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|0007 : [I]|
Syſtem
des
heutigen Römiſchen Rechts
von
Friedrich Carl von Savigny.
Dritter Band.
Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.
Berlin.
Bei Veit und Comp.
1840.
|0008 : [II]|
|0009 : [III]|
Inhalt des dritten Bandes.
Zweytes Buch. Die Rechtsverhältniſſe.
Drittes Kapitel. Von der Entſtehung und dem Unter-
gang der Rechtsverhältniſſe.
Seite
§. 104. Einleitung 1
§. 105. Wichtigſte Fälle der juriſtiſchen Thatſachen. I. Suc-
ceſſionen 8
§. 106. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Alters-
ſtufen. Einleitung 21
§. 107. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Alters-
ſtufen. Infantes und Qui fari possunt 25
§. 108. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. A. Al-
tersſtufen. Infantes und Qui fari possunt.
(Fortſetzung.) 39
|0010 : IV|
Inhalt des dritten Bandes.
Seite.
§. 109. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Al-
tersſtufen. Impuberes und Puberes 55
§. 110. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Al-
tersſtufen. Impuberes und Puberes. (Fort-
ſetzung.) 70
§. 111. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Al-
tersſtufen. Minores und Majores 79
§. 112. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: B. Ver-
nunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen 83
§. 113. II. Freye Handlungen. — Erweiterung durch Stell-
vertretung 90
§. 114. III. Willenserklärungen. — Zwang und Irrthum 98
§. 115. III. Willenserklärungen. — Zwang und Irrthum
(Fortſetzung.) 111
§. 116. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Begriff 120
§. 117. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Arten 127
§. 118. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Regel-
mäßige Erfüllung 135
§. 119. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Fingirte
Erfüllung 138
§. 120. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Regel-
mäßige Wirkung 149
§. 121. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Noth-
wendige und unmögliche 156
§. 122. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unſittliche 169
|0011 : V|
Inhalt des dritten Bandes.
Seite.
§. 123. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unſittliche
(Fortſetzung.) 185
§. 124. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unmög-
liche und unſittliche. (Fortſetzung.) 191
§. 125. III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung 204
§. 126. III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung.
(Fortſetzung.) 210
§. 127. III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung.
(Fortſetzung.) 217
§. 128. III. Willenserklärungen. Modus 226
§. 129. III. Willenserklärungen. — Modus. (Fortſetzung.) 233
§. 130. III. Willenserklärungen. — Erklärung. Förmliche 237
§. 131. III. Willenserklärungen. — Erklärung. Ausdrück-
liche oder ſtillſchweigende 242
§. 132. III. Willenserklärungen. — Erklärung. Durch
bloßes Schweigen 248
§. 133. III. Willenserklärungen. — Erklärung. Fingirte 253
§. 134. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-
len. Abſichtliche 257
§. 135. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-
len. Unabſichtliche 263
§. 136. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-
len. Unabſichtliche. (Fortſetzung.) 269
§. 137. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-
len. Unabſichtliche. Error in substantia 276
|0012 : VI|
Inhalt des dritten Bandes.
Seite.
§. 138. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-
len. Unabſichtliche. Error in substantia. (Fort-
ſetzung.) 291
§. 139. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-
len. Unabſichtliche. Gränze dieſes Falles 302
§. 140. IV. Vertrag 307
§. 141. IV. Vertrag. (Fortſetzung.) 314
Beylage VIII. Irrthum und Unwiſſenheit 326
|0013 : [1]|
Drittes Kapitel.
Von der Entſtehung und dem Untergang
der Rechtsverhältniſſe.
§. 104.
Einleitung.
Es iſt ſchon oben bemerkt worden (§ 52), daß unſre Wiſ-
ſenſchaft keine anderen Gegenſtände hat, als erworbene
Rechte. Dieſes hat den Sinn, daß die Rechtsverhältniſſe,
deren Weſen wir zu erforſchen haben, nicht ſchon in der
menſchlichen Natur als ſolcher gegründet, ſondern als ihr
von außenher kommende Zuſätze zu betrachten ſind. Nur
die Moͤglichkeit und das Bedürfniß ſolcher Rechtsverhält-
niſſe, das heißt der Keim derſelben, findet ſich gleichmäßig
in der Natur jedes Menſchen, führt alſo eine innere Noth-
wendigkeit mit ſich; die Entwicklung jenes Keimes iſt das
Individuelle und Zufällige, und offenbart dieſe ihre Natur
durch den höchſt verſchiedenen Umfang, den wir an den
Rechten der Einzelnen wahrnehmen.
