehr rechtſchaffener Mann gegen einen Menſchen
von verdächtigem Charakter ein Darlehn einklagte, ohne
Beweiſe führen zu können. Durch einen Eid: mihi non
liquere, machte er ſich frei von der Verlegenheit, gegen ſeine
perſönliche Meinung urtheilen zu müſſen (i). Wollte man
(i) Gellius XIV. 2: „et propterea juravi, mihi non liquere,
atque ita judicatu illo solutus sum.“
|0330 : 312|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Das ſo verſtehen, als ſey nun das Urtheil non liquet ge-
ſprochen worden, ſo würde die oben aufgeſtellte Behaup-
tung widerlegt ſeyn. Der Erfolg war aber nur der, daß
dem Gellius geſtattet wurde, perſönlich aus dem aufer-
legten Judicium auszuſcheiden, und daß nun ein anderer
Juder an ſeine Stelle trat (k).
Eben ſo kommt es vor, daß bei einem Richtercollegium
Einer ſchwört, sibi non liquere, während die Übrigen ein-
verſtanden ſind. Das Urtheil derſelben iſt rechtsgültig, da
ſie ja ſogar, wenn Jener ſeine entgegengeſetzte Stimme
wirklich abgegeben hätte, durch Stimmenmehrheit entſchieden
haben würden (l).
Wenn ein Schiedsrichter mit Beſchränkung auf beſtimmte
Zeit gegeben iſt, und ſchwört, sibi nondum liquere, ſo muß
ihm die Friſt verlängert werden (m). Auch in dieſem Fall
alſo kommt ein Urtheil non liquet nicht vor.
3. Verurtheilung des Klägers.
Dieſer, in der oben gegebenen Aufzählung möglicher
Urtheile nicht vorkommende Fall, kann hier einſtweilen nur
der Vollſtändigkeit wegen mit aufgeführt werden. Die
(k) Auf gleiche Weiſe wurde
ein anderer Judex ernannt, wenn
der zuerſt ernannte vor dem Urtheil
ſtarb oder wahnſinnig wurde: das-
ſelbe Judicium dauerte fort, und
nur die Perſon wurde verändert.
L. 32. 46. 60 de jud. (5. 1).
(l) L. 36 de re jud. (42. 1).
Auch hier ſcheidet nur die einzelne
Perſon aus, das Urtheil nimmt die
Formel: Non liquet, nicht in
ſich auf.
(m) L. 13 § 4 de receptis (4. 8).
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§. 287. Inhalt. Verurtheilung.
Beurtheilung deſſelben iſt erſt in Verbindung mit den frei-
ſprechenden Urtheilen möglich (§ 288. 289).
§. 287.
Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils
als Grundlage der Rechtskraft. — Fall der Verurthei-
lung des Beklagten.
Nach dieſer vorläufigen Beſeitigung anderer denkbarer
Arten des Inhalts eines Urtheils kehre ich jetzt zur genaue-
ren Betrachtung der beiden aufgeſtellten Fälle (§ 286) zu-
rück, welche als:
Verurtheilung des Beklagten, und
Freiſprechung des Beklagten
bezeichnet worden ſind, um für jeden derſelben beſonders
feſtzuſtellen, was als wahrer Inhalt deſſelben anzuſehen iſt.
Bei der Verurtheilung des Beklagten iſt es zu-
vörderſt nöthig, auf die beiden Hauptarten der Klagen
zurück zu gehen: perſönliche Klagen und Klagen in rem
(§ 206. 207).
Die Verurtheilung bei einer perſönlichen Klage iſt ſehr
einfacher Art: ſie geht ſtets auf eine beſtimmte Handlung
oder Unterlaſſung, die dem Beklagten als nothwendig auf-
erlegt wird, übereinſtimmend mit dem Inhalt der Obli-
gation, die den Grund der angeſtellten Klage enthält.
Die Klagen in rem ſind ſtets gegründet auf ein Ver-
hältniß des Sachenrechts, Erbrechts, Familienrechts, welches
der Kläger ſich zuſchreibt. Die Verurtheilung enthält
|0332 : 314|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
zunächſt die Anerkennung dieſes beſtrittenen Rechtsverhält-
niſſes in der Perſon des Klägers; daneben aber, und nur
als abgeleitete Folge davon, die dem Beklagten auferlegte
Nothwendigkeit einer Handlung oder Unterlaſſung.
Das Rechtsverhältniß, welches auf dieſe Weiſe in Folge
einer Klage in rem anerkannt wird, iſt gewöhnlich ein
ausſchließendes, welches nur der einen oder nur der anderen
Partei allein zukommen kann, vielleicht auch keiner von beiden.
Die Verurtheilung alſo, die in der Perſon des Klägers
das Recht anerkennt, ſchließt eben daher auch den Satz in
ſich, daß dieſes Recht dem Beklagten nicht zuſtehe.
Das Urtheil braucht dieſen zweiten Satz nicht auszuſprechen,
ſpricht ihn auch gewöhnlich nicht aus; es iſt aber ſtets ſo
anzuſehen, als ob es ihn ausſpräche (a).
Endlich iſt für beide Klaſſen der Klagen die gemein-
ſame, ſchon oben aufgeſtellte Bemerkung in Erinnerung zu
bringen, daß in gewiſſem Sinn jede Verurtheilung zugleich
ein gemiſchtes Erkenntniß iſt, indem ſtets der Ausſpruch
ſtillſchweigend hinzugedacht werden muß: mehr, als hier
ausgeſprochen worden, liege in dem Recht des Klägers, in
der Verpflichtung des Beklagten, nicht (§ 286).
(a) L. 15 de exc. r. j. (44. 2)
„quia eo ipso, quo meam esse
pronuntiatum est, ex diverso
pronuntiatum videtur, tuam non
esse.“ — L. 30 § 1 eod. „Re-
spondi, si de proprietate fundi
litigatur, et secundum actorem
pronuntiatum fuisse diceremus,
petenti ei, qui in priore judicio
victus est, obstaturam rei ju-
dicatae exceptionem: quoniam
de ejus quoque jure quaesitum
videtur, cum actor petitionem
implet.“ — L. 40 § 2 de proc.
(3. 3) „nam cum judicatur, rem
meam esse, simul judicatur,
illius non esse.“
|0333 : 315|
§. 287. Inhalt. Verurtheilung.
Die hier aufgeſtellten Sätze über den wahren Inhalt
eines verurtheilenden Erkenntniſſes ſind aus der allgemei-
nen Betrachtung des Weſens eines ſolchen Urtheils abge-
leitet, und haben daher keine geſchichtliche Natur. Aus
dem eigenthümlichen Entwicklungsgang des Römiſchen
Rechts aber können Zweifel hergenommen werden, ob es
ſich ſo in der That zu allen Zeiten und bei allen Arten
der Klagen verhalten habe.
Zu einem ſolchen Zweifel veranlaßt uns die ſehr eigen-
thümliche, während der ganzen Zeit des Formularprozeſſes
geltende Regel, nach welcher alle Condemnationen nur auf
Zahlung einer Geldſumme gerichtet werden konnten (b).
Hiernach ſcheint es, daß die Verurtheilung auch bei den
Klagen in rem, gerade ſo, wie bei den perſönlichen Klagen,
nur eine Leiſtung des Beklagten ausgeſprochen, nicht ein
Recht des Klägers anerkannt hätte.
Bevor die Löſung dieſes Zweifels verſucht wird, ſind
zuerſt die Gränzen anzugeben, innerhalb welcher allein der-
ſelbe geltend gemacht werden kann.
Im älteſten Recht, d. h. vor der Einführung der for-
mulae, galt jene Eigenthümlichkeil nicht, und eben ſo hat
ſie völlig aufgehört und iſt Alles in das natürliche Verhält-
niß zurückgekehrt ſeit der Abſchaffung des Formularprozeſſes,
indem nunmehr wieder, ſo wie in der älteſten Zeit, auf die
Herausgabe des ſtreitigen Gegenſtandes ſelbſt, nicht auf
(b) Gajus IV. § 48.
|0334 : 316|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Zahlung einer Geldſumme, geſprochen, alſo das ſtreitige
Recht unmittelbar dem Kläger zuerkannt wird (c).
Ferner iſt jenem Zweifel durchaus nicht die Bedeutung
zu geben, als ob zur Zeit des Formularprozeſſes jemals
der ſcharfe Gegenſatz der Klagen in rem und in personam
verkannt oder verwiſcht worden wäre; vielmehr wurde die-
ſer Gegenſatz auf das Beſtimmteſte in der intentio ausge-
drückt durch die Faſſung: rem actoris esse, oder aber:
reum dare oportere (d). — Ja ſogar iſt es durch viele
unzweifelhafte Stellen aus der Zeit des Formularprozeſſes
unmittelbar gewiß, daß wirklich dem Kläger das Daſeyn
eines Rechts in ſeiner Perſon zuerkannt wurde (e). Und
(c) § 2 J. de off. jud. (4. 17)
„Et si in rem actum sit …
sive contra possessorem (judi-
caverit), jubere ei debet, ut rem
ipsam restituat cum fructibus.“
— § 32 J. de act. (4. 6), L. 17.
C. de fideic. (7. 4), L. 14 C. de
sentent. (7. 45).
(d) Gajus IV. § 41. 86. 87.
(e) L. 8 § 4 si serv. (8. 5)
„per sententiam non debet ser-
vitus constitui, sed quae est de-
clarari.“ — L. 35 § 1 de rei
vind. (6. 1) „Ubi autem alienum
fundum petii, et judex sententia
declaravit meum esse.“ — L. 58
eod. „Sed si … de ipso homine
secundum petitorem judicium
factum esset, non debere ob
eam rem judicem, quod homi-
nem non traderet, litem aesti-
mare.“ — L. 9 pr. § 1 de exc.
r. j. (44. 2) „sive fuit judica-
tum, hereditatem meam esse,“
und nachher: „re secundum pe-
titorem judicata … replicare
eum oportere, de re secundum
se judicata.“ — L. 3 § 3 de re-
bus eorum (27. 9) „si fundus pe-
titus sit, qui pupilli fuit, et con-
tra pupillum pronuntiatum, tu-
toresque restituerunt.“ — L. 11
§ 3 de jurej. (12. 2) „Si … ju-
ravero … id consequi debeo,
quod haberem, si secundum me
de hereditate pronuntiatum es-
set.“ — L. 6 § 2 de confessis
(42. 2) „Sed et si … confessus,
perinde habearis, atque si do-
minii mei fundum esse pronun-
tiatum esset.“ — Endlich auch
L. 15, L. 30 § 1 eod. — L. 40
§ 2 de proc. (ſ. o. Note a).
|0335 : 317|
§. 287. Inhalt. Verurtheilung.
ſelbſt abgeſehen von dieſen einzelnen Zeugniſſen, geht die-
ſelbe Wahrheit aus dem ganzen Zuſammenhang der Ein-
rede der Rechtskraft, ſo wie derſelbe unten dargeſtellt
werden wird, mit voller Gewißheit hervor.
Endlich iſt noch zu erwägen, daß es für die Klagen
aus Eigenthum und Erbrecht drei verſchiedene Formen
gab, die nach Umſtänden eintreten konnten: Eine legis actio
vor den Centumvirn, eine Sponſionsklage, und die arbi-
traria actio, die allein im neueſten Recht übrig geblieben
iſt (f). Auf die beiden erſten Formen bezieht ſich der
Zweifel gar nicht. Denn die erſte Form ſtand ganz unter
den Regeln des älteſten Rechts, nicht des Formularprozeſſes.
Die zweite Form war gerade darauf berechnet, daß über
das Daſeyn des Rechts, und über dieſes allein, zunächſt
geurtheilt werden ſollte (g). Der ganze Zweifel beſchränkt
ſich alſo auf den Fall der arbitraria actio; d. h. der peti-
toria formula, und er nimmt hier nunmehr folgende Geſtalt
an, in welcher ſich allerdings das Intereſſe der ganzen
Frage ſehr vermindert.
Wir wiſſen ganz gewiß, daß das Endurtheil nur auf
eine Geldzahlung gerichtet war, nicht auf die ſtreitige
(f) Gajus IV. § 91—95.
(g) Gajus IV. §. 93. 94. Es
wurde folgende Sponſion geſchloſ-
ſen: Si homo, quo de agitur,
ex jure quiritium meus est,
sestertios XXV nummos dare
spondes? Verurtheilte nun der
Judex auf dieſe Summe, ſo hatte
Das nicht die Folge, daß die Summe
gezahlt werden mußte, ſondern daß
die Bedingung der Sponſion (das
Daſeyn des Eigenthums)
rechtskräftig feſtgeſtellt war. Man
drückte Dieſes ſo aus: Nec enim
poenalis est (sponsio), sed
praejudicialis.
|0336 : 318|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Sache ſelbſt. Wir wiſſen eben ſo gewiß, daß über das
Daſeyn des Eigenthums rechtskräftig entſchieden wurde,
mit ſicherer Wirkung für alle Zukunft. Wie iſt nun dieſer
ſcheinbare Widerſpruch zu löſen? In welcher Form konnte
neben jenem auf Geld beſchränkten Inhalt des Urtheils
dennoch für die rechtskräftige Anerkennung des Eigenthums
geſorgt werden?
Der vollſtändige Verlauf einer ſolchen arbitraria actio
war folgender (h). Wenn ſich der Judex von dem Eigen-
thum des Klägers überzeugt hatte, ſo ſprach er zunächſt die
gewonnene Überzeugung von dem Recht des Klägers aus,
und forderte den Beklagten auf, dem Anſpruch des Klägers
freiwillig Genüge zu leiſten, d. h. die ſtreitige Sache her-
auszugeben. Gehorchte der Beklagte dieſem jussus oder
arbitratus, ſo erfolgte eine Freiſprechung; gehorchte er nicht,
ſo wurde er verurtheilt, aber nicht auf die Sache ſelbſt,
ſondern auf eine Geldſumme, mit deren Beſtimmung beſon-
dere Gefahren für den Beklagten verbunden waren.
Es ging alſo dem Befehl zur Reſtitution vorher ein
Ausſpruch des Judex, welcher das Daſeyn des vom Kläger
behaupteten Rechts ausdrücklich anerkannte. Dieſer Aus-
ſpruch führte den techniſchen Namen Pronuntiatio, und auf
ihn gründete ſich für alle Zukunft die Wirkung der Rechts-
kraft, alſo insbeſondere auch der Anſpruch des Klägers,
in jedem künftigen Rechtsſtreit eine exceptio rei judicatae
(h) Dieſer Gegenſtand iſt oben ausführlich behandelt worden B. 5
§ 221—223.
|0337 : 319|
§. 287. Inhalt. Verurtheilung.
geltend zu machen (i). Daß dieſes ſich ſo verhielt, iſt jetzt
unmittelbar gewiß geworden durch die neuerlich bekannt
gemachten, von dem Anteceſſor Stephanus herrührenden
griechiſchen Scholien zu den Digeſten, worin an fünf ver-
ſchiedenen Stellen der lateiniſche Kunſtausdruck Pronuntia-
tio hervorgehoben, und in der hier angegebenen Weiſe aus-
führlich erklärt wird (k). Damit ſtimmt zugleich eine be-
deutende Zahl von Digeſtenſtellen überein, die ganz in dem-
ſelben Sinn die Pronuntiatio und das pronuntiare erwäh-
nen (l). Auf den Grund dieſer Stellen war auch ſchon
vor der erwähnten neuen Entdeckung von mehreren Schrift-
ſtellern das wahre Verhältniß der Sache im Ganzen rich-
tig erkannt und dargeſtellt worden (m). Ja ſelbſt wenn
eine ſolche förmliche Handlung, wie ſie hier unter dem
Namen der Pronuntiatio anerkannt worden iſt, nicht vor-
gekommen wäre, ſo hätte dennoch aus dem Urtheil eine
Einrede der Rechtskraft abgeleitet werden können, wenn nur
aus dem Inhalt des Urtheils unzweifelhaft hervorging, daß
(i) Ob dieſe Pronuntiatio ge-
wöhnlich, oder auch nur zuweilen,
den Namen einer sententia führte,
kann dabei gleichgültig ſeyn. Auf
den Zweifel über dieſen Punkt habe
ich früher mehr Gewicht gelegt,
als ihm gebührt.
(k) Zachariä v. Lingenthal
von der Pronuntiatio, Zeitſchrift
f. geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 14
S. 95—126.
(l) Vgl. oben Note a. und e.
Mehrere andere Stellen dieſer Art
ſind angeführt bei Zachariä
S. 101. 102.
(m) Keller § 27—31. Wet-
zell Vindicationsprozeß S. 107
bis 110. Dieſer letzte Schriftſteller
bezeichnet zu ſcharf den vorläufigen
Ausſpruch des Judex als ein eigent-
liches Präjudicium, und identificirt
dadurch zu ſehr den Sponſions-
prozeß mit der petitoria formula.
Die Verſchiedenheit liegt aber hier
mehr in der Form und dem Aus-
druck, als in dem Weſen der Sache.
|0338 : 320|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
dabei die Anerkennung des Eigenthums als Grund und
Bedingung der Entſcheidung wirklich vorausgeſetzt war.
Dieſe Behauptung kann jedoch hier noch nicht gerechtfer-
tigt werden, da ſie mit Demjenigen zuſammenhängt, welches
unten über die Rechtskraft der Gründe geſagt werden wird.
Durch dieſe Bemerkung ſoll darauf aufmerkſam gemacht
werden, daß in der angegebenen Wirkſamkeit der Pronun-
tiatio nicht etwa eine zufällige und willkürliche Einrichtung
lag, ſondern daß ſie in einem inneren Zuſammenhang ſtand
mit der allgemeinen Auffaſſung der Rechtskraft überhaupt.
Die Pronuntiatio diente dazu, daß das Daſeyn jenes
Entſcheidungsgrundes nicht überſehen oder in Zweifel ge-
zogen werden konnte.
§. 288.
Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils
als Gundlage der Rechtskraft. — Fall der Freiſprechung
des Beklagten.
Von den beiden Fällen, die in dem Inhalt eines rechts-
kräftigen Urtheils vorkommen können (§ 287), iſt jetzt noch
der zweite, der Fall der Freiſprechung des Beklagten,
in ſeiner eigenthümlichen Bedeutung und Wirkung feſtzu-
ſtellen.
Die Freiſprechung des Beklagten, völlig gleichbedeutend
mit der Abweiſung des Klägers, hat einen blos vernei-
nenden Inhalt; die Anerkennung eines dem Beklagten zu-
ſtehenden Rechts kann darin nicht enthalten ſeyn. Dieſer
|0339 : 321|
§. 288. Inhalt. Freiſprechung.
wichtige und durchgreifende Unterſchied der Freiſprechung
von der Verurtheilung läßt ſich ſo ausdrücken: Aus der
Verurtheilung kann der Kläger für die Zukunft, wie er es
bedarf, ſowohl eine Klage, als eine Exception ableiten, aus
der Freiſprechung an ſich entſpringt für den Beklagten nur
eine Exception, keine Klage.
Der wahre Grund dieſer beſchränkteren Wirkung der
Freiſprechung liegt in der allgemeinen Natur des Rechts-
ſtreits überhaupt. Jeder Kläger fordert die Hülfe des
Richteramtes zur Abänderung des factiſch beſtehenden Zu-
ſtandes, weil dieſer mit dem wahren Recht nicht überein-
ſtimme. Der Richter kann dieſe Hülfe nach Befinden ge-
währen oder verweigern, für eine andere Thätigkeit, ins-
beſondere für eine ſolche, die zum Nachtheil des Klägers
gereichen könnte, liegt in einer angeſtellten Klage kein
Beweggrund.
Eine Beſtätigung der Wahrheit des aufgeſtellten Unter-
ſchieds enthält auch die Faſſung der Römiſchen formula:
Si paret, condemna, si non paret, absolve. In dem con-
demna liegt die Nothwendigkeit eines poſitiven Handelns
von Seiten des Beklagten, in dem absolve liegt die bloße
Verneinung oder Verweigerung jeder Hülfe; ein Drittes
aber iſt dem Judex auszuſprechen weder geboten, noch ver-
ſtattet.
Die Anwendung der aufgeſtellten Regel auf perſönliche
Klagen erregt keine Art von Bedenken; der Kläger behaup-
tet die Nothwendigkeit einer beſtimmten Handlung von
VI. 21
|0340 : 322|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Seiten des Beklagten, der Richter ſpricht aus, dieſe Noth-
wendigkeit ſey nicht vorhanden.
Etwas anders ſteht die Sache bei den Klagen in rem.
In den häufigſten und wichtigſten Fällen derſelben, bei
Eigenthum und Erbrecht, wird über das Daſeyn eines
Rechts von ausſchließender Natur geſtritten, ſo daß das
Daſeyn deſſelben in der einen Partei das Nichtdaſeyn in
der andern nothwendig in ſich ſchließt (§ 287).
Indem nun der Kläger behauptet, daß ein ſolches Recht
in ſeiner Perſon vorhanden ſey, kann der Beklagte dieſe
Behauptung auf verſchiedene Weiſe zu beſtreiten ſuchen.
Er kann ſich darauf beſchränken, die Beweiſe des Klägers
zu entkräften; er kann aber auch das Daſeyn des beſtrit-
tenen Rechts in ſeiner eigenen Perſon behaupten und be-
weiſen, wodurch dann das Recht des Klägers nach der
aufgeſtellten Regel von ſelbſt widerlegt iſt.
Wenn nun der Beklagte dieſen letzten Weg einſchlägt
und von ſeinem Recht den Richter überzeugt, ſo könnte
man glauben, das Urtheil müſſe auf Anerkennung des
Rechts des Beklagten gehen, inſofern alſo auf Verurthei-
lung des Klägers, ſo daß der Beklagte aus dieſem Urtheil
an ſich für die Folge ſowohl eine Klage, als eine Exception
unmittelbar ableiten könnte. In der That aber verhält es
ſich nicht alſo; vielmehr beſchränkt ſich auch hier der
Ausſpruch auf die bloße Abweiſung des Klägers, ſo daß
durchaus kein Unterſchied in dem Ausſpruch des Richters
eintritt, der Beklagte mag gewinnen, weil er ſelbſt ſein
|0341 : 323|
§. 288. Inhalt. Freiſprechung.
Eigenthum bewieſen, oder weil blos der Kläger das ſeinige
nicht bewieſen hat.
Die Wahrheit dieſer Behauptung folgt aus den ſo eben
für alle Klagen aufgeſtellten allgemeinen Gründen, insbe-
ſondere aus der ausſchließenden Alternative in der Römi-
ſchen formula: Si paret, condemna, si non paret, absolve,
die völlig gleichlautend war bei Klagen in rem, wie bei
perſönlichen Klagen.
Eine unmittelbare Beſtätigung dieſes Satzes liegt aber
auch in einer wichtigen Stelle des Gajus (a), deren In-
halt und Gedankengang ich hier darlegen will, um den
entſcheidenden Theil derſelben für den angegebenen Zweck
benutzen zu können.
Zwiſchen mir und dir (ſagt Gajus) iſt Streit über
eine Erbſchaft; jeder von uns behauptet, allein Erbe zu
ſeyn, und jeder beſitzt einige Sachen aus der Erbſchaft.
Daraus folgt, daß ich gegen dich die Erbſchaftsklage an-
ſtellen kann, eben ſo aber auch du gegen mich. Wenn
nun zuerſt ich gegen dich geklagt habe, und ein rechtskräf-
tiges Urtheil geſprochen iſt, dann aber du gegen mich
klagen willſt: ſo fragt es ſich, ob Dieſes zuläſſig iſt, oder
vielmehr durch die Einrede der Rechtskraft verhindert wird.
Alles kommt auf den Inhalt des geſprochenen Urtheils an;
biſt darin du verurtheilt, ſo wirſt du jetzt durch die Ein-
rede ausgeſchloſſen, weil aus dem mir zuerkannten Erbrecht
(a) L. 15 de exc. r. j. (44. 2). (Gajus Lib. 30 ad ed. prov.). —
Vgl. über dieſe Stelle Keller S. 224.
21*
|0342 : 324|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
nothwendig folgt, daß du nicht Erbe biſt (§ 287. a).
Wenn dagegen das geſprochene Urtheil mich abgewieſen
hat, ſo hindert dich dieſes Urtheil an ſich nicht, die Klage
anzuſtellen, in deren Entſcheidung der Richter völlig freie
Hand hat; er kann mich verurtheilen, oder dich abweiſen,
da es möglich iſt, daß die Erbſchaft weder mir, noch dir
gehört. — Der letzte Theil der Stelle, auf den hier Alles
ankommt, lautet wörtlich alſo:
Interest, utrum meam esse hereditatem pronuntiatum
sit, an contra. Si meam esse, nocebit tibi rei judi-
catae exceptio: quia eo ipso, quod meam esse pro-
nuntiatum est, ex diverso pronuntiatum videtur
tuam non esse. Si vero meam non esse, nihil de
tuo jure judicatum intelligitur, quic potest nec mea
hereditas esse, nec tua.
Hier werden augenſcheinlich nur zwei Fälle möglicher
Urtheilsfaſſung angenommen: eine Verurtheilung, und eine
Freiſprechung, die an ſich das Recht des Beklagten ganz
unentſchieden läßt, ſo daß dieſer zweite Ausſpruch als
ſolcher bei einem künftigen Streit über dieſes Recht des
Beklagten keinen Einfluß hat. Der Verfaſſer der Stelle
ſetzt alſo unzweifelhaft voraus, daß der Ausſpruch einer
Anerkennung des Erbrechts in der Perſon des Beklagten
unmöglich ſey, indem er offenbar die Abſicht hat, die Fälle
vollſtändig aufzuzählen, die bei dem Ausſpruch über den zuerſt
geführten Rechtsſtreit möglicherweiſe vorkommen konnten.
|0343 : 325|
§. 288. Inhalt. Freiſprechung.
Eine indirecte Beſtätigung der hier aufgeſtellten Regel
liegt noch in der Entſcheidung eines verwandten Falles,
die man auf den erſten Blick geneigt ſeyn könnte, als
Widerlegung derſelben anzuſehen. Die Entſcheidung eines
Rechtsſtreits durch einen zugeſchobenen Eid hat großen-
theils ähnliche Wirkungen, wie die Entſcheidung durch
Urtheil, weshalb auch nicht ſelten beide Fälle der Entſchei-
dung als gleichartig zuſammengeſtellt werden (b). Schwört
nun der Kläger den ihm zugeſchobenen Eid dahin ab, daß
er Erbe (oder Eigenthümer) ſey, ſo erwirbt er für die Zu-
kunft Klage und Einrede: ſchwört der Beklagte, der Kläger
ſei nicht Erbe oder nicht Eigenthümer, ſo entſteht aus
dieſem Eid eine bloße Einrede (c). Soweit ſteht der Fall
des Eides dem des Urtheils völlig gleich.
Bei dem Eid aber kann auch noch ein anderer Fall
eintreten. Die Faſſung deſſelben ſteht in der Willkühr
deſſen, der den Eid zuſchiebt. Daher kann der Kläger den
Eid auch ſo zuſchieben, daß der Beklagte ſchwöre, er (der
Beklagte) ſey Eigenthümer. Wird dieſer Eid abge-
ſchworen, ſo erwirbt daraus der Beklagte für die Zukunft
nicht nur eine Einrede, ſondern auch eine Klage, welches
ausdrücklich von Ulpian bezeugt wird. Er ſpricht zuerſt
von dem ſo eben ſchon erwähnten Fall, wenn der Beklagte
(b) L. 11 § 3 de jurej. (12. 2).
„Si jucavero . . hereditatem
meam esse, id consequi debeo
quod haberem, si secundum
me de hereditate pronuntiatum
esset.“
(c) L. 11 § 3 cit., L. 7 § 7 de
public. (6. 2)
|0344 : 326|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſchwört, der Kläger ſey nicht Eigenthümer, und ſagt, aus
dieſem Eid entſtehe nur eine Einrede, keine Klage (d):
Sed si possessori fuerit jusjurandum delatum, jura-
veritque rem petitoris non esse .... exceptione juris-
jurandi utetur … actionem non habebit … non enim
rem suam esse juravit, sed ejus non esse.
Dann geht er unmittelbar zur Betrachtung des von
mir zuletzt erwähnten Falles über, wenn der Beklagte
ſchwört, er ſelbſt ſey Eigenthümer, und ſpricht für
dieſen Fall dem Schwörenden auch ſelbſt eine Klage zu.
Proinde si, cum possideret, deferente petitore rem
suam esse (e) juravit, consequenter dicemus …
actionem in factum ei dandam.
Dieſes iſt nun gerade der Fall, welcher nach der oben
aufgeſtellten Behauptung in dem Ausſpruch des richter-
lichen Urtheils gar nicht vorkommen darf, ſo daß in
Folge eines ſolchen Ausſpruchs der Beklagte niemals eine
Klage erwerben kann. Meine Behauptung geht alſo dahin,
daß hierin beide Arten der Beendigung eines Rechts-
ſtreits (Eid und Urtheil) völlig verſchieden ſind.
Es iſt aber auch in der That nicht ſchwer, den
weſentlichen und nothwendigen Grund des Unterſchieds zu
entdecken. Der Eid hat die Natur eines Vergleichs (f),
(d) L. 11 pr. § 1 de jurej.
(12. 2).
(e) Die Florentina lieſt: rem
suam juravit, ohne esse, wo-
durch der Satz zwar keinen an-
deren Sinn bekommt, aber hart
wird. Das esse hat nicht blos
Haloander, ſondern auch die Vul-
gata, welches Gebauer nicht be-
merkt.
(f) L. 2 de jurej. (12. 2).
|0345 : 327|
§. 288. Inhalt. Freiſprechung.
indem es ganz in der Willkühr des Zuſchiebenden ſteht,
ob und in welcher Formel er die Entſcheidung des Streits
dem Gewiſſen ſeines Gegners überlaſſen will. Läßt er alſo
dieſen ſchwören, der Beklagte ſey Eigenthümer, ſo
muß er ſich die ausgedehnteren Folgen des ſo gefaßten
Eides gefallen laſſen, weil er durch ſeinen freien Willen
dieſen Ausgang herbeigeführt hat.
Gerade Dieſes aber verhält ſich bei dem richterlichen
Urtheil ganz anders. Hier beruht Nichts auf der Willkühr
der Parteien, Alles auf feſt beſtimmten Rechtsregeln. Es
iſt alſo ganz folgerecht, daß es dem Richter nicht verſtattet
iſt, dem freiſprechenden Urtheile die oben erwähnte größere
Ausdehnung zu geben, während der Kläger ſich dieſer
Ausdehnung durch ſeinen freien Willen wohl unterwerfen
kann (g).
Aus der hier angeſtellten Unterſuchung geht hervor, daß
der Inhalt des Urtheils nur zwei Gegenſtände haben kann:
die Verurtheilung des Beklagten, oder die Freiſprechung
des Beklagten; daß alſo die Verurtheilung des
Klägers darin nicht vorkommen kann. Dieſer Satz iſt
als Regel hier dargeſtellt und gegen mögliche Zweifel in
Schutz genommen worden. Es werden jedoch Ausnahmen
(g) Es wird indeſſen weiter
unten (§ 290. 291) gezeigt wer-
den, daß die hier nachgewieſene
Unmöglichkeit einer Verurtheilung
des Klägers weniger ſtrenge prak-
tiſche Folgen hat, als man auf
den erſten Blick anzunehmen ge-
neigt ſeyn möchte.
|0346 : 328|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
von dieſer Regel behauptet, und es ſoll nunmehr darge-
than werden, daß dieſe angeblichen Ausnahmen auf bloßem
Schein beruhen (h).
§. 289.
Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils
als Grundlage der Rechtskraft. — Nicht: Verurtheilung
des Klägers.
Es werden zweierlei Fälle angegeben, in welchen aus-
nahmsweiſe auch der Kläger ſoll verurtheilt werden können:
die duplex actio und die Widerklage. Beide Fälle ſind
ſowohl verwandt, als verſchieden: beide aber kommen darin
überein, daß jede Partei wirklich Kläger und zugleich auch
Beklagter iſt, nur in verſchiedenen Beziehungen. Wird
alſo der urſprüngliche Kläger verurtheilt, ſo widerfährt
ihm Dieſes nicht in ſeiner Eigenſchaft als Kläger, ſondern
in der eines Beklagten. In der That alſo müſſen wir in
dieſen Fällen nur Anwendungen und Beſtätigungen der
aufgeſtellten Regel erkennen, nicht Ausnahmen derſelben.
I. Duplex actio.
Von dieſer Art der Klagen iſt ſchon oben gehandelt
worden (§ 225). Die Eigenthümlichkeit derſelben liegt
(h) Die Verurtheilung des
Klägers in die Prozeßkoſten hat
keinen Zweifel, kann aber unter
dieſe Ausnahmen nicht gerechnet
werden. Dieſe beruht auf den be-
ſonderen, aus dem Prozeß ent-
ſpringenden Verpflichtungen; wir
haben hier blos mit der Einwir-
kung des Urtheils auf die mate-
riellen Rechtsverhältniſſe der Par-
teien zu thun, wie dieſelben unab-
hängig von dem Prozeß beſtanden.
|0347 : 329|
§. 289. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?
darin, daß die erwähnte doppelte Eigenſchaft der Parteien
nicht erſt durch die Willkühr des Beklagten, ſondern durch
die allgemeine Natur der Klage begründet wird, alſo durch
den Richter überall zur Anwendung gebracht werden muß,
wo nur die Umſtände dazu geeignet ſind.
Es gehören dahin die drei Theilungsklagen und die
zwei Interdicte zur Erhaltung des Beſitzes.
Die Formel der Theilungsklagen beſtand aus zwei
Stücken, einem perſönlichen und einem auf Adjudication
gerichteten. — Wie das perſönliche Stück lauten mußte,
um jede Partei zum Kläger und Beklagten zugleich zu
machen, wird bei der Widerklage gezeigt werden. — Die
Adjudication aber war unperſönlich gefaßt, und in ſofern
ähnlich der intentio einer Klage in rem (a).
Die Formel der zwei erwähnten Interdicte war an
beide Parteien gleichmäßig gerichtet (b), und drückte da-
durch unmittelbar aus, daß beide in völlig gleicher Lage
einander gegenüber ſtehen ſollten, nicht in der bei anderen
(a) Gajus IV. § 42. „Quan-
tum adjudicari oportet, judex
Titio adjudicato.“ Der Name
Titio ſcheint allerdings nicht zu
der behaupteten Unperſönlichkeit der
Formel zu paſſen, und könnte wohl
auf einer unrichtigen Leſeart be-
ruhen; die gewöhnlichen Partei-
namen: Aulus Agerius und Nu-
merius Negidius ſcheinen abſicht-
lich vermieden. Der unzweifelhafte
Sinn würde am ſicherſten bezeich-
net ſeyn durch utrique oder alteru-
tri, da nach Umſtänden bald dem
Einen das Ganze, bald Jedem
ein Theil zuzuſprechen iſt.
(b) L. 1 pr. uti poss. (43. 16).
„Uti … possidetis, quo minusita
possideatis, vim fieri veto.“ —
L. 1 pr. de utrubi (43. 31).
„Utrubi hic homo … fuit, quo
minus is eum ducat, vim fieri
veto.“
|0348 : 330|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Klagen gewöhnlichen Verſchiedenheit eines Klägers und
eines Beklagten.
II. Widerklage. (c).
Wenn auf eine angeſtellte Klage der Beklagte vor dem-
ſelben Richter und gegen denſelben Kläger eine Klage vor-
bringt, ſo führt dieſe zweite Klage den Namen Wider-
klage, vorausgeſetzt, daß ſie in irgend eine Verbindung
mit der erſten Klage geſetzt wird (d).
Dieſe Verbindung kann eine zweifache ſeyn:
1. Sie kann zuweilen lediglich darauf ausgehen, daß
dadurch der erſte Kläger genöthigt wird, ſich vor dem-
ſelben Richter verklagen zu laſſen, welchem er außer-
dem nicht unterworfen geweſen wäre (uneigentliche
Widerklage). Dieſer Fall ſteht mit unſrer Aufgabe
(c) Vgl. überhaupt Linde
Lehrbuch § 95. 211.
(d) Völlig verſchieden alſo von
dem hier allein in Betracht kom-
menden Fall ſind alle die Fälle,
in welchen zwiſchen denſelben Par-
teien vor demſelben Richter gleich-
zeitig mehrere Prozeſſe ohne Ver-
bindung mit einander ver-
handelt werden, welches eben ſo-
wohl vor demſelben Römiſchen
Judex vorkommen konnte, als es
jetzt vor demſelben Gerichtshof
vorkommt. In dieſen mehreren
Prozeſſen kann dieſelbe Perſon
Kläger ſeyn (L. 18 de except.
44. 1), die Parteien können aber
auch in entgegengeſetzten Partei-
rollen auftreten (L. 18 pr. mand.
17. 1, L. 18 pr. de compens.
16. 2, L. 1 § 4 quae sent. 49. 8),
ohne daß deshalb der Fall einer
Widerklage entſteht. Daher iſt der
Ausdruck mutua petitio, der in
den Fällen dieſer zweiten Art ge-
braucht wird, ja ſelbſt bei der
bloßen Einrede der Compenſation
(L. 6 C. de comp. 4. 31, L. 1
C. rer. amot. 5. 21) vorkommt,
keine ſichere Bezeichnung der Wider-
klage, wofür überhaupt die Römer
keinen Kunſtausdruck haben. Re-
conventio kommt in keiner ächten
Stelle vor (L. 5 C. de fruct. 7. 51
iſt reſtituirt), und iſt erſt durch
das canoniſche Recht eingeführt.
|0349 : 331|
§. 389. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?
in gar keiner Berührung; er kommt übrigens auch
ſchon im Römiſchen Recht vor (e).
2. Sie kann aber auch tiefer eingreifen, indem zugleich
beide Klagen neben einander verhandelt und durch ein
gemeinſames Urtheil entſchieden werden (simultaneus
processus von den Neueren genannt). Dieſer Fall
gehört inſofern zu unſrer Unterſuchung, als dadurch
der Inhalt des Urtheils beſtimmt wird, und zwar auf
ſolche Weiſe, daß ſcheinbar der Kläger verurtheilt
werden kann, welches nach der oben aufgeſtellten
Regel nicht ſollte geſchehen können.
Auch dieſer Fall kam im Römiſchen Recht vor, und
ſelbſt zur Zeit des alten Formularprozeſſes. Es fragt ſich
nur, wie es möglich war, zwei verſchiedene Prozeſſe in
eine und dieſelbe Formel zu faſſen.
Dieſes war allerdings möglich, aber nur unter fol-
gender Vorausſetzung: Die Widerklage mußte auf einer
Gegenforderung aus demſelben Rechtsgeſchäft be-
ruhen, welches nur bei den bonae fidei actiones vorkam.
Wenn alſo gegen eine actio emti der Beklagte die actio
venditi aus demſelben Vertrag vorbringen wollte, oder bei
einer actio pro socio die gleichnamige Klage, oder bei
(e) L. 22 de jud. (5. 1.) —
War die erſte Klage eine extra-
ordinaria, ſo wurde dadurch auch
die Widerklage vor den Präſes ohne
Judex gezogen. L. 1 § 15 de
extr. cogn. (50. 13.) — Wenn
dagegen die erſte Klage vor eine
Municipalobrigkeit, die nur über
eine beſchränkte Summe richten
durfte, gebracht war, ſo wurde
dadurch dieſe Obrigkeit für die
Widerklage von höherer Summe
nicht kompetent. L. 11 § 1 de
jurisd. (2. 1).
|0350 : 332|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
einer actio commodati directa die contraria, dann war
eine Widerklage mit derſelben Formel, und durch daſſelbe
Urtheil, wie die Hauptklage, zu beendigen möglich: in
allen anderen Fällen, alſo bei allen Klagen aus nicht ver-
wandten Entſtehungsgründen, war Dieſes unmöglich. Um
aber doch auch in ſolchen Fällen dem praktiſchen Bedürf-
niß zu genügen, welches wir durch unſere Widerklage
befriedigen, wurde die Sache ſo behandelt, daß beide ver-
ſchiedene Klagen gleichzeitig an denſelben Judex gewieſen
wurden. Zugleich aber hatten kaiſerliche Conſtitutionen
für dieſen Fall beſonders verordnet, daß aus dem zuerſt
geſprochenen Urtheil Nichts gefordert werden könne, bevor
auch über die gegenſeitige Klage entſchieden ſeyn würde (f).
Die Formel für die wahre Verbindung zweier ver-
wandter Klagen wurde nun ohne Zweifel ſo gefaßt. Eine
demonstratio bezeichnete das vorliegende Rechtsgeſchäft im
Allgemeinen. Darauf folgte die intentio, etwa in dieſen
Worten:
Quidquid ob eam rem alterum alteri dare facere
oportet ex fide bona, judex condemna(g).
(f) L. 1 § 4 quae sent.
(49. 8). Dieſe etwas künſtliche
Behandlung der Fälle ſolcher Art
iſt der ſicherſte Beweis, daß eine
eigentliche Widerklage in unſrem
Sinn, bei nicht verwandten ge-
genſeitigen Forderungen, im Rö-
miſchen Formularprozeß für un-
möglich gehalten wurde.
(g) Unverkennbare Anſpielungen
auf dieſe Formel und Voraus-
ſetzungen ihres wirklichen Gebrauchs
finden ſich in folgenden Stellen:
Gajus III. § 137 (von den obli-
gationes, quae consensu contra-
huntur): „Item in his contra-
ctibus alter alteri obligatur
de eo, quod alterum alteri ex
|0351 : 333|
§. 289. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?
Genau in derſelben Weiſe wird nun auch bei der
oben erwähnten duplex actio die Formel gelautet haben,
denn auch die Theilungsklagen waren bonae fidei (h). Der
Unterſchied mag alſo wohl der geweſen ſeyn, daß bei der
duplex actio jene Formel allgemein ſo gefaßt wurde, bei
den Widerklagen aber nur, wenn der Beklagte beſonders
um eine ſo gefaßte Formel bat, da es von ſeinem freien
Willen abhing, ob er eine Widerklage vorbringen wollte (i).
bono et aequo praestare opor-
tet.“ — Cicero top. C. 17.
Er rühmt hier den Einfluß der
Juriſten, die beſonders bei den
Klagen ex fide bona, ut inter
bonos, quid aequius melius
Rath geben müſſen. „Illi enim
dolum malum, illi fidem bonam,
.. illi quid .. alterum alteri prae-
stare oporteret .. tradiderunt.“—
Cicero de off. III. 17. Er ſagt
von den bonae fidei judiciis:
„in his magni esse judicis
statuere (praesertim cum in
plerisque essent judicia con-
traria) quid quemque cuique
praestare oporteret.“ Alle dieſe
Rathſchläge und Ausſprüche konn-
ten ja nie zur Anwendung kom-
men, wenn nicht Formeln aufge-
ſtellt waren, die den Judex be-
rechtigten und verpflichteten, über
ſolche gegenſeitige Anſprüche
wirklich zu entſcheiden.
(h) § 28 J. de act. (4. 6).
(i) Gajus ſagt in L. 18 § 4
comm. (13. 6), die contraria
commodati actio ſey gewöhnlich
nicht nöthig, weil man den Ge-
genſtand derſelben als Compen-
ſation gegen die directa actio
des Gegners geltend machen könne.
Er fügt aber hinzu, es gebe den-
noch Fälle, worin man jene Klage
nicht entbehren könne; namentlich,
wenn die directa actio wegen
des zufälligen Untergangs der Sache
oder wegen der freiwilligen Rück-
gabe gar nicht angeſtellt werde.
An die Spitze dieſer Fälle der un-
entbehrlichen contraria actio ſtellt
er folgenden: „Sed fieri potest,
ut amplius esset, quod invicem
aliquem consequi oporteat …
dicemus, necessariam esse con-
trariam actionem.“ Das könnte
man ſo verſtehen, als ob zur Zeit
des Gajus eine Widerklage noch
gar nicht möglich geweſen wäre,
alſo deswegen eine die Hauptfor-
derung überſteigende Gegenforde-
rung niemals in dem Hauptpro-
zeß hätte verfolgt werden können.
Allein jene Worte erklären ſich eben
ſo gut von einem Fall, worin nur
Anfangs der erſte Beklagte die Höhe
|0352 : 334|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Der Erfolg war am Ende des Rechtsſtreits ganz der-
ſelbe: die Möglichkeit einer Verurtheilung nach beiden
Seiten hin.
Nach dem Untergang des Formularprozeſſes machte ſich
inſofern die Sache einfacher und leichter, als die Faſſung
der Formel nicht mehr ein beſchränkendes Hinderniß ab-
gab. Das ganze Verhältniß war nunmehr demjenigen
ähnlich, welches wir in unſrem heutigen Prozeß kennen.
Die Widerklage war nun in größerer Ausdehnung möglich,
als früher, ſo daß ſie angebracht werden konnte, ohne Rück-
ſicht darauf, ob ſie mit der Hauptklage einen gemeinſamen
Entſtehungsgrund hatte, oder nicht. Das aber wurde gewiß
immer gefordert, daß der Beklagte, der die Widerklage in
denſelben Prozeß bringen wollte, darauf gleich Anfangs
antragen mußte.
Juſtinian gab der Widerklage eine ſehr eigenthüm-
liche Wendung, die in die neuere Praxis niemals Eingang
gefunden hat. Er behandelte die Widerklage vor dem-
ſelben Gericht nicht blos als ein Recht, ſondern auch als
eine Verpflichtung des Beklagten. Gefalle ihm dieſer
Richter nicht, ſo könne er bewirken, daß beide Klagen ge-
meinſchaftlich vor einem anderen Richter (dem competenten
Richter des Gegners) verhandelt würden. Unterlaſſe er
der Gegenforderung nicht über-
ſah, und es deswegen unterließ,
eine Formel zu begehren, wie
die oben im Text angegebene. —
Welche Änderung gerade hierin
zur Zeit von Papinian einge-
treten zu ſeyn ſcheint, davon wird
ſogleich weiter die Rede ſeyn. (§ 290).
|0353 : 335|
§. 289. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?
Beides, ſo müſſe er ſeine gegenſeitige Klage ſo lange
gänzlich ruhen laſſen, bis die gegen ihn angeſtellte zu
Ende gebracht ſey (k).
Es iſt nöthig, vor jeder weiteren Erörterung den Zu-
ſammenhang der Widerklage mit der Compenſation in’s
Auge zu faſſen, indem dieſe einen ähnlichen, wenngleich
nicht völlig gleichmäßigen, Entwicklungsgang gehabt hat,
wie er ſo eben bei der Widerklage bemerkt worden iſt.
Dieſelben Thatſachen können, bei einem Vertrag der oben
bemerkten Art, ſowohl zu einer Compenſation, als zu einer
Widerklage Veranlaſſung geben. Die Compenſation reicht
aus, wenn die Gegenforderung nicht weiter geht, als den
Gegenſtand der Hauptklage ganz oder theilweiſe durch Auf-
rechnung zu beſeitigen. Geht ſie auf eine höhere Summe
als die der Hauptklage, ſo iſt eine Widerklage nöthig, und
wird auch dieſe verſäumt, ſo kann die Gegenforderung nur
durch eine abgeſonderte neue Klage geltend gemacht werden
(Note h). Zur Zeit des Gajus ſtand nun die Sache ſo, daß
die Widerklage, wie die Compenſation, auf Gegenforderungen
aus demſelben Rechtsgeſchäft beſchränkt war (l).
Marc Aurel erweiterte den Gebrauch der Compenſation
dahin, daß ſie vermittelſt einer doli exceptio auch gegen
jede Condiction vorgebracht werden konnte, alſo nun ohne
(k) Nov. 96 C. 2.
(l) Gajus IV. § 61: „ex
eadem causa,“ und zwar als ein
eigenthümliches Rechtsinſtitut bei
den bonae fidei actiones. —
Die beſonderen Fälle des Argen-
tarius und des bonorum emtor
im älteren Recht können hier na-
türlich nicht in Betracht kommen.
Vgl. Gajus IV. § 64 sq.
|0354 : 336|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Rückſicht auf die gemeinſchaftliche Entſtehung beider
Forderungen (m). Dieſe Erweiterung der Compenſation
trat alſo weit früher ein, als die ſo eben erwähnte gleich-
artige Erweiterung der Widerklage, welche erſt ſeit der
Abſchaffung des Formularprozeſſes angenommen werden
kann. Der Grund dieſes chronologiſchen Unterſchiedes
aber iſt leicht einzuſehen. Die Erweiterung der Compen-
ſation vermittelſt einer ohnehin längſt bekannten Einrede
konnte vorgehen, ohne irgend eine in der Form des Ver-
fahrens begründete Schwierigkeit; die gleichartige Erwei-
terung der Widerklage war kaum möglich, ſo lange zwei
völlig verſchiedene gegenſeitige Klagen in eine und dieſelbe
formula hätten zuſammen gefaßt werden müſſen. Trat
daher ein Fall ſolcher Art ein, ſo blieb Nichts übrig, als
zwiſchen denſelben Perſonen zwei mutuae actiones gleich-
zeitig und vor demſelben Judex zu geben (Note d. f.),
wobei freilich die Wirkung nicht ſo verſchieden von der
einer eigentlichen Widerklage war, als man glauben
möchte.
Dieſe ganze, die Widerklage betreffende Unterſuchung
iſt hier lediglich als Grundlage zur Beantwortung der
Frage angeſtellt worden, ob durch die Folgen der Wider-
klage eine wahre Verurtheilung des Klägers, abweichend
(m) Der geſchichtliche Zuſam-
menhang dieſes Rechtsinſtituts iſt
oben bei einer anderen Gelegenheit
nachgewieſen worden B. 1 § 45
Note d.
|0355 : 337|
§. 289. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?
von der im § 288 aufgeſtellten Regel, herbeigeführt werde.
Die Antwort auf dieſe Frage kann nur eben ſo ausfallen,
wie ſie auf die gleichlautende Frage bei der duplex actio
gegeben worden iſt: dahin nämlich, daß auch bei der
Widerklage die Verurtheilung des Klägers ſich in bloßen
Schein auflöſt. Allerdings kann hier der urſprüngliche
Kläger verurtheilt werden, aber wenn Dieſes geſchieht, ſo
iſt es nicht der Kläger, ſondern der Beklagte, der in ihm
verurtheilt wird, indem er in der That beide Eigenſchaften
in ſeiner Perſon vereinigt.
Das ganze Verhältniß der neben einer Klage vorkom-
menden Widerklage muß daher ſo aufgefaßt werden, als
ob zwei Prozeſſe geführt, und zwei Urtheile geſprochen
worden wären, bei welchen dieſelben Perſonen, nur mit
umgekehrten Parteirollen, auftreten. Der täuſchende Schein,
als ob ein Kläger verurtheilt werde, rührt blos von dem
an ſich zufälligen Umſtande her, daß in dieſem Fall beide
Urtheile in eine einzige Urtheilsformel zuſammengefaßt
werden.
Dieſes Verhältniß kann übrigens in den mannichfaltig-
ſten Anwendungen vorkommen:
1. Gegen eine perſönliche Klage kann ſowohl eine per-
ſönliche Widerklage, als eine Widerklage in rem vor-
kommen.
2. Eben ſo gegen eine Klage in rem ſowohl eine perſön-
liche Widerklage, als eine Widerklage in rem (n).
(n) Inwiefern die ausſchließende Natur eines forum rei sitae,
VI. 22
|0356 : 338|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Es ergiebt ſich aus dieſer Unterſuchung, daß weder die
duplex actio, noch die Widerklage einen Grund darbietet,
die aufgeſtellte Regel von der unmöglichen Verurtheilung
des Klägers (§ 288) in Zweifel zu ziehen.
Es kommen jedoch einige beſondere Anwendungen vor,
in welchen es bezweifelt werden kann, ob die hier aufge-
ſtellten Grundſätze in unſren Rechtsquellen ſtreng feſtge-
halten worden ſind, und ob wir damit völlig ausreichen,
ohne ihnen einige mildernde Modificationen beizufügen.
Dieſe ſollen nunmehr einzeln geprüft werden.
§. 290.
Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils
als Grundlage der Rechtskraft. — Nicht: Verurtheilung
des Klägers. (Fortſetzung.)
I. Große Zweifel hat von jeher eine Verordnung Ju-
ſtinian’s vom J. 530. erregt, die auf den erſten Blick ſo
aufgefaßt werden kann, als ſollte dem Richter in allen
Fällen geſtattet ſeyn, auch den Kläger, wenn er ihn ſchul-
dig finde, zu verurtheilen. Bevor der Text dieſer Stelle
mitgetheilt und im Einzelnen erklärt wird, ſcheint mir fol-
gende Einleitung nöthig.
Juſtinian geht aus von einem Ausſpruch des Papi-
wenigſtens bei Grundſtücken, hierin
eine Ausnahme begründet, die nach
R. R. nicht anzunehmen, nach der
gemeinrechtlichen Praxis ſehr be-
ſtritten iſt, gehört als reine Prozeß-
frage nicht in den Kreis unſrer
Unterſuchung. Vgl. hierüber Glück
B. 6 § 515. Linde Lehrbuch
§ 88. 90. Heffter Archiv für
civil. Praxis B. 10. S. 215.
|0357 : 339|
§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)
nian, der einen neuen Rechtsſatz aufgeſtellt zu haben
ſcheint. Dieſer Rechtsſatz wird von dem Kaiſer nicht nur
beſtätigt, ſondern auch für die Anwendung erweitert; worin
dieſe Erweiterung beſteht, iſt klar genug angegeben. In
der Hauptſache haben wir daher mit einem Ausſpruch von
Papinian zu thun, der uns nicht wörtlich mitgetheilt iſt,
und den wir alſo aus dem ſonſt bekannten Recht ſeiner
Zeit zu erläutern und zu ergänzen haben werden, allerdings
mit Rückſicht darauf, daß er wahrſcheinlich das beſtehende
Recht frei behandeln und fortbilden wollte.