Es würde aber irrig ſeyn, jene Behauptung auch noch
dahin näher beſtimmen zu wollen, daß alle Rechte einer
III. 1
|0014 : 2|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Perſon nur im Laufe ihres Lebens erworben werden könn-
ten; denn wenngleich dieſes von den meiſten Rechten aller-
dings wahr iſt, ſo giebt es doch auch viele und wichtige,
die unmittelbar mit der Geburt ihren Anfang nehmen, in-
dem ſie gerade durch die unter beſonderen Umſtänden er-
folgte Geburt begründet werden (a). Die erworbenen Rechte
können daher allerdings auch angeborene ſeyn.
Jedes einzelne Rechtsverhältniß nun hat ſeine beſonde-
ren Regeln, nach welchen es in Beziehung auf eine be-
ſtimmte Perſon entſteht und wiederum aufhoͤrt. Dieſe Re-
geln ſind von ſolcher Wichtigkeit, daß ſie bey manchen
Rechtsverhältniſſen beynahe den einzigen Gegenſtand ge-
nauerer Forſchung und Darſtellung ausmachen (b). Jedoch
(a) So z. B. entſteht für das
Kind im Augenblick ſeiner Ge-
burt ſtets Cognation, wenigſtens
zur Mutter; gewöhnlich auch Ab-
hängigkeit von der Gewalt des
Vaters, und Agnation zu deſſen
Agnaten; iſt vor der Geburt der
Vater geſtorben, in deſſen Ge-
walt das Kind außerdem gebo-
ren wäre, ſo erwirbt das Kind
mit der Geburt ſogleich deſſen
Vermögen oder einen Theil deſ-
ſelben als suus heres.
(b) Dieſe Wichtigkeit iſt aner-
kannt und ſelbſt zu einſeitig und
ausſchließend dargeſtellt von Ul-
pian in L. 41 de leg. (1. 3.).
„Totum autem jus consistit aut
in adquirendo, aut in conser-
vando, aut in minuendo: aut
enim hoc agitur quemadmodum
quid cujusque fiat: aut quem-
admodum quis rem vel jus suum
conservet: aut quomodo alienet
aut amittat.” Hier wird noch
ein neues Moment in die Mitte
jener beiden geſtellt, das conser-
vare. Nimmt man dieſes im ei-
gentlichen Sinn, für die Bewir-
kung der Fortdauer des Rechts
ſelbſt, ſo fällt es mit dem drit-
ten zuſammen, indem es dann als
die Negation des dritten (oder um-
gekehrt) aufgefaßt werden kann;
dann ſagt aber auch das totum
jus consistit viel zu viel. Iſt
dagegen das conservare als Er-
haltung der Ausübung, oder
als Rechtsverfolgung, gedacht, ſo
umfaſſen allerdings jene drey Mo-
mente den größten Theil aller
Rechtsregeln überhaupt: dann
|0015 : 3|
§. 104. Einleitung.
giebt es in dieſen, die einzelnen Rechte betreffenden, Re-
geln viele und wichtige gemeinſchaftliche Beſtimmungen, die
gerade nur indem man ſie als ſolche auffaßt und zuſam-
menſtellt, richtig verſtanden werden können. Dieſe Beſtim-
mungen gehören dem allgemeinen Theil des Rechtsſyſtems
an (§ 58), und ihre Darſtellung iſt die Aufgabe des ge-
genwärtigen Abſchnitts.
Ich nenne die Ereigniſſe, wodurch der Anfang oder
das Ende der Rechtsverhältniſſe bewirkt wird, juriſti-
ſche Thatſachen. Alle juriſtiſche Thatſachen alſo kom-
men darin mit einander überein, daß durch ſie an den
Rechtsverhältniſſen beſtimmter Perſonen irgend eine Ver-
änderung in der Zeit hervorgebracht wird. Innerhalb
dieſer ihnen gemeinſamen Natur aber zeigen ſich in ihnen
große Verſchiedenheiten. Zunächſt ſind nun die wichtig-
ſten Verſchiedenheiten, die in denſelben wahrgenommen wer-
den, überſichtlich zuſammen zu ſtellen, und es ſind dabey
diejenigen Momente beſonders hervorzuheben, deren Wich-
tigkeit ſodann eine abgeſonderte genauere Darſtellung nö-
thig machen wird.
1) Die juriſtiſchen Thatſachen ſind theils poſitiv, theils
negativ, indem entweder etwas geſchehen, oder etwas un-
terbleiben muß, damit irgend ein Recht entſtehe oder auf-
höre. Unter dieſen beiden Klaſſen aber iſt die erſte bey
weitem die häufigſte und wichtigſte.
aber ſind die drey Momente nicht
ſo gleichartig, daß dieſe Zuſam-
menſtellung derſelben gerechtfer-
tigt werden könnte.
1*
|0016 : 4|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
2) Wir giengen davon aus, als Wirkung der juriſti-
ſchen Thatſachen entweder die Entſtehung oder den Unter-
gang der Rechtsverhältniſſe zu bezeichnen. Es giebt jedoch
viele und wichtige unter dieſen Thatſachen, deren Wir-
kung weder dem einen noch dem andern jener Momente
rein zugerechnet werden kann, indem ſie vielmehr als ge-
miſcht aus beiden erſcheint. Eine ſolche gemiſchte Wir-
kung juriſtiſcher Thatſachen iſt die Umwandlung oder Me-
tamorphoſe der Rechtsverhältniſſe (§ 59). In dieſem Fall
wird durch die juriſtiſche Thatſache zwar die frühere Ge-
ſtalt des Rechtsverhältniſſes zerſtört, zugleich aber eine
neue Geſtalt deſſelben erzeugt.
Die Umwandlung ſelbſt aber kann auf zweyerley Weiſe
gedacht werden:
A. Subjectiv, in Beziehung auf die Perſonen, indem
daſſelbe Rechtsverhältniß auf andere Perſonen übertragen,
folglich durch neu eintretende Subjecte fortgeſetzt wird.
Dieſer wichtige Rechtsbegriff führt den Namen Succeſ-
ſion, und von der allgemeinen Natur derſelben wird nach-
her beſonders gehandelt werden.
B. Objectiv, in Beziehung auf den Inhalt des Rechts-
verhältniſſes, indem daſſelbe Rechtsverhältniß mit verän-
dertem Inhalt als fortdauernd betrachtet wird. Dieſe ob-
jective Umwandlung hat ihre vollſtändige und genaue Aus-
bildung im Obligationenrecht erhalten (c). Zwar wird da-
von auch in anderen Rechtstheilen Anwendung gemacht,
(c) Nämlich in der Lehre von Dolus, Culpa, Caſus und Intereſſe.
|0017 : 5|
§. 104. Einleitung.
aber nur indem man obligatoriſche Begriffe und Regeln
auf ſie anwendet (d). Es hat daher dieſe Lehre eine ſo
concrete Natur, daß es gerathener erſcheint, ſie an der
gegenwärtigen Stelle ganz zu übergehen, als eine Dar-
ſtellung ihrer Grundbegriffe zu verſuchen, die doch nur
entweder unlebendig und unbefriedigend ausfallen könnte,
oder in das beſondere Gebiet des Obligationenrechts hin-
übergreifen müßte.
3) Die juriſtiſchen Thatſachen können beſtehen:
A. In freyen Handlungen des Betheiligten, das
heißt derjenigen Perſon, von deren Erwerb und Verluſt
die Rede iſt.
B. In zufälligen Umſtänden, unter welche auch die
Handlungen Anderer als des Betheiligten, imgleichen auch
Unterlaſſungen gehoͤren (e).