Augenſcheinlich iſt das allgemeine Verhältniß voraus-
geſetzt, welches bei jeder Widerklage zum Grunde liegt;
ſonſt könnte ja nicht von Verpflichtungen des Klägers und
von einer Verurtheilung deſſelben die Rede ſeyn. Es wird
aber nicht geſagt, daß der Beklagte eine Widerklage aus-
drücklich angeſtellt habe; vielmehr ſcheint die Stelle voraus
zu ſetzen, daß erſt im Laufe des Rechtsſtreits eine über-
ſchießende Verpflichtung des Klägers klar geworden ſey.
Faſſen wir dieſe Umſtände zuſammen, ſo ergiebt ſich
der folgende wahrſcheinliche Zuſammenhang. Papinian
ſetzt nothwendig voraus den Fall von gegenſeitigen An-
ſprüchen aus Obligationen, und zwar aus ſolchen
Obligationen, die ihren gemeinſamen Urſprung in einem
bonae fidei Contracte haben; denn ohne dieſe Vorausſetzung
war zu ſeiner Zeit, und ſo lange der Formularprozeß be-
ſtand, ſelbſt eine ausdrückliche Widerklage ganz unmöglich
(§ 289). Er denkt alſo nothwendig an gegenſeitige An-
22*
|0358 : 340|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſprüche ex eadem causa, ex eodem negotio, und dieſe
Vorausſetzung erhält eine nicht geringe Beſtätigung durch
die Schlußworte: eum habere et contra se judicem in eo-
dem negotio, non dedignetur (a).
War nun in einem ſolchen Fall die Widerklage gleich
bei der Litisconteſtation angebracht, und in Folge derſelben
die Formel gegeben: quidquid alterum alteri dare facere
oportet (§ 289), ſo verſtand ſich ſchon lange vor Papi-
nian die Befugniß des Richters zur Verurtheilung des
urſprünglichen Klägers (der zugleich Widerbeklagter war)
ſo ſehr von ſelbſt, daß unmöglich die Anerkennung dieſer
Befugniß als ein beſonderer und neuer Gedanke Papi-
nian’s angeſehen werden konnte.
Wenn dagegen Anfangs der Beklagte annahm, ſeine
Gegenforderung werde der Hauptforderung nicht gleichkom-
men, in welchem Fall die Einrede der Compenſation aus-
reichte, wenn er deswegen jene Formel zu begehren ver-
ſäumte, und erſt während des Prozeſſes einſah, daß er
mehr, als ſein Gegner, zu fordern habe, dann konnte noch
zur Zeit des Gajus eine Verurtheilung des urſprüng-
lichen Klägers nicht erfolgen, vielmehr mußte deshalb eine
neue Klage angeſtellt werden. Papinian’s neue Mei-
nung ſcheint nun dahin gegangen zu ſeyn, auch in dieſem
(a) Ich betrachte alſo dieſe Worte
als bedeutend nur in Verbindung
mit den angeführten übrigen Grün-
den, und beſtreite nicht, daß ſie für
ſich allein auch ſo verſtanden werden
könnten: in demſelben Prozeſſe.
Dieſe letzte Erklärung vertheidigt
ausführlich Sartorius Wider-
klage S. 319. 323—329.
|0359 : 341|
§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)
Fall die Verurtheilung des erſten Klägers zu geſtatten,
alſo eine ſtillſchweigende Widerklage anzunehmen (b),
vorausgeſetzt, daß ohnehin der Magiſtratus, der den Judex
gegeben hatte, für beide Parteien competent war.
Juſtinian beſtätigte dieſen Ausſpruch, und erweiterte
ihn noch dahin, daß Daſſelbe gelten ſollte, auch wenn der
Richter für den erſten Kläger urſprünglich nicht competent
war, ſondern erſt durch die (ſtillſchweigende) Widerklage
competent wurde.
Die Stelle ſelbſt, deren Erklärung einſtweilen voraus-
geſchickt worden iſt, lautet nun ſo:
L. 14 C. de sent. et interl. (7. 45).
Imp. Justinianus A. Demostheni P. P.
Cum Papinianus, summi ingenii vir, in quaestionibus
suis rite disposuerit, non solum judicem de absolu-
tione rei judicare(c), sed et ipsum actorem, si e
contrario obnoxius fuerit inventus(d), condemnare:
(b) Vgl. § 289 Note h, wo
die entgegengeſetzte Anſicht des
Gajus ausführlich erörtert iſt.
(c) judicare iſt durch Hand-
ſchriften und alte Ausgaben be-
glaubigt und nach dem Zuſam-
menhang allein möglich. Der Text
der Göttinger Ausgabe hat noch
die ſinnloſe Leſeart judicatae.
(d) d. h. „Wenn ſich nun im
Lauf der Verhandlungen ergiebt,
daß der Beklagte aus dieſem Ge-
ſchäft Gegenforderungen hat, und
zwar ſolche, die den Betrag der
Hauptforderung überſteigen.“ Dieſe
zufällige Wahrnehmung war bei
Gegenforderungen aus demſelben
Geſchäft, die bei der L. C. und in
der Formel gar noch nicht erwähnt
zu ſeyn brauchten, ſehr wohl mög-
lich, bei fremdartigen Gegenforde-
rungen nicht. Waren aber dieſe
ſchon Anfangs vorgebracht, ſo hat-
ten ſie die Natur einer ausdrück-
lichen Widerklage, an deren Zu-
läſſigkeit für alle Fälle, wenigſtens
in Juſtinian’s Zeit, ohnehin
nicht zu zweifeln war.
|0360 : 342|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
hujusmodi sententiam non solum roborandam(e), sed
etiam augendam esse sancimus(f), ut liceat judici,
vel contra actorem ferre sententiam, et aliquid eum
daturum vel facturum pronuntiare(g), nulla ei oppo-
nenda exceptione, quod non competens judex agentis
esse cognoscatur(h). Cujus enim in agendo obser-
vat arbitrium, eum habere et contra se judicem in
eodem negotio(i), non dedignetur. 530.
Die hier verſuchte Erklärung der ſtreitigen Verordnung
ſtimmt in ihrem Reſultat mit den Anſichten der meiſten
älteren, und auch mehrerer neuerer Schriftſteller (k) überein;
(e) Wenn Juſtinian hier ſagt,
daß er vor Allem den Ausſpruch
des Papinian beſtätige, ſo folgt
daraus, daß er gerade von dem Fall
ſprechen will, der allein dem Papi-
nian vor Augen ſtehen konnte.
(f) Dieſe Erweiterung könnte an
ſich auf zweierlei Weiſe gedacht
werden: als Anwendung auf andere
Fälle, oder als Anwendung unab-
hängig von der richterlichen Com-
petenz. Die Fälle erwähnt der
folgende Theil der Stelle gar nicht,
die Unabhängigkeit von der Com-
petenz wird dagegen ausgeſprochen;
daher kann in dieſer allein die neue
Erweiterung enthalten ſeyn, wor-
aus zugleich folgt, daß Papinian
gerade hierin ſo weit nicht gehen
wollte.
(g) An ſich geht jede Verurthei-
lung auf ein dare oder facere
nach der allgemeinen Bedeutung
dieſer Worte. Erwägt man aber,
daß im Formularprozeß dare fa-
cere oportere der charakteriſtiſche
Inhalt der intentio bei den per-
ſönlichen Klagen war, und zugleich,
daß der Geſetzgeber eine Stelle des
Papinian vor Augen hatte,
worin gewiß dieſe Worte in ihrem
ächten, techniſchen Sinn gebraucht
waren, ſo liegt in dieſen Worten
eine Beſtätigung meiner Voraus-
ſetzung, daß in der ganzen Stelle
vor Allem nur von gegenſeitigen
Obligationen die Rede iſt.
(h) In dieſen Worten liegt nun
die neue Vorſchrift von Juſtinian,
ſie erklären alſo die vorhergehenden
Worte: sed etiam augendam
esse.
(i) Vgl. über dieſe Worte die
Note a.
(k) Zimmern Rechtsgeſchichte
B. 3 S. 312. 313. Heffter Ar-
chiv für civil. Praxis B. 10
S. 212. 213.
|0361 : 343|
§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)
Andere dagegen behaupten in größter Ausdehnung, daß
nach dieſer Stelle ſtets der Kläger verurtheilt werden könne,
auch wenn die beiderſeitigen Anſprüche nicht durch einen ge-
meinſamen Entſtehungsgrund in Verbindung ſtehen ſollten (l).
Ich faſſe das Reſultat dieſer Erklärung kurz zuſammen.
Die unbeſchränkte Ausdehnung, in welcher überhaupt Wider-
klagen ausdrücklich vorgebracht werden können, iſt ſchon
oben anerkannt worden (§ 289), und wird in der vorlie-
genden Verordnung nicht berührt. Dieſelbe nimmt aber
auch eine ſtillſchweigende Widerklage, mit möglicher
Verurtheilung des Klägers, an, wenn ſich deſſen höhere
Gegenanſprüche erſt im Laufe des Rechtsſtreits ergeben;
Dieſes jedoch nur in den Fällen, worin die Gegenanſprüche
auf demſelben Rechtsgeſchäft, wie die Hauptklage, beruhen.
Es fragt ſich nun, ob dieſe eigenthümliche Beſtimmung
auch für das heutige Prozeßrecht anzuerkennen iſt. Ich
glaube, Dieſes beſtimmt verneinen zu müſſen, und zwar
nach der Analogie der von dem jüngſten Reichsabſchied
gegebenen ſtrengen Vorſchrift über die Einreden. Denn
wenn ſchon die Einreden, die nicht bei der erſten Einlaſſung
(l) Sartorius Widerklage
S. 43—59. 319. 323—329. Ob-
gleich derſelbe in der Erklärung
der hier beſprochenen Geſetzſtelle
völlig von mir abweicht, ſo kann
ich ihn doch im letzten Reſultat
nicht eigentlich als Gegner aner-
kennen. Er behauptet nämlich,
wenn ich ihn recht verſtehe, die
unbeſchränkte Anwendung einer
ausdrücklich vorgebrachten Wider-
klage, und damit bin ich für die
Zeit von Juſtinian, wie für den
heutigen Prozeß, völlig einver-
ſtanden. Ich halte ſeine Anſicht
nur darin für irrig, daß er hierauf die
Stelle L. 14 C. de sent. bezieht, die
ich von einer ſtillſchweigenden, jedoch
nur in ſehr beſchränkter Weiſe zu-
zulaſſenden, Widerklage verſtehe.
|0362 : 344|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
vorgebracht werden, für dieſe Inſtanz verloren ſeyn ſollen,
ſo muß Dieſes um ſo mehr für eine Widerklage gelten, die
der Beklagte als Widerklage bei der erſten Einlaſſung
vorzubringen unterläßt. Wenngleich vielleicht der Grund,
woraus ſpäterhin die Widerklage abgeleitet werden ſoll,
zum Zweck einer Exception wirklich vorgebracht worden iſt,
ſo iſt es doch für die Ordnung des Prozeſſes und für das
Vertheidigungsſyſtem des Klägers von großer Wichtigkeit,
daß der Beklagte die Abſicht einer Widerklage, wenn er
dieſe gebrauchen will, gleich Anfangs beſtimmt ausſpreche.
Die Richtigkeit dieſer Behauptung wird auch durch
einen weit älteren Ausſpruch des canoniſchen Rechts beſtä-
tigt. Wenn nämlich gegen irgend eine Klage die Einwen-
dung einer Spoliation vorgebracht wird, ſo kann Dieſes in
einem zweifachen Sinn geſchehen: als bloße Einrede und
als Widerklage. Nun verordnet P. Innocenz III., daß
im erſten Fall höchſtens die Klage ausgeſchloſſen ſeyn, im
zweiten auch der Kläger verurtheilt werden könne (m).
Darin liegt die deutlich ausgeſprochene Vorſchrift, daß eine
von dem Beklagten vorgebrachte Thatſache nicht hinterher
zum Zweck einer Widerklage verwendet werden könne, daß
ſie vielmehr, um als Widerklage zu wirken, gleich Anfangs
zu dieſem Zweck aufgeſtellt werden müſſe.
Nach dem hier aufgeſtellten Reſultat verſchwindet auch
jeder Schein eines Zweifels, der aus der hier erörterten
(m) C. 2 X. de ord. cogn. (2. 10).
|0363 : 345|
§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)
Verordnung Juſtinian’s gegen die Allgemeinheit der Regel
hergeleitet werden könnte, nach welcher der Kläger als
ſolcher niemals ſoll verurtheilt werden können (n).
II. Von der Eigenthumsklage iſt oben (§ 288) nach-
gewieſen worden, daß ſie nur zu einem zweifachen Ausgang
führen kann: zur Verurtheilung des Beklagten, d. h. zur
Anerkennung des Eigenthums in der Perſon des Klägers;
zur Freiſprechung des Beklagten, welche zwar nicht immer,
aber doch in den meiſten Fällen, den Ausſpruch, daß der
Kläger nicht Eigenthümer ſey, in ſich ſchließen wird. Ein
dritter Fall, nämlich die unmittelbar ausgeſprochene Aner-
kennung des Eigenthums in der Perſon des Beklagten,
alſo die Verurtheilung des Klägers, iſt ſelbſt dann nicht
zuläſſig, wenn der Beklagte den Richter von ſeinem Eigen-
thum wirklich überzeugt, und eben dadurch die Abweiſung
des Klägers bewirkt hat.
Dieſer letzte Satz, in ſo nothwendigem Zuſammenhang
er mit der ganzen Reihe der hier aufgeſtellten Rechtsregeln
ſteht, kann jedoch nach Umſtänden ſehr unbillige Folgen
und eine Gefährdung des wirklichen Rechts hervorrufen.
Wenn es dem Beklagten gelingt, jetzt den vollſtändigſten
Beweis ſeines Eigenthums zu führen, ſo können doch dieſe
Beweiſe ſpäterhin verloren gehen, die Zeugen insbeſondere
können ſterben. Kommt nun in irgend einer ſpäteren Zeit
(n) Vgl. den Schluß des § 288.
|0364 : 346|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
der Beſitz der Sache durch Zufall an den gegenwärtig
abgewieſenen Kläger, ſo würde es für den Beklagten von
großem Werth ſeyn, wenn er, oder ſein Erbe, ſich alsdann
auf ein rechtskräftig ausgeſprochenes Anerkenntniß des Ei-
genthums ſtützen könnte, da ein ſolches nach verlornen
Beweiſen vielleicht nicht mehr zu erlangen ſeyn würde.
Es fragt ſich, wie dieſer an ſich gerechte und billige Zweck
etwa erreicht werden könnte.
Man möchte vielleicht glauben, der Beklagte könnte mit
ſeiner Vertheidigung gegen die Eigenthumsklage des Klä-
gers eine umgekehrte Eigenthumsklage (als Widerklage)
anſtellen, die dann eine Verurtheilung ſeines Gegners zur
Folge haben würde. Dieſes iſt jedoch deswegen unmöglich,
weil er Beſitzer iſt, die Eigenthumsklage aber nur von dem
Nichtbeſitzer gegen den Beſitzer angeſtellt werden kann (o).
Dagegen liegt die wahre und conſequente Befriedigung
jenes praktiſchen Bedürfniſſes in der Rechtskraft der Gründe
des Urtheils, die weiter unten (§ 291) nachgewieſen werden
wird. Wenn nämlich in dem oben vorausgeſetzten Fall
der Beklagte die Abweiſung der Eigenthumsklage dadurch
zu bewirken ſucht, daß er ſein Eigenthum behauptet, wenn
über dieſe Behauptung verhandelt, der Richter aber von
der Richtigkeit derſelben überzeugt, und durch dieſen Grund
zur Freiſprechung beſtimmt wird, ſo bleibt es zwar auch
dann der Form nach bei einer bloßen Freiſprechung, die
(o) § 2 J. de act. (4. 6), L. 9 de rei vind. (6. 1).
|0365 : 347|
§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)
nicht die Geſtalt einer Verurtheilung des Klägers anneh-
men kann. Da aber die Gründe des Urtheils rechtskräftig
werden, ſo wird durch die Rechtskraft dieſes Grundes der
Freiſprechung dem gegenwärtigen Beklagten für jeden künf-
tigen Rechtsſtreit, auch wenn er darin als Kläger auftreten
ſollte, derſelbe praktiſche Vortheil verſchafft, wie wenn er
jetzt eine Verurtheilung ſeines Gegners bewirkt hätte.
III. Auf die Erbrechtsklage iſt alles Dasjenige anwend-
bar, welches ſo eben für die Eigenthumsklage bemerkt
worden iſt. Wenn alſo der Inteſtaterbe die Erbrechtsklage
gegen den Beſitzer der Erbſchaft anſtellt der aus einem
Teſtament Erbe zu ſeyn behauptet, wenn der Richter die
Gültigkeit des Teſtaments anerkennt, und aus dieſem
Grunde den Beklagten freiſpricht, ſo wird dieſer Grund
rechtskräftig, und der Freigeſprochene kann davon in jedem
künftigen Rechtsſtreite auch als Kläger Gebrauch machen.
Außerdem aber kann bei der Erbrechtsklage auch noch
ein Fall eintreten, welcher bei der Eigenthumsklage nicht
möglich iſt. Es kann hier die Lage des Rechtsſtreits dahin
führen, daß für die poſitive Anerkennung des dem Beklag-
ten zuſtehenden Rechts nicht blos indirect (durch die Rechts-
kraft der Urtheilsgründe), ſondern unmittelbar durch den
richterlichen Ausſpruch ſelbſt vollſtändig geſorgt wird.
Wenn nämlich zwei Perſonen auf die ganze Erbſchaft
Anſpruch machen, und jede derſelben einzelne Erbſchafts-
ſachen beſitzt, ſo kann Jeder gegen den Andern die Erb-
|0366 : 348|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſchaftsklage auf das Ganze anſtellen, und in Folge dieſer
Klage als Erbe des ganzen Vermögens in dem Urtheil
anerkannt werden, wodurch ihm dieſes Erbrecht für alle
Zukunft rechtskräftig feſtgeſtellt iſt (p).
Dieſes kann unter andern auf die Weiſe geſchehen, daß
zuerſt der Eine die Klage anſtellt, und dann der Andere
die gleichnamige Klage als Widerklage vorbringt. In die-
ſem Fall kann das Urtheil entweder dem Kläger, oder dem
Widerkläger das ganze Erbrecht zuſprechen, es kann aber
auch Beide mit ihren Klagen abweiſen. So iſt alſo hier,
vermittelſt der Widerklage, ein Urtheil möglich, das in dem
urſprünglichen Beklagten das Erbrecht geradezu poſitiv an-
erkennt, welche Möglichkeit oben bei der Eigenthumsklage
verneint werden mußte (q).
Der Grund dieſes Unterſchieds zwiſchen beiden Klagen
liegt darin, daß das Erbrecht nur an dem ganzen Vermö-
gen oder an einem aliquoten Theil des Vermögens vor-
(p) L. 15 de exc. r. j. (44. 2).
Vgl. oben § 288. a.
(q) Man könnte glauben, der-
ſelbe Fall könnte eintreten, wenn
Gajus ein abgegränztes Stück
eines Landguts beſäße, Sejus den
abgegränzten übrigen Theil des
Landguts, Jeder aber Eigenthum des
Ganzen behauptete. Hier kann jedoch
Jeder gegen den Andern die Eigen-
thumsklage nur auf das von ihm
ſelbſt nicht beſeſſene Stück anſtellen,
und das Urtheil entſcheidet blos
über das Eigenthum an dieſem
Stück, ſo daß alſo zwei von ein-
ander unabhängige Urtheile ge-
ſprochen werden, jedes über einen
anderen Gegenſtand. — Ganz eben
ſo verhält es ſich, wenn Jeder die
ideale Hälfte des Landguts beſitzt.
Nun hat Jeder eine partis vin-
dicatio, und es werden wieder
zwei unabhängige Urtheile über
juriſtiſch verſchiedene Gegenſtände
geſprochen. — In beiden Fällen
macht es auch keinen Unterſchied,
wenn etwa beide Klagen als Klage
und Widerklage verbunden ſeyn
ſollten.
|0367 : 349|
§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)
kommen kann, die Erbrechtsklage aber, und zwar auf das
ganze Vermögen, auch ſchon durch den Beſitz eines einzel-
nen Vermögensſtücks in der Perſon des Beklagten begründet
wird, vorausgeſetzt, daß der Beklagte pro herede oder pro
possessore beſitzt.
IV. Die Negatorienklage verdient hier noch eine
beſondere Erwägung. Bekanntlich hat dieſe Klage die
eigenthümliche Natur, daß der Beklagte nur, indem er den
Beweis der Servitut führt, die Abweiſung des Klägers
bewirken kann. Wollten wir nun den Grundſatz einer blos
negativen Wirkung der Freiſprechung auch hier ſtreng an-
wenden, ſo müßte der Beklagte aus dem abweiſenden Ur-
theil keine poſitive Anerkennung ſeiner Servitut ableiten
können. Wenn er alſo ſpäter aus dem Beſitz der Servitut
käme, und deshalb confeſſoriſch klagte, ſo müßte er von
Neuem den Beweis führen, ohne ſich auf das frühere
rechtskräftige Urtheil berufen zu können. Das wäre in
dieſem Fall beſonders hart, da er in dem früheren Prozeß
den Beweis der Servitut nicht willkührlich übernommen
hat (wie es auch bei der Eigenthumsklage geſchehen kann),
ſondern weil er ihn nach allgemeinen Rechtsregeln über-
nehmen mußte.
Hier iſt nun dem Beklagten auf dieſelbe indirecte Weiſe,
wie bei den beiden vorher erwähnten Klagen, zu helfen,
durch die Rechtskraft der Gründe. Außerdem aber kann er
ſich auch eine unmittelbare Anerkennung ſeines Rechts durch
|0368 : 350|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
den richterlichen Ausſpruch ſelbſt verſchaffen, und zwar
nicht blos, wie es ſo eben bei der Erbrechtsklage nachge-
wieſen worden iſt, in Folge einer zufälligen Lage des
Rechtsſtreits, ſondern in allen Fällen überhaupt. Er kann
nämlich gleich im Anfang des Rechtsſtreits die confeſſo-
riſche Klage als Widerklage vorbringen. Dann muß der
Richter, der ſich von dem Daſeyn der Servitut überzeugt,
den Kläger (als Widerbeklagten) zur Anerkennung der
Servitut verurtheilen.
Sogar kann dieſe günſtige Stellung des Beklagten in
der Negatorienklage ſchon aus der Römiſchen Formel der
Negatorienklage gerechtfertigt werden. Dieſe lautet ſo:
Si paret, Negidio jus non esse etc. Weiſet nun der Rich-
ter dieſe Klage ab, ſo ſpricht er aus: Non videtur Negi-
dio jus non esse etc. Dieſes iſt aber völlig gleichbedeu-
tend mit dem Ausſpruch: Negidio jus esse etc.
§. 291.
Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft der
Gründe.
Die bisher durchgeführte Unterſuchung über den Inhalt
des Urtheils (die Verurtheilung und Freiſprechung) bildet
zwar die ſichere und unentbehrliche Grundlage für die
Lehre von der Rechtskraft, iſt aber dafür keinesweges aus-
reichend; vielmehr iſt es nöthig, nun noch auf genauere
Beſtimmungen des Inhalts einzugehen, weil nur auf
|0369 : 351|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
dieſem Wege eine erſchöpfende Einſicht in das Weſen der
Rechtskraft gewonnen werden kann.
Seit alter Zeit kehrt bei vielen Schriftſtellern der Satz
wieder: die Rechtskraft beziehe ſich nur auf das Urtheil
ſelbſt, nicht auf die Urtheilsgründe, und man ſucht
dieſen Satz noch ſchärfer durch den Ausdruck zu bezeichnen,
daß nur der Tenor oder das Dispoſitive im Urtheil
rechtskräftig werde.
Bevor die unklaren Begriffe und die Mißverſtändniſſe
dargelegt werden, in welchen die Vertheidiger dieſes Satzes
befangen zu ſeyn pflegen, iſt es nöthig, auf eine zweifache
Beziehung aufmerkſam zu machen, die in dieſem Satz (wie
viel oder wenig Wahrheit er in ſich ſchließen möge) aner-
kannt werden muß. Die erſte, durch den Ausdruck der
Rechtskraft ſelbſt unmittelbar angedeutete Beziehung iſt die
auf die Zukunft, indem jener Satz zunächſt den Sinn hat,
daß aus den Gründen keine Fiction der Wahrheit abge-
leitet werden dürfe. Die zweite, damit zuſammenhangende,
obgleich an ſich verſchiedene Beziehung iſt die auf den
gegenwärtigen Rechtsſtreit ſelbſt, indem jener Satz dahin
führt, daß gegen die Urtheilsgründe (eben weil ſie ohnehin
nicht rechtskräftig werden) ein Rechtsmittel nicht nöthig,
ja nicht einmal zuläſſig, alſo auch der Richter höherer In-
ſtanz darüber nicht competent ſey. In dieſer zweiten Be-
ziehung alſo kann man ſagen: So weit, als der Inhalt
des Urtheils rechtskräftig wird, iſt es möglich und nöthig,
dieſe Rechtskraft durch Berufung an den höheren Richter
|0370 : 352|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
zu hindern. Was daher in Folge der gegenwärtigen Unter-
ſuchung über die Rechtskraft der Gründe als wahr erkannt
werden wird, muß eben ſo auch auf die Möglichkeit und
Nothwendigkeit einer Berufung gegen die Gründe bezogen
werden.
In dem Satz ſelbſt aber, deſſen Wahrheit nunmehr zu
prüfen iſt, werden zwei an ſich ganz verſchiedene Behaup-
tungen häufig zuſammengeworfen, deren wahre Bedeutung
ſich auf folgende zwei Fragen zurückführen läßt.
I. Was iſt in dem Gedanken des urtheilenden Richters
wahrhaft enthalten, was wird alſo durch den Ausſpruch
dieſes Gedankens zur Rechtskraft, d. h. zur Fiction der
Wahrheit erhoben?
Der Zuſammenhang der ſo gefaßten Frage mit dem
oben aufgeſtellten Satze wird durch folgende Erläuterung
anſchaulich werden. Wenn in dem vollſtändigen Gedanken
des Richters das logiſche Verhältniß von Grund und Folge
enthalten iſt (und Dieſes wird ſich meiſtens darin finden),
müſſen wir dann auch einem ſolchen Grunde die Rechts-
kraft zuſchreiben, oder vielmehr nur dem aus dieſem Grunde
abgeleiteten Ausſpruch ſelbſt?
II. Aus welchen Quellen haben wir den wahrhaften
Inhalt des richterlichen Gedankens zu erkennen? wo haben
wir denſelben aufzuſuchen?
Um den Zuſammenhang dieſer zweiten Frage mit dem
oben aufgeſtellten Satze anſchaulich zu machen, muß daran
erinnert werden, daß es ſeit Jahrhunderten in vielen
|0371 : 353|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
Gerichtshöfen üblich iſt, neben jedem ausgeſprochenen Ur-
theil eine ausführliche Rechtfertigung deſſelben aufzuſtellen,
die den Namen führt: Urtheilsgründe, oder auch:
Zweifels- und Entſcheidungsgründe. Der Sinn
der eben aufgeworfenen zweiten Frage geht alſo dahin, ob
wir Dasjenige, welches rechtskräftig werden ſoll, blos in
dem einen jener zwei Schriftſtücke (dem Tenor) aufzuſuchen
haben, oder in beiden; mit anderen Worten: ob auch die
Urtheilsgründe rechtskräftig werden.
Es iſt einleuchtend, daß beide aufgeſtellte Fragen an
ſich ganz verſchieden ſind, und daß in beiden der Ausdruck:
Gründe, nach deren Rechtskraft man fragt, eine verſchie-
dene Bedeutung hat. Die erſte Frage geht in das Weſen
der Sache ein, und muß unter allen Umſtänden beantwor-
tet werden. Die zweite Frage hat eine mehr formelle
Natur, und kann nur vorkommen unter Vorausſetzung
einer beſondern Einrichtung der geſchriebenen Urtheile, die
ganz zufällig, und nichts weniger als allgemein iſt. Der
Verſchiedenheit dieſer beiden Fragen aber pflegen ſich die
Schriftſteller oft gar nicht bewußt zu werden, welche die
Rechtskraft der Gründe in Frage ſtellen, verneinen oder
bejahen; ſie verfahren dabei ſo, als wäre in dieſer ganzen
Sache nur eine einzige Frage zu beantworten. Allerdings
beſchäftigen ſie ſich meiſt ſcheinbar nur mit der zweiten
Frage, aber dieſe hat ſelbſt nur Werth und Wichtigkeit,
inſofern die erſte Frage unvermerkt in dieſelbe hinein ſpielt.
VI. 23
|0372 : 354|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Ich will nunmehr die Beantwortung der erſten Frage
verſuchen, die ich nochmals ſo ausdrücke:
Was iſt es, das durch den Ausſpruch des richter-
lichen Gedankens zur Rechtskraft erhoben wird?
Ich will damit anfangen, mich verſuchsweiſe auf die
Seite Derer zu ſtellen, die alle Rechtskraft der Gründe
völlig verneinen, und alſo durch die äußerſte Abſtraction
aus dem Urtheil jeden Schein eines ausgeſprochenen
Grundes zu entfernen ſuchen.
Hiernach würde etwa die Verurtheilung ſo lauten
können:
daß der Beklagte dem Kläger eine beſtimmte Sache
heraus zu geben, eine beſtimmte Geldſumme zu zahlen
ſchuldig ſey (a);
Die Freiſprechung aber ſo:
daß Kläger mit der erhobenen Klage abzuweiſen ſey.
In dieſen beiden Formeln dürfte wohl jede Spur eines
Grundes vertilgt ſeyn.
Wenn aber überhaupt die Rechtskraft anerkannt werden
ſoll, ſo wie oben ihre Unentbehrlichkeit dargethan worden
iſt, muß ich die in jener Abſtraction liegende Einſchränkung
für völlig unausführbar und verwerflich halten.
Dieſes ſoll nunmehr nach zwei Seiten hin dargethan
werden:
(a) Schon wenn die Verur-
theilung ſo lautet: „daß Beklagter
die geliehene Summe von Hun-
dert zurück zu zahlen ſchuldig,“ iſt
ein Grund der Entſcheidung (die
Darlehns-Obligation) in dem Ur-
theil ausgedrückt.
|0373 : 355|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
Erſtlich mit Hinſicht auf die künftige Wirkung der
Rechtskraft;
Zweitens mit Hinſicht auf die Natur des Rechtsſtreits
und die Aufgabe des Richteramtes.
Was zuerſt die künftige Wirkung der Rechtskraft betrifft,
ſo beſteht dieſe darin, daß der Inhalt des rechtskräftigen
Urtheils als wahr behandelt werden ſoll in jedem künf-
tigen Rechtsſtreit, in welchem dieſelbe Rechtsfrage, wie in
dem gegenwärtigen Urtheil, vorkommt, der alſo mit dem
jetzt entſchiedenen Rechtsſtreit hierin identiſch iſt (b).
Daß aber dieſe Identität, worauf alle Anwendung der
Rechtskraft beruht, durch jene abſtracte Einſchränkung
völlig unerkennbar wird, geht aus folgender Betrachtung
hervor.
Die Bedingungen jeder Verurtheilung, ſo wie jeder
Freiſprechung, können eine ſehr zuſammengeſetzte Natur
haben.
Bei der Eigenthumsklage ſind ſtets die poſitiven Be-
dingungen des Klagrechts: 1. Eigenthum des Klägers,
2. Beſitz des Beklagten. Es können ferner mancherlei
Einreden entgegengeſetzt ſeyn, z. B. a. aus einem Vergleich
über dieſen Rechtsſtreit, b. aus einem Vertrag über dieſe
(b) Der hier aufgeſtellte Satz
mußte einſtweilen aus der ſpäter
folgenden Darſtellung erborgt wer-
den, worin er erſt volles Licht und
Begründung erhalten kann.
23*
|0374 : 356|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Sache (etwa Miethcontract), c. die exceptio hypo-
thecaria.
Bei der Erbrechtsklage hat das Klagrecht folgende
Bedingungen: 1. Erbrecht des Klägers, 2. Beſitz des Be-
klagten an beſtimmten Sachen, und zwar mit der beſon-
deren Beſchaffenheit einer pro herede oder pro possessore
possessio, 3. Eigenſchaft der beſeſſenen Sachen als
Beſtandtheile der Erbſchaft. Es können ihr mancherlei
Einreden entgegen ſtehen, z. B. a. Klagverjährung,
b. Vergleich.
Eine perſönliche Klage ſetzt ſtets als Bedingung des
Klagrechts voraus die Begründung der Obligation. Es
kann ihr unter andern entgegen geſetzt werden die Einrede
der Compenſation; desgleichen die Einrede der Zahlung.
Bei allen dieſen Klagen nun gehört zur Verurtheilung
die Überzeugung des Richters von der Richtigkeit aller
Bedingungen des Klagrechts, und zugleich von der Unrich-
tigkeit aller etwa vorgebrachten Einreden.
Zur Freiſprechung dagegen genügt die Überzeugung
von der Unrichtigkeit einer einzigen Bedingung des Klag-
rechts; eben ſo aber auch die Überzeugung von der Rich-
tigkeit auch nur einer einzigen Einrede. Es bleibt alſo bei
der oben angegebenen abſtracten Formel der Freiſprechung, die
ſich auf die Abweiſung des Klägers beſchränkt, völlig unge-
wiß, was der Richter dabei gedacht hat. Er kann (in
dem beiſpielsweiſe angeführten Fall der Eigenthumsklage)
angenommen haben, das Eigenthum, oder der Beſitz ſey nicht
|0375 : 357|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
vorhanden; oder aber, der Vergleich, oder der Mieth-
vertrag, oder das Pfandrecht ſey vorhanden. Er kann
ferner ein einziges unter dieſen fünf denkbaren Hinder-
niſſen des Klägers als wahr angenommen haben, oder
einige derſelben, oder alle. Jede dieſer Möglichkeiten recht-
fertigt das freiſprechende Urtheil vollkommen. Daher iſt
es unmöglich, bei einem künftigen verwandten Rechtsſtreit
von der Rechtskraft jenes Urtheils Gebrauch zu machen,
ſo lange wir Nichts wiſſen, als daß damals der Kläger
abgewieſen worden iſt. Jede vom Richter ausgeſprochene
Verneinung nämlich wird rechtskräftig; um aber dieſen
Satz anwenden zu können, müſſen wir vor Allem wiſſen,
was er verneint hat. — Wir müſſen alſo durchaus tiefer
in den Sinn jenes Urtheils eindringen, ſonſt iſt künftig
jede ſichere Anwendung der Rechtskraft ganz unmöglich.
Bei dem verurtheilenden Erkenntniß findet ſich, wenn
auch in geringerem Grade, dennoch dieſelbe Schwie-
rigkeit. Die Ungewißheit iſt dabei geringer, weil
wir beſtimmt wiſſen, daß der Richter alle Bedingungen
der Klage als vorhanden, alle Einreden als unbegründet
angeſehen haben muß (c). Aber auch hier kommen Unge-
wißheiten vor, die durch den bloßen Ausſpruch der Verur-
theilung nicht gehoben werden können. Wenn z. B. bei
einer perſönlichen Klage verurtheilt wird mit Verwerfung
(c) Überhaupt iſt die Benutzung
einer rechtskräftigen Verurtheilung
bei künftigen Prozeſſen ungleich
ſeltner, als die der Freiſprechung,
wie denn auch die actio judicati
praktiſch unwichtiger nnd von ſelt-
nerer Anwendung iſt, als die ex-
ceptio rei judicatae.
|0376 : 358|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
der Einrede der Compenſation, ſo kann Dieſes geſchehen
ſeyn entweder, weil der Richter überzeugt war, die auf-
geſtellte Gegenforderung ſey nicht vorhanden, oder, weil
er ſie nur für illiquid und deshalb für untauglich zur
Compenſation hielt. Welcher unter dieſen beiden Gedanken
dem Richter vorſchwebte, läßt ſich der bloßen Verurthei-
lung nicht anſehen, ſondern nur durch tieferes Eindringen in
den Sinn des Urtheils erkennen; dennoch hängt gerade
von dieſem Umſtand der Gebrauch dieſes rechtskräftigen
Urtheils bei einem künftigen Rechtsſtreit lediglich ab (d).
Aus dieſen Erwägungen folgt, daß in der That die
Rechtskraft auch die Gründe des Urtheils mit um-
faßt, d. h. daß das Urtheil als rechtskräftig anzuſehen iſt
nur in unzertrennlicher Verbindung mit den vom Richter
bejahten oder verneinten Rechtsverhältniſſen, wovon der
rein praktiſche Theil des Urtheils (die dem Beklagten auf-
erlegte Handlung, oder die Abweiſung des Klägers) ab-
hängig iſt. In dieſem Sinn des Ausdrucks: Gründe,
behaupte ich die Rechtskraft derſelben. Um aber der Ge-
fahr von Mißverſtändniſſen zu entgehen, die aus der Viel-
deutigkeit jenes Ausdrucks entſteht, will ich die in dieſem
Sinn aufgefaßten Gründe: Elemente der ſtreitigen
Rechtsverhältniſſe und des (den Streit entſcheidenden)
Urtheils, nennen, und nunmehr den aufgeſtellten Satz ſo
ausdrücken:
Die Elemente des Urtheils werden rechtskräftig.
(d) L. 7 § 1 de compens. (16. 2), L. 8 § 2 de neg. gestis (3. 5).
|0377 : 359|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
In dem oben angeführten Beiſpiel von der Eigenthums-
klage wird alſo rechtskräftig: die Bejahung, oder Vernei-
nung des Eigenthums, des Beſitzes; ferner des Vergleichs,
des Miethvertrags, des Pfandrechts.
Zu dieſer Überzeugung ſind wir hier gelangt durch die
Hinſicht auf die künftige Wirkung der Rechtskraft (S. 355);
zu demſelben Ziel aber führt uns auch die Hinſicht
auf die Natur des Rechtsſtreits und die Aufgabe des
Richteramts.
Dieſe Aufgabe geht dahin, das ſtreitige Rechtsver-
hältniß, ſobald es durch die Verhandlung ſpruchreif ge-
worden iſt, feſtzuſtellen, und dieſer Feſtſtellung Wirkſam-
keit zu ſichern Zu dieſer Wirkſamkeit aber gehört nicht
blos die augenblickliche Abwehr äußerer Rechtsverletzung,
ſondern auch die Sicherung durch die in alle Zukunft fort-
wirkende Rechtskraft. Daß Dieſes geſchehe, dabei hat die
obſiegende Partei ein augenſcheinliches Intereſſe; was aber
mehr iſt, ſie hat darauf ein unzweifelhaftes Recht.
Der Richter alſo würde ſeiner Pflicht nicht genügen,
wenn er blos für das Bedürfniß des nächſten Augen-
blicks nothdürftig ſorgen, die Sicherung aber für alle Zu-
kunft verſäumen wollte. Dieſe Sicherung begründet er
nur dadurch, daß er die Elemente der Entſcheidung feſt-
ſtellt, deren Rechtskraft hinfort bei jedem neuen Rechtsſtreit
benutzt werden kann.
Rechtskräftig wird demnach Alles, was der Richter in
Folge der ſpruchreif gewordenen Verhandlung entſcheiden
|0378 : 360|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
will. Damit iſt aber nicht geſagt, daß der Richter alle,
in dem Rechtsſtreit zur Sprache gekommenen Elemente wirk-
lich entſcheiden muß, vielmehr iſt hierin ein freier Spiel-
raum des Ermeſſens zuzulaſſen.
Wenn z. B. bei der Eigenthumsklage der Richter die
Überzeugung gewonnen hat, daß dem Kläger das Eigen-
thum nicht zuſteht, ſo muß er Dieſes verneinen. Be-
hauptet zugleich der Beklagte, daß er nicht beſitze, und
wird der Richter davon überzeugt, während der Beweis
des Eigenthums weder geführt, noch mißlungen, vielmehr
in ſeiner Fortſetzung weit ausſehend iſt, ſo kann der
Richter den Kläger abweiſen, indem er den Beſitz des Be-
klagten verneint, und das Eigenthum des Klägers unent-
ſchieden läßt; eben ſo, wenn irgend eine Einrede bewieſen
iſt, ehe über das Eigenthum entſchieden werden kann.
Hierin das rechte Maaß zu halten, iſt die Aufgabe, die
ſich ein verſtändiger Richter ſtellen ſoll, welcher auch
die Wünſche der Parteien zu berückſichtigen nicht ver-
ſäumen wird.
Suchen wir aber noch vollſtändiger in die Erwägungen
des Richters einzudringen, wodurch er zu der rein prakti-
ſchen Entſcheidung (Verurtheilung, oder Freiſprechung)
gelangt, ſo müſſen wir uns überzeugen, daß dieſe Erwä-
gungen von zweierlei Art ſind.
Zunächſt gehören dahin die bereits erwähnten Elemente
der Rechtsverhältniſſe, die, wenn ſie der Richter erkannt
hat, ſelbſt integrirende Theile des Urtheils werden, und
|0379 : 361|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
daher an der Rechtskraft Theil nehmen. — Die Über-
zeugung von dieſen Elementen aber gewinnt der Richter
durch Erwägungen ganz anderer Art: durch die ihm bei-
wohnende Kenntniß der Rechtsregeln; durch die Beweis-
mittel, welche ihn beſtimmen, die in dieſem Rechtsſtreit
wichtigen Thatſachen für wahr, oder unwahr anzunehmen.
Demnach können wir in der ganzen Reihe von Ge-
danken und Erwägungen, wodurch der Richter zum Ziel
des Urtheils gelangt, zweierlei beſtimmende Gründe unter-
ſcheiden: objective, die eigentlich Beſtandtheile des
Rechtsverhältniſſes ſelbſt ſind, alſo Daſſelbe, wofür oben
die Bezeichnung von Elementen gebraucht worden iſt;
ſubjective, wodurch der Richter perſönlich bewogen wird,
eine beſtimmte Überzeugung von jenen Elementen zu faſſen,
ſie zu bejahen, oder zu verneinen. Nun aber müſſen wir
ſogleich den Grundſatz hinzufügen:
Die vom Richter angenommenen objectiven Gründe
(die Elemente) werden rechtskräftig, die ſubjectiven
Gründe werden nicht rechtskräftig (e).
(e) Es kommt nicht ſelten vor,
daß in den beſonders abgefaßten
Urtheilsgründen verwandte, aber
in dieſem Rechtsſtreit nicht mit be-
griffene Rechtsverhältniſſe herbei-
gezogen werden, um des Richters
Anſicht von den Rechtsregeln oder
den Thatſachen anſchaulicher zu
machen, und ſo die Überzeugung
des Richters von den Elementen
des vorliegenden Rechtsſtreits ſiche-
rer zu rechtfertigen. Solche Er-
wägungen gehören unter die ſub-
jectiven Gründe und können nie
rechtskräftig werden. In dieſem
Sinn wird die Rechtskraft der
Gründe mit Recht verneint von
Böhmer, wie unten gezeigt wer-
den wird (§ 293 f). So z. B.,
wenn in den Gründen eines Ur-
theils über das Poſſeſſorium zu-
gleich petitoriſche Erwägungen be-
nutzt werden, um die Entſcheidung
über den Beſitz plauſibler zu machen.
|0380 : 362|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Hier ſind wir aber auch auf dem Punkt angelangt,
von welchem aus alle in dieſer Lehre vorkommende Mei-
nungsverſchiedenheit und Verwirrung der Begriffe zu er-
klären iſt. Wer die Rechtskraft der Gründe behauptet,
hat Recht, wenn er dabei an die objectiven Gründe denkt;
wer ſie verneint, hat Recht, wenn er dieſe Verneinung auf
die ſubjectiven Gründe bezieht. Eine genaue Unterſcheidung
dieſer beiden Arten von Gründen iſt bis jetzt ſtets vernach-
läſſigt worden.
Damit jedoch die hier behauptete Rechtskraft der ob-
jectiven Gründe in ihrem wahren Werth und Einfluß
anerkannt werde, iſt es nöthig, auf den Begriff der
objectiven Gründe noch etwas genauer einzugehen. Ich
habe bisher als Beiſpiele derſelben hauptſächlich angeführt
die Beſtandtheile des Klagegrundes, und die der Klage
entgegen geſetzten Exceptionen, mit welchen die Repli-
cationen und Duplicationen unzweifelhaft ganz gleiche Natur
haben.
Daß nun die Bejahung, oder Verneinung gerade dieſer
Stücke des Prozeſſes rechtskräftig für alle Zukunft ein-
wirkt, ja daß eben hierin die häufigſte und darum wich-
tigſte Wirkſamkeit der Rechtskraft der Gründe beſteht, ſoll
nicht beſtritten werden. Allein es würde unrichtig ſeyn,
und es würde die heilſame Wirkung der Rechtskraft will-
kührlich verkümmern, wenn man die Rechtskraft der Gründe
auf die hier genannten Fälle ſtreng beſchränken wollte.
|0381 : 363|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
Vielmehr müſſen dahin auch ſolche Fälle gerechnet werden,
die oben als unächte Exceptionen bezeichnet worden ſind,
alſo namentlich die Fälle der relativen Verneinung, d. h.
der abſoluten Vernichtung eines früher vorhandenen Rechts
des Klägers (§ 225).
Wird daher einer perſönlichen Klage die Einrede der
Compenſation entgegengeſetzt, welches eine wahre Ex-
ception iſt, ſo wird allerdings die Zulaſſung, oder Verwer-
fung dieſer Exception (alſo dieſer Grund der Freiſprechung,
oder der Verurtheilung) rechtskräftig. Aber nicht minder
wird rechtskräftig die Zulaſſung, oder Verwerfung der vom
Beklagten vorgeſchützten Einrede der Zahlung, obgleich
dieſe keine wahre Exception im Römiſchen Sinn des
Wortes iſt. Genau ſo verhält es ſich auch mit der Eigen-
thumsklage, wenn derſelben die fälſchlich ſogenannte
exceptio recentioris dominii entgegengeſetzt wird, d. h. die
Behauptung des Beklagten, daß das früher wirklich vor-
handene Eigenthum des Klägers durch ein ſpäteres Ereig-
niß verloren worden ſey. Auch in dieſen Fällen alſo muß
die Rechtskraft der objectiven Gründe in der That behauptet
werden.
Ja ſelbſt auf dieſe, der wahren Exception näher ſtehenden,
Fälle der relativen Verneinung dürfen wir uns nicht be-
ſchränken, wir müſſen vielmehr noch einen Schritt weiter
gehen. Wenn nämlich in einer Klage aus Eigenthum, oder
Erbrecht der Beklagte gar nicht behauptet, das früher vor-
handene Recht des Gegners ſey ſpäter zerſtört worden,
|0382 : 364|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſondern wenn er das Daſeyn deſſelben abſolut, für alle
Zeiten, beſtreitet, ſo kann er dieſe ſeine Beſtreitung unter
andern dadurch zu begründen ſuchen, daß er ſelbſt dieſes
Eigenthum, oder dieſes Erbrecht zu haben behauptet, woraus
dann von ſelbſt folgt, daß der Kläger es nicht haben kann
(§ 287 a). Wenn er nun dieſen Weg einſchlägt, wenn
darüber verhandelt, und der Richter von dieſer Behauptung
des Beklagten überzeugt wird, ſo daß er ihn aus dieſem
Grunde freiſpricht, ſo wird dieſer objective Grund der
Entſcheidung rechtskräftig, und es ſteht für alle Zukunft,
dieſem Kläger gegenüber, rechtskräftig feſt, daß dieſer Be-
klagte Eigenthümer, oder Erbe iſt. Durch dieſen nachge-
wieſenen Zuſammenhang glaube ich Dasjenige begründet
zu haben, welches am Schluß des vorhergehenden §. nur
vorläufig behauptet worden iſt, um zur billigen Befriedi-
gung eines wahren praktiſchen Bedürfniſſes zu gelangen.
Da jedoch die Behauptung einer ſo ausgedehnten
Rechtskraft der objectiven Gründe von großer Wichtigkeit
iſt, und vielleicht manchen Widerſpruch erfahren möchte,
ſo will ich ſie noch durch folgende Vergleichung in Bezie-
hung auf die Eigenthumsklage zu beſtätigen ſuchen. Wenn
nicht die Eigenthumsklage, ſondern die publiciana actio
angeſtellt wird, wenn der Beklagte die exceptio dominii
(eine ächte Exception) aufſtellt und beweiſt, und wenn er
deshalb freigeſprochen wird, ſo wird man leicht geneigt
ſeyn, ihm den Vortheil der Rechtskraft aus dieſer ihm zuer-
kannten Exception einzuräumen. Nun kann aber auch
|0383 : 365|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
derſelbe Gang des Rechtsſtreits eintreten, wenn nicht die
publiciana, ſondern die Eigenthumsklage angeſtellt wird,
und der Beklagte gleichfalls durch den Beweis ſeines
Eigenthums die Freiſprechung bewirkt. Sollte er nun etwa
den Vortheil der Rechtskraft dieſes Grundes der Entſchei-
dung nicht genießen, den er im Fall der publiciana ge-
noſſen haben würde? Blos deswegen nicht, weil der
juriſtiſche Begriff einer exceptio in dem einen Fall vor-
handen, in dem anderen Fall nicht vorhanden wäre? Dieſes
würde gewiß dem praktiſchen Rechtsſinn in hohem Grade
widerſprechen.
Oben iſt ausführlich dargethan worden, daß die Frei-
ſprechung des Beklagten niemals in eine Verurtheilung des
Klägers umgebildet werden dürfe (§ 288.), und man
könnte auf den erſten Blick geneigt ſeyn, zwiſchen dieſer
Behauptung und den ſo eben aufgeſtellten Sätzen einen
Widerſpruch anzunehmen. Folgende zwei Erwägungen
werden dazu dienen, den Schein dieſes Widerſpruchs zu
beſeitigen. Mit der Verurtheilung ſind überhaupt zwei
mögliche Folgen verknüpft, die zwar zuſammenhangen, je-
doch von einander unterſchieden werden können. Die erſte
Folge iſt das Gebot, Etwas zu thun, zu geben, zu unter-
laſſen; dieſe kann in keinem Fall den Kläger als ſolchen
treffen, und in dieſer Hinſicht iſt die oben aufgeſtellte
Behauptung unbedingt wahr und wichtig. Die zweite Folge
iſt die Einwirkung der Rechtskraft auf zukünftige Streit-
verhältniſſe, und hierauf allein bezieht ſich der ſo eben angege-
|0384 : 366|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
bene Schein eines Widerſpruchs. Aber auch in dieſer
Hinſicht iſt wohl zu bemerken, daß die oben aufgeſtellte
Behauptung nur dahin ging, daß die Freiſprechung an ſich,
als ſolche, nicht die Natur und Wirkung einer rechts-
kräftigen Verurtheilung des Klägers haben dürfe.
Damit iſt aber nicht ausgeſchloſſen, daß der Beklagte in-
direct, vermittelſt der Rechtskraft der Gründe, ähnliche
Vortheile erlangen könne, wie ſie ihm die Verurtheilung
des Klägers, wenn ſie zuläſſig wäre, ohnehin verſchafft
haben würde. Ein ſolcher indirecter Vortheil des Beklagten
ſetzt indeſſen ſtets beſondere thatſächliche Verhältniſſe in dem
geführten Rechtsſtreit voraus, und beſonders muß der Be-
klagte künftig den Beweis führen, daß in der That ſolche
objective Gründe bei dem Urtheil vorhanden geweſen ſind.
Es iſt daher noch immer auch in dieſer Hinſicht eine nicht
unerhebliche praktiſche Folge mit jener oben aufgeſtellten
Behauptung verbunden.
Die bisher angeſtellte Unterſuchung über die Rechts-
kraft der Gründe beruhte auf allgemeinen Betrachtungen
über die Natur des Rechtsſtreits, die Stellung des Richter-
amtes, die Bedingungen möglicher Anwendung der Rechts-
kraft. Wie ſtellt ſich aber dazu das Römiſche Recht?
Man könnte jene Behauptungen nach ihrer allgemeinen
Herleitung als wahr zugeben, daneben aber behaupten,
das Römiſche Recht lehre etwas ganz Anderes, oder es
|0385 : 367|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
ſey auf dieſe Fragen gar nicht eingegangen, oder es habe
ſie nur theilweiſe und unbefriedigend berührt.
Ich muß dagegen behaupten, daß die hier dargeſtellte
Lehre von der Rechtskraft der Elemente des Urtheils im
Römiſchen Recht ihre vollſtändige und ſichere Anerkennung
gefunden hat. Zwar iſt ſie nirgend in der Geſtalt eines
allgemeinen Grundſatzes aufgeſtellt, aber das beſtimmte
Bewußtſeyn derſelben giebt ſich in folgenden Äußerungen
unſrer Rechtsquellen auf unzweifelhafte Weiſe kund.
Erſtlich in der ſicheren und erſchöpfenden Anwendung
der Rechtskraft bei den Römiſchen Juriſten, wovon die
folgende Darſtellung den Beweis liefern wird. Dieſe wäre
aber, wie oben gezeigt worden iſt, völlig unmöglich, wenn
nicht ſtets die Rechtskraft der Elemente (d. h. der objectiven
Gründe) von ihnen vorausgeſetzt würde.
Zweitens zeigt ihre Behandlung einiger einzelnen Fälle
unwiderſprechlich, daß ſie die Rechtskraft der Elemente mit
deutlichem Bewußtſeyn vorausgeſetzt haben.
Wenn die Eigenthumsklage nur deshalb abgewieſen
wird, weil der Beklagte nicht beſitzt, ſpäter aber der Beſitz
an den Beklagten kommt, ſo kann die Eigenthumsklage
von Neuem mit Erfolg angeſtellt werden, und die frühere
Rechtskraft des Urtheils ſteht nicht im Wege (f). Hier
iſt nun zunächſt einer der Fälle vorhanden, worin nach
geſprochenem Urtheil neue Thatſachen eingetreten ſind (g),
(f) L. 9 pr. L. 17 L. 18 de
exc. rei jud. (44. 2). Vgl. oben
§ 263.
(g) Eine nova oder superve-
niens causa, wovon unten § 300.
die Rede ſeyn wird.
|0386 : 368|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
auf deren Folgen das frühere Urtheil natürlich keinen hin-
dernden Einfluß haben kann; dieſer Satz hat allerdings
mit unſrer Frage keine Berührung. Daß aber das frühere
Urtheil die Klage abgewieſen hat wegen des fehlenden
Beſitzes und nur aus dieſem Grunde, daß es insbeſon-
dere nicht auch das Eigenthum dem Kläger abgeſprochen
hat (in welchem eine ſpäter eingetretene Veränderung gar
nicht behauptet wird), — dieſes Alles erfahren wir nur,
indem wir uns nicht mit der Kenntniß des rein prakti-
ſchen Ausſpruchs im Urtheil (der Abweiſung) begnügen,
ſondern auf den objectiven Grund dieſes Ausſpruchs zurück
gehen, und dadurch erkennen, ob der Richter blos das
Eigenthum des Klägers, oder vielmehr blos des Beklagten
Beſitz, oder endlich Beides zugleich verneinen wollte.
Ein ganz ähnlicher Fall tritt ein, wenn einer perſön-
lichen Klage die Compenſation entgegen geſtellt wird, der
Richter aber dieſe Einrede verwirft, und den Beklagten auf
die volle eingeklagte Summe verurtheilt. Hier kommt Alles
darauf an, ob die Einrede verworfen worden iſt, weil der
Richter die Gegenforderung für nicht vorhanden, oder nur
für illiquid gehalten hat. Im erſten Fall wird der künfti-
gen Klage auf die Gegenforderung die exceptio rei judi-
catae entgegen ſtehen, im zweiten Fall aber nicht (Note d).
Auch hier alſo iſt die Anwendbarkeit der Rechtskraft ganz
abhängig von der Einſicht in den Grund, aus welchem
der Richter die Einrede verworfen hat; die bloße Verwer-
fung an ſich läßt uns darüber völlig ungewiß.
|0387 : 369|
§. 291. Rechtskraft der Gründe.
Der entſcheidendſte Fall aber, welcher beweiſt, daß die
Römiſchen Juriſten die Gründe der Entſcheidung mit in
das Gebiet der Rechtskraft gezogen haben, iſt diejenige
Art der Eigenthumsklage, welche per sponsionem geführt
wurde (h).
Drittens endlich finden ſich mehrere Stellen des Römi-
ſchen Rechts, worin die Anwendung der Rechtskraft auf
einen künftigen Rechtsſtreit geradezu und wörtlich von dem
Umſtande abhängig gemacht wird, aus welchem Grunde
ein früherer Ausſpruch erlaſſen worden iſt, worin wir
alſo auf die Erforſchung und Berückſichtigung dieſes Grundes
unmittelbar angewieſen werden (i).
Die bisher angeſtellte Unterſuchung hat zu dem Ergeb-
niß geführt, daß die Rechtskraft nicht blos der Entſchei-
dung ſelbſt (Verurtheilung oder Freiſprechung), ſondern
auch den objectiven Gründen derſelben, zugeſchrieben
werden muß, d. h. daß dieſe Gründe als integrirende
Theile des Urtheils anzuſehen ſind, der Umfang der Rechts-
kraft alſo ſtets durch den Inhalt des Urtheils in Ver-
bindung mit jenen Gründen beſtimmt werden muß.
(h) Vgl. unten § 292 f.
(i) Dahin gehören folgende
Stellen: L. 17 de exc. r. j.
(44. 2) „Si rem meam a te
petiero, tu autem ideo fueris
absolutus, quod probaveris sine
dolo malo te desisse possidere
… non nocebit mihi exceptio
rei judicatae.“ — L. 18 pr.
eod. „Si … absolutus fuerit ad-
versarius, quia non possidebat
… rei judicatae exceptio lo-
cum non habebit.“ — Eben ſo
L. 9 pr. eod.
VI. 24
|0388 : 370|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Dieſer wichtige Grundſatz aber iſt nicht nur für wahr
zu halten nach der Aufgabe des Richteramtes und nach
der Natur der Rechtskraft, ſondern er iſt auch ſchon im
Römiſchen Recht beſtimmt anerkannt und zur vollen An-
wendung gebracht worden.
§. 292.
Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft der
Gründe. (Fortſetzung.)
Bisher iſt die Frage beantwortet worden, was durch
den Ausſpruch des richterlichen Gedankens rechtskräftig
werde, und es bleibt nun noch die zweite Frage zu beant-
worten übrig:
Aus welchen Quellen der wahrhafte Inhalt des rich-
terlichen Gedankens (alſo der Umfang der rechtskräf-
tigen Gegenſtände) zu erkennen iſt. (S. 352.)
Wenn wir die, ſeit langer Zeit ſehr weit verbreitete
Art, die Urtheile ſchriftlich abzufaſſen, vorausſetzen, nach
welcher dem Urtheil ſelbſt eine ausführliche Rechtfertigung
hinzugefügt wird, ſo liegt der Gedanke ſehr nahe, nur der
Inhalt des Urtheils werde rechtskräftig, der Inhalt der
Urtheilsgründe ſey blos zur Ueberzeugung der Parteien
oder anderer Leſer beſtimmt, und werde nicht rechtskräftig.
So iſt es auch in der That zu verſtehen, wenn ſeit langer
Zeit viele Schriftſteller über die Frage geſtritten haben, ob
Gründe rechtskräftig werden?
|0389 : 371|
§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)
Die angegebene Behauptung würde nur unter der Vor-
ausſetzung wahr und zugleich ausreichend ſeyn, wenn ſtets
in dem Urtheil alle objectiven Gründe, in den Urtheils-
gründen alle ſubjectiven Gründe, und nur dieſe, enthalten
wären. Dann würde dieſe Behauptung mit der oben auf-
geſtellten Lehre (§ 291) völlig übereinſtimmen.
Jene Vorausſetzung aber trifft in der Wirklichkeit ganz
und gar nicht zu, ja ſie kann ſchon deshalb nicht zutreffen,
weil in der Abfaſſung der Urtheilsgründe die größten Ver-
ſchiedenheiten wahrzunehmen ſind. Unmöglich kann aber
der Umfang der Rechtskraft von einem ſo zufälligen und
willkührlichen Verfahren der verſchiedenen Gerichte abhängig
gemacht werden.
Ich will dabei nicht die großen Verſchiedenheiten der
äußeren Form erwähnen, die hier weniger in Betracht
kommen (a). Aber auch darin herrſcht große Verſchieden-
heit, daß bald mehr, bald weniger in das Urtheil ſelbſt
aufgenommen wird, ſo daß die Gränze zwiſchen beiden
(a) In den älteren Fakultäts-
urtheilen findet ſich die pedantiſche
Form, erſt die Zweifelsgründe,
dann die Entſcheidungsgründe dem
Urtheil voranzuſchicken, beide aber
mit dem Urtheil zu einem einzigen
Satz zu verbinden, ſelbſt wenn
dieſer durch eine große Zahl von
Bogen hindurch ging, z. B. ſo an-
fangend: „Wenn es gleich ſcheinen
wollte, daß …; dennoch aber und
dieweilen“ u. ſ. w. — In der An-
ordnung ähnlich ſind die, nach
Franzöſiſcher Form abgefaßten Ur-
theile, welchen ein Considérant
(In Erwägung), oft in ſehr vie-
len einzelnen Sätzen, vorhergeht. —
Die neuere, in Deutſchen Gerichten
vorherrſchende Form iſt die, daß
dem Urtheil die Gründe in Geſtalt
einer beſonderen Abhandlung, eines
Gutachtens, beigegeben werden.
Vgl. Danz Prozeß, Anhang S. 67.
Brinkmann richterliche Urtheils-
gründe S. 91.
24*
|0390 : 372|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Schriftſtücken als eine ſchwankende und zufällige erſcheint.
Dieſe innere Verſchiedenheit hat auch ihren Grund nicht
blos in den Gewohnheiten verſchiedener Gerichte, ſondern
die eigenthümliche Beſchaffenheit jeder einzelnen Rechtsſtrei-
tigkeit führt dahin, daß daſſelbe Gericht nicht überall die-
ſelbe Gränze beobachtet, indem bei einfachen Sachen die
vollſtändige Aufnahme der objectiven Gründe in das Urtheil
ſelbſt ſehr leicht ſeyn kann (b), die bei verwickelten Sachen
vielleicht große Schwierigkeit mit ſich führen wird.
Die größte Verſchiedenheit aber findet ſich darin, daß
manche Gerichte überhaupt gar keine Gründe aufſtellen, ſo
daß die oben aufgeſtellte Behauptung, ſelbſt wenn ſie außer-
dem wahr und unbedenklich wäre, wenigſtens zu einem all-
gemein durchgreifenden Princip nicht geeignet ſeyn würde (c).
Nach dieſen Erwägungen müſſen wir die oben aufge-
ſtellte Behauptung gänzlich verwerfen, und dagegen den
Grundſatz aufſtellen:
Rechtskräftig werden die objectiven Gründe, und dieſe
(b) So z. B., wenn in einer
Eigenthumsklage lediglich über das
Daſeyn des Eigenthums geſtritten,
und dann der Beklagte verurtheilt
wird, ſo kann das Urtheil ſelbſt
ſehr leicht das Eigenthum aus-
ſprechen, und daran die Verpflich-
tung des Beklagten zur Heraus-
gabe der Sache (vielleicht auch der
Früchte u. ſ. w.) unmittelbar an-
knüpfen. Eben ſo, wenn dieſelbe
Klage blos wegen des dem Be-
klagten fehlenden Beſitzes abge-
wieſen wird, iſt es leicht, der Ab-
weiſung dieſen einzigen Grund un-
mittelbar beizufügen.
(c) In Preußen haben ſchon
längſt die meiſten Gerichte Urtheils-
gründe abgefaßt und den Parteien
mitgetheilt, bei dem Geheimen
Ober-Tribunal aber erfolgt dieſe
Mittheilung erſt ſeit der Kabinets-
ordre vom 19. Juli 1832 (S. 192
der Geſetzſammlung von 1832).
|0391 : 373|
§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)
müſſen wir aufſuchen, wo ſie auch zu finden ſeyn
mögen.
Wir haben ſie alſo erſtens aufzuſuchen in dem Urtheil
ſelbſt, ſo weit ſie in demſelben ausgeſprochen ſind. —
Zweitens in den beſonders abgefaßten Urtheilsgründen;
hier aber kommt es darauf an, nach inneren Merkmalen
die objectiven Gründe, welche allein der Rechtskraft empfäng-
lich ſind, von dem übrigen Inhalt genau auszuſcheiden. —
Drittens müſſen wir, wenn jene Erkenntnißquellen nicht
ausreichen (d), die geſammten Verhandlungen des Rechts-
ſtreites zu Hülfe nehmen, wobei die Klageſchrift die erſte
Stelle einnimmt. — Endlich ſind viertens außer dieſen
geſchriebenen Quellen, aber in gleichem Werthe mit dieſen,
manche allgemeinere Erwägungen zu benutzen, von welchen
am Schluß des gegenwärtigen §. noch beſonders die Rede
ſeyn wird.
In Folge dieſer Überſicht über die wahren Quellen
für die Erkenntniß des Umfangs der Rechtskraft läßt ſich
fragen, welche Einrichtungen bei Abfaſſung der Urtheile
räthlich ſeyn möchten, um den unzweifelhaften Zweck der
Rechtskraft möglichſt ſicher zu ſtellen.
Am beſten würde dieſer Zweck erreicht werden, wenn
es möglich wäre, ſchon in das Urtheil ſelbſt die Geſammt-
heit der objectiven Gründe aufzunehmen, ſo daß ſchon das
Urtheil allein hinreichen würde, den Umfang der Rechts-
(d) Dahin gehören alle Urtheile derjenigen Gerichte, die überhaupt
keine Urtheilsgründe aufzuſtellen pflegen.
|0392 : 374|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
kraft vollſtändig zu überſehen; die abgeſonderten Urtheils-
gründe würden dann nur dazu dienen, das Urtheil zu
erläutern, und die Ueberzeugung des Richters auch in
Anderen zu erwecken. Da aber dieſe Einrichtung bei ver-
wickelten Sachen in aller Strenge kaum durchzuführen
ſeyn möchte, ſo läßt ſie ſich nur annäherungsweiſe als
wünſchenswerthes Ziel aufſtellen.
Dagegen iſt es unter allen Umſtänden ſowohl möglich,
als räthlich, in den beſonders abgefaßten Urtheilsgründen
alle diejenigen Stücke, welche die Natur von objectiven
Gründen haben, und daher nach der Abſicht des Richters
rechtskräftig werden ſollen, als ſolche beſtimmt anzugeben,
damit über dieſen Punkt kein Zweifel entſtehen könne.
Zur Beſtätigung der hier aufgeſtellten Behauptungen
wird es dienen, wenn wir uns klar zu machen ſuchen,
aus welchen Quellen die Römer in jedem Rechtsſtreit den
Umfang der Rechtskraft feſtzuſtellen ſuchten, da bei ihnen
die äußeren Formen des Verfahrens mit den unſrigen
durchaus keine Aehnlichkeit hatten, und doch derſelbe Zweck,
wie von uns, erreicht werden mußte.
Über die ſpätere Zeit des Römiſchen Rechts fehlt es
uns hierin gänzlich an Nachrichten; für die Zeit des For-
mularprozeſſes aber glaube ich darüber ziemlich ſichere
Auskunft geben zu können.
Im Formularprozeß wurde der Umfang der Rechtskraft,
d. h. der objectiven Gründe, die als Beſtandtheile des
|0393 : 375|
§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)
Urtheils anzuſehen ſeyn ſollten, zunächſt erkannt aus der
Intentio und der dieſelbe ergänzenden Demonstratio. Wo
aber dieſe Erkenntnißmittel nicht ausreichten, wurden auch
wohl in das Urtheil ſelbſt ausgeſprochene objective Gründe
mit aufgenommen. Einige Beiſpiele werden dieſe Behaup-
tungen ſowohl erläutern, als beſtätigen.
Manche Klagen, wie z. B. die depositi actio, hatten
eine zwiefache Formel: in jus und in factum. Bei jener
wurde der Inhalt des Rechtsſtreits aus der Demonstratio
erkannt, bei dieſer aus der Intentio (e), und ſo konnten
dieſe verſchiedenen Theile der Formel unmittelbar dazu dienen,
den Inhalt und Umfang des in die Rechtskraft überge-
gangenen Urtheils zu erkennen.
Beiſpiele anderer Art aber, worin die formula nicht
ausreichte, ſondern andere Umſtände hinzugenommen werden
mußten, um die Rechtskraft zu beſtimmen, ſind folgende.
Wenn die Eigenthumsklage per sponsionem angeſtellt
wurde, ſo lautete die formula ganz einfach ſo: Si paret,
N. Negidium A. Agerio sestertios XXV. nummos dare
oportere. Dieſe 25 Seſterze aber ſollten gar nicht bezahlt
werden, ſondern die Abſicht ging dahin, ein rechtskräftiges
Anerkenntniß des Eigenthums zu erlangen. Dieſe Abſicht
wurde nur dadurch erreicht, daß man auf den Grund der
Entſcheidung zurückging, nämlich auf die, in der Formel
nicht ausgedrückte, vorhergegangene Stipulation, worin der
(e) Gajus IV. § 47.
|0394 : 376|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Beklagte dem Kläger 25 Seſterze unter der Bedingung,
daß der Kläger Eigenthümer wäre, verſprochen hatte (f).
Der Beſitz des Beklagten als Bedingung der petitoria
formula wurde in der Intentio gar nicht erwähnt, ſondern
lediglich officio judicis geprüft und im Urtheil beachtet (g).
Wenn daher wegen des Mangels dieſes Beſitzes die Klage
abgewieſen wurde, ſo konnte dieſer Grund der Entſchei-
dung nicht aus der Vergleichung des Urtheils mit der
formula erkannt werden. Daher pflegte dieſer Grund der
Entſcheidung, wie es mehrere Stellen der Römiſchen Ju-
riſten geradezu erwähnen, in dem Urtheil ſelbſt ausgedrückt
zu werden (h).
Auch noch in mehreren anderen Stellen werden Urtheile
erwähnt, in welchen Entſcheidungsgründe unmittelbar aus-
gedrückt ſind (i). Schwerlich iſt hierüber ein ganz gleich-
förmiges Verfahren in allen Urtheilen beobachtet worden.
(f) Gajus IV. § 93. 94. —
In der Behandlung dieſes Falles
liegt zugleich einer der vollſtändig-
ſten Beweiſe der oben aufgeſtellten
Behauptung, daß überhaupt im
Römiſchen Recht die Rechtskraft
auch auf die Gründe der Entſchei-
dung bezogen worden iſt. Vgl.
oben § 291. h. — Eben weil in
dem Fall der certi condictio aus
einer Geldſtipulation die bloße In-
tentio keinen Aufſchluß über die
Natur und den Grund des An-
ſpruchs gab, ſo mußte bei dieſer
Klage neben der actio auch die
vollſtändige stipulatio edirtwerden.
L. 1 § 4 de edendo (2. 13).
(g) L. 9 de rei vind. (6. 1).
(h) Vgl. oben § 291. f. i.
(i) L. 1 § 1 quae sent. sine
app. (49. 8). (Macer) „Item si
calculi error in sententia esse
dicatur, appellare necesse non
est: veluti si judex ita pro-
nuntiaverit: Cum constet, Titium
Sejo ex illa specie quinquaginta,
item ex illa specie viginti quin-
que debere; idcirco Lucium Ti-
tium Sejo centum condemno.
Nam quoniam error computa-
|0395 : 377|
§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)
Es iſt oben geſagt worden, daß es außer den, hier an-
gegebenen, geſchriebenen Quellen auch noch manche allge-
meinere Erwägungen gebe (gleichſam unſichtbare Erkennt-
nißquellen), welche bei Beſtimmung des Umfangs der
Rechtskraft benutzt werden müßten.
Dieſe Erkenntnißquellen können in zwei entgegengeſetzten
Richtungen beſtimmend einwirken: Einige, indem ſie als
ſtillſchweigende Zuſätze zu dem Urtheil hinzugedacht werden
müſſen; Andere, indem ſie diejenigen Ausſprüche, die ihrer
Form nach, und nach der Abſicht des Richters, zu dem
Urtheil gehören, und alſo der Rechtskraft theilhaftig zu
ſeyn ſcheinen, ganz, oder theilweiſe entkräften. — Es ge-
hören dahin folgende Fälle:
I. Jede Verurtheilung ſchließt in ſich die Freiſprechung
von allen weiter gehenden Anſprüchen aus dem ſtreitig
gewordenen und abgeurtheilten Rechtsverhältniß; jede Frei-
ſprechung geht nicht blos auf das von dem Kläger gefor-
derte Ganze, ſondern auch auf jeden denkbaren Theil dieſes
Ganzen (§ 286).
Dieſe, in ihren praktiſchen Folgen ungemein wichtigen
Sätze, die niemals in dem Urtheil ausgedrückt zu werden
pflegen, ſind ſtets als ſtillſchweigende Beſtandtheile des
tionis est, nec appellare ne-
cesse est, et citra provocatio-
nem corrigitur.“ — Eben ſo in
dem anderen Fall, welcher in dem
§ 2 derſelben Stelle als Beiſpiel
einer Entſcheidung mit Gründen
aufgeſtellt wird. Desgleichen auch
in L. 2 C. quando provocare
(7. 64).
|0396 : 378|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Urtheils anzuſehen, die eben ſo rechtskräftig werden, wie
der ausgeſprochene Theil deſſelben.
II. In jedem Urtheil iſt ſtillſchweigend hinzuzudenken
eine gewiſſe Zeitbeſtimmung. Die Anerkennung, oder Ver-
neinung eines Rechts in der Perſon des Klägers ſoll als
Wahrheit gelten, und wird rechtskräftig nur für den
Zeitpunkt, in welchem das Urtheil geſprochen
wird.
Der Richter ſpricht alſo Etwas aus nur in Beziehung
auf den gegenwärtigen Zeitpunkt; er läßt nothwendig un-
berührt alle in die Zukunft fallenden Veränderungen, und
die Rechtskraft des Urtheils bleibt ohne Einwirkung auf
jeden Rechtsſtreit, welcher auf der Behauptung von That-
ſachen beruht, die erſt nach dem Urtheil eingetreten ſeyn
ſollen.
Dieſer Satz, der in ſeinen einzelnen Anwendungen nie-
mals bezweifelt worden iſt (k), findet gerade hier ſeine
wahre Begründung. Er beruht nämlich darauf, daß die
eben erwähnte Zeitbeſtimmung als ſtillſchweigender Zuſatz
in das Urtheil hinein zu denken iſt. Daraus folgt, daß
eine künftige, auf ſpätere Thatſachen gegründete Klage mit
dem früheren Urtheil gar nicht im Widerſpruch ſteht (l).
(k) Er kommt vor bei der causa
superveniens, ſ. u. § 300.
(l) Die angegebene Regel iſt
hier abgeleitet worden aus dem
richtig verſtandenen Inhalt des
Urtheils, alſo aus der Natur der
Einrede der Rechtskraft in ihrer
poſitiven Function. Dieſelbe Regel
wurde auch anerkannt, nur aus
anderen Gründen, bei der Einrede
in ihrer älteren Geſtalt (der nega-
tiven Function). Hier beruhte ſie
|0397 : 379|
§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)
III. Die bisher abgehandelten Fälle führten dahin, daß
dem wörtlich ausgeſprochenen Urtheil aus allgemeinen Er-
wägungen ſtillſchweigende Zuſätze beigegeben wurden, die
an der Rechtskraft Theil nehmen ſollten. Es giebt aber
auch Fälle, in welchen umgekehrt Dasjenige, welches durch
ſeine Form und durch die Abſicht des Richters rechtskräftig
werden ſollte, von der Rechtskraft ausgeſchloſſen blei-
ben muß.
Dahin gehört, richtig aufgefaßt und begränzt, der Fall
des Rechnungsfehlers. Wenn nämlich das Urtheil
ſelbſt eine Rechnung aufſtellt und aus dieſer die Summe
der Verurtheilung ableitet, die Rechnung aber falſch iſt, ſo
ſteht die ausgeſprochene Summe mit den mathematiſchen
Denkgeſetzen im Widerſpruch. Die Folge iſt die, daß die
Beſtandtheile der Rechnung als wahr und rechtskräftig
angenommen werden, die Summe ſelbſt aber berichtigt
werden kann und muß, und zwar ohne Appellation oder
irgend ein anderes Rechtsmittel, ohne neues Urtheil, ſowohl
von demſelben Richter, der das Urtheil geſprochen hat, als
auch von jedem anderen Richter, der mit dieſer Sache zu
thun bekommt (m). Der Fall, welcher von dem alten Juriſten
darauf, daß die ſpäter angeſtellte
Klage auf alia res ging, alſo mit
der früher in judicium deducirten
und dadurch conſumirten Klage
nicht identiſch war. Keller
S. 292.
(m) L. 1 § 1 quae sent. (49. 8),
oben in der Note i. abgedruckt. —
Vgl. Gönner B. 3 S. 203.
Linde Handbuch § 13. — Alle
anderen Irrthümer des Urtheils
darf der urtheilende Richter ſelbſt
durchaus nicht verbeſſern, nachdem
das Urtheil einmal ausgeſprochen
iſt. L. 42, L. 45 § 1, L. 55 de
re jud. (42. 1). Nur eine Er-
|0398 : 380|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
angeführt wird, bezieht ſich auf ein Urtheil von folgendem
Inhalt: „Da der Beklagte aus Einem Rechtsgrund 50 ſchuldig
„iſt, aus einem andern Rechtsgrund 25, ſo verurtheile ich
„ihn zu 100.“ Hier ſoll nicht etwa (wie man glauben
könnte) das ganze Urtheil nichtig ſeyn, ſondern es ſoll nur
die Rechnung berichtigt werden (citra provocationem cor-
rigitur), d. h. es ſoll ſo angeſehen werden, als wenn zu
75 verurtheilt wäre. Nach den oben aufgeſtellten Grund-
ſätzen aber kann es kein Bedenken haben, daſſelbe Verfahren
anzuwenden, ohne Unterſchied, ob jene Rechnung in dem
Urtheil ſelbſt (wie in jener Digeſtenſtelle), oder in den ab-
geſondert beigefügten Urtheilsgründen aufgeſtellt iſt.
Mit dieſem Fall des Rechnungsfehlers läßt ſich noch
der andere (ſchwerlich je vorkommende) Fall vergleichen,
wenn irgend ein Stück des Urtheils nach Naturgeſetzen
unmöglich iſt (n), da dieſe denſelben Anſpruch auf unbedingte
Anerkennung haben, wie die Geſetze der Mathematik, ſo
daß in beiden Fällen eine eigentlich juriſtiſche Prüfung
und Berichtigung des Urtheils als gleich überflüſſig er-
ſcheint.
Dagegen haben eine ganz verſchiedene Natur einige
gänzung des Urtheils ſoll ihm ge-
ſtattet ſeyn, wenn ſie noch an
demſelben Tage hinzugefügt wird.
L. 42 cit.
(n) L. 3 pr. § 1 quae sent. (49. 8)
„Paulus respondit, impossibile
praeceptum judicis nullius esse
momenti. — Idem respondit,
ab ea sententia, cui pareri re-
rum natura non potuit, sine
causa appellari.“ — Über den,
auch in manchen anderen Rechts-
inſtituten wahrzunehmenden Ein-
fluß der auf Naturgeſetzen beru-
henden Nothwendigkeit oder Un-
möglichkeit vgl. oben B. 3 § 121 fg.
|0399 : 381|
§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)
andere Fälle, die mit dem eben dargeſtellten Fall des im
Urtheil enthaltenen Rechnungsfehlers mehr oder weniger
verwandt ſind, und daher irrigerweiſe von manchen Schrift-
ſtellern auf gleiche Linie geſtellt werden.
Ein Rechnungsfehler nämlich kann auch außer einem
Rechtsſtreit, in Rechtsgeſchäften verſchiedener Art vorkom-
men, und dann zu einer Anfechtung des Geſchäfts Anlaß
geben. Wenn z. B. eine aus mehreren Poſten beſtehende
Kaufmannsrechnung falſch ſummirt wird, und deshalb der
Käufer mehr bezahlt, als er ſchuldig iſt, ſo kann er die
Überzahlung mit einer condictio indebiti zurückfordern.
Bei dieſem Rechtsſtreit kann ein Vergleich, ſo wie ein
rechtskräftiges Urtheil vorkommen (o); aber alle dieſe Fol-
gen, die ſich an einen urſprünglich außergerichtlichen Rech-
nungsfehler anknüpfen, haben mit der oben aufgeſtellten
Regel von dem im Urtheil enthaltenen Rechnungsfehler
Nichts gemein. — Ferner kann der Rechnungsfehler zwar
einem Urtheil zum Grunde liegen, jedoch ſo, daß er nicht
(o) Von einem Fall ſolcher Art
handelt L. un. C. de err. cal-
culi (2. 5). Zweifelhaft iſt die Be-
deutung von Paulus V. 5 A. § 11.
„Ratio calculi saepius se pa-
titur supputari, atque ideo
potest quocunque tempore re-
tractari, si non longo tempore
evanescat.“ Die Anfangsworte
ſind ganz ähnlich gefaßt, wie die
angeführte Stelle des Codex („unde
rationes etiam saepe computa-
tas denuo tractari posse“), und
können daher gleichfalls auf außer-
gerichtliche Rechtsgeſchäfte bezogen
werden. Aber die Worte quocun-
que tempore retractari ſcheinen
die Nothwendigkeit der zu beob-
achtenden Appellationsfriſt vernei-
nen zu wollen, und dann müßte
Paulus den Fall des im Ur-
theil enthaltenen Rechnungsfehlers
(Note i.) vor Augen gehabt haben.
|0400 : 382|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
aus dem Urtheil ſelbſt erhellt, ſondern erſt von uns hinter-
her als Anfechtungsgrund geltend gemacht wird, indem wir
eine andere Rechnung aufſtellen, als die, welche den Rich-
ter, nach unſrer Vorausſetzung, zu ſeiner Entſcheidung be-
ſtimmt hat. Dieſes iſt der Gegenſtand einer gewöhnlichen
Anfechtung des Urtheils durch Appellation (p), und hat
wiederum mit jener Regel Nichts gemein. Es müſſen da-
her die verſchiedenen Beziehungen, in welchen ein Rech-
nungsfehler vorkommen und Einfluß haben kann, genau
unterſchieden werden.
In unmittelbarer Verbindung mit der Regel, nach
welcher der Rechnungsfehler niemals in Rechtskraft über-
gehen kann (Note i.), wird von Macer die andere Regel
aufgeſtellt, daß es auch dann gegen ein Urtheil keiner Appel-
lation bedürfe, wenn darin der Inhalt einer Kaiſerconſti-
tution verletzt werde (q). Man möchte dadurch verleitet
werden, dieſen Fall mit dem Fall des Rechnungsfehlers
auf gleiche Linie zu ſtellen, woraus wieder folgen würde,
(p) Darauf iſt zu beziehen
L. 2 C. de re jud. (7. 52.) „Res
judicatae si sub praetextu com-
putationis instaurentur, nullus
erit litium finis,“ welche Stelle,
ſo verſtanden, mit L. 1 § 1 quae
sent. (Note i.) nicht im Wider-
ſpruch ſteht, da ſie von einem ganz
anderen Falle ſpricht. Das ganze
Gewicht liegt auf den Worten sub
praetextu. In dem, von Macer
in der angeführten Digeſtenſtelle
aufgeſtellten Falle konnte von einem
praetextus nicht die Rede ſeyn,
da der bloße Augenſchein entſchied.
(q) L. 1 § 2 quae sent. (49. 8).
Vgl. L. 27. 32 de re jud. (42. 1),
L. 19 de appell. (49. 1), woraus
zugleich erhellt, daß die Verletzung
einer Lex, oder eines Senatuscon-
ſults hierin auf gleicher Linie ſtand
mit der Verletzung einer Kaiſer-
conſtitution.
|0401 : 383|
§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)
daß auch der fehlende Richter ſelbſt ſeinen Irrthum (ähn-
lich einem bloßen Schreibfehler) wieder verbeſſern könne.
Dieſe Meinung würde jedoch ganz irrig ſeyn, und beide
Fälle haben eine verſchiedene Natur. Die in einem Urtheil
enthaltene Geſetzverletzung kann nur durch ein Rechtsmittel
gegen das Urtheil berichtigt werden, und iſt nur dadurch
von anderen, in einem Urtheil vorkommenden Fehlern ver-
ſchieden, daß die Anfechtung nicht den beſchränkenden Re-
geln und Formen der Appellation unterworfen iſt. Der
innere Unterſchied des Rechnungsfehlers von der Geſetz-
verletzung liegt darin, daß der Rechnungsfehler von Jedem,
der nur darauf aufmerkſam gemacht wird, unfehlbar aner-
kannt werden muß; bei der angeblichen Geſetzverletzung
aber kommt es erſt auf eine, oft nicht unzweifelhafte, Prü-
fung des Inhalts des Geſetzes an, ferner auf eine Ver-
gleichung des Geſetzes mit dem Urtheil, insbeſondere auch
auf die Frage, ob der Richter in der That das Geſetz ver-
kannt, oder vielmehr in der Subſumtion der Thatſachen
unter das Geſetz geirrt hat, auf welchen letzten Fall die
Befreiung von den regelmäßigen Bedingungen der Appel-
lation ganz und gar nicht bezogen werden darf (r).
An die ſo eben erwähnte Regel des Römiſchen Rechts
von der Geſetzverletzung in einem Urtheil, deren Anfechtung
nicht unter den gewöhnlichen Regeln und Formen der Ap-
pellation ſtehen ſoll, haben ſich in dem Prozeßrecht neuerer
(r) L. 32 de re jud. (42. 1). L. 1 § 2 quae sent. (49. 8).
|0402 : 384|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Zeiten ſehr wichtige Rechtsinſtitute in mannichfaltiger Ent-
wickelung angeſchloſſen. — Es gehört dahin die Lehre des
gemeinen Deutſchen Prozeſſes von der Nichtigkeit des Ur-
theils wegen des verletzten jus in thesi (s); ferner im
Franzöſiſchen Prozeſſe das Rechtsmittel der Caſſation;
eben ſo im früheren Preußiſchen Prozeſſe die (dem gemei-
nen Deutſchen Prozeſſe nachgebildete) Nichtigkeitsklage wegen
verletzter klarer Geſetze (t); im neueren Preußiſchen Prozeſſe
die Nichtigkeitsbeſchwerde, welche eine der Franzöſiſchen
Caſſationsbeſchwerde ähnliche Natur hat (u).
Alle dieſe, den neueren Zeiten angehörenden, Rechtsinſti-
tute ſind hier nur beiläufig erwähnt worden, um auf ſie
die gemeinſame Bemerkung zu beziehen, daß ſie lediglich
dem Prozeßrechte angehören, und mit der hier vorliegenden
Lehre von der Rechtskraft keine unmittelbare Berührung
haben, inſofern alſo von den, ſo eben aus dem Römiſchen
Rechte dargeſtellten Folgen des Rechnungsfehlers weſentlich
verſchieden ſind. Es ſind insgeſammt Rechtsmittel gegen
richterliche Urtheile, und inſofern ſind ſie mit der Appellation
gleichartig, obgleich von dieſer in Bedingungen und For-
men mehr, oder weniger verſchieden (v).
(s) Linde Lehrbuch § 419—422.
(t) Allgemeine Gerichtsordnung
Th. 1 Tit. 16 § 2 N. 2.
(u) Geſetz vom 14. Dez. 1833
(Geſetzſammlung 1833 S. 302).
(v) Aehnlich der Römiſchen Be-
handlung des Rechnungsfehlers iſt
die Vorſchrift der Preußiſchen A.
G. O. I. 14. § 1. „Wenn in dem
publicirten Urtel erſter Inſtanz
irgend ein Irrthum in Worten,
Namen, oder Zahlen vorgefallen
… zu ſeyn ſcheint, ſo bedarf es
deshalb keiner Appellation, ſon-
dern … dieſes (das Kollegium)
muß … den vorgefallenen Irr-
thum durch eine … Regiſtratur
abändern laſſen“ u. ſ. w.
|0403 : 385|
§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.
§. 293.
Genauere Beſtimmung des Inhalts. Rechtskraft der
Gründe. Schriftſteller.
Die Unterſuchung über die Rechtskraft der Gründe
würde nicht zu einem befriedigenden Schluß geführt ſeyn,
wenn nicht auch die Meinungen unſrer Schriftſteller über
dieſe Frage überſichtlich dargeſtellt würden. Daß dieſe
Meinungen ſo ſehr unter ſich ſelbſt im Widerſtreit ſind,
muß gerade bei einem Gegenſtand von ſo häufiger prak-
tiſcher Anwendung auffallen, und iſt nur daraus zu erklä-
ren, daß man es verſäumt hat, die Begriffe und die Fra-
gen, worauf es bei dieſem Streit ankommt, zu klarer Ent-
wicklung zu bringen, bevor die Entſcheidung der Fragen
unternommen wurde.
An die Darſtellung der gemeinrechtlichen Literatur ſoll
die Behandlung deſſelben Gegenſtandes im Preußiſchen
Recht angeſchloſſen werden. Dieſes Verfahren würde nicht
zu rechtfertigen ſeyn, wenn das Preußiſche Recht hierin (ſo
wie in den wichtigſten Theilen des eigentlichen Prozeß-
rechts) einen eigenen und neuen Weg eingeſchlagen hätte;
ſo verhält es ſich aber in der That nicht. Praxis und
Literatur geht hier ſtets aus von wenigen, allerdings nicht
erſchöpfenden, Geſetzſtellen. Bei deren Abfaſſung aber lag
augenſcheinlich nicht die Abſicht zum Grunde, die Lehre
von der Rechtskraft auf einem neu erfundenen Grunde zu
erbauen, welche Abſicht ſchon durch die Kürze und Unvoll-
VI. 25
|0404 : 386|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſtändigkeit dieſer Stellen widerlegt wird. Vielmehr ſollte
nur mit wenigen Worten die Befolgung derjenigen Regeln
über die Rechtskraft angeordnet werden, deren Kenntniß
und Übung bei allen damals vorhandenen Richtern aus
dem gemeinen Recht vorausgeſetzt werden konnte.
Um aber die folgende literariſche Darſtellung verſtänd-
licher zu machen, iſt es nöthig, zwei Geſichtspunkte hervor
zu heben, welche möglicherweiſe ſowohl von der Geſetz-
gebung, als von der Wiſſenſchaft und der Praxis in der
Lehre von der Rechtskraft aufgefaßt werden können, und
welche großentheils zu entgegengeſetzten Zielen führen. Da-
bei muß an die ſchon oben (§ 291) gemachte Bemerkung
erinnert werden, daß die Rechtskraft unzertrennlich ver-
bunden iſt mit der Möglichkeit und dem Bedürfniß der
Appellation; was rechtskräftig zu werden fähig und be-
ſtimmt iſt, kann und muß, damit es nicht rechtskräftig
werde, durch Appellation angefochten werden, und umge-
kehrt: was nicht rechtskräftig wird, braucht und ſoll nicht
Gegenſtand einer Appellation ſeyn.
Der eine Geſichtspunkt nun, den man in der Lehre
von der Rechtskraft vorzugsweiſe verfolgen kann, iſt die
Befriedigung des augenblicklichen Bedürfniſſes. Es ſoll ſo
leicht und ſo ſchnell, als möglich, auf die letzte Entſcheidung
des jetzt vorliegenden praktiſchen Streites hingewirkt
werden. Kann dieſe Entſcheidung auch bei künftigen
Streitigkeiten helfen, ſo iſt es gut; für dieſen untergeord-
neten Gegenſtand aber haben wir wenig zu ſorgen.
|0405 : 387|
§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.
Der entgegengeſetzte Geſichtspunkt iſt die Feſtſtellung aller,
unter den Parteien ſtreitig gewordenen und bis zur Spruch-
reife verhandelten, Rechtsverhältniſſe für alle Zukunft. So
weit dabei die Entſcheidung des zunächſt vorliegenden, unmit-
telbar praktiſchen Streites erleichtert und beſchleunigt werden
kann, muß es geſchehen; nur darf durch die Verfolgung
dieſes untergeordneten Zweckes das angegebene eigentliche
Ziel nicht gefährdet werden (a).
Dieſer zweite Geſichtspunkt iſt unzweifelhaft der der
Römiſchen Juriſten. Dafür zeugt ihre gründliche Aus-
bildung der Lehre von der Rechtskraft, deren Darſtellung
die Aufgabe der vorliegenden Abhandlung iſt.
Der erſte Geſichtspunkt iſt nicht ſelten in neuerer Zeit
von Schriftſtellern und Gerichten auf einſeitige Weiſe ver-
folgt worden, und in dieſem Gegenſatz iſt wohl der Haupt-
grund der ſtarken Meinungsverſchiedenheiten in dieſer Lehre
zu ſuchen.
Die Meinungen der Schriftſteller laſſen ſich auf drei
Klaſſen zurück führen.
(a) Es darf freilich dieſe Be-
hauptung nicht dahin übertrieben
werden, als ob das Urtheil nie
früher geſprochen werden dürfte,
als bis alle ſtreitig gewordenen
Fragen ſpruchreif geworden wären,
welchem möglichen Mißverſtänd-
niß ſchon oben vorgebeugt worden
iſt (S. 360). Nur was wirklich
ſpruchreif geworden iſt (oder in
naher Zeit gemacht werden kann),
ſoll durch das Urtheil ſo feſtge-
ſtellt werden, daß dieſe Feſtſtellung
für alle Zukunft ſicheres Recht
bilden könne.
25*
|0406 : 388|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
I. Die meiſten verneinen die Rechtskraft der Gründe
unbedingt, ſelbſt ohne für den Fall eine Ausnahme vorzu-
behalten, wenn die Gründe mit der Urtheilsformel ſelbſt
verwebt ſind (b). Dahin ſind auch diejenigen zu rechnen,
welche den Gründen nur inſofern einen Werth beilegen,
als dadurch vielleicht ein zufällig undeutliches Urtheil er-
klärt werden kann (c); denn auch in dieſer Meinung wird
die wahre Bedeutung der Gründe, und das innere Ver-
hältniß derſelben zu dem Urtheil ſelbſt, völlig verkannt.
II. Einige Schriftſteller nehmen die Rechtskraft der
Gründe an, wenn ſie in das Urtheil eingerückt ſind, nicht,
wenn ſie blos in einem abgeſonderten Aufſatz ſtehen. Sie
tadeln aber eben deshalb die Einrückung in das Urtheil,
halten es alſo für einen Nachtheil, wenn die Gründe
rechtskräftig werden. Dieſe Meinung hatte früher
Wernher, und ſie iſt nachher von Claproth ange-
nommen worden (d). — Später änderte Wernher ſeine
Meinung dahin, daß auch die abgeſonderten Gründe
rechtskräftig werden, inſofern ſie der Richter zugleich mit
dem Urtheil den Parteien publicire. Eben deshalb aber
tadelt er nun auch dieſes Verfahren, und findet es beſſer,
ſie nicht zu publiciren (e).
(b) Berger oecon. forensis
Lib. 4 T. 22 Th. 4 Not. 6. —
Hymmen Beiträge B. 6 S. 102
N. 45. — Martin Prozeß § 113
Note d. — Linde Lehrbuch § 381
Note 5.
(c) Cocceji jus controv. XLII.
1 Qu. 8 Pufendorf Obs. I. 155.
(d) Wernher Obs. T. 1 P. 4
Obs. 172. — Claproth ordentl.
Prozeß Th. 2 § 210.
(e) Wernher Obs. T. 3 P. 3
Obs. 97 N. 24 — 32.
|0407 : 389|
§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.
Dieſe ganze Meinung, und insbeſondere die War-
nung gegen Publication der Gründe, hangt augenſcheinlich
zuſammen mit der oben erwähnten Auffaſſung, nach welcher
das ganze Streben auf die ſchnelle Beſeitigung des augen-
blicklichen Bedürfniſſes und auf die Verminderung der
Rechtsmittel, nicht auf die bleibende Feſtſtellung ſtreitiger
Rechtsverhältniſſe für die Zukunft, gerichtet ſeyn ſoll. Das-
ſelbe Motiv liegt auch der erſten Meinung zum Grunde,
durch welche die Rechtskraft der Gründe überhaupt, und
ohne Rückſicht auf äußere Form und Stellung, ver-
neint wird.
III. Bei einer dritten Klaſſe von Schriftſtellern endlich
wird der innere Zuſammenhang der Gründe mit dem In-
halt des Urtheils, und daher die Theilnahme der Gründe
an der Rechtskraft, richtig anerkannt, ohne Unterſchied, in
welcher Form die Gründe ausgeſprochen, und an welcher
Stelle dieſelben angebracht ſind.
Der erſte Schriftſteller neuerer Zeiten, bei welchem
ich dieſe freiere Anſicht finde, iſt J. H. Böhmer. Er
nennt die Gründe weſentliche Beſtandtheile des Urtheils,
die Seele des Urtheils, die Ergänzung des richterlichen
Gedankens, und ſchreibt ihnen daher dieſelbe Kraft, wie
dem Urtheil ſelbſt, zu (f).
(f) Böhmer exercit. ad Pand.
T. 5 p. 534 § 18: „Equidem
rationes decidendi virtualiter
sententiae inesse creduntur,
cum contineant fundamenta,
quibus judex motus sententiam
eo, quo factum est, modo
tulit, adeoque eandem vim cum
ipsa sententia habere videntur,
utpote cujus anima et quasi
|0408 : 390|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Zu den Schriftſtellern dieſer Klaſſe gehört ferner
Bayer, der ſich ausdrücklich dahin erklärt, daß es bei der
Rechtskraft nicht darauf ankomme, an welchem Orte (in
der Urtheilsformel, oder in den Entſcheidungsgründen) ein
Ausſpruch des Richters ſtehe, und daß jede Entſcheidung
irgend eines, in dem vorhergehenden Verfahren beſtrittenen
Hauptpunktes rechtskräftig werde (g). Eben ſo gehört dahin
auch Wächter, der die Streitfrage über die Rechtskraft
der Gründe zwar nicht als ſolche behandelt, wohl aber
die Grundſätze des Römiſchen Rechts über die Rechtskraft
ſo darſtellt, wie es nur unter Vorausſetzung einer richtigen
Entſcheidung jener Streitfrage möglich iſt (h).
Noch beſtimmter aber und ausführlicher ſprechen ſich
über dieſen Punkt zwei neuere Schriftſteller aus, deren
geſchichtliche Auffaſſung der Lehre von der Rechtskraft von
einer anderen Seite her oben bekämpft werden mußte,
Kierulff und Buchka. Der erſte behauptet ganz
richtig (i), „daß das richterliche Urtheil nach ſeinem Geiſt
und nicht nach dem bloßen Wortinhalt behandelt werden
nervus sunt.“ (Wörtlich gleich-
lautend mit Jus eccl. Prot. Lib. 2
T. 27 § 14). — Weiterhin ver-
neint er die Rechtskraft derjenigen
Stücke der Entſcheidungsgründe,
worin der Richter zur bloßen Er-
läuterung fremdartige Erwägungen
mit einmiſcht, z. B. Betrachtungen
über die Lage des Eigenthums bei
Gelegenheit der Entſcheidung über
eine Beſitzklage. Gewiß mit Recht,
da ſolche Betrachtungen zu den
blos ſubjectiven Gründen gehören
(§ 291. e).
(g) Bayer Civilprozeß S. 184
Ausg. 4.
(h) Wächter Handbuch des
in Württemberg geltenden Privat-
rechts B. 2 § 73.
(i) Kierulff S. 250. 254.
256. 260. Vgl. oben § 283
S. 282.
|0409 : 391|
§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.
darf.“ Ferner: „Was man gewöhnlich Entſcheidungsgründe nennt,
iſt eben der wahre concrete Inhalt, und die Condemnation, oder
Abſolution ſind nur der Ausſpruch des, aus ihm gefolgerten, recht-
lichen Reſultats. Was entſchieden iſt, weiß man wahrhaft nur,
wenn man jene ſogenannten Gründe kennt, und die gewöhnlich
ſogenannte Entſcheidung ſelbſt giebt davon nur eine oberflächliche
andeutende Kunde.“ Damit iſt die Sache ſelbſt ſo richtig be-
zeichnet, daß ſich von dieſem Standpunkt aus jede einzelne Frage
über die Rechtskraft der Gründe befriedigend beantworten läßt.
Allein derſelbe Schriftſteller verknüpft mit dieſer richtigen Auf-
faſſung der Sache ſelbſt eine ganz irrige geſchichtliche Behauptung,
indem er annimmt, dieſe richtige Einſicht ſey erſt die Frucht der,
im heutigen Recht völlig zur Herrſchaft gelangten aequitas, das
Römiſche Recht habe dieſe Lehre noch nicht anerkannt. Dieſe Auf-
faſſung hängt zuſammen, ſie ſteht und fällt, mit der oben wider-
legten Behauptung, daß die Römer bis in ihre neueſte Geſetz-
gebung unter der Herrſchaft des Conſumtionsprinzips gebunden
geweſen ſeyen, alſo niemals die Handhabung des Inhalts des
Urtheils, vermittelſt der poſitiven Function der exceptio rei judi-
catae, als wahre Aufgabe der Rechtskraft rein und vollſtändig
durchgeführt hätten (§ 283). Die Widerlegung dieſer Anſicht
iſt ſchon oben verſucht worden, ſie iſt aber jetzt noch durch folgende
Bemerkung zu ergänzen. Es müßte doch angegeben werden können,
wann und wie die beſſere Einſicht des heutigen Rechts, und zwar
namentlich in Anwendung auf die Rechtskraft der Gründe, ent-
ſtanden ſeyn ſollte. Sie könnte etwa durch ein deutſches Neichs-
geſetz geltend geworden ſeyn; ein ſolches findet ſich nicht. Es
könnten einzelne Schriftſteller eine gründliche Theorie aufgeſtellt,
|0410 : 392|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
und damit allgemeine Anerkennung gefunden haben, im Wider-
ſpruch mit dem Römiſchen Recht; oder es könnte, ohne theoretiſche
Durchführung, blos in der geſunden Praxis, die beſſere Einſicht
allgemein durchgedrungen ſeyn. Aber es iſt ja ſo eben gezeigt
worden, wie ganz mangelhaft, unter einander ſtreitend, und be-
ſonders der richtigen Lehre mehr oder weniger widerſprechend, bis
auf die neueſte Zeit faſt alle Schriftſteller die Rechtskraft der
Gründe behandelt haben; darunter Schriftſteller, die aus der Mitte
der Praxis hervorgegangen ſind, und aus deren Zeugniſſen allein
wir den Stand der Praxis kennen. Vor der unbefangenen Er-
wägung dieſer Thatſachen muß die geſchichtliche Auffaſſung des
erwähnten Schriftſtellers als unmöglich zerfallen, ſelbſt ohne Dar-
legung des wahren Inhalts des Römiſchen Rechts.
Ganz ähnlich iſt die Behandlung dieſer Frage bei Buchka,
der nur noch ausführlicher, und mit mehr Schein der Quellen-
forſchung, auf dieſelbe eingegangen iſt. Die eigene Darſtellung,
die derſelbe von der Rechtskraft der Gründe giebt, iſt befriedigen-
der, als die irgend eines früheren Schriftſtellers (k). Er behauptet,
der Richter müſſe und wolle über Alles entſcheiden, das bis zur
Duplik als Gegenſtand des verhandelten Rechtsſtreites feſtgeſtellt
worden ſey. Der Umfang dieſer zur Rechtskraft beſtimmten Ent-
ſcheidung ſey alſo nicht blos aus der Urtheilsformel, ſondern auch
aus den beigefügten Entſcheidungsgründen zu erkennen. Von
dieſem Grundſatz macht er die richtige Anwendung auf die Rechts-
kraft der Präjudicialpunkte und insbeſondere der legitimatio ad
causam. Von dieſem Allen aber, als der im heutigen Recht
(k) Buchka B. 2 S. 183 —209, beſonders S. 183. 184. 207.
|0411 : 393|
§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.
gewonnenen Einſicht, behauptet er gerade das Gegentheil für den
Standpunkt des Römiſchen Rechts, in welchem, wie er glaubt, die
Rechtskraft nur auf die unmittelbare Entſcheidung ſelbſt, nicht
auf die Gründe, insbeſondere nicht auf die Präjudicialpunkte, ſoll
bezogen worden ſeyn (l). Die Bemerkungen, die ſo eben über die
Auffaſſung von Kierulff gemacht worden ſind, finden auch hier
ihre volle und buchſtäbliche Anwendung.
Wenn man die ſehr aus einander gehenden und oft ſo irrigen
Anſichten der Schriftſteller in dieſer Lehre erwägt, ſo liegt der
Gedanke ſehr nahe, daß nothwendig auch die Praxis hierin von
jeher eine ganz verſchiedene und großentheils irrige geweſen ſeyn
müſſe. Dennoch muß ich die Richtigkeit dieſer Folgerung bezwei-
feln, und vielmehr für wohl möglich halten, daß Mancher unter
den angeführten Schriftſtellern eine beſſere Praxis mit erlebt und
ſelbſt geübt haben mag, als man ihm nach ſeinen Schriften zu-
trauen ſollte. Dieſer Umſtand würde ſich aus der, ſchon im
Anfang des gegenwärtigen §. ausgeſprochenen, Bemerkung erklären,
nach welcher die, in der Lehre von der Rechtskraft herrſchenden,
falſchen Anſichten weniger aus deutlich gedachten, und mit be-
ſtimmtem Bewußtſeyn angenommenen Irrthümern, als aus einem
Mangel an klarer Entwicklung der hier vorkommenden Begriffe
und Fragen entſprungen ſind.
Aus zuverläſſiger Mittheilung kann noch hinzugefügt werden,
(l) Buchka B. 1 S. 290—314,
beſonders S. 301. 305. 308. Die
klarſten Stellen, aus welchen die rich-
tige Auffaſſung der Rechtskraft bei dem
Römiſchen Juriſten hervorgeht, L. 7
§ 4. 5 de exc. r. j. (44. 2) ſucht er
auf gezwungene Weiſe zu entkräften
(S. 296). Die ſcheinbaren Gründe,
die er aus anderen Stellen für ſeine
Behauptung anführt (insbeſondere bei
der Alimentenklage S. 305 und bei
der pignoris capio S. 308) können
erſt weiter unten widerlegt werden
(§ 298).
|0412 : 394|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
daß die Praxis des K. Sächſiſchen Oberappellationsgerichts zu
Dresden mit der hier aufgeſtellten Lehre völlig übereinſtimmt.
Dieſe Übereinſtimmung erhellt aus den nachſtehenden Regeln, die
in dem erwähnten Gerichtshof befolgt werden.
Deciſive Sätze, welche in die Entſcheidungsgründe aufgenom-
men worden ſind, der Sache nach aber die nothwendige Unter-
lage der Entſcheidung (alſo integrirende Theile derſelben) bilden,
erlangen mit der Entſcheidung Rechtskraft.
Sätze, die in den Rationen ausdrücklich zu Motivirung der
Abweiſung aufgeſtellt worden ſind, oder dem Zuſammenhange
nach bei der Entſcheidung ſtillſchweigend vorausgeſetzt ſeyn
müſſen, gehen mit der Entſcheidung ſelbſt in Rechtskraft über.
Wegen der Entſcheidungsgründe kann daher gegen das
Urthel appellirt werden, ſo lange oder ſo weit noch eine
Appellation gegen das Urthel zuläſſig iſt.
§. 294.
Genauere Beſtimmung des Inhalts. Rechtskraft der Gründe.