In den freyen Handlungen ferner kann der Wille des
Handelnden auf eine zwiefache Weiſe thätig ſeyn:
a) Als unmittelbar gerichtet auf die Entſtehung oder
Auflöſung des Rechtsverhältniſſes, wenngleich dieſe viel-
(d) So z. B. iſt in der rei vin-
dicatio auch Derjenige ein rech-
ter Beklagter, qui dolo desiit
possidere. Ferner hat ebenda-
ſelbſt in der Verurtheilung der
Dolus und die Culpa des Beklag-
ten den wichtigſten Einfluß. Allein
in dieſen Fällen nimmt auch das
Verhältniß zwiſchen dem Kläger
und Beklagten einen obligatori-
ſchen Character an.
(e) Wenn ich einen Diebſtahl
erleide, und dadurch Rechte er-
werbe, ſo iſt dieſes zwar von
Seiten des Diebes eine freye
Handlung, in Beziehung auf mich
aber etwas Zufälliges, außer mei-
nem Willen Liegendes. — Wenn
ich eine Nothfriſt verſäume, und
dadurch ein Recht verliere, ſo iſt
dieſes niemals eine freye Hand-
lung, die Verſäumniß mag nun
aus Vergeſſenheit oder aus Ab-
ſicht hervorgegangen ſeyn.
|0018 : 6|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
leicht nur das Mittel für andere, auch nichtjuriſtiſche Zwecke
ſeyn mag (f). Dieſe Thatſachen heißen Willenserklä-
rungen oder Rechtsgeſchäfte.
b) Oder als unmittelbar gerichtet auf andere, nicht-
juriſtiſche Zwecke, ſo daß die juriſtiſche Wirkung entwe-
der als untergeordnet im Bewußtſeyn zurücktritt (g), oder
entſchieden nicht gewollt wird (h).
Die Willenserklärungen endlich erſcheinen wieder auf
zweyerley Weiſe:
1) Als einſeitiger Wille des Betheiligten, wohin als
wichtigſter Fall der letzte Wille gehört, der jedoch nur im
beſonderen Theile des Rechtsſyſtems, nämlich im Erbrecht,
ſeine rechte Stelle findet.
2) Als übereinſtimmender Wille des Betheiligten mit
(f) Wer ein Haus kauft, tritt
mit Bewußtſeyn in ein Rechts-
verhältniß ein, welches ihm ſo-
wohl Rechte als Verbindlichkei-
ten giebt, aber dieſes Verhältniß
ſoll ihm doch nur als Mittel die-
nen, um das Haus ſicher und nach
Gutdünken bewohnen zu können,
oder durch Vermiethung, vielleicht
auch durch neuen Verkauf, Geld
zu gewinnen.
(g) Wer auf der Jagd ein
Wild erregt, der will das Ver-
gnügen der Jagd genießen, dane-
ben auch das Wild verzehren oder
verkaufen; des Eigenthumser-
werbs durch Occupation wird er
ſich dabey weniger bewußt wer-
den. — Wer das baufällige Haus
eines abweſenden Freundes durch
ſchleunige Anſtalten gegen Ein-
ſturz ſichert, der will Schaden ab-
wenden, ohne dabey beſonders an
den Quaſicontract negotiorum
gestio zu denken, oder den fünf-
ten Titel des dritten Buchs der
Digeſten nachzuſchlagen.
(h) Wer mich beſtiehlt, hat ge-
wiß nicht die Abſicht mein Schuld-
ner ex delicto zu werden. Darum
wird dieſe Thatſache, die in Be-
ziehung auf mich zufällig (Note e),
in Beziehung auf ihn eine freye
Handlung iſt, dennoch auch in die-
ſer letzten Beziehung nicht ein
Rechtsgeſchäft genannt.
|0019 : 7|
§. 104. Einleitung.
dem Willen einer oder mehrerer anderer Perſonen, das
heißt als Vertrag (i).
Dieſe allgemeinen Rechtsbegriffe erſcheinen in indivi-
dueller Geſtalt bey allen Arten der Rechtsinſtitute, bey
dem Eigenthum und anderen dinglichen Rechten, den Obli-
gationen, dem Erbrecht, den Familienverhältniſſen: dieſe
ihre concrete Geſtalten gehören der Darſtellung eben jener
Inſtitute, alſo dem ſpeciellen Rechtsſyſtem, an. Allein
zwey beſondere Formen derſelben ſind wieder ſo umfaſſen-
der Natur, und mit ſo verſchiedenen einzelnen Rechtsinſti-
tuten vereinbar, daß auch ihre genauere Betrachtung nur
hier ihre rechte Stelle finden kann: dieſe weit umfaſſenden
Formen der Willenserklärung ſind der Vertrag und die
Schenkung.