Preußiſches Recht.
Im Preußiſchen Prozeßrecht iſt die Rechtskraft des Urtheils
in einigen ſo allgemein gefaßten Stellen anerkannt (a), daß dar-
aus die unzweifelhafte Abſicht hervorgeht, nur den Beſtand des
vorgefundenen gemeinen Rechts in dieſe Lehre aufzunehmen, und
ferner gelten zu laſſen.
Was aber insbeſondere die Rechtskraft der Gründe
betrifft, ſo findet ſich eine Geſetzſtelle, welche auf den
(a) A. G. O. Einleitung § 65. 66 und I. 16 § 1.
|0413 : 395|
§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.
erſten Blick dieſe Rechtskraft unbedingt auszuſchließen, und
insbeſondere auch auf den Ort, wo ſich ein richterlicher
Ausſpruch findet, den größten Werth zu legen ſcheint.
Allg. Gerichtsordnung I. 13 § 38. Die Kollegia und
Urtelsfaſſer müſſen ſorgfältig Acht geben, daß überall
die wirkliche Entſcheidung und deren Gründe deutlich
von einander unterſchieden, und nicht etwa, das zu
der erſtern gehört, in die letzteren, noch auch um-
gekehrt, mit eingemiſcht werde, indem bloße Ent-
ſcheidungsgründe niemals die Kraft eines
Urtels haben ſollen (b).
Indeſſen bleibt dabei der Begriff der Gründe noch ganz
unentſchieden, und beſonders läßt der Ausdruck: bloße
Entſcheidungsgründe, dem Gedanken Raum, daß hier ver-
ſchiedene Arten von Gründen als denkbar vorausgeſetzt
(b) Die Materialien zur Allg.
Gerichtsordnung geben über die
Entſtehung und den Sinn dieſer
Stelle gar keinen Aufſchluß. Das
von der Hand von Suarez ge-
ſchriebene Concept (Band 15 fol. 44)
iſt mit dem gedruckten Text wört-
lich gleichlautend. Das gedruckte
Corpus j. Frid. von 1781 Tit. 13
§ 11 ſtimmt eben ſo überein bis
auf Kleinigkeiten (z. B. maaßen
anſtatt indem). Ein früherer Ent-
wurf von der Hand von Suarez
ſtimmt gleichfalls weſentlich über-
ein, nur mit etwas mehr wört-
lichen Verſchiedenheiten, z. B. mit
eingemiſchten lateiniſchen Aus-
drücken, wie diſtinguiret, vice
versa (B. 5 fol. 61; es iſt daſelbſt
Tit. 14). Ein noch älterer Ent-
wurf von Carmer (1775) hat
eine ſolche Beſtimmung noch gar
nicht (B. 2 fol. 75—77; es iſt
daſelbſt das Cap. XVII.). — Eine
ganz ähnliche Bewandniß hat es
mit dem § 36. Dieſer ſteht im
Corpus J. Frid. 1781 Tit. 13
§ 10 und hat gleichfalls nur ge-
ringe Verſchiedenheiten von der
A. G. O. („die bei der Sache
etwa vorkommenden Präliminär-
und Präjudicialfragen“). Der
Entwurf von Suarez B. 5 fol. 61
ſagt: „passus praeliminares et
praejudiciales.“
|0414 : 396|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſein möchten, welches mit der oben aufgeſtellten Lehre
ganz übereinſtimmen würde (c).
Ganz beſonders aber iſt dabei eine kurz vorhergehende
Geſetzſtelle zu berückſichtigen, die bei dem Streit über die
Rechtskraft meiſt überſehen zu werden pflegt.
Die Frage wegen der Rechtskraft der Gründe tritt mit
praktiſcher Wichtigkeit beſonders da hervor, wo neben dem
eigentlichen Klagegrund gewiſſe Präjudicialfragen zu ent-
ſcheiden ſind, wohin insbeſondere die ſogenannten exce-
ptiones litis finitae (z. B. Vergleich), und die ſogenannte
legitimatio ad causam gehören. Für die Behandlung
ſolcher Fälle giebt das Preußiſche Prozeßgeſetz folgende an
ſich zweckmäßige Vorſchrift (d). Wenn die Präjudicial-
frage wahrſcheinlich leicht und ſchnell, die Hauptſache aber
ſchwierig zu entſcheiden iſt, ſo wird zuerſt die Präjudicial-
frage allein inſtruirt und durch ein beſonderes Urtheil ent-
ſchieden; für dieſen Fall kann kein Zweifel an der Rechts-
kraft der Entſcheidung ſeyn. Wenn dagegen beide Fragen
„ungefähr in gleichem Verhältniß ſtehen“, ſo bleibt es bei
der Regel: „Hauptſache und Exception werden zu gleicher
Zeit inſtruirt und abgeurtelt“ (e). Es fragt ſich nun,
wie dieſes Letzte ausgeführt werden ſoll.
Nach der ſtrengen Lehre Derjenigen, welche durchaus
keine Rechtskraft der Gründe aufkommen laſſen wollen,
(c) Schon ein neuerer Schrift-
ſteller hat auf dieſen Ausdruck
aufmerkſam gemacht. Koch Lehr-
buch des Preuß. Rechts B. 1
§ 199
(d) A. G. O. I. 10 § 62—81 b.
(e) A. G. O. I. 10 § 62 c. und
§ 63 verglichen mit § 68. Ganz
eben ſo ſoll es gehalten werden,
wenn die Hauptſache einfach und
leicht, die Exception aber ſchwierig
iſt; außer wenn es in dieſem Fall
|0415 : 397|
§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.
müßte das Urtheil Nichts enthalten, als allein die Verur-
theilung, oder die Freiſprechung; die Überzeugung, die der
Richter über die Präjudicialfragen gewonnen hätte, wäre
für ihn blos ein Beweggrund der Entſcheidung, käme
nicht in das Urtheil, würde nicht rechtskräftig, und wäre
nicht Gegenſtand eines möglichen Rechtsmittels (f). Ge-
ſetzt nun, es fände ſich über dieſe Frage gar keine geſetz-
liche Vorſchrift, ſo müßte es doch für höchſt bedenklich ge-
halten werden, wenn der Umfang der in jedem einzelnen
Rechtsſtreit eintretenden Rechtskraft von ganz zufälligen
Umſtänden abhängig gemacht werden ſollte. Nichts kann
nämlich zufälliger ſeyn, als die dem ſubjectiven Ermeſſen
des Richters überlaſſene Vermuthung, daß eine Präjudicial-
frage leichter, als die Haupſache, entſchieden werden könne.
Wenn der Richter dieſer Vermuthung Raum giebt, wird
über die Präjudicialfrage ein beſonderes Urtheil geſprochen,
das dann unzweifelhaft rechtskräftig wird; ſollte nun wohl
die Rechtskraft blos deswegen nicht eintreten, weil zufällig
der Richter jene Vermuthung nicht gelten läßt, und daher
kein beſonderes Urtheil über die Präjudicialfrage ſpricht?
In der That aber findet ſich über jene Frage, nämlich
über die Behandlung des Falles eines gleichzeitigen Urtheils
über die Präjudicialpunkte und die Hauptſache, folgende
ausführliche Vorſchrift:
gelingt, in der Hauptſache ſo-
gleich eine rechtskräftige Abwei-
ſung zu bewirken, weil dadurch
die Verhandlung über die Ex-
ception ohnehin entbehrlich wird.
§ 64—67.
(f) Daß die Sache in der neue-
ſten Zeit in dieſer buchſtäblichen
Strenge aufgefaßt worden iſt, wird
unten nachgewieſen werden.
|0416 : 398|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Allg. G. O. I. 13 § 36.
In dem Urtel ſelbſt müſſen zuvörderſt die bei der
Sache ſich findenden, vorläufigen und Präjudicial-
fragen, wohin auch die Incidentpunkte gehören, ab-
gemacht, und bei jedem Punkte die Gründe der Ent-
ſcheidung beigefügt; ſodann zur Deciſion der Haupt-
ſache übergegangen; wenn auch dieſe aus mehreren
Punkten beſteht, bei jedem derſelben die Entſcheidung
beſonders feſtgeſetzt, und die Gründe dafür ſofort an-
gehängt werden (vgl. Note b.)
Hier iſt alſo ausdrücklich vorgeſchrieben, daß Aus-
ſprüche, die nicht unmittelbar die augenblickliche Erledigung
des vorliegenden Streites durch Verurtheilung oder Frei-
ſprechung enthalten, die daher nach dem üblichen Ver-
fahren der Gerichte nicht in das Urtheil, ſondern blos in
die Entſcheidungsgründe geſetzt zu werden pflegen, daß dieſe
Ausſprüche dennoch in das Urtheil ſelbſt aufgenommen und
dadurch der Rechtskraft unzweifelhaft unterworfen werden
ſollen.
Ich kann in dieſer Geſetzſtelle nur die beſtimmte Aner-
kennung des oben aufgeſtellten Grundſatzes über die Rechts-
kraft der (objectiven) Gründe des Urtheils finden. Der
einzige Zweifel, den man gegen die Richtigkeit dieſer Aus-
legung des angeführten Geſetzes erheben könnte, möchte
darin beſtehen, daß das Geſetz vielleicht den Ausdruck:
Präjudicialfragen in irgend einem engeren Sinn ge-
nommen hätte. Ich verſtehe darunter alle Fragen über-
haupt, wodurch, unabhängig von dem eigentlichen Klage-
|0417 : 399|
§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.
grund, eine endliche Entſcheidung der ganzen Sache
herbeigeführt werden kann, ſo daß dann eine Prüfung der
Wahrheit, oder Unwahrheit des Klagegrundes unnöthig
wird. Es gehören dahin die ſogenannten exceptiones litis
finitae, aber eben ſo auch die ſogenannten exceptiones litis
ingressum impedientes, ferner die exceptio deficientis
legitimationis ad causam, und andere mehr. Von allen
dieſen wird ausdrücklich geſagt, daß ſie ganz auf gleiche
Weiſe behandelt werden ſollen, und zwar nach dem oben
aufgeſtellten Unterſchied (g). Sind ſie ſchneller, als die
Hauptſache, ſpruchreif zu machen, ſo wird über ſie durch
ein beſonderes Urtheil entſchieden, das alſo jedem mög-
lichen Urtheil über den Klagegrund vorhergeht (h). Stehen
ſie mit der Hauptſache „ungefähr in gleichem Verhältniß“,
ſo werden ſie mit der Hauptſache zugleich abgeurtelt, und
auf die Einrichtung des Urtheils in dieſem Falle geht eben
der oben mitgetheilte § 36, der alſo den Ausdruck: Präju-
dicialfragen, in der größten denkbaren Ausdehnung
nimmt (i).
(g) Über dieſe, nach der Vor-
ſchrift des Geſetzes völlig gleich-
artige Behandlung aller hier auf-
gezählten Fälle laſſen keinen
Zweifel die § 79—81 b. (G. O.
I. 10), verglichen mit § 62—78 b.
(h) Gerade aus dieſem Um-
ſtand, daß über ſolche Fragen ab-
geſondert und vorhergehend
verhandelt und entſchieden wird,
oder doch werden kann, erklärt und
rechtfertigt ſich die allgemeine Be-
zeichnung derſelben als Präju-
dicialfragen.
(i) Im § 81 a. heißt die le-
gitimatio ad causam ein Prä-
judicialpunkt, und das Mar-
ginale: Andere Präjudicial-
punkte bei § 81 b. ſagt deutlich
genug, daß alle vorhergehenden
Fälle als Präjudicialpunkte ange-
ſehen werden, wozu auch der Name
vollkommen paßt. Über den Aus-
druck: Präjudicialfragen oder
|0418 : 400|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wollte man etwa eine Widerlegung dieſer Auslegung
des Geſetzes aus dem Umſtande hernehmen, daß in der
Praxis die Urtheile anders abgefaßt werden, als es nach
dieſer Auslegung des § 36 geſchehen müßte, fo könnte ich
dieſe Widerlegung nicht anerkennen. Ob die Praxis hierin
von dem Geſetz abgewichen iſt, ja ob ſie vielleicht durch
Gründe der Zweckmäßigkeit zu dieſer Abweichung beſtimmt
ſeyn mag, iſt für unſere Frage völlig gleichgültig. Es
kommt dabei lediglich auf den wahren Sinn des Geſetzes
ſelbſt an, und aus dieſem von mir feſtgeſtellten Sinn folgt,
daß unſer Prozeßgeſetz die Rechtskraft der objectiven
Gründe deutlich gedacht und gewollt hat. Es hat dieſe
Rechtskraft ſogar dadurch zu ſichern geſucht, daß es ſolche
Stücke, die in der That die objectiven Gründe in ſich
ſchließen, in die Urtheilsformel ſelbſt aufzunehmen vorge-
ſchrieben hat.
Ich will nun in chronologiſcher Ordnung zuſammen-
ſtellen, welche Äußerungen der, auf dem Boden jener Ge-
ſetze erwachſenen Praxis zur öffentlichen Kunde gekommen
Präjudicialpunkte vgl. Beth-
mann-Hollweg Verſuche S. 123
bis 137, und A. G. O. I. 5 § 29. —
Ich habe geglaubt, dieſe Frage
etwas ausführlich behandeln zu
müſſen, weil neuerlich eine will-
kührlich einſchränkende Erklärung
des § 36 verſucht worden iſt.
Waldeck im neuen Archiv für
Preußiſches Recht, Jahrg. 7 (1841)
S. 469 — 471. Er ſelbſt giebt
aber zu, daß die legitimatio
ad causam zu den Präjudicial-
punkten gehört (worüber der § 36
einen Ausſpruch verlangt), und
wenn dieſe ein Gegenſtand des
Urtheils, alſo rechtskräftig wird,
ſo iſt eigentlich ſchon die ganze
Rechtskraft der Gründe im Prin-
zip anerkannt.
|0419 : 401|
§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.
ſind. Ich rechne dahin ſowohl Urtheilsſprüche der Ge-
richte, als Reſcripte der höchſten Aufſichtsbehörde.
1. Urtheil des Geheimen Ober-Tribunals vom
22. Auguſt 1817 (k).
Ein Mühlenpächter hatte Erlaß von Pachtgeldern ge-
fordert wegen geſtörter Ausübung des gepachteten Rechts.
Ein rechtskräftiges Urtheil hatte den Erlaß im Allgemeinen
als begründet anerkannt, aber als Bedingung deſſelben die
im Landrecht vorgeſchriebene Legung einer Adminiſtrations-
rechnung gefordert. Kläger konnte eine ſolche Rechnung
nicht legen, klagte aber dennoch von Neuem auf
Pachterlaß.
Zwei Urtheile wieſen die neue Klage ab wegen des
rechtskräftigen früheren Urtheils. Das Reviſionsurtheil
änderte ab und ſprach den Erlaß zu, indem es die Rechts-
kraft durch zwei Gründe beſeitigte. Erſtlich habe in dem
früheren Prozeß der Beklagte ſelbſt erklärt, es ſey ihm
gleichgültig, ob der Beweis durch Rechnung, oder auf
andere Weiſe geführt werde. Zweitens widerſpreche das
rechtskräftige Urtheil ſich ſelbſt, indem es den Erlaß über-
haupt für begründet erkläre, und doch noch an eine Be-
dingung knüpfe.
Auf den erſten Blick könnte man geneigt ſeyn, hierin
eine freie Behandlung der Rechtskraft, und namentlich eine
Anerkennung der Rechtskraft der Gründe zu finden. Ich
(k) Simon und Strampff Rechtsſprüche B. 1 S. 62.
VI. 26
|0420 : 402|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
finde darin vielmehr eine wahre Verletzung der Rechtskraft,
die ich für ſehr bedenklich halte. Die in den Voracten
enthaltene Erklärung einer Partei gehört nicht zu den Ur-
theilsgründen, und ihre Nichtachtung hätte höchſtens ein
Rechtsmittel rechtfertigen können. Ein innerer Widerſpruch
iſt aber gewiß nicht vorhanden, wenn ein Anſpruch zwar
anerkannt, aber doch nur unter einer Bedingung (d. h. theil-
weiſe) anerkannt wird.
2. Reſcript vom 18. Nov. 1823 (l) (Miniſter Kirch-
eiſen).
In dem Tenor eines abweiſenden Urtheils brauche
nicht der abgewieſene Antrag umſtändlich aufgenommen zu
werden, „indem die beigefügten Entſcheidungsgründe …
dem ſuccumbirenden Theil jederzeit hierüber die erforderliche
Belehrung geben.“
Der Ausdruck Belehrung iſt zwar nicht ohne Bedenken;
dennoch ſcheint die richtige Anſicht vorausgeſetzt, daß die
Gründe einen wahren Beſtandtheil des Urtheils ausmachen;
denn nur unter dieſer Vorausſetzung geben die Gründe die
erforderliche Belehrung, d. h. die Belehrung über die
Frage, ob die Partei ein Rechtsmittel einzulegen hat.
3. Reſcript vom 28. Juli 1835 (m) (Min. Mühler).
Darin wird geſagt, das Erkenntniß bilde nur in Verbin-
dung mit den Gründen ein Ganzes, ein wahres Urtheil.
(l) Kamptz Jahrbücher B. 22 S. 173.
(m) Kamptz Jahrbücher B. 46 S. 112.
|0421 : 403|
§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.
Daher ſey auch ein, auf einem geſetzwidrigen Grunde
ruhendes Urtheil für nichtig zu erklären, ſelbſt wenn das-
ſelbe aus anderen Gründen gerechtfertigt erſcheine, alſo in
der letzten Entſcheidung beſtätigt werden müſſe.
Dabei iſt augenſcheinlich die richtige Lehre vom Ver-
hältniß der Gründe zum Urtheil vorausgeſetzt.
4. Urtheil des Tribunals vom 1. Decbr. 1843 (n).
Ein Gutsherr hatte rückſtändige Laudemiengelder einge-
klagt, der Beklagte hatte durch Widerklage Löſchung der
Hypothek auf dieſe Rückſtände verlangt. Der Beklagte
wurde rechtskräftig verurtheilt und mit der Widerklage ab-
gewieſen. Nun klagte der vorige Beklagte auf Löſchung
der hypothekariſch eingetragenen Laudemialverpflichtung des
Gutes ſelbſt (nicht mehr einzelner Rückſtände). Beide erſte
Richter wieſen die neue Klage zurück wegen der exceptio
rei judicatae. In Folge einer Nichtigkeitsbeſchwerde wurde
deswegen abgeändert, weil das frühere Urtheil nur über
einzelne Laudemialzahlungen, nicht über das Laudemial-
recht ſelbſt, rechtskräftig entſchieden habe, ſo daß in den
zwei erſten Urtheilen die (nicht rechtskräftigen) Gründe
mit dem (rechtskräftigen) Urtheil verwechſelt worden ſeyen.
In dieſem Erkenntniß des Tribunals liegt ein ganz
entſchiedener Widerſpruch gegen die oben aufgeſtellten
Grundſätze über die Rechtskraft der Gründe.
(n) Koch Schleſiſches Archiv
B. 5 S. 277 fg. Die Hauptſtelle
iſt S. 283—285. Der Heraus-
geber hebt noch mehrere andere
bedenkliche Seiten dieſes Urtheils
heraus.
26*
|0422 : 404|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
5. Plenarbeſchluß des Tribunals vom 23. Januar
1843 (o).
Der hier entſchiedene Fall ſelbſt gehört nicht unmittel-
bar in das Gebiet unſrer Frage. Allein in den Gründen
wird ausdrücklich folgende Lehre aufgeſtellt. Wenn der
Klagegrund und mehrere Einreden inſtruirt ſind, und der
Richter freiſprechen will, ſo muß er das Urtheil hierauf
beſchränken, ohne dabei zu ſagen, ob er die Klage für un-
begründet, oder eine oder die andere Einrede für begründet
hält. Sonſt käme der Beklagte, der ſich ja über Nichts zu
beſchweren habe, in die Lage, wenn der Kläger appellire,
gleichfalls gegen die ihm nachtheiligen Gründe zu ap-
pelliren.
Hier iſt recht augenſcheinlich der oben (§ 293) darge-
ſtellte und getadelte Geſichtspunkt vorherrſchend, nur leicht
und ſchnell für den Augenblick abzuhelfen, unbekümmert
um die Zukunft, beſonders aber, ſo viel als möglich die
Rechtsmittel zu verhüten. Die Einſeitigkeit dieſes Geſichts-
punktes wird recht augenſcheinlich, wenn man auf die Fälle
Rückſicht nimmt, worin ein nach dieſer Anweiſung einge-
richtetes Urtheil, in Ermangelung eingelegter Rechtsmittel,
ſogleich rechtskräftig wird, oder worin es von der höchſten
Inſtanz geſprochen iſt. Dann kann die, zur Erſparniß von
Rechtsmitteln getroffene Vorkehrung dahin ausſchlagen, daß
künftig neue Prozeſſe entſtehen, die durch eine richtig aus-
(o) Entſcheidungen des O. Tribunals B. 9. S. 128 fg. Die Haupt-
ſtelle findet ſich S. 132. 133.
|0423 : 405|
§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.
gedehnte Rechtskraft für immer verhütet worden wären.
Auch iſt nicht einzuſehen, wie die hier aufgeſtellte Lehre
mit der oben angeführten Stelle der Gerichtsordnung (I. 13
§ 36) vereinigt werden ſoll.
6. Plenarbeſchluß des Tribunals vom 19. September
1845 (p).
Wenn ein Beklagter Einwendungen gegen das Klage-
recht ſelbſt hat, und daneben die Einrede der fehlenden
Activlegitimation, ſo kann nach Umſtänden über dieſe Prä-
judicialeinrede beſonders inſtruirt und erkannt werden.
Wenn aber Dieſes nicht geſchieht, ſondern beide Einwen-
dungen gleichzeitig verhandelt werden, ſo ſoll (nach jenem
Plenarbeſchluß) die Präjudicialeinrede nicht in dem Tenor,
ſondern nur in den Gründen erwähnt werden, die Ent-
ſcheidung darüber ſoll nicht rechtskräftig werden, und es
ſoll dagegen kein Rechtsmittel zuläſſig ſeyn.
Gegen dieſe Entſcheidung gelten dieſelben Gründe,
welche bereits gegen die vorhergehende geltend gemacht
worden ſind; ja es iſt in ihr der Widerſpruch mit der an-
geführten Stelle der A. G. O. (I. 13 §. 36) ſogar noch
unmittelbarer und augenſcheinlicher.
7. Urtheil des Tribunals vom 26. Januar 1847 in
Sachen Neſte auf Molſtow wider Ulrike Amalie Kolter-
mann (aus handſchriftlicher Mittheilung). In den Gründen
dieſes Urtheils kommt folgende Stelle vor, die mit der hier
vorgetragenen Lehre vollkommen übereinſtimmt:
(p) Entſcheidungen des O. Tribunals B. 11 S. 118—122.
|0424 : 406|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
„Im Vorprozeſſe nämlich hat der Verklagte ſich ſchon
„auf den Erbſchaftskaufvertrag vom 1. Juli 1842 ge-
„ſtützt, und dieſen excipiendo gegen die Klägerin gel-
„tend gemacht. Der Reviſionsrichter verwarf jedoch
„den desfallſigen Einwand, indem er ausführte, wie
„dieſer Vertrag die Klägerin nicht beeinträchtigen
„könne. Durch die Verwerfung, wenn ſie auch blos
„in den Urtelsgründen erfolgte, weil es ſich um eine
„Einrede handelte, erloſch die letztere; ſie blieb zu
„einer nachherigen Proteſtation eben ſo wenig, wie zu
„einer neuen Klage geeignet. (cf. Wächter Hand-
„buch Bd. II. S. 558. 567.)“
Endlich iſt auch noch anzugeben, welche Meinungen
von Schriftſtellern des Preußiſchen Rechts über die vor-
liegende Frage aufgeſtellt worden ſind.
Grävell hat an mehreren Stellen ſeines Commentars
über die Gerichtsordnung (q) Regeln über das Verhältniß
der Präjudicialpunkte zum Urtheil ſelbſt und zu deſſen
Rechtskraft aufgeſtellt, die wohl auf eine freiere Anſicht
der Sache gedeutet werden können; allein ſeine Ausdrücke
ſind doch ſo wenig beſtimmt und entſchieden, daß ich es
für ungewiß halte, ob dieſer Schriftſteller mit der hier
aufgeſtellten Lehre wirklich übereinſtimmt, oder nicht.
(q) Grävell Comm. über die A. G. O. B. 1 S. 145, B. 2
S. 681. 685. 686.
|0425 : 407|
§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.
Dagegen hat Koch ſehr entſchieden an mehreren Orten
dieſelbe Lehre über die Rechtskraft der Gründe aufgeſtellt,
welche oben für das Preußiſche, wie für das gemeine Recht
vertheidigt worden iſt (r).
Zum Schluß dieſer ganzen Unterſuchung iſt noch der
Zuſammenhang derſelben mit einer, an ſich ſehr verſchiede-
nen, Frage bemerklich zu machen, welche in neuerer Zeit
mit Gründlichkeit und Scharfſinn nach beiden Seiten hin
verhandelt worden iſt, mit der Frage nämlich, wie in
einem Richtercollegium abzuſtimmen iſt; ob nach Gründen,
oder vielmehr nach dem letzten Reſultat (s). Im erſten
(r) Koch Lehrbuch des Preußi-
ſchen Rechts B. 1 §. 199. 200,
und: Juriſtiſche Wochenſchrift 1837
S. 1—10, S. 21—34. Beſon-
ders entſcheidend iſt folgender
Rechtsfall (S. 1. 2. 31. 32). Einer
Klage auf verfallene Zinspoſten
war die exceptio non numera-
tae pecuniae entgegengeſetzt wor-
den; dieſe wurde verworfen, und
der Beklagte wurde zur Zahlung
der Zinſen verurtheilt. Nunmehr
klagte der vorige Beklagte mit der
condictio sine causa auf Her-
ausgabe des Schuldſcheins, und
zwar aus demſelben Grunde, den
er früher als Einrede ohne Erfolg
geltend gemacht hatte. Der erſte
Richter wies die Klage ab wegen
des rechtskräftigen Urtheils, der
Appellationsrichter reformirte, weil
beide Klagen verſchiedene Objecte
gehabt hätten, und in dem erſten
Prozeß das gegebene Darlehn zwar
angenommen, aber nur in den
Gründen, die nicht rechtskräftig
würden, nicht in dem Tenor, aus-
geſprochen worden ſey. — Koch
tadelt dieſes Urtheil mit Recht.
(s) Für die Abſtimmung nach
Gründen haben ſich ausge-
ſprochen: Ein Miniſterial-Reſcript
von 1819; ein zweites von 1834;
ein drittes von 1840; (Ergänzungen
und Erläuterungen der Preußiſchen
Rechtsbücher B. 8 Breslau 1843,
zu G. O. I. 13 § 31, S. 314. 315.
Juſtiz-Miniſterialblatt 1841 S. 18
bis 24). Ferner: Göſchel Zer-
ſtreute Blätter B. 1 S. 238. Koch
Lehrbuch des Preußiſchen Rechts
B. 1 §. 64. — Für die Abſtim-
|0426 : 408|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Falle muß aus den, durch die Mehrheit angenommenen, ein-
zelnen Gründen das Reſultat gezogen werden, auf die Ge-
fahr hin, daß mit dieſem Reſultat an ſich die Mehrheit
vielleicht nicht zufrieden ſeyn würde. Im zweiten Falle
müſſen die Entſcheidungsgründe aus allen, von den einzel-
nen Mitgliedern vorgebrachten Gründen ſo ausgeſucht
werden, wie ſie zu dem gezogenen Reſultat paſſen, auf die
Gefahr hin, daß jeder dieſer Gründe für ſich von der
Mehrheit mißbilligt werden möchte (t).
Es iſt nicht meine Abſicht, mich hier in die Prüfung
dieſer ſchwierigen und verwickelten Frage im Allgemeinen
einzulaſſen, und dadurch den Gang unſrer Unterſuchung zu
unterbrechen: ich will nur den partiellen Zuſammenhang
nachzuweiſen ſuchen, in welchem dieſe Frage mit der hier
aufgeſtellten Lehre von der Rechtskraft der Gründe ſteht.
Wenn dieſe Lehre richtig iſt, d. h. wenn die objectiven
Gründe wahre Beſtandtheile des Urtheils ſind, und mit
demſelben rechtskräftig werden ſollen, ſo muß nothwendig
über jeden objectiven Grund, nicht blos über Verurtheilung
oder Freiſprechung, beſonders abgeſtimmt und entſchieden
werden, weil ſonſt die Rechtskraft dieſer Gründe nicht von
dem Collegium in ſeiner Mehrheit entſchieden ſeyn würde.
Es bleibt aber dabei noch unentſchieden, ob vielleicht in
mung nach dem Reſultat: Dor-
guth, Juriſtiſche Wochenſchrift
1841 S. 153. 173. 625. 645. 647.
671, und Waldeck im neuen
Archiv für Preußiſches Recht,
Jahrg. 7. (1841) S. 427—471.
(t) Dieſes letzte Verfahren ver-
langt ausdrücklich Dorguth a. a.
O. S. 159 N. 11.
|0427 : 409|
§. 295. Wirkungen der Rechtskraft.
Anſehung der ſubjectiven Gründe das entgegengeſetzte Ver-
fahren als richtig anzuſehen ſeyn möchte (u).
§. 295.
Rechtskraft. II. Wirkungen. Einleitung.
Die bisher geführte Unterſuchung ging darauf aus, die
Bedingungen der Rechtskraft feſtzuſtellen; es bleibt nun
noch übrig, die Wirkung derſelben zu unterſuchen (a).
In der Wirkung der Rechtskraft ſind drei Stufen zu
unterſcheiden, welche in folgenden Rechtsinſtituten erſcheinen:
Execution, actio judicati, Einrede der Rechtskraft.
Die beiden erſten Inſtitute ſind inſofern von beſchränk-
terer Anwendung, als ſie nur bei verurtheilenden Erkennt-
niſſen vorkommen, nicht bei freiſprechenden, während das
dritte (die Einrede) bei jeder Art von Erkenntniſſen vor-
kommen kann. Ein größerer Unterſchied aber, in Bezie-
hung auf unſren beſonderen Zweck, liegt darin, daß die
zwei erſten Inſtitute mehr zu dem Prozeßrecht zu rechnen
ſind, anſtatt daß das dritte ganz dem materiellen Recht
angehört, deſſen Darſtellung allein in unſrer Aufgabe liegt.
Die Execution iſt im Fall eines verurtheilenden Er-
kenntniſſes, wenn demſelben nicht freiwillig Folge geleiſtet
(u) Allerdings habe ich ſelbſt
kein Bedenken, mich bei den ſub-
jectiven Gründen für daſſelbe Ver-
fahren, wie bei den objectiven, zu
erklären. Dieſes würde z. B. zur
Anwendung kommen, wenn etwa
die Beweiskraft einzelner Zeugen
oder Urkunden aus verſchiedenen
Gründen beſtritten werden ſollte.
(a) Der Zuſammenhang dieſer
verſchiedenen Fragen iſt oben, am
Ende des §. 283, angegeben
worden.
|0428 : 410|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
wird, die nächſte und fühlbarſte Wirkung der Rechtskraft.
Sie hat jedoch keinen anderen Zweck, als den, dem richter-
lichen Ausſpruch durch äußere Macht ſichere Geltung zu ver-
ſchaffen, und gehört alſo als letztes Glied in die Reihe
der Prozeßhandlungen (b). Eine Einwirkung auf das
materielle Recht, durch Veränderung der Rechtsverhältniſſe,
liegt darin nicht, und wenn eine ſolche Veränderung durch
Veranlaſſung der Execution dennoch eintritt, ſo liegt der
Grund nicht ſowohl in der Natur und Beſtimmung der-
ſelben, als in zufälligen Umſtänden. Für viele Verpflich-
tungen nämlich, die das verurtheilende Erkenntniß dem
Beklagten auferlegen kann, iſt ein unmittelbarer Zwang
gar nicht möglich, und es müſſen dann entweder indirecte
Zwangsmittel angewendet, oder Surrogate aufgeſucht
werden, um ſo durch Umwege dem Urtheil eine annähernde
Ausführung zu verſchaffen (c).
(b) Aus den Quellen des
Römiſchen Rechts gehört dahin
ein großer Theil des Digeſten-
titels de re judicata (42. 1),
insbeſondere die Beſtimmungen
über das tempus judicati (L. 7,
L. 4 § 5, L. 29 de re jud.
u. ſ. w.), ſo wie die über das
pignus in causa judicati
captum.
(c) Die Herausgabe einer vom
Beklagten beſeſſenen Sache kann
unmittelbar erzwungen werden;
eben ſo, durch Abpfändung und
Verkauf, die Zahlung einer Geld-
ſumme. Nicht ſo, wenn zur Voll-
ziehung des Urtheils eine freie
Thätigkeit des Beklagten erforder-
lich iſt; in dieſem Falle bleibt
Nichts übrig, als indirecter Zwang,
z. B. durch perſönliche Haft, oder
Verwandlung des urſprünglichen
Gegenſtandes in eine Geldzahlung
durch aestimatio, die im R. R.
in ſehr ausgedehnter Weiſe vor-
kommt. Hierüber ſind von jeher
in der Theorie und Praxis ſehr
verſchiedene Regeln angenommen
worden. Vgl. Wächter Heft 2
S. 14—33.
|0429 : 411|
§. 295. Wirkungen der Rechtskraft.
Etwas, aber nicht viel, anders verhält es ſich mit der
Actio judicati. Allerdings enthält dieſe inſofern ein neues
materielles Rechtsinſtitut, als ihr eine eigenthümliche Obli-
gation zum Grunde liegt, welche jedoch ſelbſt nur die Ent-
wicklung und Vollendung der, durch die Litisconteſtation
begründeten Obligation iſt (d). Indeſſen hat dieſe Obli-
gation keinen anderen Stoff, als die Execution, und ſo iſt
ſie ſelbſt doch eigentlich nur eine andere Form der Execu-
tion, mit welcher ſie daher die weſentlich prozeſſualiſche
Natur theilt (e). — So haben denn auch die meiſten Ei-
genthümlichkeiten, die man als Privilegien dieſer Klage
bezeichnen kann, eine überwiegend prozeſſualiſche Beſchaf-
fenheit (f). Eine derſelben, die ganz in das materielle
Recht gehört, muß jedoch noch beſonders hervorgehoben
werden: dieſe betrifft die Urtheilszinſen.
(d) S. o. § 258 S. 32. 33.
Viele Stellen, die von dieſer
Obligation handeln, ſind zuſam-
mengeſtellt bei Keller S. 199
Note 3.
(e) Ein großer Theil des Di-
geſtentitels de re judicata (42.
1) handelt von der actio judi-
cati, deren allgemeine Natur in
folgenden Stellen angegeben wird:
L. 4. 5. 6. 7. 41 § 2. 43. 44.
61 de re jud. (42. 1). Bei
den neueren Juriſten iſt oft noch
neben dieſer Klage von einer be-
ſonderen imploratio officii judi-
cis die Rede, die aber im Grunde
immer wieder die actio judicati
iſt, wenn ſie auch vielleicht weniger
förmlich erſcheint. Vgl. Buchka
B. 2 S. 214. — Anders freilich
verhält es ſich in der beſonderen
Prozeßgeſetzgebung mancher Länder,
worin verſchiedene Stufen dieſer
Rechtsverfolgung vorgeſchrieben
ſind. So in der Preußiſchen Allg.
Gerichtsordnung Th. 1. Tit. 24
§ 3 Tit. 28 § 14.
(f) Dahin gehört im älteren
Recht die Strafe der doppelten
Zahlung bei Ableugnung des Ur-
theils, ferner die manus injec-
tio, die satisdatio, ein beſonderes
vadimonium. Gajus IV. § 9.
21. 25. 102. 186.
|0430 : 412|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wenn nämlich das Urtheil dem Beklagten eine Geld-
zahlung auferlegt, ſo iſt es denkbar, daß er von dieſer
Summe vor dem Urtheil Vertragszinſen, Verzugszinſen,
Prozeßzinſen, oder auch gar keine Zinſen zu zahlen hatte.
Es entſteht nun die Frage, ob das rechtskräftige Urtheil
auf die Zinsverpflichtung, je nach dieſen verſchiedenen Fäl-
len, irgend einen abändernden Einfluß ausübt für die künf-
tige Zeit. Das Römiſche Recht iſt in der Beantwortung
dieſer Frage lange ſchwankend geweſen; die Entſcheidung
des Juſtinianiſchen Rechts iſt aber nicht zweifelhaft (g).
Von dem Augenblick des rechtskräftigen Urtheils an iſt
aller bisherige Zinſenlauf gehemmt, und dieſe Begünſtigung
des Beklagten, die ihm die freiwillige Erfüllung des Ur-
theils erleichtern ſoll, dauert vier Monate. Hat er inner-
halb dieſes Zeitraums nicht gezahlt, ſo wird nicht etwa der
frühere Zinſenlauf fortgeſetzt, ſondern es entſtehen, ohne
daß es einer Mahnung bedarf, neue Zinſen, welche ſtets
zwölf Procente (centesimae) betragen, jedoch nur von der
früheren Kapitalſchuld, nicht von früheren Zinſen, bezahlt
werden müſſen. — Dieſe ganz eigenthümliche, ſehr will-
kührliche Vorſchrift iſt indeſſen nach dem übereinſtimmenden
Zeugniß der bewährteſten praktiſchen Schriftſteller im heu-
tigen Recht nicht anerkannt worden (h). Es bleibt alſo
nunmehr bei einem unveränderten Fortgang der früher lau-
(g) L. 13 C. de usur. (4. 32).
L. 1. 2. 3 C. de us. rei jud.
(7. 54).
(h) Voetius Lib. 22 Tit. 1
§ 11, Stryk ibid. § 13. Lauter-
bach ibid. § 22.
|0431 : 413|
§. 295. Wirkungen der Rechtskraft.
fenden Zinſen, insbeſondere der Prozeßzinſen, wo ſolche zur
Anwendung kommen, auch nachdem ein rechtskräftiges Ur-
theil ergangen iſt.
Unter den drei oben angegebenen Wirkungsarten der
Rechtskraft bleibt jetzt noch die letzte zur näheren Be-
trachtung übrig: die exceptio rei judicatae, oder die Ein-
rede der Rechtskraft. Von dieſer iſt ſchon oben nach-
gewieſen worden, daß die hiſtoriſche Entwicklung der
Rechtskraft ſich hauptſächlich an ſie, als ihren eigentlichen
Mittelpunkt, angeknüpft hat (§ 281 fg.). Durch ſie ſollte
vorzugsweiſe die Fiction der Wahrheit des rechtskräftigen
Urtheils praktiſch durchgeführt werden, oder mit anderen
Worten, es ſollte durch ſie bewirkt werden, daß niemals
der Inhalt eines Urtheils mit dem Inhalt eines früheren
rechtskräftigen Urtheils in Widerſpruch trete. Allerdings
theilte ſie in früherer Zeit dieſen Beruf mit anderen ver-
wandten Rechtsinſtituten (i); als aber dieſe allmälig ver-
ſchwanden, diente ſie allein zu jenem wichtigen Zweck,
ſo daß ſie im neueſten Recht eine noch höhere Stufe der
Wichtigkeit eingenommen hat, als in der früheren Zeit.
Dieſe Einrede kann begründet werden ſowohl durch
eine Freiſprechung, als durch eine Verurtheilung, hat alſo
inſofern eine weitere Wirkungsſphäre, als die Execution
(i) Nämlich mit der, ſchon in
der Litisconteſtation liegende Con-
ſumtion der Klage, wodurch
manche Klagen ipso jure zerſtört,
andere vermittelſt einer exceptio
rei in judicium deductae ent-
kräftet wurden (§ 281).
|0432 : 414|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
und die actio judicati, da dieſe nur aus einer Verurthei-
lung entſpringen können. — Aus der Freiſprechung ent-
ſpringt dieſe Einrede zum Vortheil des Beklagten, welcher
dadurch gegen jede neue Klage geſchützt wird, wodurch der
Erfolg jener Freiſprechung gefährdet werden könnte. —
Aus der Verurtheilung kann ſowohl der Kläger, als der
Beklagte, einen Anſpruch auf jene Einrede erwerben.
Der Kläger, wenn durch eine neue Klage der frühere Be-
klagte ein Recht geltend zu machen verſucht, welches mit
der rechtskräftigen Verurtheilung im Widerſpruch ſteht
(§. 287). Der Beklagte, wenn er aus dem früher ab-
geurtheilten Recht von Neuem in Anſpruch genommen
wird, und zwar über die Gränzen der rechtskräftigen Ver-
urtheilung hinaus (§ 286).
Die Einrede der Rechtskraft ſteht in Verwandtſchaft
mit einigen anderen Rechtsinſtituten, die mehr oder weniger
ähnliche Natur mit ihr haben. — Dahin gehört zunächſt
die exceptio pacti und jurisjurandi, indem ein Rechtsſtreit
eben ſowohl durch Vertrag oder Eid, als durch rechts-
kräftiges Urtheil, zu Ende geführt werden kann. In allen
dieſen Fällen iſt es gleich unzuläſſig, durch eine neue
Klage mit einer ſolchen Beendigung in Widerſpruch zu
treten, und damit Dieſes nicht geſchehe, ſind eben jene
drei Einreden aufgeſtellt worden. Bei jeder derſelben kann
es in Frage kommen, ob auch wiklich die neue Klage die-
ſelbe iſt, worauf ſich die frühere Beendigung bezog, und
bei der Erörterung dieſer oft ſchwierigen Frage kann nicht
|0433 : 415|
§. 295. Wirkungen der Rechtskraft.
ſelten die Vergleichung einer dieſer Einreden mit den
anderen gute Dienſte thun. Ein durchgreifender Unterſchied
aber zwiſchen dieſen drei Einreden beſteht darin, daß die
exceptio pacti und jurisjurandi ſchon im jus gentium
anerkannt ſind, welches von der exceptio rei judicatae,
als einem Inſtitut des blos poſitiven Rechts, nicht be-
hauptet werden kann (§ 249. c).
Eine fernere Verwandtſchaft hat dieſe Einrede mit der
oben abgehandelten Concurrenz der Klagen (§ 231 fg.).
Der Grundſatz der Concurrenz ſoll verhindern, daß der
durch eine Klage geforderte und zuerkannte Gegenſtand
noch einmal gefordert werde; der Grundſatz unſrer Einrede
ſoll verhindern, daß der, im frühern Rechtsſtreit geforderte
und abgeſprochene Gegenſtand ferner gefordert werde.
Inſofern wird bei dieſen beiden Rechtsinſtituten ein gerade
entgegengeſetzter früherer Erfolg vorausgeſetzt. Ihre Ver-
wandtſchaft aber beſteht in der Vorausſetzung einer ge-
wiſſen Identität des erſten und zweiten Rechtsſtreits.
Indeſſen iſt dieſe Verwandtſchaft doch mehr ſcheinbar, als
wahr, wenn man die Einrede der Rechtskraft in ihrer
neueſten Geſtalt (der poſitiven Function) auffaßt, indem
bei dieſer die Identität eine ganz andere Bedeutung hat,
als in der Lehre von der Concurrenz. Der Grundſatz der
Concurrenz kann den Gebrauch einer neuen Klage aus-
ſchließen, auf deren Verhältniß zu der früheren Klage die
Einrede der Rechtskraft gar nicht anwendbar ſeyn würde,
und eben ſo kann auch umgekehrt dieſe Einrede eine neue
|0434 : 416|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Klage in ſolchen Fällen ausſchließen, auf welche der
Grundſatz der Concurrenz gar keine Anwendung findet.
Manche Schriftſteller haben dieſen Umſtand überſehen, und
daher beide Inſtitute in eine ihrer Natur nicht angemeſſene
Verbindung zu bringen geſucht (k).
Der Zweck und Erfolg der Einrede der Rechtskraft
läßt ſich einfach dahin beſtimmen, daß ſie auf Entkräftung
jeder Klage geht, die mit dem Inhalt eines früheren rechts-
kräftigen Urtheils in Widerſpruch zu treten verſucht. —
So, wie alle anderen Exceptionen, kann auch dieſe in Ge-
ſtalt einer Replication oder Duplication geltend gemacht
werden, wenn die Lage des Rechtsſtreits dazu Gelegenheit
darbietet. In ſolchen Fällen wird dadurch nicht die Klage
des Gegners, ſondern deſſen Exception oder Replication
entkräftet. Man kann daher für alle dieſe Fälle die ge-
meinſame Formel ſo ausdrücken: Es ſoll dadurch jederzeit
der Anſpruch des Gegners entkräftet werden, welcher mit
einem rechtskräftigen Urtheil in Widerſpruch treten würde.
Rach dieſen Vorbemerkungen bleibt noch der wichtigſte
Punkt zu erörtern übrig: unter welchen Bedingungen
die Einrede der Rechtskraft anwendbar iſt. Auf dieſe Frage
wird ſich der ganze noch übrige Theil der gegenwärtigen
Abhandlung beziehen.
(k) S. o. § 231 p. — Mehr
wirkliche Verwandtſchaft beſtand
noch zwiſchen der Concurrenz und
der exceptio rei judicatae in
ihrer älteren Geſtalt (der negativen
Function).
|0435 : 417|
§. 296. Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.
§. 296.
Einrede der Rechtskraft. Bedingungen. — Ueberſicht.
Dieſelbe Rechtsfrage.
Die Frage nach den Bedingungen dieſer Einrede hat
folgende Bedeutung. Wenn in einem gegenwärtigen Rechts-
ſtreit die Einrede aus der rechtskräftigen Entſcheidung eines
früheren Rechtsſtreits gebraucht wird um die neue Klage
zu entkräften, ſo ſoll das Verhältniß feſtgeſtellt werden, in
welchem der erſte zu dem zweiten Rechtsſtreit ſtehen muß,
damit die Einrede dieſe Wirkung haben könne.
Über dieſe Frage finden wir in folgenden zwei Stellen
des Ulpian einen großentheils wörtlich gleichlautenden
Ausſpruch, merkwürdigerweiſe jedesmal mit Berufung auf
das Zeugniß des Julian.
L. 3 de exc. r. j. (44. 2). Julianus lib. 3 Dig. respon-
dit, exceptionem rei judicatae obstare, quotiens eadem
quaestio inter easdem personas revocatur.
L. 7 § 4 eod. Et generaliter, ut Julianus definit, ex-
ceptio rei judicatae obstat, quotiens inter easdem per-
sonas eadem quaestio revocatur, vel alio genere ju-
dicii(a).
In beiden übereinſtimmenden Stellen wird zur Anwend-
barkeit der Einrede ein zweifaches Verhältniß der Identität
zwiſchen dem erſten und zweiten Rechtsſtreit erfordert: die
(a) In derſelben Stelle heißt
es, wenige Zeilen vorher, (L. 7
§ 1 eod.): „Et quidem ita
definiri potest, totiens eandem
rem agi, quotiens apud judicem
posteriorem id quaeritur, quod
apud priorem quaesitum est.“
VI. 27
|0436 : 418|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
jetzt zu entſcheidende Rechtsfrage ſoll dieſelbe ſeyn,
welche ſchon früher entſchieden worden iſt, und die Per-
ſonen, die jetzt ſtreiten, ſollen dieſelben ſeyn, welche
den früheren Rechtsſtreit geführt haben.
Man kann Beides kurz als objective und ſubjective
Identität bezeichnen. Zunächſt ſoll nun die erſte, die Iden-
tität der Rechtsfrage, genau beſtimmt werden.
Was in den angeführten beiden Stellen als eadem
quaestio bezeichnet wird, heißt in manchen anderen Stellen
eadem res (b). Es iſt einleuchtend, daß dieſer letzte Aus-
druck weit unbeſtimmter iſt, als der erſte, indem es bei der
großen Vieldeutigkeit des Wortes res ungewiß bleibt, ob
vielleicht eine Übereinſtimmung in dem äußern Gegenſtand,
oder in dem Namen, oder in der Formel beider Klagen
gemeint ſeyn möge. Der Ausdruck quaestio dagegen deutet
geradezu auf die in beiden Klagen der richterlichen Prü-
fung und Entſcheidung vorliegende Rechtsfrage, legt alſo
dem zweiten Richter die Pflicht auf, den Inhalt des frü-
(b) L. 7 pr. de exc. r. j.
(Ulp.), L. 14 pr. eod. (Paul.),
L. 27 eod. (Nerat.). — Derſelbe
Ausdruck findet ſich in L. 5 eod.;
allein dieſe Stelle ſpricht in der That
nicht von unſerer Einrede, ſondern
von folgender Frage. Bei einer
beabſichtigten mandati actio hatte
ſich der Kläger eine cautio ju-
dicio sisti verſprechen laſſen, und
zwar vor der L. C. (vgl. L. 10
§ 2, L. 13 si quis caut.). Er
änderte nachher ſeine Abſicht, und
ſtellte zu demſelben Zweck die
a. negot. gest. an. Wenn nun
der Beklagte ausblieb, ſo fragte
es ſich, ob die für eine andere
Klage verſprochene Caution den-
noch verfallen ſey. Ulpian be-
jaht dieſe Frage, weil es eadem
res ſey. Vgl. Buchka B. 1
S. 97. — Dennoch kann die Auf-
nahme dieſer Stelle in unſeren Di-
geſtentitel nicht getadelt werden,
da für die Exception das Daſeyn
der eadem res eben ſo, und in
demſelben Sinn, wie für die
Caution, erfordert wurde.
|0437 : 419|
§. 296. Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.
heren Urheils zu beachten und zu befolgen. Dieſe größere
Beſtimmtheit des Ausdrucks iſt nicht nur an ſich eine
weſentliche Verbeſſerung, ſondern ſie enthält zugleich ein
unverkennbares Zeichen, daß man ſich, indem man dieſen
Ausdruck wählte, der neueren Entwicklung unſres Rechts-
inſtituts (der poſitiven Function der exceptio rei judicatae)
deutlich bewußt geworden war.
Allerdings wurde auch bei der älteren Geſtalt jener
Exception (der negativen Function) eine gewiſſe Identität
beider Klagen erfordert; allein dieſe hatte dabei eine nicht
wenig verſchiedene Bedeutung, indem vorzugsweiſe auf die
übereinſtimmende Intentio beider Klagen (nicht auf den In-
halt des Urtheils) geſehen wurde, wovon in dem neueſten
Recht ohnehin nicht mehr die Rede ſeyn könnte (c).
Zunächſt iſt alſo das Daſeyn derſelben Rechtsfrage
(die objective Identität), als erſte Bedingung für die Ein-
rede der Rechtskraft, genau zu beſtimmen. Dieſe Bedingung
ſchließt zwei entgegengeſetzte Regeln in ſich, deren Sinn
vorläufig feſtzuſtellen und durch Beiſpiele anſchaulich zu
machen iſt.
I. Soweit beide Klagen auf einer verſchiedenen
Rechtsfrage beruhen, darf die Einrede der Rechtskraft
(c) Dieſer Punkt iſt von Keller
§ 33 mit großer Sorgfalt, und
mit Beachtung der nöthigen Ein-
ſchränkungen behandelt worden. —
Von demſelben Schriftſteller wird
S. 272—275 ausgeführt, daß
eadem quaestio mit der eigen-
thümlichen Natur der Einrede in
ihrer poſitiven Function in Ver-
bindung ſteht.
27*
|0438 : 420|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
nicht angewendet werden, auch wenn ein Schein von
Uebereinſtimmung vorhanden ſeyn ſollte. Erläuternde An-
wendungen ſind folgende.
Die Entſcheidung einer Beſitzklage begründet niemals
die Einrede der Rechtskraft für die künftige Eigenthums-
klage (d), und eben ſo auch umgekehrt. Man könnte ver-
ſucht ſeyn, das Eigenthum als das größere, den Beſitz als
das geringere Recht an der Sache anzuſehen, folglich den
Beſitz als Beſtandtheil des Eigenthums; dieſe Auffaſſung
aber würde ganz irrig ſeyn. Beide Rechte ſind vielmehr
ganz ungleichartig (e), ſo daß die Bejahung des einen mit
der Verneinung des andern niemals im Widerſpruch ſteht.
Wird eine confeſſoriſche Klage auf iter abgewieſen,
ſpäter eine confeſſoriſche Klage auf actus angeſtellt, ſo ſteht
die Einrede nicht entgegen (f). Zwar umfaßt der actus
unter andern auch alle einzelnen im iter enthaltenen Befug-
niſſe; dennoch ſind es Servituten verſchiedener Art und
Benennung, deren jede alſo, unabhängig von der anderen,
durch ein Rechtsgeſchäft beſonders begründet werden kann.
Die Abweiſung der Eigenthumsklage hindert nicht die
ſpätere Anſtellung einer Condiction auf dieſelbe Sache, ob-
gleich beide Klagen denſelben äußeren Zweck haben, nämlich
dem Kläger dieſe Sache zu verſchaffen (g).
Die Abweiſung einer durch Dolus bedingten Klage
hindert nicht die ſpätere Anſtellung der Aquiliſchen Klage,
(d) L. 14 § 3 de exc. r. jud.
(44. 2).
(e) L. 12 § 1 de adqu. vel
am. poss. (41. 2).
(f) L. 11 § 6 de exc. r. jud.
(44. 2).
(g) L. 31 de exc. r. jud.
(44. 2).
|0439 : 421|
§. 296. Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.
weil dieſe ſchon durch bloße Culpa begründet werden
kann (h).
II. Soweit dagegen beide Klagen auf derſelben
Rechtsfrage beruhen, iſt die Einrede der Rechtskraft an-
zuwenden, auch wenn ein Schein von Verſchiedenheit vor-
handen ſeyn ſollte.