4) Eine beſondere Rückſicht endlich verdienen diejeni-
gen Thatſachen, welche als weſentliches Element den Ab-
lauf irgend eines Zeitraums in ſich ſchließen, folglich von
Zeitbeſtimmungen abhängig ſind.
Nach dieſer vorbereitenden Überſicht iſt nun von den
juriſtiſchen Thatſachen im Einzelnen zu handeln, und zwar:
Erſtlich von den wichtigſten unter denſelben nach ihrer
Natur und den darin vorkommenden Verſchiedenheiten.
(i) Der Vertrag alſo, der in
Beziehung auf Jeden der Theil-
nehmer Rechte und Verpflichtun-
gen erzeugt, iſt zugleich in Be-
ziehung auf Jeden derſelben eine
freye Handlung, und zwar insbe-
ſondere ein Rechtsgeſchäft.
|0020 : 8|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Dahin rechne ich folgende, die demnach einzeln abgehan-
delt werden ſollen:
I. Succeſſionen.
II. Freye Handlungen.
III. Willenserklärungen.
IV. Verträge.
V. Schenkungen.
VI. Von Zeitbeſtimmungen abhängige Thatſachen.
Zweytens von den Hemmungen, welche der Wirk-
ſamkeit der juriſtiſchen Thatſachen entgegen ſtehen, oder von
den verſchiedenen Arten und Gründen ihrer Ungültigkeit.
Das erſte können wir als die poſitive, das zweyte als
die negative Seite der Lehre von den juriſtiſchen Thatſa-
chen bezeichnen.
§. 105.
Wichtigſte Fälle der juriſtiſchen Thatſachen.
I. Succeſſionen.
Es iſt bereits als Eigenſchaft der juriſtiſchen Thatſa-
chen bemerkt worden, daß dieſelben in Beziehung auf
Rechtsverhältniſſe ſtets eine Veränderung in der Zeit her-
vorbringen, und daß dieſe Veränderung insbeſondere auch
in der bloßen Verwandlung des Subjekts des Rechtsver-
hältniſſes beſtehen kann (§ 104). Die ſo eben bezeichnete
Art der Thatſachen nennen wir Succeſſionen, und de-
ren Natur ſoll nunmehr näher beſtimmt werden.
|0021 : 9|
§. 105. Succeſſionen.
Damit nun eine ſolche juriſtiſche Succeſſion, das heißt
die blos ſubjective Umwandlung eines Rechtsverhältniſſes,
angenommen werden könne, wird vorausgeſetzt die fort-
dauernde Identität dieſes Rechtsverhältniſſes ſelbſt. Zur
Annahme dieſer Identität aber genügt keinesweges ſchon
die gleiche Gattung des Rechts, bezogen auf den gleichen
Gegenſtand. Wenn z. B. Zwey Perſonen in verſchiedenen
Zeitpunkten Eigenthum an demſelben Grundſtück haben, ſo
iſt dieſer Umſtand allein nicht hinreichend, unter Beiden
eine Succeſſion anzunehmen; vielmehr muß zur Rechtfer-
tigung dieſer Annahme zwiſchen beiden Rechtsverhältniſſen
eine ſolche innere Verbindung wahrzunehmen ſeyn, wo-
durch ſie als ein einziges, nur in verſchiedenen Perſonen
fortdauerndes, Rechtsverhältniß erſcheinen. Die Grund-
lage einer ſolchen Verbindung iſt der Umſtand, daß das
ſpätere Recht, der Zeit nach, unmittelbar auf das frühere
folgt; denn wenn z. B. eine Sache von einem Eigenthü-
mer derelinquirt, und nach einiger Zeit von einem Andern
occupirt wird, ſo beſteht unter denſelben ſchon wegen des
gänzlich trennenden Zwiſchenzuſtandes der Herrenloſigkeit
keine Succeſſion (a). Allein auch jener Anſchluß in der
Zeit iſt noch nicht hinreichend; ein ſolcher findet ſich unter
andern bey jedem Übergang des Eigenthums durch Uſu-
(a) Man könnte einwenden, je-
der Erbe ſey ja Succeſſor des Ver-
ſtorbenen, und doch könne zwi-
ſchen dem Tod und dem Antritt
der Erbſchaft eine lange Zwiſchen-
zeit geweſen ſeyn, in welcher das
Vermögen keinen wirklichen Herrn
hatte. Allein mit dem Antritt der
Erbſchaft wird ſtets durch eine
Rechtsfiction das Recht des Er-
ben auf den Augenblick des Todes
zurück bezogen. S. o. § 102. b.