Um dieſe wichtige, und in manchen Beziehungen
ſchwierige, Regel in das wahre Licht zu ſetzen, ſollen zuerſt
die einfachſten Fälle betrachtet werden, die Fälle, in welchen
an dem Daſein unbedingter Uebereinſtimmung kein Zweifel
denkbar iſt. Dann iſt zu unterſuchen, welche einzelnen Be-
ſtandtheile jener unbedingten, vollſtändigen Uebereinſtimmung
etwa fehlen dürfen, ohne die Annahme der für unſren
Zweck erforderlichen Uebereinſtimmung aufzuheben, alſo ohne
für die Anwendbarkeit der Einrede der Rechtskraft ein
Hinderniß darzubieten. In ſolchen Fällen wird ein bloßer
Schein der Verſchiedenheit vorhanden ſeyn, bei weſent-
licher Gleichheit.
Ich will zwei Fälle aufſtellen, in welchen die Ueber-
einſtimmung beider Klagen keinem auch nur ſcheinbaren
Zweifel unterworfen ſeyn kann.
Die auf ein Landgut aus dem Grund der Erſitzung
angeſtellte Eigenthumsklage wird rechtskräftig abgewieſen.
In der Folge wiederholt derſelbe Kläger gegen denſelben Be-
klagten die Eigenthumsklage aus demſelben Erwerbungs-
(h) L. 13 pr. de lib. causa (40. 12).
|0440 : 422|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
grunde. — Eine Darlehnsklage auf Hundert wird rechts-
kräftig abgewieſen, und ſpäter gegen denſelben Beklagten
wiederholt. — In beiden Fällen iſt die ſpätere Klage von
der früheren in keiner Beziehung verſchieden; ſie iſt eine
reine, einfache Wiederholung derſelben, und die Anwend-
barkeit der Einrede der Rechtskraft kann daher keinem
Zweifel unterliegen.
Es iſt jedoch keinesweges erforderlich, daß die Über-
einſtimmung alle hier angegebenen Vorausſetzungen umfaſſe;
ſie kann in mehreren derſelben fehlen, und dennoch als
wahre Uebereinſtimmung gelten, alſo auch die Einrede der
Rechtskraft begründen. Alles kommt darauf an, daß in
jedem einzelnen Fall die oben aufgeſtellten Grundbedingungen
jener Einrede wirklich vorhanden ſind, nämlich: dieſelbe
Rechtsfrage, und dieſelben Perſonen.
Ich will eine vorläufige Überſicht der möglichen Ver-
ſchiedenheiten beider Klagen geben, welche nicht als noth-
wendige Hinderniſſe für die Anwendung unſrer Einrede zu
betrachten ſind.
1. Der zweite Rechtsſtreit kann über eine Klage von
anderem Namen und anderer Natur geführt werden,
als der erſte. (Ungleichartige Klage).
2. Die Parteirollen können in dem zweiten Rechtsſtreit
verwechſelt ſeyn, ſo daß der frühere Kläger jetzt als
Beklagter auftritt.
3. Das Recht, welches in der einen Klage der Haupt-
gegenſtand des Streites iſt, kann in der anderen als
|0441 : 423|
§. 296. Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.
bloße Bedingung eines anderen, eigentlich verfolgten
Rechts zur Sprache kommen (als Legitimationspunkt).
4. Der äußere Gegenſtand kann in beiden Klagen ver-
ſchieden ſeyn.
5. Der juriſtiſche Gegenſtand kann in beiden Klagen ver-
ſchieden ſeyn.
6. Das beſtrittene Recht kann in beiden Klagen aus
verſchiedenen Entſtehungsgründen abgeleitet werden.
Die hier aufgeſtellte Behauptung geht alſo dahin, daß
die Übereinſtimmung der Rechtsfrage (eadem quaestio)
für die Anwendbarkeit der Einrede der Rechtskraft allein
entſcheidend iſt, und daß daneben andere, wenn auch ſehr
ſcheinbare, Verſchiedenheiten beider Klagen nicht in Betracht
kommen. Dieſe Behauptung aber ſteht in dem engſten
Zuſammenhang mit der oben aufgeſtellten Lehre von den
(objectiven) Gründen des Urtheils, als weſentlichen, un-
trennbaren Beſtandtheilen deſſelben, auf welche ſich die
Rechtskraft des Urtheils ſelbſt mit erſtreckt. In der Auf-
faſſung der Römiſchen Juriſten erſcheinen beide Behaup-
tungen als zuſammenhangende Stücke eines und deſſelben
Grundſatzes, und auch bei den neueren Schriftſtellern be-
währt ſich dieſer innere Zuſammenhang darin, daß faſt
überall beide Fragen gleich richtig oder gleich irrig aufge-
faßt zu werden pflegen (i).
(i) Derſelbe innere Zuſammen-
hang bewährt ſich in der Behand-
lung beider Gegenſtände, wie ſie
in der Praxis und in der Literatur
des Preußiſchen Rechts wahrzu-
nehmen iſt. Vgl. Koch Lehrbuch
V. 1 § 200.
|0442 : 424|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Daß in der That dieſe Behauptung dem Römiſchen
Recht entſpricht, ſoll nunmehr für die aufgeſtellten Klaſſen
der Verſchiedenheiten, durch welche die Einrede der Rechts-
kraft nicht ausgeſchloſſen wird, im Einzelnen nachgewieſen
werden.
§. 297.
Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.
1. Ungleichartige Klage.
Der Umſtand, daß die zweite Klage einen anderen
Namen führt, als die erſte, iſt niemals ein Hinderniß für
die Anwendung der Einrede.
Dieſe Regel iſt geradezu ausgeſprochen in einer der
oben angeführten Hauptſtellen über die Bedingungen
unſrer Einrede (§ 296).
L. 7 § 4 de exc. r. j. (44. 2) .., exceptio rei ju-
dicatae obstat, quotiens inter easdem personas eadem
quaestio revocatur, vel alio genere judicii(a).
Ein erläuterndes Beiſpiel der Anwendung dieſer Regel
würde etwa folgendes ſeyn. Wenn Jemand ſeine Sache
einem Anderen als Pfand, oder Commodat, oder Depoſitum
hingiebt, und der Empfänger dieſe Sache beſchädigt, ſo
hat der Geber die Wahl, ob er mit der Contractsklage
oder mit der Aquiliſchen Klage Entſchädigung fordern
(a) Ganz eben ſo ſagt L. 5
eod. „etsi diverso genere
actionis.“ Es iſt jedoch von die-
ſer Stelle ſchon oben bemerkt
worden, daß ſie nicht unmittelbar
von der Einrede der Rechtskraft
ſpricht (§ 296. a).
|0443 : 425|
§. 296. Einrede. Dieſelbe Rechtsfrage.
will. Iſt aber eine dieſer Klagen abgewieſen, weil der
Richter keine Beſchädigung annimmt, ſo iſt auch der Ge-
brauch der anderen Klage durch die Einrede der Rechts-
kraft ausgeſchloſſen.
Eine ſolche Entſcheidung findet ſich nun wirklich in
mehreren einzelnen Anwendungen, jedoch ſo unbeſtimmt,
daß dieſe allein nicht als zweifelloſe Beſtätigungen unſrer
Regel gelten können. Wenn nämlich darin blos geſagt
wird, die ſpätere Klage werde durch die frühere ausge-
ſchloſſen (b), ſo bleibt es dabei noch ungewiß, ob nicht
vorausgeſetzt iſt, die Entſchädigung ſey durch die frühere
Klage bereits bewirkt worden, in welchem Fall vielmehr
die Regel der Concurrenz, als die der Einrede, entſcheidend
ſeyn würde. In einigen anderen Stellen wird allerdings
die exceptio rei judicatae als Grund der Ausſchließung
erwähnt; jedoch iſt es auch da nicht klar, ob in der That
der Inhalt des früheren Urtheils und nicht vielmehr das
bloße Daſeyn deſſelben, alſo die Einrede in der negativen
Function, gemeint iſt (c).
Dagegen ſind völlig klar und unzweifelhaft mehrere
Entſcheidungen, die bei den folgenden Klaſſen der Ver-
ſchiedenheit vorkommen werden, namentlich bei der Ver-
ſchiedenheit der Parteirollen, und bei dem Legitimations-
punkt.
(b) L. 18 § 1 commod. (13. 6),
L. 38 § 1 pro soc. (17. 2), L. 1
§ 21 tutelae (27. 3), L. 4 § 5
quod cum eo (14. 5).
(c) L. 4 § 3 de noxal. (9. 4),
L. 25 § 1 de exc. r. jud. (44. 2).
|0444 : 426|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Eben ſo unzweifelhaft iſt folgende Entſcheidung für die
exceptio jurisjurandi, deren hier anwendbare Analogie
ſchon oben (§ 295) geltend gemacht worden iſt. Wenn
eine Entſchädigung eingeklagt wird mit der Klage aus
einem Mandat, einer Geſchäftsführung, einer Societät,
und der Beklagte ſchwört, die Thatſache, woraus die Ent-
ſchädigung abgeleitet wird, ſey nicht wahr, ſo wird durch
die Einrede des Eides nicht blos die Wiederholung der
früheren Klage ausgeſchloſſen, ſondern auch die certi con-
dictio, wenn etwa eine ſolche aus derſelben Thatſache,
worauf ſich der Eid bezog, an ſich begründet werden
könnte. Auch hier wird die Anwendbarkeit der Einrede in
dem ſpäteren Rechtsſtreit ausdrücklich davon abhängig ge-
macht, daß darin eadem quaestio, wie in dem früheren
Rechtsſtreit, zur Entſcheidung gebracht werde (d).
2.
Verſchiedene Parteirolle in dem erſten und
zweiten Rechtsſtreit. Auch durch dieſe Verſchiedenheit wird
die Anwendung der Exception oder Replication der Rechts-
kraft niemals verhindert, welches aus folgenden ganz un-
zweifelhaften Entſcheidungen einzelner Fälle hervorgeht.
Wenn der Beklagte in einer Eigenthumsklage verurtheilt
wird, und dann dieſelbe Eigenthumsklage gegen den früheren
(d) L. 28 § 4 de jurejur. (12. 2)
„Exceptio jurisjurandi non
tantum, si ea actione quis uta-
tur, cujus nomine exegit jus-
jurandum, opponi debet, sed
etiam, si alia, si modo eadem
quaestio in hoc judicium dedu-
catur“ rel. Ganz eben ſo ver-
hält es ſich mit der exceptio
pacti. L. 27 § 8 de pactis
(2. 14).
|0445 : 427|
§. 297. Einrede. Dieſelbe Rechtsfrage.
Beklagten anſtellt, ſo ſteht ihm unſre Einrede entgegen,
weil die frühere Verurtheilung unabänderlich ausgeſprochen
hat, daß er nicht Eigenthümer ſey (e). — Ganz eben ſo
verhält es ſich mit der Erbrechtsklage, welche nach erfolgter
Verurtheilung in umgekehrter Weiſe angeſtellt wird (f). —
Derſelbe Fall endlich kann auch bei der Hypothekarklage
zwiſchen zwei Pfandgläubigern eintreten, wenn in dem
erſten Rechtsſtreit dem Kläger die Priorität zugeſprochen
worden iſt, und nun in dem zweiten der frühere Beklagte
als Kläger abermals dieſe Priorität für ſich geltend zu
machen verſucht (g).
Wenn ferner in einer Eigenthumsklage der Kläger ab-
gewieſen wird, weil der Richter das Eigenthum verneint,
dann aber der Beſitz der Sache an dieſen Kläger kommt,
und nun der frühere Beklagte gegen ihn die Publicianiſche
Klage anſtellt, ſo kann der frühere Kläger (gegenwärtig
Beklagter) gegen dieſe Klage die exceptio dominii gebrauchen.
Allein dieſe Einrede wird ihm durch die replicatio rei judi-
catae entkräftet, weil in dem früheren Rechtsſtreit das
Daſein ſeines Eigenthums rechtskräftig verneint worden
iſt (h).
(e) L. 30 § 1 de exc. r. jud.
(44. 2), L. 40 § 2 de proc. (3. 3).
— Vgl. oben § 287. a.
(f) L. 15 de exc. r. jud.
(44. 2).
(g) L. 19 de exc. r. jud. (44. 2)
„eandem enim quaestionem re-
vocat in judicium.“ Auch in
dieſer einzelnen Anwendung ge-
braucht alſo Marcellus denſelben
entſcheidenden Ausdruck, der in den
allgemeinen Ausſprüchen des Ul-
pian vorkommt (§ 296).
(h) L. 24 de exc. r. jud.
(44. 2).
|0446 : 428|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wird einer perſönlichen Klage die Einrede der Compen-
ſation entgegengeſetzt, und dieſe deswegen verworfen, weil
der Richter die Gegenforderung als unbegründet anſieht,
ſo könnte ſpäterhin dieſe Gegenforderung als ſelbſtſtändige
Klage geltend gemacht werden. Dann aber würde die Ein-
rede der Rechtskraft dieſe Klage ausſchließen müſſen, weil
der frühere Richter das Daſeyn der Gegenforderung rechts-
kräftig verneint hat (i).
In den beiden zuletzt angeführten Fällen konnte nicht
blos die Verſchiedenheit der Parteirolle einen Zweifel an
der Anwendbarkeit jener Einrede erregen, ſondern auch die
ungleichnamige Klage, die dem erſten und zweiten Rechts-
ſtreit zum Grunde liegt. Da nun auch dieſer Umſtand
kein Hinderniß für die Anwendbarkeit iſt, ſo liegt darin
eine unzweifelhafte Beſtätigung der im Anfang dieſes
Paragraphen aufgeſtellten Regel.
Einen Zweifel an der Richtigkeit der hier aufgeſtellten
Regel könnte man aus der Äußerung des Paulus über
folgenden Rechtsfall herleiten (k). Der Verkäufer einer
fremden Sache erwirbt ſpäter das Eigenthum, und vindicirt
nun gegen den Käufer; dieſer kann ſich gegen die Klage
ſchützen durch eine exceptio doli (oder rei venditae et tra-
ditae). Er kann auch den Gebrauch der Einrede unter-
laſſen, und hinterher mit der actio emti das Intereſſe, oder
(i) L. 8 § 2 de neg. gestis
(3. 5), L. 7 § 1 de compens.
(16. 2), L. 1 § 4 de contr. tut.
(27. 4). — Vgl. oben § 291. d.
(k) L. 18 de evict. (21. 2),
verbunden mit L. 17 eod.
|0447 : 429|
§. 297. Einrede. Dieſelbe Rechtsfrage.
mit der Stipulationsklage den verſprochenen doppelten Kauf-
preis einklagen; dieſes Alles iſt durch unzweifelhafte Rechts-
regeln beſtätigt. Paulus aber ſetzt hinzu, dieſe Klagen
würden ihm ſelbſt dann zuſtehen, wenn er die Einrede ge-
braucht hätte, aber ohne Erfolg (etsi .. opposita ea nihilo-
minus evictus sit), d. h. wenn die Einrede verworfen
worden, oder unbeachtet geblieben wäre. Dieſes würde im
Widerſpruch ſtehen mit unſrer Regel, wenn der Richter
ausgeſprochen hätte, der frühere Verkauf, als Grund der
Einrede, ſey nicht wahr. Dieſes anzunehmen, liegt aber
in der Stelle kein nothwendiger Grund. Der Fall kann
vielmehr auch ſo gedacht werden, daß der Richter die Ein-
rede aus Verſehen unbeachtet ließ, oder daß er die Rechts-
regel verkannte, worauf die Einrede beruht, indem er etwa
die Vindication des früheren Verkäufers irrigerweiſe nicht
als eine doloſe Zuwiderhandlung gegen den eigenen Ver-
trag anſah (l).
§. 298.
Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.. Legi-
timationspunkt.
3. Entſcheidung über den Legitimations-
punkt.
(l) Allerdings iſt auch die Leſe-
art zweifelhaft, indem bei den Wor-
ten: vel ex emto, Haloander be-
merkt: alias desunt. Allein wenn
man auch dieſe Worte wegdenkt,
ſo wird dadurch die im Text er-
wähnte Schwierigkeit nicht beſei-
tigt. Die rechtskräftige Vernei-
nung des früheren Kaufvertrags
hätte die (durch dieſen Vertrag
bedingte) Stipulationsklage eben
ſowohl ausgeſchloſſen, als die
actio emti.
|0448 : 430|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Die Verſchiedenheit zwiſchen dem erſten und zweiten
Rechtsſtreit kann ferner darin beſtehen, daß die Rechts-
frage, die in dem einen Rechtsſtreit unmittelbar Gegen-
ſtand des Streites und der Entſcheidung war, in dem
anderen blos als eine Bedingung erſchien, ohne welche der
Kläger ſeinen eigentlichen Anſpruch nicht geltend machen
konnte. Auch dieſe Verſchiedenheit ſoll die Anwendung
der Einrede nicht hindern können (a).
Folgende Beiſpiele mögen vorläufig zur Erläuterung
dieſer Regel dienen. Wenn der mit einer Erbrechtsklage
abgewieſene Kläger gegen den früheren Beklagten die
Eigenthumsklage auf eine zu dieſer Erbſchaft gehörende
Sache anſtellt, ſo ſteht ihm die Einrede der Rechtskraft
entgegen, obgleich in dem zweiten Rechtsſtreit das abge-
ſprochene Erbrecht nicht Gegenſtand des Streites iſt, wohl
aber eine Bedingung für das behauptete Daſeyn des
Eigenthums, welche alſo zur Legitimation des Klägers
gehört. — Eben ſo auch umgekehrt. Wenn jener Kläger
die Eigenthumsklage zuerſt anſtellt, und durch die Beerbung
des früheren Eigenthümers zu begründen verſucht, vom
Richter aber abgewieſen wird, weil dieſer die Beerbung
(als legitimatio ad causam) verneint, ſo könnte derſelbe
(a) Ich erwähne hier blos die
Legitimation des Klägers (die Activ-
legitimation), von welcher auch
Andere bei dieſer Gelegenheit aus-
ſchließend zu reden pflegen. Aller-
dings könnten auch Fälle der Paſſiv-
legitimation in Betracht kommen;
allein theils iſt dieſe überhaupt
nicht oft Gegenſtand eines Rechts-
ſtreites, theils wird ſie noch weit
ſeltener ſo vorkommen, daß daraus
ſpäter eine Einrede der Rechtskraft
entſpringen könnte.
|0449 : 431|
§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.
Kläger nunmehr die Erbrechtsklage gegen den früheren
Beklagten anſtellen wollen; dabei aber würde ihm die
Einrede der Rechtskraft eben ſo entgegen ſtehen, wie in
dem zuerſt aufgeſtellten, umgekehrten Fall (b).
Dieſe praktiſch ſehr wichtige Regel ſteht in augen-
ſcheinlichem Zuſammenhang mit der oben vorgetragenen
Lehre von der Rechtskraft der Gründe, mit welcher ſie
nothwendig ſteht und fällt. Die Wahrheit derſelben iſt
auch ſchon von heutigen Schriftſtellern anerkannt, und ſehr
richtig auf den Grundſatz der eadem quaestio zurückge-
führt worden (c). Ein Schriftſteller der neueſten Zeit hat
ſie gleichfalls für das heutige Recht ſehr klar und befrie-
digend durchgeführt (d). Aber in folgerechtem Zuſammen-
hang mit ſeiner, ſchon oben gerügten, irrigen Auffaſſung
der Rechtskraft der Gründe, hat derſelbe Schriftſteller
behauptet, dem Römiſchen Recht ſey dieſe Behandlung des
Legitimationspunktes völlig fremd (e). Da alſo dieſe wich-
tige Frage, und zwar nicht ohne einigen Schein, in Zweifel
gezogen worden iſt, ſo iſt eine erſchöpfende Behandlung
derſelben vorzugsweiſe nöthig. Ich werde zuerſt die ein-
zelnen Ausſprüche des Römiſchen Rechts zuſammen ſtellen,
worin jene Regel, wie ich glaube, unzweifelhaft anerkannt
(b) In dieſen beiden Fällen
könnte noch der andere Zweifel
entſtehen, ob etwa deswegen die
Einrede unanwendbar wäre, weil
es zwei Klagen von verſchiedener
Natur und Benennung ſeyen. Da-
von iſt jedoch ſchon oben § 297
Num. 1 gehandelt worden.
(c) Keller S. 272—275.
(d) Buchka B. 2 S. 187—190.
(e) Buchka B. 1 S. 299—301.
Vgl. oben § 293. l.
|0450 : 432|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
wird, dann aber die Scheingründe zu beſeitigen ſuchen,
die man derſelben neuerlich entgegengeſtellt hat.
a. Die beiden, ſchon oben als Beiſpiele angeführten,
Fälle von der Erbrechtsklage und Eigenthumsklage werden
von Ulpian nicht nur genau ſo, wie es hier geſchehen,
entſchieden, ſondern auch in unmittelbare Verbindung mit
der eadem quaestio geſetzt, aus welcher die Entſcheidung
abgeleitet wird.
L. 3 de exc. r. jud. (44. 2). Julianus lib. 3 Dig.
respondit, exceptionem rei judicatae obstare, quotiens
eadem quaestio inter easdem personas revocatur: et
ideo, etsi singulis rebus petitis hereditatem petat, vel
contra, exceptione summovebitur(f).
L. 7 § 4 eod. Et generaliter, ut Julianus definit, ex-
ceptio rei judicatae obstat, quotiens inter easdem
personas eadem quaestio revocatur, vel alio genere
(f) Es würde ganz unrichtig
ſeyn, dieſe und die folgende Stelle
ſo erklären zu wollen, als wäre in
beiden Prozeſſen die hereditatis
petitio angeſtellt, einmal auf die
ganze Erbſchaft, das anderemal auf
einzelne Erbſchaftsſachen. Singu-
las res petere und singularum
rerum petitio iſt vielmehr ſtets
die eigenthümliche Bezeichnung der
Eigenthumsklage, alſo ganz gleich-
bedeutend mit specialis in rem
actio. Vgl. § 2 J. de off. jud.
(4. 17), L. 1 pr. § 1 de rei vind.
(6. 1). Auch würden ſonſt dieſe
Fälle nicht als erläuternde Bei-
ſpiele zu den Worten: vel alio
genere judicii paſſen, wozu ſie
doch in der zweiten Stelle zugleich
dienen ſollen. — Allerdings muß
man in beiden Stellen hinzu-
denken, daß die Eigenthumsklage
auf die angebliche Beerbung des
früheren Eigenthümers gegründet
wurde. Ulpian ſagt dieſes frei-
lich nicht, aber er deutet es durch
die Verbindung mit der eadem
quaestio ſo unverkennbar an, daß
hierüber kein Zweifel bleiben kann.
|0451 : 433|
§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.
judicii. Et ideo, si hereditate petita singulas res
petat, vel singulis rebus petitis hereditatem petat,
exceptione summovebitur.
b. Ein ganz ähnlicher Fall iſt der, wenn eine Schuld-
klage von dem angeblichen Erben des urſprünglichen Gläu-
bigers angeſtellt, und wegen des fehlenden Erbrechts ab-
gewieſen, dann aber gegen dieſelbe Perſon die Erbrechts-
klage angeſtellt wird; eben ſo auch, wenn umgekehrt zuerſt
die Erbrechtsklage abgewieſen, dann die Schuldklage an-
geſtellt wird. In beiden Fällen ſoll gleichfalls die Ein-
rede der Rechtskraft Anwendung finden. Dieſen Ausſpruch
knüpft Ulpian unmittelbar an den vorhergehenden an,
welcher die Eigenthumsklage zum Gegenſtand hatte; auch
iſt die völlige Gleichartigkeit beider Ausſprüche ganz unver-
kennbar (g). Hier aber fügt Ulpian folgenden Grund
hinzu: Nam cum hereditatem peto, et corpora, et actiones
omnes, quae in hereditate sunt, videntur in petitionem
deduci. Dieſer Ausdruck deutet allerdings auf den Grund-
ſatz der Conſumtion, alſo auf die Einrede der Rechtskraft
in ihrer negativen Function, und daraus hat der eben
angeführte Schriftſteller folgern wollen, daß Ulpian über-
haupt nur hieran, und nicht (wie hier behauptet wird) an
eine Rechtskraft des Ausſpruchs über den Legitimations-
(g) L. 7 § 5 de exc. r. jud.
(44. 2). Dieſe Stelle wird an den
vorhergehenden, von der Eigen-
thumsklage handelnden, Paragra-
phen mit folgenden Worten ange-
knüpft: „Idem erit probandum,
etsi quis debitum petierit a
debitore hereditario, deinde
hereditatem petat“ rel.
VI. 28
|0452 : 434|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
punkt, gedacht habe; außerdem würde ihn der Vorwurf
einer Verwechslung beider ganz verſchiedenen Grundſätze
treffen (h). In dieſer Behauptung wird aber die wahre
Lage der Sache völlig verkannt. Zu Ulpian’s Zeit be-
ſtanden beide Formen der Einrede der Rechtskraft in voller
Geltung neben einander, und nur in den ſeltenen Fällen,
worin dieſelben in Widerſtreit kamen, ſollte die neuere,
vollkommnere Form den Vorzug erhalten (§ 282). Nun
erwähnt Ulpian zuerſt den Fall der Eigenthumsklage,
deſſen Entſcheidung er befriedigend aus dem Grundſatz der
poſitiven Function (der eadem quaestio) rechtfertigt. Dann
geht er zu dem Fall der Schuldklage über, und auch dabei
hätte dieſelbe Rechtfertigung völlig ausgereicht. Er führt
aber dieſen Fall auf den Grundſatz der negativen Function
(der Conſumtion) zurück, der darauf gleichfalls anwendbar
war und ganz zu derſelben Entſcheidung führte. Darin
lag weder in der Sache ſelbſt ein Irrthum, noch eine In-
conſequenz, oder eine Verwechslung verſchiedenartiger
Grundſätze.
c. Wenn ein Miteigenthümer die Eigenthumsklage auf
ſeinen Theil der Sache gegen den andern Miteigenthümer
anſtellt, und damit abgewieſen wird, dann aber gegen den
früheren Beklagten die a. communi dividundo wegen der-
ſelben Sache anſtellt, ſo ſteht ihm die Einrede der Rechts-
kraft entgegen, weil dieſe letzte Klage das Miteigenthum
(h) Buchka B. 1 S. 299—301. — Vgl. unten Beilage XVI.
Note q.
|0453 : 435|
§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.
(als Activlegitimation) vorausſetzt, welches aber in der
erſten Klage rechtskräftig abgeſprochen iſt. — Ganz Daſſelbe
gilt auch, wenn ein Miterbe zuerſt mit der Erbrechtsklage
abgewieſen wird, und dann die a. familiae herciscundae
gegen den früheren Beklagten anſtellt. Es iſt dabei gleich-
gültig, ob in der erſten Klage der Richter annahm, der
Kläger ſey nicht Erbe, oder die eingeklagte Sache gehöre
nicht zur Erbſchaft (i).
d. Im Römiſchen Prozeß kommt häufig eine exceptio
praejudicialis vor, wodurch der Beklagte verlangen kann
daß die Sache ſo lange ausgeſetzt bleibe, bis über eine
andere Sache entſchieden ſeyn wird. Dieſe gründet ſich
großentheils darauf, daß außerdem über eine wichtigere
Sache nebenher, und daher vielleicht nicht mit angemeſſener
Sorgfalt, rechtskräftig entſchieden werden würde; ſie ſetzt
alſo die rechtskräftige Entſcheidung des Legitimationspunktes
geradezu voraus (k). — Dahin gehört z. B. folgender Fall.
Zwiſchen A. und B. iſt Streit über das Eigenthum des
fundus Titianus. Außerdem macht A. Anſpruch auf eine
Wegeſervitut über das unbeſtrittene Grundſtück des B.,
um zu jenem ſtreitigen Grundſtück zu gelangen. Hier
kann B. die Ausſetzung der confeſſoriſchen Klage bis zur
(i) Dieſe verſchiedenen Fälle
kommen vor in folgenden Stellen:
L. 8, L. 11 § 3 de exc. r. jud.
(44. 2) und L. 25 § 8 fam. herc.
(10. 2). Die Schwierigkeiten, welche
die zuletzt angeführte Stelle dar-
bietet, ſind vortrefflich beſeitigt von
Keller S. 364—366.
(k) Die Zulaſſung dieſer Ein-
rede war übrigens von einem ſehr
freien richterlichen Ermeſſen ab-
hängig. Vgl. L. 7 § 1 de her.
pet. (5. 3).
28*
|0454 : 436|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
abgeſonderten Entſcheidung der Eigenthumsklage wegen des
fundus Titianus verlangen. Der Grund wird dahin ange-
geben: videlicet quod non aliter viam mihi deberi pro-
baturus sim, quam prius probaverim, fundum Titianum
meum esse (l). Die durch die Einrede abzuwendende Ge-
fahr lag alſo lediglich darin, daß bei Gelegenheit der con-
feſſoriſchen Klage über die weit wichtigere Frage des Grund-
eigenthums, als bloßen Legitimationspunkt, und dennoch
rechtskräftig entſchieden werden würde. — Ganz eben ſo
verhält es ſich bei den im Anfang dieſes Paragraphen er-
wähnten Fällen einer Eigenthumsklage und einer darauf
folgenden Erbrechtsklage. Auch in dieſen Fällen hätte der
Beklagte verlangen können, daß zuvor eine abgeſonderte
Erbrechtsklage angeſtellt und entſchieden würde (m). Da
er Dieſes unterließ, ſo war nun durch die Entſcheidung
(l) L. 16 de except. (44. 1). —
Die unmittelbar darauf folgende
Stelle (L. 17 eod.) geht in der
That auf die exc. rei jud., nicht
auf die exc. praejudicii, ſteht
alſo nicht in innerem Zuſammen-
hang mit der vorhergehenden. Sie
ſetzt aber auch gar nicht eine Ab-
weiſung voraus, und iſt daher im
Sinn ihres Verfaſſers auf die ne-
gative Function der Einrede (die
Conſumtion der Klage) zu beziehen.
Aber ſelbſt wenn man ſie, im
Sinn des Juſtinianiſchen Rechts,
auf die poſitive Function umdeuten
wollte, würde ſie doch keinen Zwei-
fel gegen anderwärts begründete
Rechtsregeln erregen können. Denn
die confeſſoriſche Klage konnte ab-
gewieſen ſeyn, weil der Richter die
Errichtung einer Servitut verneinte,
nicht gerade, weil er das Grund-
eigenthum des Klägers in Abrede
ſtellte. Daher iſt die Erklärung
bei Buchka I. 303 zu verwerfen.
(m) L. 13 de except. (44. 1),
worin ausgeſprochen iſt, daß durch
die exceptio praejudicialis die
Eigenthumsklage einſtweilen aus-
geſchloſſen wird, ſo lange die Erb-
rechtsklage noch nicht angeſtellt iſt.
|0455 : 437|
§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.
über den Legitimationspunkt das Erbrecht des Klägers
rechtskräftig verneint (n).
Es ſind nun noch die Scheingründe zu beſeitigen, wo-
durch neuerlich verſucht worden iſt, die Rechtskraft der
Entſcheidung über den Legitimationspunkt aus Stellen des
Römiſchen Rechts zu widerlegen.
Wenn Alimente gefordert werden auf den Grund der
Verwandtſchaft oder des Patronats, der Beklagte aber
dieſen Grund beſtreitet, ſo ſoll der Richter, ehe er über
die Alimente entſcheidet, das Daſeyn der Verwandtſchaft
oder des Patronats prüfen, jedoch nur obenhin (summatim);
auch wird ausdrücklich hinzugefügt, die richterliche Ge-
währung oder Abweiſung der Alimente ſolle keinen Einfluß
haben auf den möglichen künftigen Rechtsſtreit über die
Verwandtſchaft (o). — Die Abſicht ging alſo dahin, daß
bei offenbar ungegründeter Verwandtſchaft die Alimente ver-
weigert, außerdem aber einſtweilen zugeſprochen werden
ſollten. Dieſe Vorſchrift nun ſoll als Beweis gelten, daß
die Römer der Entſcheidung über den Legitimationspunkt
überhaupt keine Rechtskraft zugeſchrieben hätten (p). Allein
gegen eine ſolche Folgerung hätte ſchon die Vorſchrift
(n) Vgl. die oben abgedruckten
Stellen: L. 3, L. 7 § 4 de exc.
r. jud. (44. 2). — Daſſelbe gilt
auch, wenn bei ſtreitigem Grund-
eigenthum eine actio communi
dividundo, oder eine Condiction
wegen der Früchte angeſtellt werden
ſollte; auch Das kann durch die
exc. praejud. abgewendet werden.
L. 18 de except. (44. 1).
(o) L. 5 § 8. 9. 18 de agnosc.
(25. 3), L. 10 de his qui sui (1. 6).
(p) Buchka B. 1 S. 305.
|0456 : 438|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
mißtrauiſch machen müſſen, daß der Richter nur summatim
prüfen ſolle, wovon die natürliche Folge iſt, daß eine
ſolche Prüfung auf den Erfolg des ſpäteren Rechtsſtreits
keinen Einfluß haben durfte. Auch iſt es nicht ſchwer, den
Grund dieſer beſonderen Vorſchrift und ihrer Folge in der
ganz eigenthümlichen Natur der Alimentenforderung zu ent-
decken. Bei dieſer kommt es darauf an, dem dringenden
perſönlichen Bedürfniß ſchnell abzuhelfen, und dem unwieder-
bringlichen Nachtheil vorzubeugen, der aus dem Mangel
an Unterhalt entſtehen kann. Es würde daher ganz will-
kührlich ſeyn, aus dieſer höchſt eigenthümlichen Vorſchrift
irgend eine Folgerung für die allgemeine Behandlung des
Legitimationspunktes zu ziehen. Vielmehr iſt in dieſem be-
ſonderen Fall anzunehmen, daß der Richter, der die Ali-
mente zuſpricht, damit noch gar keine beſtimmte Ueberzeugung
von dem wirklichen Daſeyn einer Verwandtſchaft habe aus-
ſprechen wollen.
Ein ähnlicher, aber noch weniger ſcheinbarer Einwurf
iſt aus folgender Vorſchrift des Römiſchen Rechts ent-
nommen worden. Wenn ein rechtskräftig verurtheilter
Schuldner dem Urtheil nicht Folge leiſtet, ſo wird bekannt-
lich die Execution dadurch bewirkt, daß die richterliche
Obrigkeit Sachen des Verurtheilten abpfänden, und zur
Befriedigung des Gläubigers verkaufen läßt (q). Wenn
nun bei dieſem Verfahren eine dritte Perſon auftritt, welche
(q) Pignus in causa judicati captum.
|0457 : 439|
§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.
das Eigenthum einer abgepfändeten Sache für ſich in An-
ſpruch nimmt, ſo ſoll dieſer neue Anſpruch obenhin (sum-
matim) geprüft werden. Wird derſelbe offenbar ungegrün-
det befunden, ſo wird das eingeſchlagene Verfahren fortge-
ſetzt; bleibt die Frage zweifelhaft, ſo ſoll die Pfändung
an dieſer ſtreitigen Sache aufgegeben, und an deren Stelle
eine andere, unſtreitige Sache geſetzt werden. In keinem
Fall aber ſoll dieſe richterliche Verfügung auf die künftige
Entſcheidung über das Eigenthum jener ſtreitigen Sache
irgend einen Einfluß haben (r). Dieſe letzte Beſtimmung
nun wird wieder als Beweis geltend gemacht, daß die
Römer der Entſcheidung über den Legitimationspunkt
niemals die Rechtskraft beigelegt hätten (s). Allein in
dem hier vorausgeſetzten Fall war ja über das Eigenthum
der abgepfändeten Sache noch gar kein eigentlicher Rechts-
ſtreit unter den betheiligten Parteien geführt worden. Der
Richter hatte von Anfang an völlig freie Wahl, welche
Sachen des ungehorſamen Schuldners er pfänden wollte.
Hatte er gewählt, und entſtanden Zweifel über das Eigen-
(r) L. 15 § 4 de re jud. (42. 1)
„.. ipsos, qui rem judicatam ex-
sequuntur, cognoscere debere
de proprietate, et si cognove-
rint, ejus fuisse, qui condemna-
tus est, rem judicatam exse-
quentur. Sedsciendum est, sum-
matim eos cognoscere debere,
nec sententiam eorum posse de-
bitori praejudicare, si forte di-
mittendam eam rem putave-
rint, quasi ejus sit, qui contro-
versiam movit, non ejus, cujus
nomine capta est … Sed il-
lud debet dici, ubi controversia
est de pignore, id dimitti de-
bere, et capi aliud, si quod
est sine controversia.“
(s) Buchka B. 1 S. 308.
|0458 : 440|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
thum der gewählten Sache, ſo konnte er die Wahl ändern,
und zu dieſem willkührlichen Entſchluß reichte ſchon der
bloße Zweifel hin. Welchen Entſchluß alſo auch der
Richter faſſen mochte, ſo lag darin niemals der Ausdruck
einer gewonnenen Ueberzeugung von dem Eigenthum oder
Nichteigenthum irgend einer beſtimmten Perſon. Es lag
alſo darin nicht die Entſcheidung über einen ſtreitigen Le-
gitimationspunkt, und dieſe Vorſchrift kann daher auch nicht
benutzt werden, um daraus irgend eine Folgerung zu ziehen
für die Römiſche Anſicht über die Rechtskraft der, den Le-
gitimationspunkt betreffenden, richterlichen Entſcheidung.
Endlich wird noch als ein Einwurf gegen die hier ver-
theidigte Lehre ein einzelnes Reſcript des K. Severus (t)
geltend gemacht, zu deſſen vollſtändiger Erklärung eine
etwas ausführliche Vorbereitung nöthig iſt. Wenn in einer
Provinz ein Rechtsſtreit über die Standesverhältniſſe einer
Perſon (Freiheit, Verwandtſchaft u. ſ. w.) geführt wurde,
ſo ſollte der Präſes in eigener Perſon, ohne Judex, ent-
ſcheiden, anſtatt daß über alle anderen Sachen, namentlich
über Erbrechtsklagen, ein von ihm niedergeſetzter Judex zu
entſcheiden hatte. Nun war ein Mann geſtorben und hatte
ein Teſtament hinterlaſſen; der Teſtamentserbe war im Be-
ſitz der Erbſchaft. Die Vormünder eines Unmündigen aber
behaupteten, dieſer ſey ein nachgeborner Sohn des Erb-
laſſers, und durch deſſen Geburt ſey das Teſtament ver-
(t) L. 1 C. de ord. cogn. (3. 8). Buchka B. 1 S. 301. 302
|0459 : 441|
§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.
nichtet worden. Sie fragten bei dem Kaiſer an, ob ſie
unmittelbar die Erbrechtsklage vor einem Judex anſtellen
könnten, der dann zugleich die Vorfrage wegen der rechts-
kräftigen Geburt unterſuchen würde. Das Reſcript geht
dahin, daß dieſer Weg zuläſſig ſey. Denn obgleich der
Judex nicht befugt geweſen wäre, über das Familienver-
hältniß, als Gegenſtand einer ſelbſtſtändigen Klage (u), ein
Urtheil zu ſprechen, ſo könne er doch bei Gelegenheit der
Erbrechtsklage auch das Familienverhältniß (als Legitima-
tionspunkt) feſtſtellen, indem das Urtheil wörtlich immer
nur auf das Erbrecht gerichtet ſeyn würde. — Dieſes iſt
der Inhalt folgender Stelle:
L. 1 C. de ord. cogn. (3. 8) Adite praesidem pro-
vinciae, et ruptum esse testamentum Fabii Praesentis
agnatione filii docete: neque enim impedit notionem
ejus, quod status quaestio in cognitione vertitur, etsi
super status causa cognoscere non possit(v). Per-
(u) Man könnte glauben, die
Vormünder hätten zuerſt in einer
beſonderen Klage, vor dem Präſes
ſelbſt, das Familienverhältniß zur
Anerkennung bringen müſſen. Al-
lein nicht nur wäre Dieſes eine
unnütze Weitläufigkeit geweſen, ſon-
dern es kommt auch überhaupt
eine beſondere Klage auf Anerken-
nung der Agnation gegen einen
Nichtverwandten (den fremden
Teſtamentserben) nicht vor. —
Bethmann-Hollweg Verſuche
S. 125, nimmt an, der Beklagte
habe in dieſem Fall durch eine
exceptio praejudicii die abge-
ſonderte Entſcheidung über das
Familienverhältniß erzwingen kön-
nen, und blos, weil er Dieſes unter-
ließ, ſey dem Richter über die Erb-
rechtsklage auch die Entſcheidung
über die Agnation anheimgefallen.
(v) In dieſen Worten liegt die
eigentliche Schwierigkeit der Stelle.
Die gewöhnliche Erklärung aller
älteren Schriftſteller geht dahin,
der Präſes habe überhaupt keine
Befugniß gehabt, über eine Klage
|0460 : 442|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
tinet enim ad officium judicis, qui de hereditate cog-
noscit, universam incidentem quaestionem, quae in
judicium devocatur, examinare: quoniam non de ea,
sed de hereditate pronuntiat(w).
Nun wird behauptet, weil nach den Schlußworten der
Richter nicht über das Familienverhältniß entſcheide, ſo
werde auch hierin ſeine Annahme nicht rechtskräftig. In
dieſer Behauptung liegt aber ein offenbarer Zirkel. Jene
Worte ſprechen nur von dem wörtlichen Inhalt des richter-
lichen Ausſpruchs, der ſtets mit der angebrachten Klage
im Zuſammenhang ſteht. Die Streitfrage iſt aber gerade
die, ob noch irgend Etwas, und wie Viel, außer jenem
de statu zu erkennen, und zu die-
ſer Erklärung neigte ſich Anfangs
auch Cujacius hin. (Merill.
variant. ex Cuj. II. 1). Dieſe
Vorausſetzung aber wird durch
mehrere Stellen widerlegt, am be-
ſtimmteſten durch L. 7 C. ne de
statu defunct. (7. 21). Daher
muß die hier bemerkte Unfähigkeit
nicht auf den Präſes ſelbſt, ſon-
dern auf den von ihm über die
Erbrechtsklage niedergeſetzten Judex
bezogen werden, deſſen wörtliche
Erwähnung vielleicht nur in dem
für den Codex aus dem ganzen
Reſcript gemachten Auszug aus-
gefallen iſt. Eine Beſtätigung die-
ſer Annahme liegt in den gleich
darauf folgenden Worten: Perti-
net enim ad officium judicis,
qui de hereditate cognoscit.
Dieſe Erklärung findet ſich bei
Hotomanus obs. VI. 6, Cujac.
recit. in Dig., L. 74 de re jud.,
L. 5. de her. pet. (Opp. T. 7
p. 165. 220), Giphan. explan.
Codicis, L. 1 de ord. jud. p. 152.
(w) Weſentlich übereinſtimmend
mit der angeführten Stelle iſt auch
noch folgende. L. 3 C. de jud.
(3. 1). Quoties quaestio status
bonorum disceptationi concur-
rit: nihil prohibet, quo magis
apud eum quoque, qui alioquin
super causa status cognoscere
non possit, disceptatio termi-
netur. — Alioquin heißt: wenn
die causa status Gegenſtand einer
eigenen, ſelbſtſtändigen Klage ge-
weſen wäre. — Disceptatio ter-
minetur deutet offenbar auf eine
definitive, für immer wirkſame Feſt-
ſtellung.
|0461 : 443|
§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.
wörtlichen Inhalt, rechtskräftig werde. Dieſe Frage
wird in der angeführten Stelle weder bejaht noch verneint,
und ſie kann nur theils aus allgemeinen Grundſätzen (über
die Rechtskraft der Gründe), theils aus den oben ange-
führten unzweifelhaften Stellen des Ulpian entſchieden
werden. — So iſt denn auch der Inhalt der hier ange-
führten Stelle ſchon längſt von mehreren der bewährteſten
Ausleger aufgefaßt worden, welche gleichfalls annehmen,
daß in jenem Ausſpruch des Richters auch das als In-
cidentfrage vorgebrachte Familienverhältniß völlig und für
immer feſtgeſtellt ſey (x).
§. 299.
Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage. Äußerer
und juriſtiſcher Gegenſtand der Klage.
4. Verſchiedenheit des äußeren Gegenſtandes
in beiden Klagen.
Auch dieſe Verſchiedenheit iſt nicht nothwendig ein
Hinderniß für die Anwendung der Einrede, indem es auch
in dieſer Hinſicht lediglich darauf ankommt, zu unterſuchen,
ob dieſelbe Rechtsfrage in beiden Klagen vorhanden iſt
oder nicht.
(x) Cujacius l. c. p. 220.
„Ceterum si pronuntietur, he-
reditatem esse actoris, tacite
etiam videbitur pronuntiatum
de ejus libertate.“ — Giphanius
l. c. p. 156. „Ut scilicet, dum
de principali causa pronuntia-
tur, simul et per consequentiam
ac tacite de causa status di-
judicetur, non vero, ut simul,
aut etiam separatim de utra-
que causa nominatim pronun-
tietur.“
|0462 : 444|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wenn daher einige Stellen des Römiſchen Rechts mit
ſcheinbarer Allgemeinheit ſagen, die Einrede ſey nur an-
wendbar, inſofern der Gegenſtand beider Klagen ein und
derſelbe ſey (a), ſo iſt Dieſes von den allerdings gewöhn-
lichſten Fällen zu verſtehen, in welchen die Verſchiedenheit
der Gegenſtände zugleich mit ganz verſchiedenen Rechts-
fragen verbunden iſt. Iſt alſo die Eigenthumsklage über
ein Haus abgewieſen, ſo wird aus dieſem Urtheil bei dem
künftigen Rechtsſtreit über das Eigenthum eines Land-
gutes eine Einrede in der Regel nicht abgeleitet werden
können.
Dagegen giebt es in der That viele und wichtige Fälle,
worin die Verſchiedenheit in den äußeren Gegenſtänden
beider Klagen die Anwendbarkeit der Einrede auf die
ſpätere Klage nicht hindert. In dieſen Fällen wird die
Anwendbarkeit gerechtfertigt durch das allgemeine Verhält-
niß eines Ganzen zu ſeinen Theilen. Indem näm-
lich jeder Theil in dem Ganzen enthalten iſt, wird ſehr
häufig ein Ausſpruch über das Ganze zugleich den Aus-
(a) L. 12. 13 de exc. r. jud.
(44. 2). „Cum quaeritur, haec
exceptio noceat, nec ne, in-
spiciendum est, an idem corpus
sit. — Quantitas eadem, idem
jus.“ — Die erſte der hier in den
Digeſten zuſammengefügten Stel-
len iſt von Paulus, die zweite
von Ulpian. — Es werden da-
bei noch die billigen Zuſätze gemacht,
daß die bleibende Einheit des Ge-
genſtandes nicht geſtört werde durch
die natürlichen Veränderungen in
dem Umfang einer Sache; eben ſo
auch, wenn von dem Eigenthum
einer Heerde die Rede ſey, nicht
dadurch, daß einzelne Thiere dazu
kommen, oder davon ausſcheiden.
L. 14 pr. L. 21 § 1 eod.
|0463 : 445|
§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.
ſpruch über jeden Theil dieſes Ganzen in ſich ſchließen.
Dadurch wird dann die Verſchiedenheit der Gegenſtände
beider Klagen in bloßen Schein aufgelöſt ſeyn, und als
weſentliche Gleichheit anerkannt werden müſſen. Durch
dieſe abſtracte Auffaſſung der Frage ſoll jedoch blos vor-
läufig der Geſichtspunkt für dieſelbe angedeutet ſeyn.
Erſt durch die Anwendung auf die einzelnen dahin gehö-
renden Fälle kann dafür Anſchaulichkeit, Überzeugung, und
zugleich richtige Begränzung gewonnen werden.
a. Der wichtigſte Fall dieſer Art betrifft die Erbrechts-
klage, welche ein ganzes Vermögen als ſolches zum eigent-
lichen Gegenſtand hat, aber durch den zufälligen Beſitz des
Beklagten an einem einzelnen Stück der Erbſchaft veran-
laßt ſeyn kann. Iſt nun die auf ein Haus des Erblaſſers
angeſtellte Erbrechtsklage abgewieſen, und wird nachher
gegen denſelben Beklagten wegen eines Landgutes des Erb-
laſſers dieſelbe Klage angeſtellt, ſo ſteht ihr die Einrede
der Rechtskraft entgegen, obgleich in beiden Klagen der
äußere Gegenſtand völlig verſchieden iſt. Denn die ent-
ſcheidende Rechtsfrage betrifft in beiden Klagen das Da-
ſeyn des Erbrechts; wird nun dieſes Daſeyn in der erſten
Klage verneint, ſo bindet dieſe Verneinung auch den
Richter, der über die zweite Klage zu entſcheiden hat (b).
(b) Natürlich wird dabei vor-
ausgeſetzt, daß die erſte Klage
deswegen abgewieſen wurde, weil
der Richter annahm, der Kläger
ſey nicht Erbe. Gründete ſich
die Abweiſung darauf, daß die Ei-
genſchaft des Hauſes als eines
Stückes der Erbſchaft, oder daß
der Beſitz des Beklagten verneint
wurde, ſo kann daraus eine Ein-
|0464 : 446|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Dieſelbe Frage kann auch in folgender verwickelteren
Geſtalt vorkommen, worin ſie im Römiſchen Recht aus-
drücklich erwähnt und entſchieden worden iſt (c). A. und B.
machen Anſpruch auf die ganze Erbſchaft des verſtorbenen
C. — A. beſitzt aus dieſer Erbſchaft ein Haus, B. ein
Landgut. — A. klagt mit der Erbrechtsklage wegen des
Landgutes, und B. wird verurtheilt. — Wenn nunmehr B.
gegen A. wegen des Hauſes die Erbrechtsklage anſtellen
will, ſo ſteht ihm die Einrede der Rechtskraft entgegen,
weil aus der früheren Verurtheilung nothwendig folgt, daß
er kein Erbrecht hat (d).
b. Dieſelbe Regel kann aber auch zur Anwendung
kommen, wenn irgend ein einzelnes Vermögensſtück (ſey
es ein dingliches Recht oder eine Schuldforderung) einge-
klagt, die Klage abgewieſen, und dann für einen Theil
jenes Vermögensſtücks wiederholt wird. Die Abweiſung
für das Ganze iſt auch entſcheidend für den einzelnen Theil,
ſo daß hier die Regel zur Anwendung kommt: In toto et
pars continetur (e).
Es verdient bemerkt zu werden, da es neuerlich bezwei-
felt worden iſt, daß dieſe Regel gleich wahr iſt für den
älteren und neueren Standpunkt unſrer Einrede, obgleich
rede gegen die auf das Landgut
gerichtete zweite Klage nicht abge-
leitet werden.
(c) L. 15 de exc. r. jud. (44. 2).
(d) Vgl. oben § 287. a.
(e) L. 113 de R. J. (50. 17). —
Ähnliche Regeln, wie die hier für
die Einrede der Rechtskraft aufge-
ſtellte, gelten auch für die exe.
pacti und jurisjurandi. L. 27
§ 8 de pactis (2. 14), L. 7 de
jurej. (12. 2).
|0465 : 447|
§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.
für beide aus etwas verſchiedenen Gründen (f). Nach
dem Grundſatz der Conſumtion iſt die Regel wahr, weil
die Eigenthumsklage auf ein Landgut nicht blos das ganze
Gut, ſondern auch jedes einzelne Stück deſſelben in ju-
dicium deducirt, alſo die Klage darauf conſumirt. Nach
dem Grundſatz der eadem quaestio (der poſitiven Function
der Einrede) iſt die Regel wahr, weil der Richter bei der
auf ein Ganzes gerichteten Klage befugt iſt, nicht nur
dieſes Ganze zuzuſprechen, ſondern auch jeden Theil des-
ſelben, wenn er darauf den Anſpruch für begründet hält.
Weiſt er alſo den Kläger überhaupt ab, ſo hat er damit
in der That ausgeſprochen, daß der Kläger auch keinen
denkbaren Theil des Ganzen zu fordern habe (g). Mit
dieſem Ausſpruch aber würde jede ſpätere Klage auf irgend
einen Theil jenes Ganzen völlig im Widerſpruch ſtehen.
Die ſo eben aufgeſtellte wichtige Regel wird in einer
Stelle des Ulpian ſo erſchöpfend behandelt, daß ſich an
(f) Vgl. Wächter Erörterungen
H. 3 S. 44, welcher die Behaup-
tung von Vangerow widerlegt,
daß dieſer Satz nur aus dem
Grundſatz der Conſumtion gerecht-
fertigt werden könne.
(g) Vgl. oben § 286. 292. —
Es iſt wohl darauf zu achten, daß
der hier aufgeſtellte Satz eben nur
wahr iſt für die Fälle, in welchen
der Richter auch Das zuſprechen
konnte, worauf die zweite Klage
gerichtet wird; außerdem iſt die
Einrede nicht anwendbar. Vgl.
oben § 286. d. i. Wenn daher von
mehreren Beſtandtheilen eines
Rechtsanſpruchs nur einer einge-
klagt wird, ſo wird die ſpätere
Klage auf die übrigen Theile nicht
nothwendig durch die Einrede aus-
geſchloſſen, weil der Richter nicht
Mehr zuſprechen durfte, als der
Kläger begehrte. Daraus ſind
folgende Stellen zu erklären, die
daher mit der im Text aufgeſtellten
Regel nicht im Widerſpruch ſtehen:
L. 20, L. 21 pr. de exc. r. jud.
(44. 2), L. 46 § 5 de admin.
(26. 7), L. 2 C. de jud. (3. 1).
Vgl. Keller S. 540.
|0466 : 448|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
den Inhalt dieſer Stelle die vielfachen Anwendungen der
Regel am beſten werden anknüpfen laſſen.
L. 7 pr. de exc. r. jud. (44. 2). Si quis, cum totum
petisset, partem petat, exceptio rei judicatae nocet:
nam pars in toto est. Eadem enim res accipitur,
etsi pars petatur ejus, quod totum petitum est(h).
Nec interest, utrum in corpore hoc quaeratur, an in
quantitate, vel in jure. Proinde si quis fundum
petierit, deinde partem petat, vel pro diviso, vel pro
indiviso: dicendum erit, exceptionem obstare. Proinde
etsi proponas mihi, certum locum me petere ex eo
fundo, quem petii, obstabit exceptio.
Ulpian ſagt, die Regel vom Ganzen und dem Theil
komme in dreierlei Anwendungen vor. Zuerſt bei einem
corpus und deſſen realen und idealen Theilen. Wird alſo
die Eigenthumsklage auf ein Landgut abgewieſen, ſo darf
dieſelbe nachher auch nicht auf ein abgegränztes Stück
dieſes Gutes wiederholt werden (i), und eben ſo wenig
auf das ideale Drittheil oder Viertheil deſſelben. — Zweitens
bei einer quantitas. Wird alſo eine Schuldklage auf 100
abgewieſen, ſo darf dieſelbe ſpäter auch nicht auf 70 oder
30 erneuert werden, weil jede dieſer kleineren Summen in
(h) Nach dieſen Worten könnte
man zweifeln, ob nicht vielleicht
Ulpian dieſe Regel lediglich aus
dem Grundſatz der Conſumtion
ableiten wolle. Dieſer Zweifel ver-
ſchwindet dadurch, daß er ſchon
wenige Zeilen nachher Alles auf
den Grundſatz der eadem quae-
stio, alſo auf die poſitive Function,
zurückführt. S. o. § 296. a.
(i) Dieſer Theil der Stelle wird
auch noch beſtätigt in L. 26 § 1 eod.
|0467 : 449|
§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.
dem früheren Urtheil mit abgeſprochen worden iſt. —
Drittens bei einem jus. Wird daher die Klage auf den
Nießbrauch eines Hauſes abgewieſen, ſo darf dieſelbe ſpäter
auch nicht auf den Rießbrauch des halben Hauſes erneuert
werden. Eben ſo iſt durch die Abweiſung der Klage auf
eine ganze Erbſchaft auch die Wiederholung dieſer Klage
auf irgend einen idealen Theil dieſer Erbſchaft ausge-
ſchloſſen (k).
Als Ganzes im Verhältniß zu ſeinen Theilen, muß hier
auch jedes eingeklagte Aggregat einzelner Sachen betrachtet
werden, wenn die Klage abgewieſen, und nachher auf ein-
zelne, in jenem Aggregat enthaltene, Sachen erneuert wird.
Dahin gehören die Fälle, wenn zuerſt zwei Sachen zugleich
vindicirt werden, ſpäter (nachdem jene Klage abgewieſen
worden) eine derſelben (l). Ferner, wenn die Eigenthums-
klage auf eine Heerde abgewieſen, und dann auf einzelne
Thiere aus derſelben Heerde wiederholt wird (m).
(k) Die abgewieſene Erbrechts-
klage auf die Hälfte der Erbſchaft
ſchließt daher die ſpätere Wieder-
holung auf ein Sechstheil aus.
L. 30 pr. de exc. r. jud. (44. 2).
Die von Donellus XXII. 5 § 10
zu dieſer Stelle vorgeſchlagene
Emendation: partem sextantem,
anſtatt sextantis, ſcheint unnöthig,
da auch ohne Änderung die Worte
eben ſo erklärt werden können:
pars sextantis für: quae in
sextante consistit. — Von die-
ſer Stelle wird übrigens noch un-
ten die Rede ſeyn (§ 300).
(l) L. 7 pr., L. 21 § 1 de
exc. r. jud. (44. 2).
(m) L. 21 § 1 de exc. r. jud.
(44. 2). Indem in dieſen beiden
Fällen ſchon die erſte Klage auf
alle Stücke zugleich gerichtet war,
ſind dieſe Fälle weſentlich verſchie-
den von den, in der Note g. er-
wähnten Fällen. Ein Widerſpruch
iſt alſo in dieſen Stellen durchaus
nicht vorhanden.
VI. 29
|0468 : 450|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
c. Der bisher abgehandelte Fall kann ferner in umge-
kehrter Weiſe eintreten, ſo daß zuerſt auf einen Theil ge-
klagt, dieſe Klage aber abgewieſen, und ſpäter für das
Ganze wiederholt wird. Es fragt ſich, ob auch hier die
neue Klage durch die Einrede ausgeſchloſſen werde. Dieſe
Frage wird von Einigen allgemein bejaht (n), von Anderen
allgemein verneint (o); Beides mit Unrecht. Es fehlt hier
an einem ſo durchgreifenden Grund, wie er in dem vorher-
gehenden, umgekehrten Fall anerkannt werden mußte, und
es iſt daher in jedem einzelnen Fall beſonders zu unterſuchen,
ob in der zweiten Klage dieſelbe Rechtsfrage, wie in der
erſten, vorliegt, welcher Umſtand allein überall entſcheiden
muß. Wenn z. B. die Eigenthumsklage auf ein abge-
gränztes Stück eines Landgutes angeſtellt und abgewieſen
wird, ſo kann ſpäter jedes andere Stück eingeklagt werden,
weil jedes Stück auch als ſelbſtſtändiger Gegenſtand eines
beſonderen Eigenthums betrachtet werden kann. Wird da-
her die neue Klage auf das ganze Gut gerichtet, ſo iſt ſie
für das früher eingeklagte Stück durch das vorige Urtheil
allerdings ausgeſchloſſen, für die übrigen Stücke aber
nicht. — Wenn dagegen die confeſſoriſche Klage auf das
jus altius non tollendi von zehen Fuß Höhe abgewieſen,
und nachher auf zwanzig Fuß Höhe erneuert wird, ſo ſteht
ihr die Einrede der Rechtskraft entgegen, weil die ausge-
(n) Faber in Cod. Lib. 7 T. 19 def. 5, beſonders not. 16.
(o) Toullier T. 10 § 153. 155. 156.
|0469 : 451|
§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.
dehntere Servitut ohne die bereits abgeſprochene beſchränk-
tere gar nicht ausgeübt werden kann (p).
d. Mit dem hier abgehandelten Verhältniß des Ganzen
zu ſeinem Theil ſind folgende Fragen nahe verwandt.
Wenn eine Zinſenklage abgewieſen, nachher aber eine
andere Zinsſumme, oder auch das Kapital eingeklagt wird,
ſo fragt es ſich, ob die Einrede der Rechtskraft auf die
zweite Klage angewendet werden kann. Eben ſo, wenn die
abgewieſene erſte Klage auf Zahlung einer angeblich fälligen
Rente (eines Kanon) gerichtet war, die zweite Klage einen
anderen Poſten derſelben Rente, oder das Recht der Rente
ſelbſt, zum Gegenſtand hat.
Auch bei dieſer Frage kommt Alles darauf an, ob in
beiden Klagen dieſelbe Rechtsfrage zum Grunde liegt, oder
nicht. Wurde alſo die erſte Klage deswegen abgewieſen,
weil der Richter annahm, es ſey keine Kapitalſchuld oder
kein Recht auf eine Rente vorhanden, ſo iſt die zweite
Klage durch die Einrede ausgeſchloſſen. Anders, wenn ſich
die Abweiſung darauf gründete, daß der eingeklagte einzelne
Poſten ſchon bezahlt, oder compenſirt ſey.
Ganz Daſſelbe muß auch gelten, wenn der Beklagte zur
Zahlung einer einzelnen Forderung von Zinſen oder Renten
verurtheilt wurde, nachdem er das Recht auf Zinſen oder
Renten überhaupt beſtritten hatte. Durch jene Verurtheilung
wird das Recht im Allgemeinen rechtskräftig feſtgeſtellt (q).
(p) L. 26 pr. de exc. r. jud. (44. 2).
(q) Buchka hat auch hier wieder die Frage für das heutige Recht
29*
|0470 : 452|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Entſcheidungen des Römiſchen Rechts über die hier
aufgeworfene Frage finden ſich nicht. Die Stellen, die
man dafür anzuführen pflegt, berühren dieſelbe in der That
nicht (r).
5. Verſchiedenheit des juriſtiſchen Gegen-
ſtandes der beiden Klagen.
Dieſe Verſchiedenheit iſt gleichfalls kein nothwendiges
Hinderniß für die Anwendung unſrer Einrede. Wenn
daher mit der condictio furtiva der Erſatz einer geſtohlenen
Sache gefordert wird, der Richter aber die Klage abweiſt,
weil er das Daſeyn eines Diebſtahls verneint, ſo kann
nachher auch keine actio furti auf Strafe wegen dieſes
Diebſtahls angeſtellt werden; eben ſo verhält es ſich, wenn
umgekehrt die actio furti zuerſt angeſtellt, und abgewieſen
wird. Zwar iſt der juriſtiſche Gegenſtand beider Klagen
(Erſatz und Strafe) völlig verſchieden. Wenn daher in
richtig beantwortet, für das Römi-
ſche Recht irrigerweiſe das Gegen-
theil angenommen. B. 1 S. 307.
308, B. 2 S. 184. 191. — Einige
irrige Entſcheidungen Preußiſcher
Gerichte über dieſe Frage ſind ſchon
oben angeführt worden. § 294
Note n. und r.
(r) L. 23 de exc. r. jud. (44. 2)
ſpricht gar nicht von dem Fall
einer abgewieſenen Zinſenklage,
alſo von der Einrede in der poſi-
tiven Function, ſondern verneint
nur die Conſumtion der Kapital-
klage durch die bloße Anſtellung
der Zinſenklage. Dieſe Verneinung
folgte nothwendig ſchon daraus,
daß auf Kapital und Zinſen zwei
ganz verſchiedene Obligationen und
Klagen gerichtet waren (vgl. oben
S. 126. 160). Keller S. 536.
— Die L. 4 C. depos. (4. 34)
iſt nach dem älteren Recht zu er-
klären aus der Conſumtion der
einen untheilbaren Klage, nach dem
neueren Recht aus der ſtillſchwei-
genden Verwerfung der nicht zu-
geſprochenen Verzugszinſen, die der
Richter ſtets nach freiem Ermeſſen
zuſprechen konnte (§ 286).
|0471 : 453|
§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.
der erſten Klage der Kläger ſeinen Zweck erreicht hat, ſo
kann dennoch die zweite Klage angeſtellt werden, ſo daß
ihr der Grundſatz der Concurrenz nicht entgegen ſteht (s).
Eben ſo iſt die zweite Klage gewiß nicht ausgeſchloſſen
durch Anwendung des Grundſatzes der Conſumtion. Allein
es iſt unleugbar, daß beiden Klagen dieſelbe Rechtsfrage
zum Grunde liegt; wird alſo in der einen das Daſeyn
eines Diebſtahls verneint, ſo muß dieſe Verneinung auch
der anderen Klage entgegen ſtehen, da beide gleichmäßig
durch die Thatſache eines begangenen Diebſtahls bedingt
ſind (t). Ein ausdrückliches Zeugniß für dieſen Satz iſt
nicht vorhanden. Er folgt aber unzweifelhaft aus dem
allgemeinen Grundſatz, und er wird überdem dadurch be-
ſtätigt, daß er für die exceptio jurisjurandi ausdrücklich
anerkannt wird (u), deren innere und weſentliche Ver-
wandtſchaft mit der Einrede der Rechtskraft ſchon oben
dargethan worden iſt (§ 295).
§. 300.
Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage. Ver-
ſchiedenheit des Erwerbsgrundes.
6. Eine Verſchiedenheit kann endlich noch vorkommen
in dem Erwerbsgrunde, woraus das in beiden
Klagen verfolgte Recht abgeleitet wird (origo
(s) Vgl. oben B. 5 § 234. a.
(t) Keller S. 281. Anderer Meinung iſt Buchka B. 1 S. 131.
(u) L. 13 § 2 de jurej. (12. 2).
|0472 : 454|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
actionis). Auch eine ſolche Verſchiedenheit iſt nicht allgemein
ein Hinderniß für die Anwendung der Einrede.
Über dieſe Frage enthält das Römiſche Recht ſo klare
und beſtimmte Regeln, daß darüber wenig Streit und
Zweifel entſtanden iſt; nur eine Ausnahme jener Regeln
hat zu großen Streitigkeiten Anlaß gegeben.
Es wird in der Regel unterſchieden zwiſchen perſön-
lichen Klagen und Klagen in rem. Bei jenen iſt der Er-
werbsgrund der Obligation Dasjenige, wodurch dieſe eine
individuelle Natur erhält. Bei Eigenthum und Erbrecht
dagegen kommt es nur auf die Natur des Rechts und
deſſen Gegenſtand an, und es bleibt ein und daſſelbe
Recht, ohne Unterſchied, aus welchem Grunde es entſtanden
ſeyn möge. Wenn daher die auf ein Haus gerichtete
Klage aus einem Kaufvertrag abgewieſen, dann aber eine
Klage auf daſſelbe Haus aus einem Vermächtniß angeſtellt
wird, ſo ſteht die Einrede der Rechtskraft nicht entgegen,
weil beiden Klagen völlig verſchiedene Obligationen, alſo
auch verſchiedene Rechtsfragen, zum Grunde liegen. Wenn
dagegen die Eigenthumsklage auf ein Haus aus dem Er-
werb durch Tradition abgeleitet und nun abgewieſen wird, ſo
kann ſie auch nicht dadurch erneuert werden, daß der
Kläger etwa verſucht, das Eigenthum nunmehr auf Er-
ſitzung zu gründen. Denn die Rechtsfrage iſt in beiden
Klagen das Daſeyn des Eigenthums, und die möglichen
Erwerbsgründe ſind nur die Mittel, wodurch der Kläger
verſucht, den Richter von dieſem Daſeyn zu überzeugen;
|0473 : 455|
§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.
wenn er über dieſe Mittel ſeine Meinung ändert (mutata
opinio), ſo dürfen nicht deswegen beide Klagen als ver-
ſchiedene angeſehen werden. Eben ſo würde es ſich ver-
halten, wenn der angebliche Erbe eines Verſtorbenen mit
der Erbrechtsklage aus einem Teſtament abgewieſen wird,
und dann als Inteſtaterbe die Erbrechtsklage erneuert.
Die ſo unterſcheidende Regel iſt in folgenden Stellen
ſehr klar und beſtimmt ausgeſprochen (a):
L. 14 § 2 de exc. r. jud. (44. 2). (Paulus).
Actiones in personam ab actionibus in rem hoc
differunt: quod, cum eadem res ab eodem mihi de-
beatur, singulas obligationes singulae causae se-
quuntur, nec ulla earum alterius petitione vitiatur:
at cum in rem ago, non expressa causa, ex qua
rem meam esse dico, omnes causae una petitione
adprehenduntur: neque enim amplius, quam semel,
res mea esse potest: saepius autem deberi potest.
L. 11 § 5 eod. (Ulpianus).
Itaque adquisitum quidem postea dominium aliam
causam facit, mutata autem opinio petitoris non
facit. Utputa opinabatur ex causa hereditaria, se
dominium habere: mutavit opinionem, et coepit
putare ex causa donationis: haec res non parit
petitionem novam: nam qualecumque et undecumque
(a) Parallelſtellen: L. 159 de
R. J. (50. 17), L. 3 § 4 de adqu.
vel am. poss. (41. 2). — Sehr
gut handelt von dieſer Frage
Keller § 35.
|0474 : 456|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
dominium adquisitum habuit, vindicatione prima in
judicium deduxit.
Beide Hälften dieſer Regel ſollen nun noch in der An-
wendung auf einzelne Fälle näher betrachtet werden.
Die Regel für die perſönlichen Klagen wird in
folgenden Anwendungen anerkannt. Wenn Jemand einen
beſtimmten Sclaven aus einer Stipulation, außerdem aber
auch aus einem Vermächtniß zu fordern hat, ſo ſind
Dieſes zwei ganz verſchiedene, von einander unabhängige
Rechte. Wird alſo die Klage auf das eine dieſer Rechte
abgewieſen, ſo kann der ſpäteren Klage auf das andere
Recht die Einrede der Rechtskraft nicht entgegengeſetzt
werden (b). — Eben ſo verhält es ſich, wenn Jemand
Hundert zuerſt aus einem Darlehen einklagt, und dann,
nachdem er mit jener Klage abgewieſen worden iſt, die-
ſelben Hundert aus einem Fideicommiß (c).
Neratius drückt die hier für die perſönlichen Klagen
aufgeſtellte Regel ſo aus: die Einheit oder Verſchiedenheit
beider Klagen beruhe auf der causa proxima actionis (d).
Dieſe nähere Beſtimmung würde ſich etwa in folgender
Anwendung wirkſam zeigen. Wenn der Miether eines
Pferdes dieſes angeblich beſchädigt haben ſoll, ſo hat der
Vermiether gegen ihn zwei verſchiedene Klagen, aus dem
(b) L. 18 de obl. et act. (44. 7),
Gajus IV. § 55.
(c) L. 93 § 1 de leg. 3 (32. un.),
L. 28 § 13. 14 de lib. leg. (34. 3).
(d) L. 27 de exc. r. jud.
(44. 2). Die Erklärung, die Puchta
von dieſem Ausdruck giebt (Rhein.
Muſeum II. 252. 253), halte ich
nicht für richtig.
|0475 : 457|
§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.
Miethvertrag, und aus dem beſchädigten Eigenthum (a. L.
Aquiliae). Wird daher die eine dieſer Klagen abgewieſen,
ſo könnte man glauben, die andere ſey nicht ausgeſchloſſen,
weil in dieſer das Recht aus einem anderen Entſtehungs-
grunde abgeleitet werde. Allein die causa proxima actionis
iſt die Beſchädigung. Wird dieſe rechtskräftig verneint, ſo
iſt dieſe Verneinung auch für die zweite Klage entſcheidend.
Die wahre Gränze für die Zuläſſigkeit der Einrede kann
daher hier, wie überall, nur danach beurtheilt werden, ob
in beiden Klagen dieſelbe Rechtsfrage zum Grunde liegt.
Der folgende, von Ulpian erzählte Rechtsfall hat unbe-
gründete Zweifel an der allgemeinen Anerkennung der hier
abgehandelten Regel veranlaßt. Ein Sclave hatte von
ſeinem Herrn Auftrag zur Führung von zweierlei Ge-
ſchäften erhalten: zum Betrieb eines Oelhandels, und zur
Aufnahme von Darlehnen. Ein Gläubiger hatte ihm ein
Darlehen gegeben, indem er irrigerweiſe annahm, daß
daſſelbe zum Oelhandel verwendet werden ſollte, und hatte
nun gegen den Herrn die institoria actio wegen des Auf-
trags zu dieſem Handelsbetrieb angeſtellt. Nachdem er ab-
gewieſen worden war, wollte er von Neuem klagen, indem
er ſich darauf bezog, daß der Sclave auch zur Aufnahme
von Darlehnen überhaupt ermächtigt war. Eigentlich, ſagt
Ulpian, iſt die Klage conſumirt; dennoch muß ihm, nach
Julian’s (richtiger) Bemerkung, eine utilis actio geſtattet
werden (e). — Der Grundſatz der Conſumtion führte hier
(e) L. 13 pr. de instit. act. (14. 3).
|0476 : 458|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
auf die Zulaſſung der Einrede, weil die zweite Klage, der
Form nach, eine Wiederholung der früheren war. Allein
nach der neueren Ausbildung der exceptio rei judicatae,
d. h. nach dem Grundſatz der eadem quaestio, mußte die
Einrede verworfen werden, weil der frühere Richter nur
die Verwendung des Geldes zum Oelhandel verneint hatte,
womit die gegenwärtige Annahme eines im Auftrag des
Sclaven liegenden Darlehens nicht im Widerſpruch ſteht.
In dieſer Entſcheidung liegt alſo nur eine der auch ſonſt
vorkommenden Spuren, daß allmälig die neuere Geſtalt der
exceptio rei judicatae, wo ſie mit der älteren in Wider-
ſtreit kam, in den gerichtlichen Entſcheidungen vorgezogen
wurde (f).
Die Regel für die Klagen in rem ging dahin, daß
ungeachtet der Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes, woraus
der Kläger in beiden Klagen ſein Recht ableitet, die Ein-
rede der Rechtskraft dennoch auf die ſpätere Klage anwend-
bar ſeyn ſoll. Die oben abgedruckten entſcheidenden Stellen
reden allerdings zunächſt nur von der Eigenthumsklage und
dem Erwerbe des Eigenthums; allein die erſte unter jenen
Stellen ſpricht doch die Regel allgemein aus für alle ac-
tiones in rem, und es hat keinen Zweifel, daß der ganze
Inhalt jener Stellen eben ſowohl auf die Erbrechtsklage,
(f) Keller S. 580. Kie-
rulff S. 263. Vgl. oben § 282.
— Die exceptio rei judicatae
wurde in dieſem Fall ohne Zweifel
durch eine doli replicatio ent-
kräftet, und auf dieſem Wege
wurde dem Kläger ein günſtiger
Erfolg ſeiner Klage verſchafft
(„utilem ei actionem compe-
tere ait“).
|0477 : 459|
§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.
als auf die Eigenthumsklage, Anwendung findet. Eine Be-
ſtätigung dieſer Behauptung findet ſich in einer Stelle des
Paulus, die auf mancherlei Weiſe mißverſtanden worden
iſt (g). In einem Teſtament war für ein Sechstheil des
Vermögens zum Erben eingeſetzt worden ein Verwandter
des Verſtorbenen, der als Inteſtaterbe auf die Hälfte der
Erbſchaft Anſpruch gehabt haben würde. Dieſer klagte als
Inteſtaterbe gegen einen gleichfalls eingeſetzten Beſitzer der
Erbſchaft auf die Hälfte, indem er das Teſtament als un-
gültig anfocht; er wurde abgewieſen, und wollte nun als
Teſtamentserbe gegen denſelben Beſitzer das ihm angewie-
ſene Sechstheil einklagen. Paulus ſagt, dieſe zweite
Klage ſey durch die Einrede der Rechtskraft ausgeſchloſſen.
Darin liegt die Anerkennung, daß dieſe Einrede anwendbar
iſt, auch wenn beide Erbrechtsklagen auf verſchiedenen Er-
werbsgründen der Erbſchaft beruhen, die erſte auf der Ver-
wandtſchaft, die zweite auf einem Teſtament.
Nur aus Mißverſtändniß iſt auf dieſe Regel eine Stelle
des Ulpian bezogen worden, die hier genau erklärt werden
muß, weil ſich an die irrige Auffaſſung derſelben manche
bedenkliche Irrthümer angeknüpft haben (h). Es war ein
Mann geſtorben und hatte ſowohl ein Teſtament für ſich
ſelbſt, als ein Pupillarteſtament für ſeinen unmündigen
(g) L. 30 pr. de exc. r. jud.
(44. 2). Vgl. Keller S. 288. 289.
— In anderer Beziehung iſt dieſe
Stelle ſchon oben benutzt worden.
§ 299. k.
(h) L. 11 pr. de exc. r. jud.
(44. 2). Von dieſer Stelle handeln
Keller S. 290. 580. Puchta
Rhein. Muſeum II. 264. III. 483.
Kierulff S. 261. 262.
|0478 : 460|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Sohn hinterlaſſen. Bald darauf ſtarb auch der Sohn, und
nun klagte deſſen Mutter als Inteſtaterbin aus dem Ter-
tullianiſchen Senatusconſult gegen den Beſitzer der Erb-
ſchaft, indem ſie behauptete, das Teſtament ihres Mannes
ſey rumpirt, und dadurch zugleich das Pupillarteſtament
ihres Sohnes ungültig geworden. Da ſich dieſe Be-
hauptung als falſch erwies, ſo wurde ſie abgewieſen. Als
aber nunmehr das Pupillarteſtament eröffnet wurde, fand
ſich darin gar kein Subſtitut vor, und nun wollte die
Mutter nochmals als Inteſtaterbin gegen denſelben Beſitzer
klagen. Neratius ſagt, die Einrede der Rechtskraft ſtehe
ihr entgegen, und auch Ulpian hält Dieſes an ſich für
unzweifelhaft, giebt jedoch in den Schlußworten noch eine
Aushülfe an, die den wichtigſten Theil der ganzen Stelle
enthält. Ehe ich aber dieſe Schlußworte erkläre, will ich
zuvor den Geſichtspunkt für den bisher dargelegten Gang
des ganzen Rechtsfalls feſtzuſtellen ſuchen. Man hat die
Sache ſo aufgefaßt, als hätte die Mutter zwei Erbrechts-
klagen aus verſchiedenen Erwerbsgründen der Erbſchaft
verſucht, wodurch dieſe Stelle in Verbindung mit der ſo
eben abgehandelten Rechtsregel kommen würde; Dieſes iſt
jedoch offenbar nicht richtig; vielmehr war die erſte, wie die
zweite Klage eine und dieſelbe hereditatis intestati petitio,
nur mit verſchiedenen vorgebrachten Rechtfertigungsgrün-
den (i). Der erſte Rechtsſtreit war aber ſchlecht geführt
(i) Die Schlußworte der Stelle:
quae unam tantum causam
egit rupti testamenti, entſcheiden
für keine dieſer beiden, an ſich
|0479 : 461|
§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.
und ſchlecht entſchieden worden. Die Klägerin, die einen
an ſich ganz unzweifelhaften Inteſtaterbanſpruch hatte,
durfte gar nicht abgewieſen werden, bevor das Pupillar-
teſtament eröffnet war (k). — Ich komme nun zu den
Schlußworten der Stelle, worin Ulpian folgende Aus-
hülfe in Ausſicht ſtellt: sed ex causa succurrendum erit
ei, quae unam tantum causam egit rupti testamenti. Dieſe
Worte pflegen ſo aufgefaßt zu werden, daß es hart und
unbillig ſeyn würde, wenn die vorige Klägerin wegen ihrer
unvorſichtigen Prozeßführung leiden ſollte; daher müſſe ſie
Reſtitution gegen die Rechtskraft erhalten. Natürlich zeigt
man ſich nun geneigt, eine ſolche Reſtitution überall ein-
treten zu laſſen, wo die Einrede der Rechtskraft einem
Kläger beſondere Nachtheile droht. — Dieſe Lehre mag
milde und billig ſcheinen; aber es iſt unleugbar, daß damit
der ganze Gewinn aus dem Grundſatz der Rechtskraft, die
ganze damit verbundene Rechtsſicherheit, ſo gut als ver-
nichtet ſeyn würde. Alles wäre in der That der unbe-
ſchränkten Willkühr des Richters überlaſſen, und es iſt gar
nicht denkbar, daß Ulpian ganz vorübergehend, in wenigen
Worten, die ganze Lehre von der Rechtskraft, die gerade er,
denkbaren Erklärungen, da ſie eben
ſo gut von zwei verſchiedenen Recht-
fertigungsgründen, als von zwei
verſchiedenen Klagen, verſtanden
werden können. Eine actio rupti
testamenti giebt es ja ohnehin
nicht, ſondern nur eine heredi-
tatis petitio, zu deren Rechtfer-
tigung der Kläger, unter vielen
anderen Gründen, auch darauf ſich
berufen kann, daß ein Teſtament
ruptum ſey.
(k) L. 1 § 1 testam. quem-
adm. aper. (29. 3), L. 6 de
transact. (2. 15).
|0480 : 462|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
vor allen Anderen, mit großer Conſequenz durchgeführt hat,
ſollte wankend gemacht haben. — Eine hiſtoriſche Erklärung
dieſer Worte liegt allerdings nahe. Zur Zeit des Ulpian
hatten Frauen einen allgemeinen Anſpruch auf Reſtitution,
wenn ſie durch Rechtsunwiſſenheit in Nachtheil geriethen,
und zwar beſonders, wenn dieſe Rechtsunwiſſenheit bei
ſchädlichen Handlungen oder Unterlaſſungen in einer Pro-
zeßführung wahrgenommen wurde (l). Daß aber die Frau,
von welcher hier die Rede iſt, durch Rechtsunwiſſenheit
den Verluſt des erſten Prozeſſes ſich zugezogen hatte, iſt
ſchon oben gezeigt worden. Vielleicht hatte alſo Ulpian
ausdrücklich geſagt, daß der Frau dieſe Reſtitution wegen
ihres Geſchlechts gegeben werden müſſe, und die Compila-
toren haben dieſe Erwähnung, wegen des hierin verän-
derten Rechts, vertilgt (m). Allerdings kann dieſe hiſto-
riſche Erklärung auf die Stelle, wie ſie als Beſtandtheil
des Juſtinianiſchen Rechts vor uns liegt, nicht angewendet
werden. Allein auch hier wird der ganze Schlußſatz doch
nur dadurch wichtig und gefährlich, daß manche Ausleger
die Worte: ex causa, auf eine unbeſchränkte Willkühr des
Richters in Geſtattung einer milden Nachſicht deuten.
Eben ſo nahe, und noch näher, liegt es aber, die Worte:
(l) Vgl. oben B. 3 S. 432 und
S. 384 (Num. XIX.), S. 427
(Num. XXIX).
(m) Vielleicht hatte Ulpian
geſchrieben: sed sexus causa
succurrendum erit ei, ſo wie es
in L. 2 § 7 de j. fisci (49. 14)
heißt: si ea persona sit, quae
ignorare propter rusticitatem,
vel propter sexum femininum,
jus suum possit. Die Verände-
rung von sexus causa in ex
causa war dann ſehr einfach und
leicht.
|0481 : 463|
§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.
ex causa, ſo zu erklären: wenn überhaupt ein ſonſt begrün-
deter Reſtitutionsgrund (etwa Minderjährigkeit, Betrug
u. ſ. w.) vorliegt. Nach dieſer Erklärung iſt der beiläufig
hingeworfene Satz höchſtens trivial, aber weder irrig noch
gefährlich.
Bisher iſt die Regel dargeſtellt worden, ſowohl für die
perſönlichen Klagen, als für die Klagen in rem. Bei dieſen
letzten Klagen aber kommen zwei wichtige Ausnahmen in
Betracht, in welchen die Einrede für den Fall eines an-
deren Erwerbsgrundes eben ſo ausgeſchloſſen bleiben muß,
wie ſie ſchon in der Regel für dieſen Fall bei den perſön-
lichen Klagen ohnehin ausgeſchloſſen iſt. Dieſe Ausnahmen
beziehen ſich auf den Fall der causa superveniens und auf
den der causa adjecta oder expressa.
a. Causa superveniens.
Wenn eine Eigenthumsklage abgewieſen wird, weil der
Kläger, nach dem Ausſpruch des Richters, kein Eigenthum
hat, ſo darf die Klage, nach der oben aufgeſtellten Regel,
ſelbſt dann nicht erneuert werden, wenn ſich der Kläger
auf einen anderen Erwerbsgrund, als den der früheren
Klage zum Grunde liegenden, berufen wollte. Die Er-
neuerung der Klage aber iſt ihm ausnahmsweiſe erlaubt,
wenn der behauptete andere Erwerb erſt nach Beendigung
des erſten Rechtsſtreites eingetreten ſeyn ſoll (n).
(n) L. 11 § 4. 5 de exc. r.
jud. (44. 2). — Ebenſo, wenn in
einem Rechtsſtreit über die Frei-
heit der Sklave für frei erklärt
|0482 : 464|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Eben ſo verhält es ſich, wenn die frühere Abweiſung
nicht auf das fehlende Eigenthum des Klägers, ſondern
auf den fehlenden Beſitz des Beklagten gegründet war, der
Kläger aber behauptet, der damals fehlende Beſitz ſey nach
dem Ende des früheren Rechtsſtreits an den Beklagten ge-
kommen (o).
Wenn ferner eine Erbrechtsklage abgewieſen wird, weil
der Richter annimmt, der Kläger ſei nicht Erbe, und nun
eine neue Erbrechtsklage aus einer erſt ſpäter eingetretenen
Erwerbung des Erbrechts abgeleitet wird, ſo ſoll dieſe neue
Klage durch die Einrede der Rechtskraft nicht ausgeſchloſſen
ſeyn (p).
Der Grund dieſer Ausnahme liegt in der oben aufge-
ſtellten Regel, daß jedes Urtheil ſtets nur Etwas ausſprechen
will und kann, für den Zeitpunkt in welchem es erlaſſen
wird (§ 292. k. l.). Alle ſpäteren Aenderungen der Rechts-
verhältniſſe liegen daher ganz außer ſeinem Bereich, und
es kann alſo auch nicht auf den Erfolg einer Klage ein-
wirken, die eine ſolche ſpätere Aenderung zum Gegen-
ſtand hat.
Wegen der durchgreifenden Allgemeinheit dieſes Grundes
wird, nachher aber ſein früherer
Gegner das Eigenthum dieſes Skla-
ven durch Erbſchaft oder auf irgend
eine andere Weiſe wirklich erwirbt;
Dieſem ſteht die Einrede nicht
entgegen. L. 42 de lib. causa
(40. 12).
(o) L. 17 de exc. r. jud.
(44. 2). — Daſſelbe muß behauptet
werden, wenn eine Erbrechtsklage,
oder eine a. ad exhibendum blos
wegen des fehlenden Beſitzes ab-
gewieſen war. L. 9 pr. L. 18
eod., L. 8 pr. ratam rem (46. 8).
(p) L. 25 pr. de exc. r. jud.
(44. 2).
|0483 : 465|
§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.
würde derſelbe nicht blos, wie hier behauptet wird, auf
Klagen in rem, ſondern eben ſo auch auf perſönliche
Klagen Anwendung finden können. Bei dieſen aber fehlt
es meiſt deswegen an einem Bedürfniß, weil bei ihnen die
ganz anders lautende Regel eine ſolche Ausnahme ohnehin
entbehrlich macht. Dennoch kommen hier ſeltnere Fälle vor,
worin ein ſolches Bedürfniß eintritt, und dann iſt auch
die Anwendung der angegebenen Ausnahme ganz unbe-
denklich. — Wenn alſo z. B. aus einem bedingten Vertrag
vor Eintritt der Bedingung geklagt wird, ſo iſt der Kläger
abzuweiſen. Tritt aber nachher die Bedingung ein, ſo
kann die frühere Klage, ungehindert durch die Einrede der
Rechtskraft, wiederholt werden (q).
b. Causa adjecta oder expressa.
Der Sinn dieſer Ausnahme geht dahin, daß es dem
Kläger frei ſteht, ſeine Klage in rem auf einen einzelnen,
beſtimmten Erwerbsgrund (z. B. Erſitzung bei dem Eigen-
thum, Teſtament bei dem Erbrecht) zu beſchränken. Das
hat für ihn den Nachtheil, daß er im Lauf des Rechts-
ſtreits nicht zum Beweiſe eines anderen Erwerbsgrundes
übergehen kann: den Vortheil, daß die Abweiſung ihn
(q) L. 43 § 9 de aedil. ed.
(21. 1). — Eben ſo, wenn wegen
der bedingten Schuld nicht die
Schuldklage, ſondern die Hypothe-
karklage angeſtellt und abgewieſen
worden iſt. L. 13 § 5 de pign.
(20. 1). — Eben ſo, wenn die
perſönliche Klage blos wegen einer
Einrede abgewieſen wurde, deren
Grund durch ein ſpäteres Ereigniß
weggeräumt wird. L. 2 de exc.
r. jud. (44. 2), L. 15 de obl.
et act. (44. 7).
VI. 30
|0484 : 466|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
nicht hindert, künftig die Klage zu erneuern, indem er ſie
alsdann aus einem anderen Erwerbsgrund ableitet (r).
Durch dieſe Ausnahme wird daher die Anwendung der
Regel ſelbſt auf die Fälle beſchränkt, worin die erſte Klage
auf das Eigenthum oder das Erbrecht im Allgemeinen,
ohne Hinzufügung eines einzelnen Erwerbsgrundes, ange-
ſtellt wird.
Da jedoch dieſe zweite Ausnahme neuerlich zum Gegen-
ſtand eines lebhaften Streites geworden iſt, deſſen Dar-
ſtellung hier den Zuſammenhang allzuſehr unterbrechen
würde, ſo iſt die Prüfung dieſer Streitfrage in die Bei-
lage XVII. verwieſen worden.
§. 301.
Einrede der Rechtskraft. Bedingungen. Dieſelben
Perſonen.
Die zweite Bedingung für die Anwendbarkeit der Ein-
rede der Rechtskraft (§ 296) beſteht darin, daß dieſelben
Perſonen als Parteien in dem zweiten Rechtsſtreit er-
ſcheinen müſſen, unter welchen der frühere Rechtsſtreit ge-
führt worden iſt, oder in der ſubjectiven Identität
beider Klagen (a). Wo dieſe Bedingung fehlt, wirkt die
(r) L. 11 § 2. L. 14 § 2 de
exc. r. jud. (44. 2).
(a) L. 3. L. 7 § 4 de exc.
r. jud. (44. 2) „inter easdem
personas“ (abgedruckt oben § 296
S. 417). L. 1 eod., L. 63 de
re jud. (42. 1), L. 12 de jurej.
(12. 2), L. 1 C. inter al. acta
(7. 60), L. 2 C. de exc. (8. 36). —
Über dieſen Gegenſtand iſt im All-
gemeinen zu vergleichen Keller
§ 44. 45.
|0485 : 467|
§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.
Einrede nicht, ſo daß alſo in jedem ſpäteren Rechtsſtreit
eine dritte Perſon aus dem früheren rechtskräftigen Urtheil
weder Rechte geltend machen, noch einer Verbindlichkeit
unterworfen werden kann (b).
Dieſe Regel iſt von beſonderer Wichtigkeit bei den
Klagen in rem. Denn da das Eigenthum, und eben ſo
auch das Erbrecht, als eine allgemeine, gegen Jeden wirk-
ſame, Eigenſchaft des Berechtigten gedacht wird, ſo liegt
der Gedanke ſehr nahe, daß die rechtskräftige Bejahung
oder Verneinung dieſer Eigenſchaft eben ſo allgemein für
und wider alle Menſchen ihre Wirkung äußern müſſe.
Dennoch verhält es ſich damit ganz anders. Das Weſen
der Rechtskraft beſteht in einer Fiction der Wahrheit für
das geſprochene Urtheil (§ 280). Auf die Anwendung
dieſer Fiction erwirbt die obſiegende Partei ein Recht gegen
die unterliegende, und ſo hat das, aus dem Urtheil ent-
ſpringende Rechtsverhältniß völlig die Natur einer Obliga-
tion, und wirkt daher nicht auf fremde Perſonen, die etwa
auf daſſelbe Eigenthum oder Erbrecht Anſpruch machen
möchten (c). — Bei den perſönlichen Klagen, deren Gegen-
(b) L. 2 C. quib. res jud.
(7. 56): „Res inter alios judica-
tae neque emolumentum afferre
his, qui judicio non interfue-
runt, neque praejudicium so-
lent irrogare.“
(c) L. 63 de re jud (42. 1)
„… Diversa causa est, si fundum
a te Titius petierit, quem ego
quoque, sed non ex persona
Titii, ad me pertinere dico.
Nam quamvis contra Titium,
me sciente, judicatum sit,
nullum tamen praejudicium
patior: quia neque ex eo jure,
quo Titius victus est, vindico,
neque potui Titio intercedere,
quo minus jure suo utatur.“
30*
|0486 : 468|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſtand ein Rechtsverhältniß zwiſchen zwei beſtimmten Per-
ſonen iſt, kann in den meiſten Fällen ſelbſt ein ſolcher
Zweifel gar nicht entſtehen, ſo daß hier jene Regel von
geringerer Wichtigkeit iſt. Doch kommen auch dabei Fälle
vor, worin ſich dieſelbe wirkſam zeigt. Wenn nämlich ein
Gläubiger oder Schuldner ſtirbt, und mehrere Erben hinter-
läßt, ſo geht auf jeden Erben ein Theil des Rechtsverhält-
niſſes über, welcher dann Gegenſtand eines ſelbſtſtändigen
Rechtsſtreites für dieſen Erben werden kann. Das Urtheil
über dieſen Rechtsſtreit ſoll nun auf den, dem anderen
Erben zukommenden Theil des Rechtsverhältniſſes keinen
Einfluß haben, obgleich dieſes urſprünglich ein ungetrenntes
Ganze war, und daher die Gründe der Entſcheidung meiſt
gemeinſame ſeyn werden (d).
Wollte man die hier aufgeſtellte Regel in aller Strenge
geltend machen, ſo würde dadurch der Gebrauch der Ein-
rede ſehr eingeſchränkt werden. Ihre praktiſche Wichtigkeit
beruht daher großentheils auf einigen Erweiterungen der
Regel, die nun noch darzuſtellen ſind.
Dieſe Erweiterungen ſind von zweierlei Art. Die
meiſten und wichtigſten beruhen auf der Anwendung des
allgemeinen, ſchon anderwärts begründeten, Succeſſions-
(d) L. 22 de exc. r. jud.
(44. 2). „Si cum uno herede
depositi actum sit, tamen et
cum ceteris heredibus recte
agetur, nec exceptio rei judi-
catae eis proderit: nam etsi
eadem quaestio in omnibus
judiciis vertitur, tamen per-
sonarum mutatio, cum quibus
singulis suo nomine agitur,
aliam atque aliam rem facit.“
L. 63 de re jud. (42. 1), L. 2
C. quib. res jud. (7. 56).
|0487 : 469|
§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen
verhältniſſes; wir können dieſe Erweiterungen natürliche
nennen. Andere dagegen beruhen auf beſonderen Vor-
ſchriften, herbeigeführt durch das eigenthümliche Bedürfniß
einzelner Rechtsinſtitute; dieſe werden wir als poſitive
Erweiterungen zu bezeichnen haben.
I. Natürliche Erweiterungen.
Die Einrede, als Wirkung der Rechtskraft, ſoll ſich
nicht blos auf die früheren Parteien ſelbſt beziehen,
ſondern auch auf die Succeſſoren dieſer Parteien (e).
a. Dieſer Satz gilt ſowohl für das Recht der obſie-
genden, als für die Verbindlichkeit der unterliegenden
Partei aus dem früheren Urtheil.
b. Er gilt ſowohl für die Univerſalſucceſſion, als für
die Singularſucceſſion (f).
Für die Univerſalſucceſſion, insbeſondere für die Erben
der urſprünglichen Parteien, verſteht er ſich ſo ſehr von
ſelbſt, daß er dabei nicht beſonders erwähnt zu werden
pflegt. Man kann dahin unter andern auch den Fall
rechnen, wenn ein Sohn in väterlicher Gewalt einen
Prozeß führt und das Recht der Einrede erwirbt; dieſes
(e) L. 2 C. de exc. (8. 36)
„… vel successoribus ejus.“ —
In der alten Lehre von der Con-
ſumtion machte beſondere Schwie-
rigkeit die Frage, welche Perſonen
eine Klage in judicium deduciren
könnten, insbeſondere ob Procu-
ratoren, Cognitoren u. ſ. w. Hier-
auf gehen L. 4 L. 11 § 7 L. 25
§ 2 de exc. r. jud. (44. 2).
Vgl. Keller § 37 — 44. Dieſe
Schwierigkeit iſt nicht vorhanden
bei der Exception in ihrer neueren
Geſtalt, da ſich Alles auf die all-
gemeinen Grundſätze von rechts-
kräftiger Vertretung im Prozeß
zurückführen läßt.
(f) Vgl. über dieſe Begriffe
B. 3 § 103.
|0488 : 470|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Recht geht, eben ſo wie jeder Erwerb des Sohnes, un-
mittelbar auf den Vater über (g).
Eben ſo aber geht auch auf die Singularſucceſſoren das
Recht und die Verpflichtung aus der Einrede über (h),
insbeſondere alſo auf den, welcher durch Kauf in das
Recht der urſprünglichen Partei eingetreten iſt (i). Eben
ſo, wenn der Eigenthümer einer Sache Prozeß über die-
ſelbe führt, und dann die Sache verpfändet, geht der
Vortheil und Nachtheil aus dem rechtskräftigen Urtheil auf
den Pfandgläubiger über.
c. Jener Satz iſt nur wahr, wenn die Succeſſion
nach dem rechtskräftigen Urtheil begründet wurde; iſt ſie
früher begründet, ſo hat das Urtheil keine rückwirkende
Kraft für den Succeſſor (k). Wenn alſo ein Gläubiger
einen Theil ſeiner Forderung einem Dritten überträgt, und
dann für den übrigen Theil gegen den Schuldner klagt,
ſo hat das Urtheil keinen Einfluß auf den Ceſſionar.
II. Poſitive Erweiterungen.
Dieſe haben die Natur wahrer Ausnahmen von der
aufgeſtellten Regel, ſo daß in den Fällen derſelben die
Vortheile und Nachtheile der Rechtskraft auf Perſonen be-
zogen werden, die in dem früheren Rechtsſtreit nicht als
(g) L. 11 § 8 de exc. r. jud.
(44. 2).
(h) L. 28 de exc. r. jud.
(44. 2). „Exceptio rei judi-
catae nocebit ei, qui in do-
minium successit ejus, qui ju-
dicio expertus est.“
(i) L. 9 § 2. L. 11 § 3. 9
de exc. r. jud. (44. 2), L. 25
§ 8 fam. herc. (10. 2), vgl. oben
§ 298 i. —
(k) L. 3 § 1 de pign. (20. 1),
L. 29 § 1. L. 11 § 10 de exc.
r. jud. (44. 2).
|0489 : 471|
§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.
Parteien erſchienen, und auch nicht in ein Succeſſions-
verhältniß zu jenen Parteien eingetreten ſind (l). Das
praktiſche Verhältniß dieſer Ausnahmen zu der Regel läßt
ſich ſo ausdrücken: Das richterliche Urtheil macht in der
Regel jus inter partes, in dieſen ausgenommenen Fällen
jus inter omnes.
Man kann dieſe Ausnahmen auf den gemeinſamen
Geſichtspunkt zurückführen, daß der Fremde, auf welchen
die Wirkung der Rechtskraft bezogen werden ſoll, durch
eine der Parteien vertreten (repräſentirt) war (m). Nur
muß man nicht glauben, daß damit ein durchgreifender
Grundſatz aufgeſtellt wäre, durch deſſen freie Anwendung
überall das Daſeyn ſolcher Ausnahmen entſchieden werden
könnte. Vielmehr bleiben es ſtets nur einzelne, poſitiv
anerkannte Fälle, und es ſollte durch den aufgeſtellten
Geſichtspunkt nur klar gemacht werden, in welcher Ver-
wandtſchaft ſie unter einander ſtehen, und aus welchem
Grunde für ſie eine abweichende Behandlung angemeſſen
gefunden worden iſt.
Die einzelnen Fälle dieſer Ausnahmen ſind folgende:
A. Klagen, die auf einen perſönlichen Zuſtand (status),
insbeſondere auf ein Verhältniß des Familienrechts, ge-
richtet ſind.
(l) Vgl. über dieſe Ausnahmen:
Keller § 46. 47. 48. Bracken-
hoeft Identität der Rechtsver-
hältniſſe § 20.
(m) Damit hängt zuſammen
das Erforderniß eines justus con-
tradictor, wovon ſogleich bei
mehreren einzelnen Fällen die Rede
ſeyn wird.
|0490 : 472|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Nach einer in früherer Zeit ſehr verbreiteten Meinung
ſollten alle Klagen der hier bezeichneten Art die erwähnte
beſondere Natur haben. In der That kann Dieſes nur
in folgenden zwei Fällen behauptet werden:
a. Wenn die rechtmäßige Geburt eines Kindes, und
die davon abhängige väterliche Gewalt, beſtritten wird,
ſo ſoll das Urtheil über den von dem Vater geführten
Rechtsſtreit nicht blos für die Parteien, ſondern auch für
alle übrigen Familenglieder, namentlich für die Geſchwiſter
des Kindes, die Wirkung der Rechtskraft haben (n).
b. Wenn über den Zuſtand eines Freigebornen zwiſchen
ihm und dem wirklichen Patron, oder dem einzigen Prä-
tendenten des Patronats, ein Rechtsſtreit geführt wird, ſo
bringt deſſen Entſcheidung den wirklichen Zuſtand eines
Freigebornen oder Freigelaſſenen hervor, auch im Verhält-
niß zu allen fremden Perſonen, z. B. wenn von der
Möglichkeit einer rechtsgültigen Ehe dieſer Perſon die
Frage entſteht, oder von der Fähigkeit derſelben, in den
(n) L. 1 § 16. L. 2, L. 3 pr.
de agnosc. (25. 3) „placet enim,
ejus rei judicem jus facere.“
Durch dieſe Worte ſoll alſo hier
eine mehr als gewöhnlich ausge-
dehnte Wirkſamkeit der Rechts-
kraft ausgedrückt werden, das jus
inter omnes, im Gegenſatz des
jus inter partes. Vgl. oben
§ 282 e. — Anders verhält es
ſich hier bei der Entſcheidung durch
Eid, wobei es (für den künftigen
Rechtsſtreit dritter Perſonen) heißt:
„veritatem esse quaerendam.“
L. 3 § 2. 3 de jurej. (12. 2),
welche Worte den Gegenſatz bil-
den von: res judicata pro veri-
tate accipitur (ſ. die folgende
Note). — Die abſolute Wirkung
des Urtheils gilt auch zum Nach-
theil des Vaters, z. B. bei dem,
gegen eine dritte Perſon angeſtell-
ten Interdict de liberis exhiben-
dis. L. 1 § 4 de lib. exhib.
(43. 30).
|0491 : 473|
§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.
Senat einzutreten, oder von den Verhältniſſen des Erb-
rechts (o).
In allen übrigen Fällen ſolcher Klagen gilt dagegen
die erwähnte ausgedehntere Wirkung des Urtheils nicht;
vielmehr bleibt es für ſie bei der, auf die Parteien be-
ſchränkten Wirkung. Das Urtheil, welches einen Sclaven
für frei, oder einen Freigelaſſenen für einen Freigebornen
erklärt, hindert daher eine dritte Perſon nicht, denſelben
als dem Sclavenrecht oder dem Patronatsrecht unter-
worfen in Anſpruch zu nehmen (p).
Aber auch in jenen beiden beſonderen Fällen ſoll die
Ausnahme nur unter folgenden Bedingungen eintreten: Es
(o) L. 25 de statu hominum
(1. 5). „.. res judicata pro ve-
ritate accipitur“ ſ. die vorher-
gehende Note und oben § 282. d.,
L. 1. 4 de collus. (40. 16), L. 27
§ 1 de lib. causa (40. 12), L. 14
de j. patron. (37. 14). Auch hier
hat wieder der Eid dieſe ausge-
dehntere Wirkung nicht. Anders
bei der Strafklage des Patrons
wegen in jus vocatio, weil dieſe
über das perſönliche Verhältniß
der Parteien nicht hinaus geht.
L. 8 § 1 de in jus voc. (2. 4).
(p) L. 42 de lib causa (40. 12),
L. 1. 5 si ingen. (40. 14). — Da
indeſſen auch die ſcheinbare Inge-
nuität oder Libertinität, die auf
dieſe Weiſe vorübergehend entſte-
hen konnte, große Nachtheile mit
ſich führte, ſo geſtattete man wohl
jedem Dritten, der für ſich Patro-
natsrecht in Anſpruch nehmen
wollte, an dem Prozeß Theil zu
nehmen, in welchem Fall dann das
Urtheil auch für dieſen Dritten
wirkſam wurde. Das iſt der Sinn
der etwas ſchwierigen Worte in
L. 63 de re jud. (42. 1). „.. Nam
et si libertus meus, me inter-
veniente, servus vel libertus
alterius judicetur, mihi prae-
judicatur.“ Wohl nur durch
ſolche Erklärung iſt ein Wider-
ſpruch dieſer Worte mit den un-
mittelbar folgenden zu beſeitigen,
die oben in der Note c. abgedruckt
ſind. Darauf deuten auch die Worte
quo ignorante in L. 5 si ingen.
(40. 14). — Beſondere Schwierig-
keit entſtand bei angeblichen Mit-
eigenthümern eines Sclaven. Hier
ſuchte man zu verſchiedenen Zeiten
verſchiedene Aushülfe. L. 9 pr.
§ 1. 2, L. 30 de lib. causa (40. 12),
L. 29 pr. de exc. r. jud. (44. 2).
|0492 : 474|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
ſoll ein justus contradictor den Rechtsſtreit geführt haben (q);
es ſoll ein contradictoriſches, nicht ein Contumacialurtheil
ſeyn (r); es ſoll endlich keine Colluſion unter den Parteien
zum Grunde liegen (s).
B. Klagen aus dem Erbrecht.
Auch hier wieder ſtehen die meiſten Fälle ganz unter
der gewöhnlichen Regel.
Wenn alſo A. gegen B. die Erbrechtsklage anſtellt, und
das Erbrecht des A. bejaht oder verneint wird, ſo hat
Dieſes auf den ſpäteren Rechtsſtreit über das Erbrecht
zwiſchen A. und C. oder zwiſchen B. und C. durchaus
keinen Einfluß (t). Eben ſo, wenn zwiſchen dem Teſta-
mentserben und einem Legatar über die Gültigkeit des
Teſtaments oder des Legats geſtritten wird, und nachher
ein anderer Legatar gegen denſelben Erben klagt (u).
Die Fälle der Ausnahme in Beziehung auf das Erb-
recht ſind folgende:
a. Wenn über die Gültigkeit eines Teſtaments zwiſchen
dem Teſtamentserben und dem Inteſtaterben geſtritten und
entſchieden wird, ſo ſind an dieſe Entſcheidung auch Die-
jenigen gebunden, die aus dieſem Teſtament als Legatare
(q) L. 3 de collus. (40. 16).
Der Sinn dieſer Bedingung iſt
bereits im Text erklärt worden:
Der Rechtsſtreit ſoll von dem Vater,
oder dem wahren Patron, oder
dem einzigen Patronatsprätenden-
ten, geführt worden ſeyn.
(r) L. 27 § 1 de lib. causa
(40. 12), vgl. L. 24 de dolo (4. 3).
(s) Tit. Dig. de collus. (40. 16).
Die Anfechtung aus dieſem Grunde
war einem Jeden (als popularis
actio) geſtattet.
(t) L. 12 de jurej. (12. 2).