|0022 : 10|
Buch. II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
capion, ohne daß deshalb zwiſchen beiden Eigenthümern
eine juriſtiſche Verbindung beſteht. Das Weſen dieſer Ver-
bindung nun iſt darin zu ſetzen, daß das ſpätere Rechts-
verhältniß auf das erſte gegründet, von ihm abgeleitet,
alſo auch durch daſſelbe bedingt und von ihm abhängig
iſt. So verhält es ſich mit dem Übergang des Eigen-
thums durch Tradition. Das neue Eigenthum fängt nicht
nur in demſelben Augenblick an, wo das frühere aufhört,
ſondern es entſteht auch nur inſoferne der frühere Beſitzer
wirklich Eigenthum hatte: eine ſolche Abhängigkeit von
einem individuellen früheren Recht findet ſich bey dem Er-
werb durch Uſucapion durchaus nicht. Das hier beſchrie-
bene Verhältniß allein berechtigt uns, das ſpätere Recht
mit dem früheren als identiſch anzuſehen, und dieſer Fall
erſcheint vorzugsweiſe vor den übrigen, hier damit zuſam-
men geſtellten, ſo wichtig und folgenreich, daß für ihn
die beſondere Bezeichnung durch einen eigenen Kunſtaus-
druck (Successio) nöthig gefunden worden iſt.
Die einfachſte und natürlichſte Betrachtung der Rechts-
verhältniſſe führt dahin, die berechtigte Perſon als die
bleibende Subſtanz, das Recht ſelbſt aber als das Acci-
dens anzuſehen, welches nach wechſlenden Umſtänden bald
verbunden iſt mit der Perſon, bald nicht (§ 4. 52). Der
Begriff der Succeſſion führt uns auf eine Betrachtungs-
weiſe, worin die angegebene Stellung der Perſon gegen
das ihr zukommende Recht umgekehrt erſcheint. Das Recht
kann nun als das Subſtantielle und Bleibende gelten, in-
|0023 : 11|
§. 105. Succeſſionen.
dem es in einer Reihe auf einander folgender wechſlender
Inhaber unverändert fortdauern kann.
Zunächſt iſt zu unterſuchen, ob der wichtige Rechtsbe-
griff der Succeſſion auf alle Arten der Rechtsverhältniſſe
gleichmäßig angewendet werden könne. Dieſe Frage müſ-
ſen wir verneinen; vielmehr iſt das wahre Gebiet ſeiner
Anwendung das Vermögensrecht, während er in Bezie-
hung auf die Familienverhältniſſe nur eine untergeordnete
und wenig bedeutende Stelle einnimmt. — Da nämlich
das Vermögen an ſich ſelbſt der Perſon fremd, und nur
von außen zu ihr hinzugethan iſt, folglich die einzelnen
Stücke deſſelben ſtets in einem ganz zufälligen und wech-
ſelnden Verhältniß zu ihr ſtehen (§ 56), ſo iſt die ausge-
dehnteſte und mannichfaltigſte Anwendung des Succeſſions-
begriffs dem Weſen des Vermögensrechts ganz angemeſ-
ſen. — Anders iſt es mit dem Familienrecht. Deſſen ur-
ſprüngliche Inſtitute ſind mit dem Weſen der Perſon ſo
eng verbunden, daß eine Anwendung der Succeſſion ihnen
nicht angemeſſen ſeyn kann. Auch finden wir ſie hier in
der That nur auf zweyerley Weiſe. Erſtlich bey denjeni-
gen künſtlichen Theilen der Familie, die ſelbſt nur auf
Vermögensverhältniſſe gegründet, und daher eben ſo wie
dieſe der gewöhnlichen Succeſſion unterworfen ſind. So