(u) L. 1 de exc. r. jud. (44. 2).
|0493 : 475|
§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.
oder Freigelaſſene u. ſ. w. Rechte ableiten; dieſe ausge-
dehntere Wirkſamkeit des Urtheils wird hier gleichfalls
durch den Ausdruck: Judex jus facit, bezeichnet. Auch hier
wird aber ein contradictoriſches Urtheil, ſo wie die Abwe-
ſenheit der Colluſion, vorausgeſetzt. Die erwähnten Per-
ſonen haben zu ihrer Sicherheit die Befugniß, an dem
Rechtsſtreit Theil zu nehmen, und ſelbſt gegen das ihnen
nachtheilige Urtheil die Berufung einzulegen (v).
Es fragt ſich, ob auch die Gläubiger der Erbſchaft
unter dieſer Vorſchrift ſtehen. Sie unterſcheiden ſich von
den Legataren darin, daß ihr Recht an ſich von der Gül-
tigkeit des Teſtamentes unabhängig iſt. Es kann aber für
ſie gefährlich werden, unbedingt an den ſiegenden Theil
in jenem Erbſchaftsſtreit verwieſen zu werden, weil dieſer
vielleicht zahlungsunfähig ſeyn kann. Das Recht nun
haben ſie unzweifelhaft, ſich an den zu halten, der in dem
Rechtsſtreit über die Erbſchaft obgeſiegt hat (w). Aber
eine Verpflichtung dazu läßt ſich wohl nicht behaupten;
vielmehr muß ihnen auch verſtattet werden, ihre Schuld-
klagen gegen den damals unterliegenden Theil anzuſtellen,
wenn ſie dieſem beweiſen können, daß er der wahre
Erbe iſt.
b. Wenn ein Teſtament als inofficiosum angefochten
(v) L. 3 pr. de pign. (20. 1.),
L. 50 § 1 de leg. 1. (30. un.)
„jus facit haec pronuntiatio“,
L. 14 de appell. (49. 1) „an jus
faciat judex“, L. 12 pr. § 2
C. de pet. her. (3. 31).
(w) L. 50 § 1 in f. de leg. 1
(30. un.), L. 12 § 1 C. de pet.
her. (3. 31).
|0494 : 476|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
wird, und der Richter die Klage begründet findet, ſo iſt
der Erfolg ein ganz anderer, als bei der gewöhnlichen
Erbrechtsklage. Es wird angenommen, das Teſtament
ſey bis dahin gültig geweſen, und das Urtheil habe das-
ſelbe reſcindirt. Dadurch wird nun die gewöhnliche In-
teſtaterbfolge eröffnet, die möglicherweiſe einer anderen
Perſon, als dem Kläger, welcher die Reſciſſion bewirkte,
die Erbſchaft verſchaffen kann. Dieſe ausgedehntere Wir-
kung wird auch hier durch die Worte: Jus facit judex, be-
zeichnet, und ſie tritt wieder nur ein, wenn das Urtheil
ein contradictoriſches iſt (x).
C. Klagen, deren Führung einem Mitbetheiligten
überlaſſen wird (y).
Es kann geſchehen, daß der, welcher zunächſt dazu
berufen iſt, als Kläger oder Beklagter einen Rechtsſtreit
zu führen, ſein Recht von einem Anderen ableitet, der
dann oft mehr, als er ſelbſt, Vortheil oder Rachtheil
von dem Ausgang des Streites zu erwarten hat. Er kann
(x) L. 6 § 1 de inoff. (5. 2),
L. 8 § 16 eod., L. 17 § 1 eod.
„jus ex sententia judicis fieri.“
— Ob dieſe Regel noch im heutigen
Recht Geltung hat, kann an dieſer
Stelle nicht unterſucht werden. Es
hängt von der allgemeineren Frage
ab, ob überhaupt die Eigenthüm-
lichkeiten der alten querela inof-
ficiosi noch fortdauern, oder ob
dieſe Klage durch die Novelle 115
weſentlich umgebildet worden iſt.
Wer dieſe letzte Meinung annimmt,
zu der ich mich bekenne, muß die
Fortdauer der ausgedehnteren
Rechtskraft bei dieſer Klage ver-
werfen, da an ihre Stelle nun
eine gewöhnliche Erbrechtsklage
getreten iſt. — Über die Natur
jener Klage im älteren Recht vgl.
oben B. 2 S. 127—131.
(y) L. 63 de re jud. (42. 1).
Bei Keller S. 68 fg. finden ſich
treffliche Bemerkungen über die
ſchwierigen Theile dieſer wichtigen
Stelle.
|0495 : 477|
§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.
nun dieſen Anderen zum Beiſtand in dem Rechtsſtreit auf-
fordern, er kann ihm aber auch die eigene, ſelbſtſtändige
Führung des Streits überlaſſen. Wenn er dieſen letzten
Weg einſchlägt, ſo wird der Streit für oder wider den
Anderen entſchieden; er ſelbſt erſcheint als Partei gar
nicht, und nach der allgemeinen Regel müßte daher das
Urtheil ihm weder Vortheil noch Nachtheil bringen. Hier
aber wäre die Anwendung dieſer Regel offenbar unrichtig,
da er zunächſt dazu berufen war, den Prozeß zu führen,
und die Überlaſſung an den Anderen ganz aus ſeinem freien
Entſchluß hervorging. Hier ſind alſo die Vortheile und
Nachtheile der Rechtskraft auf ihn gerade ſo anzuwenden,
wie wenn er ſelbſt in dem Rechtsſtreit als Partei aufge-
treten wäre.
Es werden im Römiſchen Recht drei einzelne Anwen-
dungen zuſammengeſtellt, um die Natur dieſer Ausnahme
anſchaulich zu machen, wodurch jedoch die Ausnahme ſelbſt
auf dieſe einzelnen Fälle keinesweges beſchränkt werden
ſoll (z).
(z) L. 63 de re jud. (42. 1)
„.. Scientibus sententia, quae
inter alios data est, obest,
cum quis de ea re, cujus actio
vel defensio primum sibi com-
petit, sequenti agere patiatur:
veluti si creditor experiri pas-
sus sit debitorem de proprie-
tate pignoris, aut maritus so-
cerum vel uxorem de proprie-
tate rei in dotem acceptae,
aut possessor venditorem de
proprietate rei emtae: et haec
ita ex multis constitutionibus
intelligenda sunt. Cur autem
his quidem scientia nocet, su-
perioribus vero non nocet, illa
ratio est, quod …, qui prio-
rem dominum defendere cau-
sam patitur, ideo propter
scientiam praescriptione rei,
quamvis inter alios judicatae,
|0496 : 478|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
a. Der erſte Fall iſt der einer verpfändeten Sache,
wenn dieſe in den Beſitz einer dritten Perſon kommt, die
auf das Eigenthum Anſpruch macht. Hier könnte der
Pfandgläubiger mit der Hypothekarklage gegen den dritten
Beſitzer klagen; er kann es aber auch dem Verpfänder
überlaſſen, die Eigenthumsklage gegen den Dritten anzu-
ſtellen, deren Entſcheidung dann auch für den Pfand-
gläubiger wirkſam ſeyn ſoll. Eben ſo verhält es ſich, wenn
der Pfandgläubiger die Sache beſitzt, und der Dritte gegen
ihn die Eigenthumsklage anſtellt, in welcher er gleichfalls
die Prozeßführung ſelbſt übernehmen, oder dem Verpfänder
(als ſeinem Defenſor) überlaſſen kann (aa).
b. Der zweite Fall bezieht ſich auf einen Ehemann,
der eine Dotalſache beſitzt, und deshalb von einem Dritten
mit der Eigenthumsklage in Anſpruch genommen wird.
Der Beſitzer kann wieder ſelbſt den Prozeß als Beklagter
führen, oder dem Beſteller der Dos (Schwiegervater oder
Ehefrau) dieſe Prozeßführung überlaſſen. In dieſem letzten
Fall bringt das Urtheil auch ihm Vortheil oder Nach-
theil (bb).
summovetur, quia ex voluntate
ejus de jure, quod ex persona
agentis habuit, judicatum est.“
(aa) Die Worte: si creditor
experiri passus sit debitorem,
können in dieſem Fall ſowohl auf
die Stellung des Klägers, als auf
die des Beklagten, bezogen werden,
auf welche doppelte Beziehung auch
die vorhergehenden Worte hin-
deuten.
(bb) In dieſem Fall iſt blos
an die Stellung des Beklagten
(die defensio) zu denken, da der
Schwiegervater und die Ehefrau
keine Vindication mehr haben.
Eben ſo verhält es ſich auch in
dem folgenden Fall, welches Letzte
noch beſonders durch den Ausdruck
possessor beſtätigt wird.
|0497 : 479|
§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.
c. Eben ſo verhält es ſich in dem dritten Fall, wenn
der Beſitzer einer erkauften Sache von einem Dritten mit
der Eigenthumsklage in Anſpruch genommen wird. Er
kann ſelbſt als Beklagter den Prozeß führen, oder dieſe
Prozeßführung dem Verkäufer überlaſſen, da dieſer ohne-
hin für die Eviction ihm verpflichtet iſt.
D. Eine beſondere Schwierigkeit entſteht in dem Fall,
wenn für ein Grundſtück, das mehreren Miteigenthümern
gehört, eine confeſſoriſche oder negatoriſche Klage zu führen
iſt. Wenn ſich dieſe Miteigenthümer entſchließen, den
Rechtsſtreit gemeinſchaftlich zu führen, ſo iſt jede Schwie-
rigkeit gehoben. Allein keiner dieſer Miteigenthümer hat
die Befugniß, die übrigen zu dieſer Theilnahme zu
zwingen (cc). Eben ſo wäre es auf der anderen Seite
ſehr hart für den Gegner, wenn ihm zugemuthet werden
ſollte, denſelben Rechtsſtreit gegen jeden Miteigenthümer
von Neuem zu führen, mit ſtets erneuerter Mühe und Ge-
fahr des Verluſtes. Daher ſind für dieſen Fall folgende
beſondere Regeln angenommen worden.
a. Jeder Miteigenthümer kann für ſich allein die con-
feſſoriſche Klage auf die ganze Servitut (in solidum) an-
ſtellen (dd), und wenn der Gegner verurtheilt wird, ſo
ſoll der Vortheil der Rechtskraft auch den übrigen Mit-
eigenthümern zu gut kommen (ee).
(cc) Martin Prozeß Ausg. 12
§ 306. Mittermaier Archiv
für civil. Praxis B. 3 S. 42.
(dd) L. 4 § 3 si serv. (8. 5),
L. 6 § 4 eod., L. 1 § 5 de arb.
caed. (43. 27).
(ee) L. 4 § 3 cit. „victoria
et aliis proderit.“
|0498 : 480|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
b. Die bloße Conſequenz dieſes letzten Satzes führt
dahin, daß ſich die übrigen auch den Nachtheil aus der
Rechtskraft des freiſprechenden Urtheils gefallen laſſen
müſſen (ff). War ihnen der Rechtsſtreit bekannt, ſo haben
ſie es ſich ſelbſt zuzuſchreiben, wenn ſie es unterließen,
durch freiwillige Theilnahme die ungünſtige Entſcheidung
abzuwenden. War er ihnen unbekannt, ſo wäre es aller-
dings ungerecht, wenn ſie durch die Unredlichkeit oder
Nachläſſigkeit ihres Miteigenthümers in bleibenden Nach-
theil kommen ſollten (gg). Allein dieſe Ungerechtigkeit wird
nicht dadurch abgewendet, daß ſie die Rechtskraft des
Urtheils für ſich nicht anzuerkennen brauchten, ſondern
vielmehr durch eine Entſchädigungsklage gegen den, welcher
den Prozeß geführt, und den Verluſt veranlaßt hat (hh).
Will ſich dieſer gegen einen ſolchen Vorwurf und die da-
mit verbundene Gefahr ſchützen, ſo kann er die übrigen
durch litis denuntiatio zur Theilnahme an dem Rechtsſtreit
rechtzeitig auffordern.
(ff) Cujacius, recit. in L. 4
si serv. Opp. T. 7 p. 453. An-
derer Meinung iſt Glück B. 10
S. 236. Für die Richtigkeit der
hier aufgeſtellten Meinung ſpricht
auch die actio pluviae arcendae,
bei welcher ganz Daſſelbe gilt.
L. 11 § 1. 2 de aqua et aq. pluv.
(39. 3).
(gg) L. 19 si serv. (8. 5) „non
est aequum, hoc ceteris damno
esse.“
(hh) Sowohl wegen dolus, als
wegen culpa, haben ſie gegen ihn,
im Fall einer vertragsmäßigen
Gemeinſchaft, die actio pro so-
cio, außerdem die actio negotio-
rum gestorum; in beiden Fällen
die actio communi dividundo.
L. 20 comm. div. (10. 3). — Lag
eine Colluſion beider Parteien zum
Grunde, ſo haben ſie noch außer-
dem gegen den Gegner die doli
actio, welche wichtig ſeyn kann,
wenn etwa der Miteigenthümer
zahlungsunfähig ſeyn ſollte. L. 19
si serv. (8. 5).
|0499 : 481|
§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.
c. Wenn umgekehrt das mit der Servitut belaſtete
Grundſtück mehrere Eigenthümer hat, ſo kann der Gegner
jeden einzelnen unter dieſen mit der confeſſoriſchen Klage
belangen, und es ſollen dieſelben Regeln, wie in dem vor-
hergehenden Fall, eintreten (ii), obgleich in dieſem Fall kein
ſo dringendes Bedürfniß vorhanden iſt, als in dem vorher-
gehenden Fall, da jener gegen alle Miteigenthümer gleich-
zeitig und mit einer gemeinſamen Klage auftreten kann.
d. Dieſelben Regeln ſind ohne Zweifel von beiden
Seiten auch für die negatoriſche Klage anzuwenden.
e. Eine hierher gehörende Beſtimmung findet ſich endlich
noch in dem Longobardiſchen Lehenrecht. Hier iſt dem Va-
ſallen das Recht eingeräumt, den Rechtsſtreit über das
Eigenthum des Lehengutes gegen dritte Perſonen ſelbſt-
ſtändig, ohne Zuziehung des Lehenherrn, zu führen, mit
dem ausdrücklichen Zuſatz, daß der Vortheil und Nachtheil
aus der rechtskräftigen Entſcheidung des Rechtsſtreits auch
auf den Lehenherrn bezogen werden müſſe. Daſſelbe ſoll
ſogar gelten, wenn der Rechtsſtreit nicht durch Urtheil,
ſondern durch Vergleich geendigt worden iſt. Nur im Fall
einer Unredlichkeit des Vaſallen ſoll der Lehenherr von
dieſer Verpflichtung frei ſeyn (kk).
(ii) L. 4 § 4 si serv. (8. 5).
Nur bei der servitus oneris fe-
rendi ſoll dieſe ſolidariſche Rück-
wirkung auf die übrigen Miteigen-
thümer inſofern nicht gelten, als
dieſe Servitut, abweichend von al-
len übrigen, den Eigenthümer des
belaſteten Grundſtücks zugleich zu
poſitiven Leiſtungen verpflichtet.
L. 6 § 4 eod.
(kk) II. Feud. 43. — Eine
ähnliche Beſtimmung enthält das
VI. 31
|0500 : 482|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Römiſche Recht für den Emphy-
teuta, den Superficiar, und den
Pfandgläubiger eines Grundſtücks,
welchen die Befugniß eingeräumt
wird, die dem Grundſtück zuſte-
henden Servituten durch confeſſo-
riſche Klagen ſelbſtſtändig zu ver-
folgen. Jedoch wird dabei nicht
beſtimmt, daß das Urtheil auch für
den Grundeigenthümer bindende
Kraft haben ſoll, worauf doch ge-
rade das Meiſte ankommt. L. 16
de serv. (8. 1), L. 3 § 3, L. 9
de op. novi nunt. (39. 1), L. 1
§ 5 de remiss. (43. 25).
|0501 : [483]|
Beilagen.
XV. XVI. XVII.
31*
|0502 : [484]|
|0503 : [485]|
Beilage XV.
Appellatio und Provocatio.
(Zu § 285.)
I.
In der Römiſchen Verfaſſung finden ſich, von ſehr alter
Zeit her, zwei Inſtitute, unter den Namen appellatio und
provocatio, die neben manchen Verſchiedenheiten die Ähn-
lichkeit mit einander haben, daß durch dieſelben der Aus-
ſpruch oder der Erfolg eines richterlichen Urtheils verhindert
werden kann (a). Dieſe Ähnlichkeit haben beide auch mit
dem, im Anfang der Kaiſerregierung eingeführten, Inſtanzen-
zug; da nun überdem bei dieſem auch die Namen der er-
wähnten alten Inſtitute angewendet wurden, ſo werden
wir auf die Annahme geführt, daß der Inſtanzenzug aus
ihnen in geſchichtlicher Entwickelung hervorgegangen iſt.
Wie dieſe Entwickelung eingetreten iſt, und welches der
beiden alten Inſtitute dabei als Grundlage gedient hat,
(a) Ohne Zweifel war es dieſe
Ähnlichkeit, wodurch Cicero ver-
anlaßt wurde, in der von ihm dar-
geſtellten idealen Staatsverfaſſung,
die doch ganz auf Römiſche Ein-
richtungen gebaut war, beide In-
ſtitute ſo zu vermiſchen, als ob ſie
gar nicht verſchieden geweſen wären.
Cicero de leg. III. 3.
|0504 : 486|
Beilage XV.
wird durch die folgende genauere Betrachtung derſelben,
und durch ihre Vergleichung mit den Inſtanzen der Kaiſer-
zeit, zu ermitteln ſeyn.
II.
Die alte provocatio ſetzte voraus die Verurtheilung
eines Römers durch eine, mit Criminalgerichtsbarkeit ver-
ſehene Obrigkeit; ſie beſtand in der Berufung des Verur-
theilten auf das höhere Urtheil der Volksverſammlung,
wodurch jenes erſte Urtheil abgeändert oder beſtätigt werden
konnte (b). Darin lag alſo die vollſtändige Einrichtung
einer höheren Inſtanz.
Nach einem unzweideutigen Zeugniß des Cicero beſtand
die provocatio auch ſchon zur Zeit der Könige (c). Nach
einer Stelle des Pomponius iſt ſie erſt nach der Ver-
treibung der Könige eingeführt worden (d). Neuere Schrift-
ſteller haben dieſen Widerſpruch durch die Annahme zu be-
ſeitigen geſucht, daß ſie bei Gründung der Republik eine
ausgedehntere Anwendung, als unter den Königen, erhalten
habe (e).
(b) Die quellenmäßigen Nach-
richten über die provocatio, ſo
wie die Meinungen der neueren
Schriftſteller über dieſelbe, ſind
ſehr vollſtändig zuſammengeſtellt
bei Geib Geſchichte des römi-
ſchen Criminal-Prozeſſes. Leipzig
1842. S. 152—168. 387—392.
(c) Cicero de re publica II.
31. Vgl. Seneca epist. 108.
(d) L. 2 § 16 de orig. jur.
(1. 2).
(e) Entweder ſo, daß ſie früher
nur den Patriciern zu gut gekom-
men wäre, ſpäter auch den Plebe-
jern (Niebuhr Röm. Geſchichte I.
361. 557); oder ſo, daß die, von
den Königen perſönlich ausge-
ſprochenen Strafurtheile der Be-
rufung nicht unterlegen hätten.
|0505 : 487|
Appellatio und Provocatio.
Während der Republik war ihre Anwendung faſt all-
gemein, und es werden nur zwei Obrigkeiten erwähnt,
deren Strafurtheile der Berufung an die Volksverſammlung
nicht unterworfen waren: die Decemvirn und die Dictatoren.
Beide ſtanden außer der Reihe der regelmäßigen, ſtets
fortdauernden und wiederkehrenden, öffentlichen Gewalten.
Dennoch wird in der ſpäteren Zeit der Republik, in
welcher gerade der Schutz der individuellen Freiheit ſtets
wachſend erſcheint, der wirkliche Gebrauch einer ſolchen Be-
rufung an das Volk faſt gar nicht erwähnt, und dieſe auf-
fallende Erſcheinung iſt auf folgende Weiſe zu erklären.
In dieſer ſpäteren Zeit wurde faſt der ganze Criminal-
prozeß durch ſtändige Commiſſionen für die Unterſuchung
einzelner Verbrechen beſorgt (quaestiones perpetuae). Dazu
war eine Anzahl von Prätoren angeordnet, die nicht ſo,
wie die älteren Criminal-Obrigkeiten, aus eigener obrigkeit-
licher Macht, ſondern in Kraft dieſes beſonderen Auftrags
richteten, und zwar in Gemeinſchaft mit Geſchworenen, die
hierin die Stelle des Volks vertraten. Auf einen ſolchen
Urtheilsſpruch, der gleichſam von dem Volk ſelbſt (nur in
commiſſariſcher Form) ausgegangen war, ſchien die Be-
rufung an das Volk nicht anwendbar.
III.
Eine ganz andere Natur hatte die appellatio, die auf
einen weit allgemeineren und unbeſtimmteren Schutz der
individuellen Freiheit gegen Bedrückung durch öffentliche
|0506 : 488|
Beilage XV.
Handlungen aller Art (alſo unter andern auch im Civil-
prozeß) berechnet war (f). Alle ſolche Handlungen nämlich,
wohin hauptſächlich die Ausübung obrigkeitlicher Macht
gehörte, konnten verhindert werden durch den bloßen Ein-
ſpruch ſehr vieler einzelnen Perſonen. Ein ſolcher Einſpruch
hieß intercessio; die Bitte des Einzelnen, zu ſeinem Schutz
von jener Befugniß Gebrauch zu machen, hieß appellatio.
Berechtigt zu einem ſolchen Einſpruch gegen die
Handlung einer Obrigkeit war zunächſt jede andere obrig-
keitliche Perſon, die einen gleichen, oder einen höheren Rang
hatte, als der Handelnde (par majorve potestas), alſo
Prätor gegen Prätor, Conſul gegen Conſul, Conſul gegen
Prätor, ohne Rückſicht darauf, ob die einzelne Handlung
mit dem beſonderen Geſchäftskreiſe deſſen, der den Einſpruch
that, Berührung hatte (g).
Ohne Rückſicht auf das Rangverhältniß hatten die
Tribunen ein allgemeines Recht des Einſpruchs nach allen
Seiten hin, alſo auch gegen die Handlungen der Prätoren
und der Conſuln (h). Bald übten ſie dieſes Recht als
(f) Zimmern Rechtsgeſchichte
B. 3 § 169. Keller Semestria
Vol. 1 C. 1 § 8 p. 139—170.
(g) Cicero de leg. III. 3. —
Nicht ganz gleichartig iſt es, wenn
der Prätor (nach ſeinem unzweifel-
haften Recht) dem von ihm ernann-
ten Juder den Auftrag entzog (ve-
tare judicare); wohl aber, wenn
ein Conſul dieſem Juder den Urtheils-
ſpruch unterſagte. L. 58 de jud.
(5. 1) „Judicium solvitur ve-
tante eo, qui judicare jusserat:
vel etiam eo, qui majus impe-
rium in eadem jurisdictione ha-
bet.“ (Eadem jurisdictio iſt hier
im geographiſchen Sinn zu ver-
ſtehen). Nach geſprochenem Urtheil
hatte auch ſelbſt der Prätor dar-
über keine Macht. L. 14 de re
jud. (42. 1).
(h) Cicero de leg. III. 3.
|0507 : 489|
Appellatio und Provocatio.
Einzelne aus, bald in Folge einer collegialiſchen Berathung
und Beſchlußnahme.
IV.
Die Wirkung eines ſolchen Einſpruchs war eine negative;
es ſollte nun zunächſt gar Nichts geſchehen. Daher diente
im Civilprozeß der Einſpruch zum Schutz des Beklagten,
nicht des Klägers. Dieſe Einwirkung auf den Prozeß war
alſo ähnlich einer bloßen Caſſation, nicht einer Inſtanz, da
der Einſpruch keine poſitive Abänderung an die Stelle der
verhinderten Maaßregel ſetzen konnte.
Dennoch war der praktiſche Einfluß eines ſolchen Ein-
ſpruchs oft nicht minder ſtark, als der einer Freiſprechung,
da durch den Grundſatz der Comſumtion die Wiederholung
der vorigen Klage verhindert wurde, und durch die kurze
Prozeßverjährung alles Recht des Klägers leicht untergehen
konnte.
V.
Gegenſtand des Einſpruchs konnten die verſchiedenſten
Handlungen des Prozeſſes ſeyn; namentlich ein Decret des
Prätors; eben ſo die Faſſung der Formel, wenn etwa der
Prätor ein judicium purum geben, der Einſprechende aber,
zum Schutz des Beklagten, die Hinzufügung einer Einrede
erzwingen wollte (i).
(i) Cicero acad. quaest. II. 30., wo dieſer Fall figürlich, aber
als eine bekannte Sache, erwähnt wird.
|0508 : 490|
Beilage XV.
Es fragt ſich, wie einem ſolchen Einſpruch Geltung
verſchafft werden konnte, wenn etwa der Prätor ſeine ab-
weichende Meinung hätte durchſetzen wollen, welches freilich
nicht leicht vorgekommen ſeyn wird. Dazu fand ſich das
ſichere Mittel, ſobald der Prätor in die Lage kam, irgend
einen Ausſpruch durch Beſchlagnahme von Sachen zur
Execution zu bringen (possessio oder venditio bonorum).
Dieſe äußere Handlung konnte durch das Verbot eines
anderen Prätors oder eines Tribuns unmittelbar verhindert
werden (k).
Es iſt nicht zu bezweifeln, daß dieſe außerordentliche
Maaßregel in ſehr verſchiedener Abſicht und mit ſehr
verſchiedenem Erfolg wird angewendet worden ſeyn: bald
zum Schutz des wahren Rechts gegen das ungerechte Ver-
fahren der ordentlichen Gerichtsobrigkeit; bald zum Schutz
wahrer oder vermeintlicher Billigkeit gegen die Strenge des
bloßen Buchſtabens; bald als wahrer Mißbrauch, als par-
teiiſcher Eingriff in den richtigen Gang des Prozeſſes (l).
VI.
Es ergiebt ſich aus dieſer ganzen Darſtellung, daß
dieſe ſonderbare Einrichtung die etwas zweideutige Natur
einer blos indirecten Einwirkung auf den Gang der Rechts-
pflege hatte. Daher erklären ſich die ſcheinbar wider-
ſprechenden Äußerungen alter Schriftſteller über die ver-
(k) Keller l. c., p. 140—145.
(l) Keller l. c., p. 151—155.
|0509 : 491|
Appellatio und Provocatio.
faſſungsmäßige Stellung der Tribunen. Bald wird von
ihnen geſagt, ſie hätten keinen Theil an der Rechtspflege (m).
Dagegen werden ſie in unzweideutigen anderen Stellen
mitten unter den richterlichen Obrigkeiten aufgezählt, und
ſelbſt als Recht ſprechend erwähnt (n). Es wird beſon-
ders bemerkt, daß ſie ſtets in der Lage ſeyen, in den
Civilprozeß eingreifen zu können, und daß es deshalb nicht
für ſchicklich erachtet werden könne, wenn ſie während
ihrer Amtsführung für Andere als Sachwalter auftreten
wollten (o).
VII.
Die hier aufgeſtellten allgemeinen Anſichten von der
provocatio und appellatio, ihrer Ähnlichkeit und Verſchie-
denheit, werden durch folgende Reihe von Beiſpielen aus
der Römiſchen Geſchichte ſowohl Anſchaulichkeit als Be-
ſtätigung erhalten.
Beſonders wichtig ſind hier die Ereigniſſe während der
kurzen Regierung der Decemvirn und gleich nach dem
Sturze derſelben, indem dabei die beiden oben genannten
Inſtitute neben einander, und in ihrer verſchiedenartigen
Wirkſamkeit, erwähnt werden.
Die Decemvirn wurden ernannt sine provocatione,
das heißt ſo, daß von ihren Strafurtheilen eine Berufung
(m) Gellius XIII. 12. „Tri-
buni antiquitus creati videntur
non juri dicundo.“
(n) Auct. ad Herennium II.
13, L. 2 § 34 de orig. jur. (1. 2).
(o) Plinius epist. I. 23.
|0510 : 492|
Beilage XV.
an die Volksverſammlung nicht zuläſſig ſeyn ſollte. Da-
gegen galt auch hier die appellatio, indem jeder Römer,
der ſich von einem der Decemvirn bedrückt glaubte, irgend
einen Collegen deſſelben um ſeinen Einſpruch bitten konnte.
Allein im zweiten Jahre dieſer ungewöhnlichen Regierung
wurde ſelbſt dieſe Zuflucht durch Übereinkunft der Decem-
virn vereitelt, ſo daß jeder Verſuch einer appellatio nur
eine noch härtere Behandlung des Bedrückten zur Folge
hatte (p).
Nach dem Sturz der Decemvirn klagte der Tribun
Virginius den Appius vor dem Volke an, und bedrohte
ihn mit augenblicklicher Verhaftung, wenn er nicht Bürgen
ſtelle für ein gerichtliches Verfahren vor einem Judex.
Appius verſuchte gegen dieſe Drohung vergeblich zuerſt eine
provocatio an das Volk, dann eine appellatio an andere
Tribunen; er wurde in das Gefängniß abgeführt, wo
er ſein Leben endigte (q).
VIII.
Folgende Fälle geben Zeugniß von dem Einſpruch im
Civilprozeß, der durch die appellatio gleicher oder höherer
obrigkeitlicher Perſonen bewirkt wurde.
Verres erließ als Prätor viele Decrete im Wider-
ſpruch mit ſeinem eigenen Edict. Dieſe unerhörte Will-
kühr hatte die Folge, daß ſein College, der Prätor
(p) Livius III. 33. 34. 36.
(q) Livius III. 56. 57.
|0511 : 493|
Appellatio und Provocatio.
L. Piſo, durch oft wiederholten Einſpruch ſolcher Unge-
rechtigkeit mit Erfolg entgegen trat (r).
Als zur Abbürdung der Schulden die Abtretung von
Vermögensſtücken nach einer öffentlichen Taxe eingeführt
worden war, erhielt der Prätor C. Trebonius den Auf-
trag, dieſe neue Vorſchrift zur Ausführung zu bringen.
Der Prätor M. Coelius, der dieſe Maaßregel mißbilligte,
ſuchte ſie dadurch zu vereiteln, daß er ſein Tribunal neben
dem Tribunal des Trebonius aufrichtete, und jedem Ver-
klagten, der ſich an ihn wenden würde, den Einſpruch
gegen das Verfahren des Trebonius anbot. Es meldete
ſich jedoch Niemand, um von dieſem Anerbieten Gebrauch
zu machen (s).
Ein verſtorbener Freigelaſſener hatte, mit Übergehung
ſeines Patrons, den Verſchnittenen Genucius (matris
magnae Gallus) zum Erben eingeſetzt (t). Der Prätor
Cn. Oreſtes gab dem eingeſetzten Erben zuerſt eine B. P.
secundum tabulas, dann eine Erbſchaftsklage (u). Allein
der Conſul Lepidus entkräftete dieſes Verfahren des Prä-
tors (v) zum Vortheil des Patrons, und zwar aus dem
Grunde, weil der eingeſetzte Erbe weder Mann, noch Weib
ſey (w).
(r) Cicero in Verrem II. 1.
C. 46.
(s) Caesar de bello civ. III. 20.
(t) Valerius Max. VII. 7 § 6.
(u) Es wird restitutio in bona
genannt; wahrſcheinlich war es ein
Interdict quorum bonorum.
(v) „praetoriam jurisdictio-
nem abrogavit.“
(w) Die wirkſame Interceſſion
des Conſuls gegen das vom Prä-
tor eingeleitete Verfahren iſt klar;
nicht ſo klar iſt der vom Conſul
angegebene Grund. Wollte etwa
|0512 : 494|
Beilage XV.
IX.
Die Einwirkung der Tribunen in den Civilprozeß tritt
in folgenden Fällen hervor.
In einem Prozeß des Quinctius hatte ein Prätor mit
Unrecht ein Decret auf Bürgſchaft erlaſſen. Die Tribunen
wurden um Einſpruch gebeten, und ohne dieſen unmittel-
bar auszuſprechen, bewirkten ſie doch durch ihre Drohung,
daß mit der Execution eingehalten wurde (x).
M. Tullius hatte gegen Q. Fabius eine Klage ange-
ſtellt de vi hominibus armatis coactisve damno dato.
Der Beklagte verlangte, daß in die Formel der beſchrän-
kende Zuſatz aufgenommen werde: injuria damno dato;
mit Unrecht, da dieſe Beſchränkung nicht in die erwähnte
Klage, ſondern nur in die a. L. Aquiliae gehörte. Als
der Prätor in dieſes Verlangen nicht einging, appellirte der
Beklagte an die Tribunen; allein dieſe billigten das Decret
des Prätors über die Faſſung der Formel, und erklärten:
nihil se addituros (y). — Wären die Tribunen dem Ver-
langen des Beklagten beigetreten, ſo würden ſie das auf
der Conſul den Caſtraten für ehr-
los halten, und daher unwürdig,
das Tribunal zu betreten, ſo hatte
ja dem Conſul dieſe perſönliche
Berührung Niemand zugemuthet;
auch konnten ſelbſt wirklich Ehr-
loſe für ſich ſelbſt poſtuliren. (L. 1
§ 8 de his qui not.). Vielleicht
ſollte eine analoge Anwendung der
L. Voconia gemacht werden, indem
der Caſtrat noch weniger als ein
Weib ſey, alſo mindeſtens eben ſo
unfähig zur Erbeinſetzung. Vgl.
L. 12 § 1 de bon. poss. (37. 1).
(x) Cicero pro Quinctio C. 7.
20. 21. Keller l. c., p. 139 sq.
(y) Cicero pro Tullio C. 7.
38. 39. 40. Keller l. c., p. 144.
145.
|0513 : 495|
Appellatio und Provocatio.
dieſe, von ihnen mißbilligte, Formel gegründete Verfahren
in allen ſeinen praktiſchen Folgen verhindert haben.
Bei einer Klage von Provinzialen gegen die Erpreſſun-
gen des C. Antonius hindern die Tribunen das Decret,
welches der Prätor der Peregrinen auf dieſe Klage erlaſſen
wollte (z).
Ähnliche Eingriffe der Tribunen finden ſich auch im
Criminalprozeß. So wurde einmal von ihnen einem Ange-
klagten verboten, ſich zu verantworten, welches Verfahren
als unerhört dargeſtellt wird (aa). — Als bei einem
anderen Criminalprozeß ein einzelner Judex fehlte, indem
er in einem Civilprozeß beſchäftigt war, verbot ein Tribun
die Abſtimmung und befahl, die Civilſache auszuſetzen,
damit jener Judex an der Criminalſache Antheil nehmen
könne (bb).
X.
Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß ſich bald nach
dem Anfang der Kaiſerregierung ein regelmäßiger Inſtanzen-
zug im Civilprozeß findet, welcher bis zum Kaiſer auf-
wärts geht, und wovon während der Republik Nichts zu
bemerken iſt. Bei der ganzen Gründung der Kaiſergewalt
aber finden wir durchgehend den Grundſatz feſtgehalten,
etwas der Form und dem Namen nach ganz Neues nicht
zu erfinden, ſondern alte Einrichtungen der Republik zu
(z) Asconius in or. Cic. in toga candida p. 84 ed. Orell.
(aa) Cicero in Vatin. C. 14.
(bb) Cicero pro Cluentio C. 27.
|0514 : 496|
Beilage XV.
benutzen, um aus der bisher ungewohnten Verbindung
derſelben das wahrhaft Neue unbemerkt hervorgehen zu
laſſen.
Dieſe Analogie führt zu der ſehr wahrſcheinlichen Ver-
muthung, daß auch jener Inſtanzenzug an die oben er-
wähnten alten Inſtitute (provocatio und appellatio), als
neue Entwickelung derſelben, wird angeknüpft worden ſeyn,
und es fragt ſich dann zunächſt, an welches unter dieſen
beiden Inſtituten.
Manche haben die provocatio der alten Verfaſſung als
Grundlage der neuen Inſtanzen angenommen, und es ſcheint
dafür der Umſtand zu ſprechen, daß in der provocatio in
der That ein wahrer Inſtanzenzug enthalten war. Dennoch
muß ich dieſer Annahme entſchieden widerſprechen. Erſtlich,
weil die alte provocatio nur auf Criminalſachen, nie auf
den Civilprozeß, angewendet wurde. Zweitens, weil in der
Annahme einer provocatio an den Kaiſer die förmliche
Gleichſtellung der kaiſerlichen Gewalt mit der Gewalt des
alten populus gelegen hätte, deren Schein noch lange Zeit
hindurch ſehr ſorgfältig vermieden wurde, indem die Kaiſer
nur obrigkeitliche, von dem populus übertragene, Gewalten
auszuüben ſcheinen wollten.
XI.
Giebt man nun die Anknüpfung des neuen Inſtanzen-
zuges an die provocatio auf, ſo bleibt nur noch die appel-
latio als Grundlage der neuen Einrichtung übrig, und in
|0515 : 497|
Appellatio und Provocatio.
dieſer iſt auch in der That eine völlig genügende Grund-
lage für den Inſtanzenzug zu finden.
Zuvörderſt iſt es unzweifelhaft, daß der Kaiſer in ſeinen
verfaſſungsmäßigen Amtsrechten die Mittel beſaß, um aus
allen Theilen des Reichs in Civilprozeſſen Appellationen
anzunehmen, und durch Einſpruch auf den Erfolg des
Rechtsſtreits einzuwirken. In Rom und Italien diente
dazu die tribunicia potestas, die ſchon im J. 706 an Cäſar,
im J. 724 an Auguſt, lebenslänglich verliehen wurde (cc).
In der kaiſerlichen Hälfte der Provinzen war der Unter-
ſtatthalter ohnehin von den Anweiſungen des Kaiſers, der
ihn angeſtellt hatte, ganz abhängig. In den Senatsprovinzen
aber hatte der Kaiſer das Recht der intercessio gegen alle
gerichtlichen Handlungen des Proconſuls, mit welchem er
vermöge ſeiner allgemeinen proconsularis potestas gleichen
Rang hatte.
Obgleich nun oben gezeigt worden iſt, daß die alte
appellatio und intercessio, nach ihrer an ſich nur verneinen-
den und hindernden Natur, von einer eigentlichen Inſtanz
weſentlich verſchieden war, und mehr die Natur einer
bloßen Caſſation hatte, ſo liegt doch in der Natur der
Caſſation, ſobald ſie regelmäßig und oft wiederkehrend aus-
geübt wird, eine natürliche Annäherung an die Inſtanz.
Gerade die regelmäßige und häufige Ausübung war
während der Republik unmöglich, weil die Gewalt der
(cc) Dio Cassius XLII. 20, LI. 19.
VI. 32
|0516 : 498|
Beilage XV.
Tribunen nur einjährig, durch Theilung unter Viele ge-
ſchwächt, durch die wichtigere Beſchäftigung mit politiſchen
Zwecken faſt ausſchließend in Anſpruch genommen war.
Dieſes Alles verhielt ſich bei der fortdauernden tribunicia
potestas des Kaiſers ganz anders. Dennoch würde auch
hier die Entſtehung eines eigentlichen Inſtanzenzuges
vielleicht gar nicht, vielleicht erſt ſpäter, eingetreten ſeyn,
wenn nicht das innere Bedürfniß dazu angetrieben hätte
(§ 284). Dieſes Bedürfniß zu befriedigen, war in dem
ruhigen Gang der einmal gegründeten Monarchie möglich
und leicht, und daß die bloße Benutzung der, ohnehin be-
kannten und unbeſtrittenen, Beſtandtheile der kaiſerlichen
Gewalt dazu völlig ausreichte, ohne daß es dazu einer
ganz neuen Erfindung, ja ſelbſt nur neuer Formen und
Namen, bedurfte, iſt ſo eben gezeigt worden.
Man könnte die hierin eintretende Veränderung ſo aus-
drücken: Der Kaiſer wendete die, ihm ohnehin allgemein
zukommende, appellatio und intercessio auf das Verfahren
im Civilprozeß ſo allgemein und regelmäßig an, daß in
dieſer neuen Entwicklung die appellatio zugleich die Natur
einer provocatio annahm.
XII.
Eine wichtige Beſtätigung der hier aufgeſtellten ge-
ſchichtlichen Erklärung des Inſtanzenzuges liegt in der,
unter der Kaiſerregierung ſchnell eintretenden Umbildung
des Sprachgebrauchs. Noch bei Livius werden die Aus-
|0517 : 499|
Appellatio und Provocatio.
drücke provocatio und appellatio in ihrer eigenthümlichen
Bedeutung ſtreng aus einander gehalten (Note p. q.).
Bald aber verſchwindet dieſe Unterſcheidung, ſo daß nun
beide Ausdrücke als ganz gleichbedeutende Bezeichnungen
eines und deſſelben Begriffs gebraucht werden, wie wir
Dieſes namentlich in unſeren Rechtsquellen durchaus wahr-
nehmen.
Plinius hist. nat. VI. 22 (von einem Indiſchen Volk):
„sic quoque appellationem esse ad populum.“
Gellius IV. 4: „Mamilia ad tribunos plebei pro-
vocavit.“
Gellius VII. 19: „Scipio Africanus fratris nomine ad
collegium tribunorum provocabat.“
L. 1 § 1 quae sent. (49. 8): „nec appellare necesse
est, et citra provocationem corrigitur.“
L. 1 § 1 a quib. app. (49. 2): „Et quidem stultum
est, illud admonere, a principe appellare fas non
esse, cum ipse sit qui provocatur.“
XIII.
Man könnte nun glauben, neben dem neuen, in der
kaiſerlichen Gewalt vereinigten, Inſtanzenzug ſeyen die
alten, getrennten Inſtitute der provocatio und appellatio
in ihrer Eigenthümlichkeit völlig verſchwunden. Allerdings
war jetzt von einer provocatio an die Volksverſammlung
durchaus nicht mehr die Nede. Dagegen dauerte das
frühere Recht der einzelnen Volkstribunen, Appellationen
32*
|0518 : 500|
Beilage XV. Appellatio und Provocatio.
anzunehmen, und ſich durch Interceſſion in den Civilprozeß
einzumiſchen, noch neben der neuen Inſtanzeneinrichtung
unverändert fort; es blieb aber ſo unbedeutend als früher.
Dieſe Fortdauer bezeugt aus eigener Erfahrung der jüngere
Plinius, der es eben deshalb für unſchicklich erklärt,
wenn Tribunen während ihrer Amtszeit in fremden Prozeſſen
als Vertreter von Parteien auftreten wollten (Note o).
|0519 : [501]|
Beilage XVI.
L. 7 de exceptione rei judicatae (44. 2).
(Zu § 296 und § 299.)
Keine einzelne Stelle der Digeſten liefert ſo reichhaltige
Belehrung für die Lehre von der Rechtskraft, als dieſe.
Sie zeichnet ſich aus, eben ſo durch tief eingreifende Regeln,
als durch die Schärfe, Beſtimmtheit und Sicherheit ihrer
Entſcheidungen. Dieſes Lob kann indeſſen nur unbedingt
gelten von dem Anfang und Ende der Stelle; in der Mitte
liegt gar manches Dunkle, Zweifelhafte, ſcheinbar Wider-
ſprechende.
Ich glaube, dieſe Schwierigkeiten ganz oder großentheils
beſeitigen zu können durch eine andere Erklärung der
Stelle, deren Verſchiedenheit von der bisher üblichen Er-
klärung durch eine veränderte Abtheilung der Paragraphen
anſchaulich werden wird. Dieſes einfache Mittel iſt von
jeher als allgemein zuläſſig, und ganz in das Gebiet der
bloßen Auslegung fallend, angeſehen worden; weſentlich
verſchieden von einer verſuchten Verbeſſerung des Textes,
|0520 : 502|
Beilage XVI.
da die Abtheilung in Paragraphen, wie wir ſie in unſren
Ausgaben finden, lediglich das Werk der Herausgeber iſt,
alſo nicht zum Beſtand des handſchriftlichen Textes gehört.
Dennoch könnte dieſes Verfahren mit einigem Mißtrauen
betrachtet werden, wenn es in der Abſicht eingeſchlagen
würde, eine, durch die bisher übliche Erklärung der Stelle
unterſtützte, fremde Lehre von der Rechtskraft wankend zu
machen, und eine eigene neue Lehre an deren Stelle zu
ſetzen; wenn ferner die bisher übliche Auffaſſung der Stelle
von den Auslegern befriedigend gefunden worden wäre, und
dieſe jetzt in ihrem ruhigen Beſitz geſtört werden ſollten.
Von dieſem Allen aber findet ſich hier gerade das Gegen-
theil.
Der dunkle, zweifelhafte Theil der Stelle iſt bisher von
keiner Seite dazu benutzt worden, um irgend eine Lehre
von der Rechtskraft darauf zu gründen, und er ſoll auch
von mir nicht dazu benutzt werden. Die Zweifel, die dabei
in Erwägung kommen, liegen überhaupt nicht in der Lehre
von der Rechtskraft, ſondern in ganz andern Theilen der
Rechtswiſſenſchaft, hauptſächlich in den Lehren vom Eigen-
thum und Beſitz. — Was aber die Hauptſache iſt: die
Ausleger, die ſich bisher mit dieſem dunklen Theil der
Stelle ernſthaft beſchäftigt haben, ſind mit demſelben, ſo
wie er bis jetzt aufgefaßt wurde, nicht im Geringſten zu-
frieden, können alſo auch nicht in einem friedlichen Beſitz-
ſtand geſtört werden. Folgende Äußerungen werden dieſe
Behauptung ganz außer Zweifel ſetzen.
|0521 : 503|
L. 7 de exceptione rei judicatae.
Donellus äußert ſich über die vorliegende Stelle in
folgenden Worten (a): Hoc quidem Ulpianus negaverat
obiter in principio L. 7 D. de exc. rei jud. his verbis …
Sed quod hic exempli tantum caussa, et velut aliud agens
posuerat, id corrigit postea, et mutat ex professo in
lapidibus, cementis, et tignis, addita in § 2 ea ratione,
ex qua facile intelligere liceat, hoc idem illud et de tabu-
lis navis sentire. Offenbar wird hier angenommen, daß
Ulpian den Gegenſtand ſehr leichtfertig behandelt habe.
Keller erklärt die vermeintlichen Widerſprüche in der
Stelle aus einem ſteten Schwanken des Verfaſſers zwiſchen
der poſitiven und negativen Function der Einrede. Zugleich
ſetzt er voraus, die hier vorliegende Stelle des Ulpian
möge vielleicht ein ſehr unvollſtändiger Auszug ſeyn, den
die Verfaſſer der Digeſten aus einer längeren Stelle
gemacht haben möchten, mit Weglaſſung vieler Citate aus
anderen alten Juriſten (b). — Eben ſo urtheilt ein anderer
Schriftſteller, Ulpian habe ganz verſchiedene Dinge durch
einander geworfen, und ſey dadurch zu ſehr ſchwankenden
Entſcheidungen geführt worden (c).
(a) Donellus Lib. 22 C. 5
§ 9.
(b) Keller S. 261—276, be-
ſonders 263. 271. Das Schwanken
zwiſchen beiden Geſtalten der Ex-
ception kann ich gerade bei dieſer
Stelle am wenigſten annehmen,
die zuerſt in der Mitte (§ 1), und
dann noch beſtimmter gegen das
Ende (§ 4), den Grundſatz der po-
ſitiven Function der Einrede ſo
klar ausſpricht und ſo conſequent
durchführt.
(c) Brackenhoeft Identität der
Rechtsverhältniſſe S. 209 fg., be-
ſonders S. 210. 215.
|0522 : 504|
Beilage XVI.
Alle dieſe Ausleger ſind alſo mit der vorliegenden Stelle
des Schriftſtellers in hohem Grade unzufrieden, und
würden es ſich ganz wohl gefallen laſſen, wenn es gelänge,
durch eine neue Erklärung die Widerſprüche zu beſeitigen,
durch deren Annahme ſie zu ſo harten Urtheilen über den
alten Juriſten beſtimmt wurden.
Hienach ſoll der folgende Verſuch nicht dazu dienen,
in der Lehre von der Rechtskraft eine eigene neue Lehre
zu rechtfertigen, oder eine fremde Lehre zu bekämpfen. Er
iſt vielmehr dazu beſtimmt, erſtlich für den Verfaſſer der
Stelle als Ehrenrettung zu dienen, zweitens das unheim-
liche Gefühl zu entfernen, welches unvermeidlich zurück
bleibt, wenn in der Mitte der klarſten und reichhaltigſten
Stelle über die Rechtskraft eine Reihe von Äußerungen
ſich findet, die als unzuſammenhangend, ſchwankend, oder
ſogar als völlig widerſprechend anerkannt werden müßten.
Nach dieſer Vorbereitung laſſe ich den Text unſerer
Stelle mit den nöthigen Erklärungen folgen.
Princ. Si quis, cum totum petisset, partem petat:
exceptio rei judicatae nocet; nam pars in toto est: eadem
enim res accipitur, etsi pars petatur ejus, quod totum
petitum est. Nec interest, utrum in corpore hoc quae-
ratur, an in quantitate, vel in jure. Proinde si quis
fundum petierit, deinde partem petat, vel pro diviso, vel
pro indiviso: dicendum erit, exceptionem obstare. Proinde
etsi proponas mihi, certum locum me petere ex eo fundo,
quem petii, obstabit exceptio. Idem erit probandum, etsi
|0523 : 505|
L. 7 de exceptione rei judicatae.
duo corpora fuerint petita, mox alterutrum corpus pe-
tatur: nam nocebit exceptio(d).
§ 1. Item (e) si quis fundum petierit, mox arbores
(d) Dieſer Theil der Stelle iſt
ſchon oben mitgetheilt und aus-
führlich erklärt worden (S. 448).
Er iſt eben ſo gerechtfertigt von
dem Standpunkt der poſitiven, als
der negativen Function aus, und
Ulpian entſcheidet hier mit unzwei-
felhafter Sicherheit, ohne dem Ge-
danken an eine mögliche Meinungs-
verſchiedenheit Raum zu laſſen.
(e) In dieſem Theil der Stelle
liegt die vorgeſchlagene neue Ab-
theilung und die darauf gegrün-
dete neue Erklärung der Stelle.
Die Ausgaben ziehen die Worte
Item si bis tabulas vindicem
noch zu dem princ. und fangen
den § 1 erſt mit den Worten Si
ancillam an. Dadurch werden
alle in jenen Worten enthaltenen
Fälle mit in den vorhergehenden
Ausſpruch hineingezogen, daß die
Einrede unzweifelhaft an-
wendbar ſey (nam nocebit ex-
ceptio). Betrachten wir dabei zu-
erſt das Sprachliche, dann das
Sachliche. Jeder Anfang eines
Satzes mit Item bezeichnet eine
Verwandtſchaft dieſes Satzes mit
dem vorhergehenden; dieſe Ver-
wandtſchaft aber kann im Grad
und Umfang verſchieden ſeyn. Sie
kann ſich beziehen ſowohl auf die
in beiden Sätzen erwähnten Fälle
(die zu entſcheidenden Fragen),
als auf die Behandlung dieſer
Fälle (die Entſcheidung ſelbſt);
ſie muß aber nicht ſprachlich dieſe
Ausdehnung haben, kann ſich viel-
mehr auch beſchränken auf den
Fall oder die Frage, neben mehr
oder weniger Verſchiedenheit in
der Behandlung und Entſcheidung.
Wenn in dem vorliegenden Fall
die ganze Stelle abſchlöſſe mit den
Worten tabulas vindicem, ſo
wäre es durchaus nothwendig, die
Verwandtſchaft der Sätze in der
größten Ausdehnung anzunehmen,
ſo wie es die Ausgaben voraus-
ſetzen. Jetzt aber, da ein anderer
Satz, mit anderem Ausgang, folgt
(magnae quaestionis est), haben
wir ſprachlich ganz freie Wahl,
und dieſe Wahl kann nur durch
ſachliche Gründe entſchieden
werden. Dieſe Gründe aber
ſprechen für die von mir vorge-
ſchlagene Abtheilung, indem nur
auf dieſem Wege der handgreifliche
Widerſpruch mit der Entſcheidung
des § 2 über die cementa ver-
hütet werden kann, durch deſſen
Anerkennung eben alle Ausleger zu ſo
harten Urtheilen über Ulpian ver-
leitet werden. — Meine Erklärung
der Stelle läßt ſich etwa ſo aus-
drücken: „Wenn ferner Jemand
zuerſt ein Landgut vindicirt, und
ſpäter (nachdem er abgewieſen wor-
den) abgehauene Bäume aus dieſem
Landgut, oder auch ein Haus …
|0524 : 506|
Beilage XVI.
excisas ex eo fundo petat: aut insulam petierit, deinde
aream, vel tigna, vel lapides petat: item si navem
petiero, postea singulas tabulas vindicem: si (f) ancillam
praegnantem petiero, aut (g) post litem contestatam con-
ceperit et pepererit, mox partum ejus petam: atrum
idem petere videor, an aliud, magnae quaestionis est (h).
Et quidem ita definiri potest, totiens eandem rem agi,
quotiens apud judicem posteriorem id quaeritur, quod
apud priorem quaesitum est (i). In his igitur fere
omnibus exceptio nocet (k).
oder ein Schiff … oder eine Scla-
vin … ſo iſt in allen dieſen
Fällen die Anwendbarkeit
der Exception ein Gegen-
ſtand großer Zweifel und
Streitfragen.“ (Behauptet
wird darüber von Ulpian bis dahin
noch gar Nichts).
(f) Daß dieſer Fall nicht ſo,
wie die übrigen, mit item einge-
leitet wird, kann der bloßen Ab-
wechslung wegen geſchehen ſeyn.
Es iſt aber auch möglich, daß
item wirklich da ſtand, und daß
es durch die ſcheinbare Ähnlichkeit
mit den vorhergehenden Sylben
icem ausgefallen iſt. In dieſer
Vorausſetzung können wir es durch
Gemination herſtellen.