iſt das Recht des Herrn über den Sklaven gegründet auf
Eigenthum, folglich ſo wie jedes andere Eigenthum Ge-
genſtand einer gewöhnlichen Succeſſion. Eine ähnliche Be-
wandniß hat es mit dem Patronat, der mancipii causa,
|0024 : 12|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
dem Colonat (§ 55). Zweytens hat das älteſte Römiſche
Recht ſelbſt einige Theile der urſprünglichen Familienver-
hältniſſe der Natur des Eigenthums angenähert, wodurch
die väterliche Gewalt und die ſtrenge Gewalt des Ehe-
gatten (manus) zu Gegenſtänden einer möglichen Succeſ-
ſion gemacht wurden (§ 55 N. 1. 4). Allein faſt alle dieſe
Anwendungen ſind im heutigen Römiſchen Recht verſchwun-
den: einige waren ſchon frühe bey den Römern ſelbſt zu
blos ſymboliſchen Handlungen herabgeſunken, und ſind dann
ſchon vor Juſtinian völlig untergegangen. Nur in Einem
Inſtitut des Familienrechts hat ſich noch eine wahre Suc-
ceſſion erhalten, bey der datio in adoptionem; jedoch iſt
auch hier der Succeſſionsbegriff ohne irgend einen erheb-
lichen Einfluß. — Wir können demnach behaupten, daß
das Vermögensrecht dasjenige Rechtsgebiet iſt, in welchem
allein eine bedeutende Anwendung von dem Begriff der
Succeſſion gemacht werden kann.
An dieſe Bemerkung knüpft ſich unmittelbar folgende
wichtige Eintheilung der Succeſſion. Dieſelbe iſt bald
Singular- bald Univerſalſucceſſion (b).
Singularſucceſſion nennen wir diejenige, welche
irgend ein einzelnes Vermögensrecht zum Gegenſtand hat,
(b) Um jedem möglichen Mis-
verſtändniß vorzubeugen, bemerke
ich gleich hier, daß die von den
Neueren gebrauchten Kunſtaus-
drücke Successio universialis
und singularis (oder auch parti-
cularis) nicht ächt ſind; ich weiß
jedoch keine eben ſo kurze, ver-
ſtändliche, und allgemein bekannte,
an ihre Stelle zu ſetzen. Übri-
gens wird die ächte Terminolo-
gie weiter unten ausführlich feſt-
geſtellt werden.
|0025 : 13|
§. 105. Succeſſionen.
oder auch mehrere zuſammengefaßte Vermögensrechte, je-
doch ſo, daß jedes einzelne für ſich übergeht, ohne durch
dieſen, zufällig gemeinſchaftlichen, Übergang mit den übri-
gen in Verbindung zu treten. Dieſer Begriff iſt für ſich
allein weder ſchwierig noch erheblich, und er bekommt nur
durch den Gegenſatz des nachfolgenden Falles ſeine Be-
deutung.
Die Univerſalſucceſſion hat zum Gegenſtand das
Vermoͤgen als ein ideales Ganze, das heißt ſo daß dabey
von ſeinem ſpeciellen Inhalt, ſowohl nach der Quantität
(dem Geldwerth), als nach der Qualität (der Art der
darin enthaltenen einzelnen Rechte, und den Gegenſtänden
dieſer Rechte), ganz abſtrahirt wird (§ 56) (c). Dieſe
Succeſſion alſo bezieht ſich zwar allerdings auch auf die
einzelnen in dieſem Vermögen enthaltenen Rechte, jedoch nur
mittelbar, das heißt nur inſofern und weil ſie Theile die-
ſes Vermögens als des eigentlichen Gegenſtandes der Suc-
ceſſion ſind. Dieſer wichtige Rechtsbegriff erhält ſeine nä-
here Beſtimmung durch folgende Reihe von Sätzen.