(g) Die Handſchriften und Aus-
gaben leſen hier et, welches jedoch
gar keinen Sinn giebt, da die zur
Zeit der Klage (der Litisconteſtation)
bereits ſchwangere Sclavin unmög-
lich gleich nachher nochmals
ſchwanger werden kann. Die ſehr
gelinde Veränderung in aut giebt
folgenden einfachen Sinn: „wenn
eine vindicirte Sclavin entweder
ſchon zur Zeit der L. C. ſchwanger
iſt, oder gleich nachher, während
des Prozeſſes, ſchwanger wird.“
Vor conceperit iſt alſo hinzu zu
denken: ancilla petita; eine
Veränderung des Textes iſt deshalb
nicht nöthig.
(h) Dieſe Worte beziehen ſich
nun auf alle Fälle zugleich, die
nach dem gegenwärtigen Abdruck
im § 1 voranſtehen (Note e).
(i) In dieſen Worten wird ein
leitender Grundſatz aufgeſtellt, der
zur Löſung aller zuſammengeſtellten
Streitfragen dienen ſoll. Dieſer
Grundſatz aber beſteht darin, daß
beide Klagen auf der Entſcheidung
einer und derſelben Rechtsfrage
beruhen müſſen, wenn die Exception
anwendbar ſeyn ſoll (S. 417. 418).
(k) Die Anwendung des aufge-
ſtellten Grundſatzes ſoll nach Ul-
pian’s Ausſpruch dahin führen,
|0525 : 507|
L. 7 de exceptione rei judicatae.
§ 2. Sed in cementis et tignis diversum est(l): nam
is, qui insulam petit, si cementa, vel tigna, vel quid
aliud suum petat, in ea condicione est, ut videatur aliud
petere: etenim cujus insula est, non utique et cementa
sunt: denique ea, quae juncta sunt aedibus alienis, sepa-
rata dominus vindicare potest(m).
daß beinahe in allen vorher
angegebenen ſtreitigen Fällen die
Exception wirklich anwendbar ſey.
Sehen wir zu, ob ſich dieſer Aus-
ſpruch bewährt. Die Exception
iſt in der That anwendbar: 1. bei
dem Landgut und den abgehauenen
Bäumen, 2. bei dem Haus und
dem leeren Boden (area), 3. bei
der Sclavin und dem, vor oder
nach der Klage erzeugten, Kind
derſelben. Sie iſt nicht anwend-
bar bei dem Haus und dem Bau-
material, wie der § 2 ausdrücklich
ſagt.
(l) Der Fall der Baumateria-
lien wird alſo als der einzige ge-
nannt, worin es anders gehalten
werde, indem hier die Exception
nicht anwendbar ſey. Dieſes paßt
ſehr gut als Gegenſatz zu den un-
mittelbar vorhergehenden Worten:
in his fere omnibus. Das
Sed in cementis drückt daher ein
nur aus, und giebt die Erklärung
des fere. — Der Ausſpruch über
die cementa iſt hier übrigens ſo
entſchieden und unzweifelhaft, daß
dadurch die gewöhnliche Erklärung
der vorhergehenden Erwähnung der
cementa ganz unmöglich wird
(Note e). Der wahre Grund die-
ſes von den übrigen Fällen ver-
ſchiedenen Ausſpruchs wird in der
folgenden Note angegeben werden.
(m) Über die Schiffe erklärt
ſich Ulpian nicht; ich glaube aber,
daß es bei den Brettern eines
Schiffes eben ſo gehalten werden
muß, wie bei den Balken eines
Hauſes. Wenn der Richter die
Vindication eines Schiffes abweiſt,
ſo liegt darin keine ſtillſchweigende
Verneinung des Eigenthums an
einzelnen Brettern, weil er ein
ſolches Eigenthum in dieſer Lage
des Rechtsſtreits gar nicht zuer-
kennen kann; dazu müßte erſt eine
Abtrennung der Bretter durch die
a. ad exhibendum vorher bewirkt
worden ſeyn. L. 23 § 5 de R. V.,
L. 6 ad exhib. — Der Unterſchied
des Schiffes von dem Hauſe beſteht
nur darin, daß bei dem Hauſe
nicht einmal dieſe vorhergehende
Abtrennung verlangt werden kann.
L. 6 cit., L. 7 § 10 de adqu.
rer. dom. Ohne Abtrennung
iſt eine Vindication oder ein Zu-
ſprechen der einzelnen Beſtandtheile
in beiden Fällen gleich unmöglich.
|0526 : 508|
Beilage XVI.
§. 3. De fructibus eadem quaestio est, ut(n)de
partu; haec enim nondum erant in rebus humanis, sed ex
ea re sunt, quae petita est: magisque est, ut ista excep-
tio noceat(o). Plane si in restitutionem vel fructus, vel
(n) Die Handſchriften und Aus-
gaben leſen et, der Sinn fordert
ut. Der Sinn geht nämlich da-
hin, daß die oben für das Sclaven-
kind aufgeworfene Frage ganz eben
ſo auch für die Früchte aufgefaßt
und beantwortet werden müſſe (wo-
hin die gleich Anfangs genannten
arbores excisae gerechnet wer-
den können). Anſtatt ut könnte
auch geſetzt werden ac, welches
durch die gemeinſame Abbreviatur
der Handſchriften in et irrig über-
gegangen ſeyn könnte.
(o) Die Handſchriften und Aus-
gaben leſen: non noceat, allein
die Gloſſe ſagt: „Si habes sine
non, plana est … si vero
habeas non noceat, ut habent
fere omnes communiter“ rel.
Es iſt nicht richtig, Dieſes als
eine von Accurſius vorgeſchlagene
Emendation aufzufaſſen; vielmehr
liegt darin das Zeugniß, daß in
der That zwei handſchriftliche Leſe-
arten vorlägen, zwiſchen welchen zu
wählen ſey, deren eine jedoch die
überwiegende Zahl der Handſchrif-
ten für ſich habe; für beide Texte
werden dann Erklärungen verſucht.
— Die Leſeart noceat (ohne non)
halte ich aus folgendem Grunde für
die richtige. Nach dem Grund-
ſatz der negativen Function könnte
man vielleicht unterſcheiden wollen
zwiſchen der Erzeugung vor oder
nach der L. C.; Ulpian aber unter-
ſcheidet nicht. Nach dem Grund-
ſatz der poſitiven Function (der
eadem quaestio), den Ulpian in
der ganzen Stelle überall auf-
ſtellt und anwendend durchführt,
iſt die allgemeine Anwendbarkeit
der Exception unzweifelhaft, da die
Verneinung des Eigenthums an
der Mutter auch die Vindication
des von dieſer Mutter gebornen
Kindes unmöglich machen muß.
Was aber dieſe Leſeart und Er-
klärung durchaus nothwendig macht,
iſt der Ausdruck des § 1: In his
fere omnibus … nocet. Dieſer
Ausdruck wäre ganz widerſinnig,
wenn gerade in den ſo häufigen
Fällen der Sclavenkinder und der
Früchte das Gegentheil gelten
ſollte. — Die Worte: haec enim
nondum . . petita est müſſen
nun ſo erklärt werden: „denn
wenngleich das Kind in manchen
Fällen zur Zeit der Klage noch
nicht exiſtirte, alſo nicht mit in
judicium deducirt war, ſo iſt doch
überall durchgreifend der Grund-
ſatz der eadem quaestio, indem
hier das Eigenthum an dem ſpäter
vindicirten Kind nur aus dem
Eigenthum an der Mutter abge-
leitet werden ſoll (sed ex ea re
sunt, quae petita est), welches
|0527 : 509|
L. 7 de exceptione rei judicatae.
etiam partus venerunt, aestimatique sunt: consequens erit
dicere, exceptionem objiciendam(p).
§ 4. Et generaliter … exceptione summovebitur.
§ 5. Idem erit probandum … videntur in petitio-
nem deduci(q).
Die bisher verſuchte Erklärung der Stelle des Ulpian
in ihren einzelnen Theilen wird noch anſchaulicher werden
durch die folgende zuſammenhängende Darlegung des Ge-
dankenganges.
Der Verfaſſer fängt an mit der Betrachtung einer
Reihe von Fällen, in welchen zuerſt ein Ganzes einge-
klagt (und abgewieſen) wird, dann ein Theil dieſes
Ganzen. In allen dieſen Fällen, ſagt er, iſt die Exception
entſchieden anwendbar, und er erwähnt dabei nicht einmal
Letzte aber durch das frühere Ur-
theil verneint worden iſt.“ Bei
den Worten: haec enim muß alſo
hinzu gedacht werden ein etsi
oder quidem, und daraus, daß
Dieſes überſehen, und daher in
dieſen Worten der poſitive Grund
der Entſcheidung geſehen wurde
(anſtatt eines bloßen Zweifelsgrun-
des), iſt eben die falſche Leſeart:
non noceat entſtanden.
(p) Dieſer letzte Satz (Plane
si rel.) enthält nach der gewöhn-
lichen Erklärung (mit non noceat)
eine entgegengeſetzte Entſchei-
dung; nach meiner Erklärung
enthält er eine gleiche Entſcheidung,
aber aus einem anderen, von den
übrigen Meinungsverſchiedenheiten
ganz unabhängigen, alſo noch
durchgreifenderen Grunde. Wenn
nämlich in dem früheren Rechts-
ſtreit der Beklagte gewiſſe Früchte
bereits durch Geldentſchädigung ver-
gütet, alſo erkauft hat, ſo würde
eine neue Vindication derſelben
Früchte den ganz unzweifelhaften
Grundſätzen der Concurrenz völlig
widerſprechen (§ 232).
(q) Die zwei letzten Paragraphen,
die mit den bisher abgehandelten
Schwierigkeiten der ganzen Stelle
keine Berührung haben, ſind ſchon
oben mitgetheilt und erklärt worden
(S. 432. 433).
|0528 : 510|
Beilage XVI.
eines von anderen Schriftſtellern erhobenen Zweifels oder
Streites.
Darauf läßt er folgen (§ 1) eine Reihe verſchieden-
artiger Fälle, die ſich nicht ſo, wie die vorhergehenden, auf
ein gemeinſames Verhältniß (das des Ganzen zum Theil)
zurück führen laſſen, wenigſtens nicht ſo unmittelbar und
ſicher. Für dieſe Fälle giebt er zunächſt keine eigene Ent-
ſcheidung, wohl aber die Bemerkung, daß ſie häufig Ge-
genſtand von Streit und Zweifel ſeyen. — Er ſtellt nun
eine Regel auf, woraus überall die Entſcheidung herge-
nommen werden müſſe, und dieſe Regel iſt keine andere,
als die, welche das Weſen der poſitiven Function der Ein-
rede ausdrückt: das Daſeyn einer eadem quaestio in
beiden Klagen, als Bedingung der Anwendbarkeit der Ex-
ception. — Er fügt dann hinzu, daß in Anwendung dieſer
Regel faſt in allen vorher angegebenen zweifelhaften
Fällen die Exception in der That zugelaſſen werden müſſe.
Er geht dann über (§ 2) zur beſonderen Betrachtung
eines unter jenen zweifelhaften Fällen, in welchem die
Exception nicht anwendbar ſeyn ſoll.
Darauf folgt (§ 3) die beſondere Betrachtung eines
anderen unter jenen Fällen, dem noch eine ausgedehntere
Anwendung zugeſchrieben wird. In dieſem weit um-
faſſenden Fall ſoll wieder die Exception wirklich zur An-
wendung kommen, und es wird ein ſcheinbarer Zweifel
beſeitigt, der für dieſen Fall beſonders erhoben werden
könnte.
|0529 : 511|
L. 7 de exceptione rei judicatae.
Endlich wird die ſchon oben aufgeſtellte Regel über die
Anwendung der Exception in einer vollſtändigeren Formel
wiederholt (§ 4), und es wird davon Anwendung gemacht
auf das Verhältniß der Erbrechtsklage zur Eigenthums-
klage (§ 4), ſo wie auf das Verhältniß der Erbrechtsklage
zu einer aus derſelben Erbſchaft abgeleiteten Schuldklage
(§ 5).
Es iſt ſchon oben angeführt worden, daß ein neuerer
Ausleger dem Ulpian den Vorwurf macht, er ſchwanke in
dieſer Stelle beſtändig zwiſchen dem Standpunkt der poſi-
tiven und negativen Function der exceptio rei judicatae,
und eben aus dieſem Schwanken könnte man verſucht ſeyn,
die Dunkelheiten der hier vorliegenden Stelle, ſo wie die
(wirklichen oder vermeintlichen) Widerſprüche derſelben zu
erklären. Gegen dieſen Vorwurf habe ich mich ſchon
wiederholt erklärt. Es wird aber dieſe Meinungsverſchie-
denheit dazu dienen können, die Art, wie wir die beiden
Geſtalten oder Functionen jener Exception, in ihrer Ver-
wandtſchaft und Verſchiedenheit, zu denken haben, noch
anſchaulicher zu machen, als es ſchon oben (§ 281. 282)
verſucht worden iſt.
Wir ſind jetzt gewohnt, jene beiden Functionen der
Exception als auf verſchiedenen, theilweiſe entgegengeſetzten,
Principien beruhend zu denken, und wir thun in ſofern
wohl mit dieſer Auffaſſung des Gegenſtandes, als durch
dieſe ſcharfe Ausbildung des Gegenſatzes eine vollſtändigere
|0530 : 512|
Beilage XVI.
Einſicht gewonnen worden iſt. Nur würden wir zu weit
gehen, wenn wir annehmen wollten, daß derſelbe Gedanke
auch ſchon bei der Entſtehung und Ausbildung der poſitiven
Function in dieſer Art zum Bewußtſeyn gekommen wäre.
Die ältere Geſtalt der Exception beruhte auf dem
Grundſatz, daß eine einmal angeſtellte Klage nicht von
Neuem vorgebracht werden ſolle; hier knüpfte ſich die An-
wendung der Exception an ein äußeres, formelles Merkmal.
Auch war dieſer Grundſatz für die meiſten Fälle ganz
ausreichend. In der Praxis aber zeigten ſich allmälig ein-
zelne Fälle, worin jener Grundſatz nicht ausreichte; manche
ſogar, worin die conſequente Durchführung derſelben zu
unbilliger Härte ausſchlug. Die Wahrnehmung dieſes
praktiſchen Bedürfniſſes führte zum Nachdenken über eine
mögliche Abhülfe, und dieſe wurde darin gefunden, daß
man an die Stelle des urſprünglichen formellen Grund-
ſatzes einen mehr materiellen ſetzte, hergenommen aus der
inneren Natur des Rechtsverhältniſſes und des Rechts-
ſtreites. Anſtatt daß man ſich früher damit begnügte, die
Wiederholung einer Klage zu verhindern, ging jetzt das
Beſtreben dahin, den Inhalt eines geſprochenen
Urtheils gegen jede ſpätere Gefährdung ſicher zu ſtellen,
und dieſer neuere, erſchöpfendere Grundſatz (die eadem
quaestio) iſt in keiner Stelle ſo klar ausgeſprochen, ſo
wiederholt eingeſchärft, und durch mannichfaltige Anwen-
dungen anſchaulich gemacht, als in der hier vorliegenden
Stelle des Ulpian.
|0531 : 513|
L. 7 de exceptione rei judicatae.
Dieſe Ausbildung des Rechtsinſtituts erfolgte aber nicht
in der Art, daß man den älteren Grundſatz glaubte ver-
werfen, vernichten, durch einen neuen verdrängen zu
müſſen; es war weniger eine Verneinung, als eine Ver-
tiefung deſſelben. In der großen Mehrzahl der Fälle trafen
ohnehin beide Grundſätze in ihren Folgen völlig zuſammen.
So gerade in der bedeutenden Zahl von Fällen, die in
unſrer Stelle Ulpian einer näheren Betrachtung unter-
wirft.
Wenn daher Ulpian in dieſer Stelle den Grundſatz der
eadem quaestio wiederholt ausſpricht, und durch mannich-
faltige Anwendungen erläutert, ſo konnte er daneben unbe-
denklich und arglos Ausdrücke gebrauchen, die mit dem
Grundſatz der negativen Function (der Klagenconſumtion)
zuſammen hangen (r). Es liegt in dieſer Ausdrucksweiſe
kein Grund, ihm das Schwanken zwiſchen verſchiedenen
Grundſätzen vorzuwerfen; ja ſelbſt eine Unvorſichtigkeit des
Ausdrucks möchte in dieſem Verfahren kaum behauptet
werden können.
(r) Dahin gehören folgende Aus-
drücke: eadem enim res accipitur
(princ.). — Utrum idem petere
videor, an aliud (§ 1). — aliud
petere (§ 2). — videntur in pe-
titionem deduci (§ 5). — Vgl.
auch oben S. 433. 434.
VI. 33
|0532 : [514]|
Beilage XVII.
Causa adjecta s. expressa.
(Zu § 300.)
I.
Folgende Sätze ſind im Römiſchen Recht deutlich ausge-
ſprochen und auch von den neueren Rechtslehrern allgemein
anerkannt.
Wenn eine perſönliche Klage auf eine Sache abgewieſen
wird, ſo kann eine neue perſönliche Klage auf dieſelbe
Sache angeſtellt werden, vorausgeſetzt, daß die derſelben
zum Grunde liegende Obligation einen anderen Entſtehungs-
grund hat, als die der früheren Klage zum Grunde liegende
Obligation. Denn jede Obligation wird durch ihren Ent-
ſtehungsgrund individualiſirt, nicht durch ihren Gegenſtand.
Anders verhält es ſich bei den Klagen in rem. Die
abgewieſene Eigenthumsklage auf ein Landgut kann daher
nicht von Neuem angeſtellt werden, wenngleich die erſte
Klage auf Tradition, die zweite auf Erſitzung als Ent-
ſtehungsgrund des Eigenthums gegründet werden ſollte.
Jeder dieſer Sätze iſt als Regel unbeſtritten.
|0533 : 515|
Beilage XVII. Causa adjecta s. expressa.
II.
Für die zweite dieſer Regeln werden aber zwei Aus-
nahmen behauptet.
Die erſte Ausnahme bezieht ſich auf den Fall, wenn
der Entſtehungsgrund des Eigenthums, den der Kläger
der ſpäteren Klage zum Grunde legt, neuer iſt, als der
frühere Rechtsſtreit (causa superveniens), weil dann das
frühere Urtheil über dieſen Entſtehungsgrund nicht ent-
ſchieden haben kann.
Dieſe Ausnahme iſt gleichfalls unbeſtritten.
Die zweite Ausnahme betrifft den Fall, wenn die
frühere Klage nicht auf das Eigenthum dieſer Sache über-
haupt gerichtet, ſondern auf einen beſtimmten Entſtehungs-
grund dieſes Eigenthums (z. B. Tradition) ausdrücklich
beſchränkt war. Dann ſoll es, in Folge dieſer Ausnahme,
erlaubt ſeyn, von Neuem eine Eigenthumsklage auf dieſelbe
Sache anzuſtellen, wenn darin das Eigenthum aus einem
anderen Entſtehungsgrund, z. B. aus der Erſitzung, abge-
leitet wird (a).
Dieſe zweite Ausnahme, die in neuerer Zeit lebhaft
angefochten worden iſt, ſoll hier einer neuen Unterſuchung
unterworfen werden.
Der Unterſuchung ſelbſt iſt eine nähere Feſtſtellung des
(a) Auf folgende Stellen wird
dieſe Ausnahme gegründet: L. 11
§ 2 de exc. rei jud. (44. 2) von
Ulpian, und L. 14 § 2 eod. von
Paulus.
33*
|0534 : 516|
Beilage XVII.
Sinnes und der Conſequenzen beider entgegenſtehenden
Meinungen voran zu ſchicken.
III.
Die Vertheidiger der Ausnahme nehmen an, daß die
erſte und die zweite Klage auf beſtimmte, und zwar ver-
ſchiedene, Entſtehungsgründe des eingeklagten Rechts be-
ſchränkt geweſen ſeyn müſſe. Dieſe Beſchränkung muß
nach dem älteren Römiſchen Prozeß ohne Zweifel in die
formula gelegt worden ſeyn. — Da wir keine formula
haben, ſo muß im heutigen Prozeß die Beſchränkung in
der Klage ausgedrückt ſeyn. Nur kann dazu die bloße Er-
zählung, wie das Eigenthum entſtanden ſey, nicht genügen;
vielmehr muß die beſtimmte Abſicht ausgedrückt werden, die
erwähnte Ausnahme herbeizuführen, wobei es jedoch gleich-
gültig iſt, in welchen Ausdrücken, und an welchem Orte
der Klage Dieſes geſchehen möge.
IV.
Wählt der Kläger den Weg dieſer Ausnahme, ſo ſind
damit Vortheile und Nachtheile für ihn verknüpft. Der
Vortheil beſteht darin, daß er ſich für den Fall der Ab-
weiſung einer ſo beſchränkten Klage eine neue Klage vor-
behält. Der Nachtheil iſt darin zu ſuchen, daß er nun
zur Begründung der angeſtellten Klage keinen anderen, als
den beſonders angegebenen Entſtehungsgrund, benutzen darf,
anſtatt daß er ohne dieſe Beſchränkung nicht nur jeden
|0535 : 517|
Causa adjecta s. expressa.
anderen Grund, ſondern auch mehrere Gründe neben ein-
ander, geltend machen könnte.
V.
Die Gegner der Ausnahme wollen durch die Verwerfung
derſelben die Wirkſamkeit der exceptio rei judicatae er-
weitern, alſo die Möglichkeit einer Wiederholung abge-
wieſener Klagen beſchränken. Weil aber Dieſes in manchen
einzelnen Fällen allzu hart ſeyn könnte, ſo fügen ſie eine
Milderung hinzu, die in der Ertheilung einer Reſtitution
beſtehen ſoll. Durch dieſe Reſtitution ſoll der abgewieſene
Kläger die Eigenthumsklage aus einem neuen Entſtehungs-
grund anſtellen können, auch wenn dazu nicht durch den
beſchränkenden Vorbehalt in der erſten Klage der Grund
gelegt worden iſt.
Beſchränkt man dieſe Reſtitution auf die allgemeinen
Reſtitutionsgründe, z. B. Minderjährigkeit oder Betrug,
ſo iſt die Aushülfe ſehr unbedeutend. Ueberläßt man ſie
dagegen dem freien Ermeſſen des Richters, ſo daß eben
jene Härte als Reſtitutionsgrund gelten ſoll, dann wird
dadurch eine Willkühr und Rechtsunſicherheit herbeigeführt,
wodurch die ſichere Wirkſamkeit der Rechtskraft weit mehr
verliert, als für ſie durch die Verwerfung der Ausnahme
gewonnen werden ſoll.
VI.
Ich gehe nun zur Darſtellung des Streites ſelbſt über.
Bis vor etwa zwanzig Jahren wurde die Richtigkeit der
|0536 : 518|
Beilage XVII.
Ausnahme ſo allgemein angenommen, daß kein Zweifel
darüber wahrzunehmen war (b). Puchta zuerſt verſuchte
es, dieſelbe mit Scharfſinn und Gelehrſamkeit zu wider-
legen, und ſeit dieſer Zeit ſind die Stimmen ziemlich ge-
theilt geblieben.
Als Gegner der Ausnahme ſind folgende Schriftſteller
zu bemerken:
Puchta Rhein. Muſeum B. 2 (1828) S. 251—270,
B. 3 S. 467—487.
Curſus der Inſtitutionen B. 2 § 175.
Zimmern Rechtsgeſchichte B. 3 S. 152. 422.
Buchka B. 1 S. 145, ſo viel das Römiſche Recht
betrifft.
Als Vertheidiger der Ausnahme, alſo der früherhin
allgemeinen Meinung, ſind ſeitdem folgende Schriftſteller
aufgetreten:
Heffter Rhein. Muſeum B. 3 S. 222—238.
Richelmann Einfluß des Irrthums auf Verträge
S. 116—118.
Brackenhoeft Identität der Rechtsverhältniſſe S. 116
bis 118.
Buchka B. 2 S. 192 nach dem heutigen Recht.
Wächter Württemb. Privatrecht B. 2 S. 445.
Der Reihe dieſer Vertheidiger ſchließe auch ich mit
voller Ueberzeugung mich an.
Ganz vereinzelt ſteht hierin die Meinung von Kierulff
(b) Noch bei Keller (1827) S. 290. 291 findet ſich keine Spur
eines Zweifels.
|0537 : 519|
Causa adjecta s. expressa.
S. 257, welcher behauptet, nach der modernen aequitas
müſſe jede Klage, ſie möge eine Beſchränkung auf einen
beſtimmten Entſtehungsgrund enthalten, oder nicht, den
Vortheil genießen, den die Römer mit der causa expressa
verbanden. Durch eine ſolche aequitas würde aller Vor-
theil zerſtört ſeyn, den in dieſer Lehre die Praxis aus den
Grundſätzen einer geſunden Theorie zu ziehen vermag.
VII.
In dem Streit ſelbſt ſind bisher Gründe von dreierlei
Art geltend gemacht worden: Erſtlich allgemeine Be-
trachtungen über das wahre Bedürfniß des Prozeßrechts;
zweitens die ſonſt bekannten allgemeinen Formen des
Römiſchen Prozeſſes; drittens, was das Wichtigſte iſt, der
Inhalt der zwei Stellen der Digeſten, aus welchen allein
die Ausnahme hergeleitet wird. Ich will mich in der
eigenen Unterſuchung an dieſen von Anderen gewählten
Gang anſchließen, und jede dieſer drei Klaſſen von Gründen
beſonders erwägen.
VIII.
Was zuerſt das allgemeine Bedürfniß des Prozeßrechts
betrifft, ſo behaupten die Gegner, die Ausnahme ſei un-
zweckmäßig, und ſie enthalte eine große Härte gegen den
Beklagten, den der Kläger auf dieſe Weiſe mit immer er-
neuerten Klagen beunruhigen könne. Für einzelne Fälle
|0538 : 520|
Beilage XVII.
eines dringenden Bedürfniſſes ſey es beſſer, durch Reſti-
tution zu helfen (c).
Keine dieſer Behauptungen kann zugegeben werden (d).
Eine Gefahr für die Ruhe des Beklagten iſt gewiß nicht
vorhanden, da der Kläger die Luſt an oft wiederholten
vergeblichen Klagen durch die Prozeßkoſten theuer be-
zahlen müßte.
Daß für den Kläger nicht ſelten ein wichtiges und
billiges Bedürfniß zu einem ſolchen Verfahren eintreten
kann, wird aus der Betrachtung folgender Fälle unver-
kennbar hervorgehen. Bei einer Eigenthumsklage kann der
Kläger von dem Erwerb durch Tradition überzeugt ſeyn,
für den Fall aber, daß der Richter denſelben nicht an-
nehmen ſollte, den Erwerb durch Erſitzung nachzuweiſen
vorbehalten wollen. Die gleichzeitige Verhandlung beider
Erwerbungsgründe kann dadurch unzweckmäßig werden,
daß der Beweis der Erſitzung ſehr umſtändlich und koſt-
ſpielig ſeyn kann. — Wenn ein eingeſetzter Erbe, der zu-
gleich der nächſte Verwandte des Verſtorbenen iſt, die
Erbrechtsklage anſtellen will, die Gültigkeit des Teſtaments
aber zweifelhaft iſt, ſo kann der Kläger zwiſchen zwei
verſchiedenen, einander widerſprechenden, Erbrechtsklagen
wählen (e). Hier ſcheint es natürlicher und zweckmäßiger,
zunächſt eine dieſer Klagen allein durchzuführen mit Vor-
(c) Puchta Muſ. B. 2 S. 261,
B. 3 S. 483—485.
(d) Vgl. Heffter Muſ. B. 3
S. 230. 231.
(e) Ein Fall ſolcher Art iſt
vorausgeſetzt in L. 30 pr. de exc.
rei jud. (44. 2), ſ. o. S. 459.
|0539 : 521|
Causa adjecta s. expressa.
behalt der anderen, als beide zu verbinden, indem bei
dieſer Verbindung die Vertheidigung einer jeden dieſer
Klagen durch die widerſprechende Vertheidigung der anderen
nothwendig geſchwächt werden muß.
Die Gegner wollen für ſolche Fälle durch ſpätere Er-
theilung einer Reſtitution helfen. Allein eine regelmäßige
Vorſorge iſt für Fälle der oben beſchriebenen Art offenbar
räthlicher und zweckmäßiger, als eine außerordentliche und
willkürliche, deren Gefahren ſchon oben (Num. V.) be-
merklich gemacht worden ſind, und die, je nach den zu-
fälligen Anſichten des Richters, bald unbillig gewährt, bald
unbillig verſagt werden kann.
IX.
Ich wende mich nun zur Betrachtung der Gründe, die
aus den Formen des alten Römiſchen Prozeſſes herge-
nommen ſind, an welche Formen allerdings Ulpian und
Paulus (Note a) gedacht haben müſſen. Es fragt ſich
alſo, wenn ein ſolcher Vorbehalt, wie ihn die hier beſtrit-
tene Ausnahme vorausſetzt, gemacht werden ſollte, wie
derſelbe in jene Formen eingefügt werden konnte.
Bekanntlich gab es (außer der legis actio) für die
Klagen in rem zwei verſchiedene Formen: durch Sponſion,
und durch petitoria formula (f).
Daß mit der Sponſionsklage jener Vorbehalt vereinbar
war, geben die Gegner ſelbſt zu. Es wird nur bezweifelt,
(f) Gajus IV. § 91—95.
|0540 : 522|
Beilage XVII.
ob der Beklagte auf eine ſo gefaßte Sponſionsformel ſich
habe einlaſſen müſſen, und es wird hinzugefügt, daß für
das Juſtinianiſche Recht in jedem Fall dieſe Form als
unanwendbar gedacht werden müſſe (g). Dieſes Letzte iſt
denn auch unbedenklich zuzugeben.
X.
Die Frage beſchränkt ſich daher auf den Fall der peti-
toria formula, d. h. derjenigen Geſtalt der Eigenthums-
klage, welche allein in den Digeſten vorkommt, und darin
regelmäßig den Namen rei vindicatio führt. Wie war es
möglich, hier jenen Vorbehalt einzufügen?
Er konnte vielleicht ſchon in die Intentio geſetzt
werden (h). Die Gründe, die man gegen dieſe Möglich-
keit angeführt hat (i), kann ich nicht als durchgreifend
anerkennen. Durch eine ſolche Faſſung, wird geſagt, habe
die Klage aufgehört, eine Eigenthumsklage zu ſeyn, und
ſey gewiſſermaßen eine in factum actio geworden. Allein
wenn etwa die Formel: Si paret, hominem Stichum Auli
Agerii esse, den Zuſatz bekommen hätte: ex causa manci-
pationis, ſo war Dieſes noch immer eine reine juris civilis
intentio (k). — Ferner wird geſagt, unter dieſer Voraus-
(g) Puchta Muſ. B. 2 S. 264.
265. 268. Vgl. B. 3 S. 467.
(h) Heffter S. 234 giebt dafür
eine mögliche Faſſung an.
(i) Puchta Muſ. II. 263—267,
III. 474. 477.
(k) Hierauf allein kommt es an,
damit eine in jus concepta in-
tentio angenommen werden könne,
im Gegenſatz einer in factum
concepta. Gajus IV. § 45. 46.
|0541 : 523|
Causa adjecta s. expressa.
ſetzung hätte es mehrere Arten der Faſſung einer petitoria
formula geben müſſen, wovon wir doch keine Spur hätten.
Dabei iſt nur zu bedenken, daß alle überhaupt vorhandenen
Spuren der petitoria formula ohnehin höchſt dürftig und
zufällig ſind, wodurch der eben angegebene Grund der
Gegner völlig entkräftet wird.
Alſo für möglich halte ich es allerdings, daß jener
Vorbehalt in die Intentio eingefügt wurde, allein nicht für
wahrſcheinlich, und zwar deswegen nicht, weil die folgende
Art der Einfügung viel einfacher, natürlicher, und darum
wahrſcheinlicher iſt.
XI.
Eine andere Art möglicher Einfügung jenes Vorbe-
halts iſt nämlich die durch eine praescriptio, und dieſe
halte ich durch ihre Einfachheit und Natürlichkeit, ſo wie
durch ſo manche ganz nahe liegende Analogie, für ganz
unzweifelhaft.
Die Gründe, die dagegen aufgeſtellt worden ſind (l),
erſcheinen mir als völlig unerheblich.
Man ſagt, Präſcriptionen ſeyen nur im Fall eines
dringenden, unabweislichen Bedürfniſſes gegeben worden,
welches hier fehlte. — Wir wiſſen jedoch kein Wort davon,
wie leicht oder ſchwer die Römer es nahmen bei der Ge-
ſtattung von Präſcriptionen. Daß es aber auch in unſrem
(l) Puchta Muſ. II. 260, III. 471.
|0542 : 524|
Beilage XVII.
Fall an einem ernſten Bedürfniß nicht fehlte, iſt ſchon oben
gezeigt worden (Num. VIII.). In einem von Gajus ange-
führten Fall einer wirklich ertheilten praescriptio (m) iſt
das dringende Bedürfniß gewiß weit weniger einleuchtend,
als in unſrem Fall.
Ferner, ſagt man, ſey es ganz ungewiß, ob überhaupt
bei Klagen in rem Präſcriptionen gegeben worden ſeyen. —
Allerdings ſind die Beiſpiele, die Gajus angiebt, nur von
perſönlichen Klagen entlehnt; da er jedoch überhaupt nur
zwei Beiſpiele angiebt, ſo liegt in dieſer Induction gewiß
ein ſehr ſchwacher Grund gegen die Anwendung der Prä-
ſcriptionen auch auf Klagen in rem.
XII.
Die Anwendung einer Präſcription auf einen Fall der
hier in Frage ſtehenden Ausnahme muß in folgender Weiſe
gedacht werden.
Sollte eine Eigenthumsklage beſchränkt werden auf den
Erwerb des Eigenthums durch Mancipation, alſo mit dem
Vorbehalt einer künftigen neuen Klage aus einer Uſucapion,
ſo wurde die Präſcription hinzugefügt:
ea res agatur de fundo mancipato(n).
(m) Gajus IV. § 131 „ea res
agatur de fundo mancipando.“
(n) Ganz ähnlich der von Ga-
jus IV. § 131 angeführten Prä-
ſcription: ea res agatur de fundo
mancipando. Dieſe Präſcrip-
tion ſollte den Zweck einer actio
emti auf die Mancipation (mit
Ausſchluß der noch vorbehaltenen
Tradition) beſchränken. In unſrem
Fall ſoll die Begründung der
Vindication auf die Mancipation
|0543 : 525|
Causa adjecta s. expressa.
Wurde nun dieſe Klage rechtskräftig abgewieſen, und
ſollte ſpäterhin eine neue Eigenthumsklage auf Uſucapion
gegründet werden, ſo war auch dabei wieder eine Be-
ſchränkung nöthig, ſonſt wären alle möglichen Erwerbungs-
gründe geltend gemacht worden, alſo unter andern auch der
rechtskräftig abgewieſene Grund der Mancipation, wodurch
der Beklagte einen Anſpruch auf die Einrede der Rechts-
kraft erhalten hätte. Dieſe zweite Beſchränkung konnte nun
in ganz gleichartiger Weiſe, wie die erſte, ausgedrückt
werden, etwa:
ea res agatur de fundo usucapto.
Es war aber auch eine allgemeinere Faſſung dieſer
zweiten Präſcription möglich und ausreichend, die dann
auch auf Fälle anderer Art angewendet werden konnte (o),
etwa in dieſen Worten:
ea res agatur de eadem re alio modo.
Dieſe letzte Form einer Präſcription kam nun in der
That vor nach folgenden unzweideutigen Zeugniſſen, und
in dieſen Zeugniſſen liegt daher zugleich eine wichtige ge-
ſchichtliche Beſtätigung der hier aufgeſtellten Behauptung,
beſchränkt werden (mit Ausſchluß
der noch vorbehaltenen Begründung
durch Uſucapion). Beide Prä-
ſcriptionen haben den Zweck, irgend
Etwas für künftige Zeit dem Klä-
ger vorzubehalten. — Bei der Erb-
rechtsklage konnte die Präſcription
etwa ſo lauten: ea res agatur
de hereditate ex testamento
(oder de B. P. secundum tabulas)
— oder: ea res agatur de legi-
tima hereditate (oder de B. P.
unde legitimi).
(o) So z. B. auf den, in der
Note n. angeführten, Fall bei
Gajus IV. § 131, wenn ſpäterhin
die actio emti auf die vacua
possessio tradenda angeſtellt
werden ſollte.
|0544 : 526|
Beilage XVII.
daß unter den Präſcriptionen eine Formel üblich war, die
auf den Fall unſrer Ausnahme unmittelbar angewendet
werden konnte.
Cicero ad fam. XIII. 27 (an Servius aus dem J. 707):
„Licet eodem exemplo saepius tibi hujus generis
litteras mittam … tamen non parcam operae, et,
ut vos soletis in formulis, sic ego in epistolis: de
eadem re alio modo.“
Cicero de finibus V. 29 (aus dem J. 708):
„Quae cum Zeno didicisset a nostris, ut in
actionibus praescribi solet, de eadem re egit alio
modo“(p).
(p) Neuerlich iſt dieſe, von Cicero
zweimal angeführte, Präſcription
anders gedeutet worden von Liebe
Stipulation S. 173. Es ſoll näm-
lich darunter verſtanden ſeyn die
von Seiten des Beklagten vor-
gebrachte praescriptio (eigentlich
exceptio) rei judicatae, und der
Zuſatz: alio modo, ſoll darauf
gehen, daß nach L. 7 § 4 de exc.
r. j. dieſe Exception gegen eine
neue Klage vel alio genere ju-
dicii gebraucht werden konnte.
Ich muß dieſe Erklärung verwer-
fen als gezwungen und unhaltbar.
Die wenigen Stellen, in welchen
die exc. r. j. den Namen prae-
scriptio führt (L. 10. 11 de exc.,
L. 29 pr. de exc. r. j., L. 63
de re jud., L. 42 de lib. causa),
ſind aus der Nachläſſigkeit des
Ausdrucks zu erklären, nach welcher
ja auch ſonſt die Namen prae-
scriptio und exceptio willkühr-
lich verwechſelt zu werden pflegen.
Wäre hier wirklich die exc. rei
jud. gemeint, ſo hätte wenigſtens
die Formel ganz anders lauten
müſſen, nämlich nach Gajus IV.
§ 133 etwa ſo: ea res agatur,
si ea res judicata nondum sit.
Der poſitive Ausdruck: de eadem
re, konnte nur zu einer eigentlichen
praescriptio paſſen, die pro
actore aufgeſtellt wurde (Gajus
IV. 130. 133). — Mancher anderen
Gründe gegen dieſe Erklärung
nicht zu gedenken.
|0545 : 527|
Causa adjecta s. expressa.
XIII.
Nachdem die allgemeinen Gründe für und wider die
Richtigkeit der Ausnahme geprüft worden ſind, ſollen nun-
mehr die zwei Stellen der Digeſten erklärt werden, woraus
die Ausnahme herzuleiten iſt.
L. 11 de exc. rei judicatae (44. 2) (q).
§ 1. Denique et Celsus scribit, si hominem petiero,
quem ob eam rem meum esse existimavi, quod mihi
traditus ab alio est, cum is ex hereditaria causa
meus esset, rursus petenti mihi obstaturam excep-
tionem.
§ 2. Si quis autem petat, fundum suum esse, eo
quod Titius eum sibi tradiderit: si postea alia ex
causa petat, causa adjecta non debet summoveri
exceptione.
Beide Paragraphen drücken offenbar zwei entgegengeſetzte
Fälle aus, die daher auch verſchieden behandelt werden
ſollen. Die Stellung des autem aber im § 2 zeigt, daß
der Gegenſatz ſchon in den erſten Worten dieſes §. ange-
deutet ſeyn ſoll. Folgende Paraphraſe wird den Inhalt
beider Sätze zur Anſchauung bringen.
Wenn ich einen Sclaven vindicire, in der Meinung,
daß ich ihn durch Tradition erworben habe, und wenn
ich mit dieſer Klage abgewieſen werde, dann aber die
(q) Über den inneren Zuſammenhang dieſer ganzen Stelle vgl.
Heffter S. 227. 228.
|0546 : 528|
Beilage XVII.
Entdeckung mache, daß ich in der That Eigenthum
hatte, nur nicht in Folge einer Tradition, ſondern
in Folge einer Beerbung, ſo wird mir die Einrede
der Rechtskraft entgegen ſtehen, wenn ich deshalb von
Neuem eine Vindication anſtelle. Wenn ich dagegen
die erſte Vindication angeſtellt habe, nicht blos in der
irrigen Vorausſetzung einer Tradition, ſondern indem
ich dieſe Erwerbung als Grund der Vindication in
der Klage ausdrücklich angebe (Si .. petat, fundum
suum esse, eo quod Titius .. tradiderit), ſo bin
ich nach abgewieſener Klage durch jene Einrede nicht
gehindert, eine neue Vindication aus einem anderen
Erwerbsgrund anzuſtellen, weil ich die causa nicht
blos vorausgeſetzt, ſondern in der Klage ausgedrückt
hatte (causa adjecta für: quia causa adjecta erat).
Puchta erklärt die Worte: causa adjecta, von einer nova
oder superveniens causa, alſo von der oben aufgeführten
erſten Ausnahme (Num. II), ſo daß dann die zweite
Ausnahme durch dieſe Stelle keine Begründung erhalten
würde (r).
Dieſer Erklärung ſtehen folgende Gründe entgegen.
Nach mehreren anderen Stellen bezeichnet der Ausdruck
causa adjecta vielmehr einen vom Kläger in der Klagformel
gemachten Zuſatz (s), alſo eine reine Thätigkeit des Klägers,
(r) Puchta Muſ. II. S. 258.
(s) L. 1 § 2 de rei vind. (6. 1),
Vaticana fragm. § 52. Vgl.
Heffter S. 223. 227. — Als
Unterſtützung jener Erklärung kann
nicht angeführt werden L. 3 de
|0547 : 529|
Causa adjecta s. expressa.
anſtatt daß der ſpätere Erwerb ohne Wiſſen und Zuthun
des Klägers eingetreten ſeyn kann, alſo durch jenen Aus-
druck ſehr unpaſſend, in jedem Fall ſehr undeutlich, be-
zeichnet ſeyn würde.
Ferner würden alsdann die §§ 4 und 5 eine ganz müßige,
zweckloſe Wiederholung des § 2 enthalten, anſtatt daß nach
der gewöhnlichen, auch von mir angenommenen, Erklärung die
eine Ausnahme in dem § 2, die andere in dem § 4 ent-
halten iſt, und der § 5 nur nochmals an die mutata opinio
erinnert, um den Gegenſatz derſelben gegen das adquisitum
postea dominium recht ſcharf hervor zu heben.
XIV.
Die zweite, von Paulus herrührende, Stelle lautet ſo:
L. 14 § 2 de exc. rei jud. (44. 2):
Actiones in personam ab actionibus in rem hoc
differunt, quod, cum eadem res ab eodem mihi debea-
tur, singulas obligationes singulae causae sequuntur,
nec ulla earum alterius petitione vitiatur: at cum in
rem ago, non expressa causa, ex qua rem meam
esse dico, omnes causae una petitione apprehenduntur.
Neque enim amplius, quam semel, res mea esse potest:
saepius autem deberi potest.
Dieſe Stelle iſt ſo zu erklären. Die Abweiſung einer
usurp. (41. 3) „Usucapio est
adjectio dominii per continua-
tionem possessionis“; denn der
fortgeſetzte Beſitz beſteht ja eben
in einer ſteten Thätigkeit des Be-
ſitzers.
VI. 34
|0548 : 530|
Beilage XVII.
perſönlichen Klage hindert den Kläger nicht, auf denſelben
Gegenſtand von Neuem zu klagen, wenn nur die neue
Klage auf einer Obligation aus einem anderen Entſtehungs-
grunde (causa) beruht; denn jeder beſondere Entſtehungs-
grund bildet eine beſondere, für ſich beſtehende Obligation.
Anders verhält es ſich bei den Klagen in rem, die ſtets
das Recht an einem beſtimmten Gegenſtand an ſich ſelbſt,
und mit allen dabei denkbaren Entſtehungsgründen, um-
faſſen, ſo daß die abgewieſene Klage in rem nicht wieder-
holt werden darf, auch wenn der Kläger einen anderen als
den früher vorgebrachten Entſtehungsgrund geltend machen
wollte. Dieſe letzte Regel leidet jedoch eine Ausnahme in
dem Fall, wenn der Kläger bei der erſten Klage einen be-
ſtimmten, einzelnen Entſtehungsgrund des Rechts, aus
welchem allein er jetzt klagen wolle, ausgedrückt hat; in
dieſem Fall hindert ihn die Abweiſung nicht, ſpäter aus
einem anderen Entſtehungsgrund zu klagen.
Ich glaube nicht, daß die Einfachheit und Natürlichkeit
dieſer Erklärung bezweifelt werden kann. Eine beſondere
Unterſtützung derſelben finde ich aber darin, daß ſie ſo
ganz mit dem Inhalt der vorhergehenden Stelle (Num. XIII.)
übereinſtimmt, während doch in beiden Stellen Ausdruck
und Wendung völlig verſchieden iſt.
Die Gegner dieſer Ausnahme erklären die Worte: non
expressa causa, ſo: „da bei den Klagen in rem die Er-
werbsart nicht vorkommt, d. h. nicht vorkommen kann“,
|0549 : 531|
Causa adjecta s. expressa.
oder: „wegen Nichthervorhebung der Erwerbsart“ (t).
Sie ſehen alſo in dieſen Worten nicht eine hinzugefügte
Ausnahme, ſondern den Grund der Allgemeingültigkeit der
Regel ſelbſt. Ich finde dieſe Erklärung nicht nur an ſich
ſehr gezwungen, ſondern vorzüglich deshalb verwerflich,
weil es, wenn eine ſolche Ausnahme, wie die Gegner
meinen, den Römern völlig fremd war, an allem Motiv
fehlte, jene Worte hinzuzufügen. Wäre die juriſtiſche Con-
troverſe, in deren Mitte wir uns jetzt befinden, vor der
Zeit des Paulus geführt worden, ſo konnten etwa jene
Worte zur Noth hinzugefügt werden, als Warnung und
Widerſpruch gegen die (von Paulus mißbilligte) Meinung.
Wenn aber, wie die Gegner vorausſetzen, die Römer an
eine ſolche Ausnahme niemals dachten, ſo iſt in der That
kein Grund einzuſehen, weshalb Paulus die Worte: non
expressa causa, beizufügen für nöthig finden konnte.
XV.
Eine wichtige Unterſtützung der hier behaupteten Aus-
nahme liegt noch in der ganz ähnlichen Behandlung eines
anderen, aber nahe verwandten Falles. Wenn ein Käufer
die erkaufte Sache wegen Fehlerhaftigkeit zurück geben
wollte, ſo konnten dabei verſchiedene Mängel in Betracht
kommen; war nun die a. redhibitoria einmal zurück-
(t) Puchta Muſ. II. S. 269,
III. S. 481; non expressa causa
ſoll alſo ſo viel heißen, als: cum
in his actionibus causa non
exprimatur, oder exprimi non
possit, non soleat.
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Beilage XVII.
gewieſen, ſo konnte ſie nicht wegen eines angeblichen anderen
Mangels wiederholt werden. Jedoch konnte ſich der Kläger
dieſe Wiederholung dadurch vorbehalten, daß er die erſte
Klage ausdrücklich auf einen beſtimmten, einzelnen Mangel
vermittelſt einer Präſcription beſchränkte; dann ſtand, wenn
die Klage abgewieſen wurde, einer neuen Klage wegen
eines anderen Mangels Nichts entgegen (u).
L. 48 § 7 de aedil. ed. (21. 1).
Cum redhibitoria actione de sanitate agitur, per-
mittendum est, de uno vitio agere, et praedicere, ut,
si quid aliud postea apparuisset, de eo iterum
ageretur.
Dieſer Fall hat unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Fall
verſchiedener Entſtehungsgründe des Erbrechts oder des
Eigenthums. Die Natur des Bedürfniſſes iſt in beiden
Fällen ganz dieſelbe; und dieſes Bedürfniß wird bei der
redhibitoriſchen Klage ganz auf dieſelbe Weiſe befriedigt,
wie wir es für die Klagen in rem vermittelſt unſerer Aus-
nahme behaupten.
(u) Bei der a. quanti mino-
ris iſt dieſe Vorſicht nicht einmal
nöthig; vielmehr kann hier die
Klage wegen neuer Fehler ſtets
wiederholt werden, die erſte Klage
mag nun zuerkannt oder abgewie-
ſen ſeyn; nur darf die Summe
der einzeln zuzuſprechenden Rück-
zahlungen niemals die Summe des
ganzen Kaufpreiſes überſteigen.
L. 31 § 16 eod. Der Grund
des Unterſchiedes liegt darin, daß
die redhibitoriſche Klage nur ein
einfaches Object hat, die Auflöſung
des Kaufes, welche nur einmal
denkbar iſt. Die a. quanti mino-
ris dagegen geht auf einzelne Geld-
zahlungen, die neben einander
beſtehen können.
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Causa adjecta s. expressa.
XVI.
Die hier abgehandelte Streitfrage hat eine ganz neue
Wendung bekommen durch die Einmiſchung einer dem Pro-
zeßrecht angehörenden Frage.
Viele behaupten nämlich, nach den Reichsgeſetzen müſſe
in der Eigenthumsklage (und ſo auch in anderen Klagen
in rem) der beſondere Entſtehungsgrund des Eigenthums
ſogleich in der Klageſchrift angegeben werden; wo dieſe
Angabe fehle, ſey die Klage ſogleich angebrachtermaßen
abzuweiſen (v).
Andere Prozeßlehrer verwerfen dieſe Strenge als ganz
unbegründet; auch läßt ſich eine durchgreifende Regel des
gemeinen Prozeſſes, unterſtützt durch eine übereinſtimmende
Praxis, dafür gewiß nicht behaupten (x). Eben ſo iſt
dieſe Behauptung dem canoniſchen Recht völlig zuwider,
welches geradezu die Möglichkeit vorausſetzt, mit oder ohne
die Angabe beſtimmter Entſtehungsgründe des behaupteten
Rechts zu klagen (y).
Dieſe Streitfrage intereſſirt uns jedoch hier nur in
ihrer Rückwirkung auf die ſo eben beendigte Unterſuchung
(v) Gönner B. 2 S. 180—
182. Bayer S. 216. Martin
§ 144. Borſt Archiv B. 1 N. 14
S. 174. Langenn und Kori
Erörterungen N. 12. Buchka
B. 2 S. 198. Wächter Hand-
buch B. 2 S. 446.
(x) Heffter Prozeß § 343
und Muſeum B. 3 S. 237. Ferner
die Schriftſteller, die für dieſe
Meinung bei Heffter und bei
Langenn (Note v) angeführt
ſind, worunter ſich gerade die an-
geſehenſten Praktiker befinden.
(y) C. 3 de sent. in VI. (2. 14),
ſ. o. § 262 S. 70.
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Beilage XVII.
einer das materielle Recht, und zwar die Lehre von der
Rechtskraft, betreffenden Frage.
Es wird nämlich von mehreren Seiten behauptet, aus
jener ſtrengen Lehre des Prozeßrechts folge, daß die von
uns für die Klagen in rem behauptete Ausnahme im heu-
tigen Recht zur allgemeinen Negel umgewandelt worden
ſey. Denn da nun jeder Kläger ſogleich in der Klage den
Entſtehungsgrund ſeines Eigenthums angeben müſſe, ſo
ſey jedesmal der Fall vorhanden, den unſre Ausnahme
vorausſetzt, und es könne daher jede abgewieſene Eigen-
thumsklage wiederholt werden, ſobald nur der Kläger einen
anderen, als den früheren Entſtehungsgrund des Eigen-
thums, bei der neuen Klage angebe (z).
Dieſe Folgerung kann ich nun auf keine Weiſe als
richtig anerkennen. Wenn der Kläger, ſo wie es jene
ſtrenge Lehre fordert, den Entſtehungsgrund ſeines Eigen-
thums angiebt, ſo iſt Das noch ſehr verſchieden von der
bindenden Erklärung, ſich in dieſem Rechtsſtreit nur allein
dieſes Grundes bedienen zu wollen, auf welche Erklärung
Alles ankommt, indem damit beſtimmte Vortheile und
Nachtheile verbunden ſind (Num. III. IV.). Die bloße
Angabe des Entſtehungsgrundes ohne dieſe Erklärung
würde etwa zu vergleichen ſeyn einer ähnlichen Erzählung
der Thatſachen, die im Römiſchen Prozeß der Kläger vor
(z) Puchta Muſ. II. S. 267.
Wächter S. 445. — Dieſe
Meinung führt auf einem anderen
Wege zu demſelben Erfolg, welchen
Kierulff aus der heutigen aequitas
ableitet (S. 518. 519.)
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Causa adjecta s. expressa.
dem Prätor vorgetragen hätte. Auch dieſe Erzählung
würde keinen Einfluß auf den ferneren Gang der Sache
gehabt haben, und nur die Aufnahme einer entſprechenden
Stelle in die formula hätte einen ſolchen Einfluß haben
können.
Ich muß daher zuerſt beſtreiten, daß nach dem heutigen
gemeinen Prozeß eine Eigenthumsklage nur unter der
Vorausſetzung angenommen werden dürfe, wenn darin die
Angabe eines beſtimmten Entſtehungsgrundes des Eigen-
thums enthalten ſey.
Geſetzt aber auch, man wollte dieſe ſtrenge Lehre des
Prozeßrechts annehmen, ſo muß ich ferner beſtreiten, daß
dadurch die Natur der hier unterſuchten Ausnahme umge-
bildet worden ſey, und daß ſich dieſelbe aus einer bloßen
Ausnahme in die nunmehr allgemein gültige Regel (ent-
gegengeſetzt der Regel des Römiſchen Rechts) umgewan-
delt habe.
Gedruckt in der Deckerſchen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei.
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