1) Das Vermögen als ſolches, als eine ideale Groͤße,
ohne Rückſicht auf ſeinen beſondern Inhalt, iſt Gegenſtand
dieſer Art der Succeſſion. Damit aber iſt wohl vereinbar,
daß dieſelbe oft nicht das geſammte Vermögen, ſondern
(c) Die wichtigſte Schrift über
die Natur der Univerſalſucceſſion
iſt die Abhandlung von Haſſe
über Universitas juris und re-
rum, Archiv B. 5 N. 1 (ſ. oben
§ 56. o), obgleich darin dieſer Ge-
genſtand nicht Hauptpunkt der Un-
terſuchung iſt. Von dem Begriff
der Univerſalſucceſſion wird da-
ſelbſt S. 19 gehandelt.
|0026 : 14|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
nur eine Quote, das heißt einen Rechnungstheil deſſelben,
betrifft; denn auch ein ſolcher Theil bezieht ſich ja nur
auf den angegebenen idealen Begriff des Vermögens als
ſeine Grundlage: das Vermögen iſt die Einheit, wovon
jener Theil als ein Bruch erſcheint. — Eben ſo iſt mit
dieſer Art der Succeſſion vereinbar der Umſtand, daß
manche einzelne Rechte, nach ihrer beſonderen Natur, nicht
fähig ſind durch ſie mit übertragen zu werden, und da-
her, im Fall einer ſolchen Succeſſion, vielmehr ganz un-
tergehen (d); denn durch dieſes Ausſcheiden beſtimmter ein-
zelner Stücke wird das Weſen der Vermögenseinheit,
worauf es hier allein ankommt, gar nicht verändert.
2) Da das Vermögen eine universitas iſt, und zwar
die wichtigſte unter allen, ſo kann man den eben aufge-
ſtellten Satz auch ſo ausdrücken: Gegenſtand dieſer Art
der Succeſſion iſt eine universitas als ſolche; auch wird
ſich ſogleich zeigen, daß die Römiſche Bezeichnung dieſer
Succeſſionsart auf den eben erwähnten Ausdruck gegrün-
det iſt. Irrigerweiſe aber haben Manche dieſen Ausdruck
umgekehrt, und daher angenommen, daß dieſe Succeſſion
auch auf andere Arten einer universitas, z. B. Dos oder
Peculium (§ 56), angewendet werden könne, da ſie doch
nur allein bey dem Vermögen vorkommt.
(d) Haſſe a. a. O., S. 24. —
So z. B. iſt Erbſchaft eine Uni-
verſalſucceſſion; eben ſo die Ar-
rogation. Aber bey der Erbſchaft
geht der Niesbrauch des Verſtor-
benen nicht mit über; bey der Ar-
rogation, nach dem älteren Recht,
weder der Niesbrauch, noch auch
ſelbſt die Schulden des Arrogirten.
|0027 : 15|
§. 105. Succeſſionen.
3) Das eigentliche Kennzeichen der Univerſalſucceſſion
iſt der unmittelbare Übergang der zu dieſem Vermögen ge-
hörenden Forderungen und Schulden (e), für welche die-
ſes ſogar der einzig mögliche Übergang iſt, indem ſie durch
Singularſucceſſion gar nicht übertragen werden können (f).
4) Dieſes künſtliche Rechtsverhältniß kann nicht etwa
nach Gutdünken auf irgend einen beliebigen Zweck ange-
wendet werden, ſondern es iſt vielmehr ausſchließend für
eine Anzahl beſtimmter, einzelner Fälle angeordnet, in wel-
chen es dann aber auch immer, und wiederum ohne Rück-
ſicht auf eine möglicherweiſe entgegengeſetzte individuelle
Willkühr eintritt (g). Die wichtigſten dieſer Fälle betreffen
den Nachlaß eines Verſtorbenen, als: hereditas, bonorum
possessio, fideicommissaria hereditas, und andere ähnliche
Verhältniſſe. Das Vermögen eines Lebenden geht auf
dieſe Weiſe über: erſtlich, wenn der Inhaber in eines An-
dern Gewalt kommt (arrogatio, in manum conventio, Skla-
verey zur Strafe), zweytens wenn das Vermögen deſſel-
ben im Concurſe (nach der älteren Form deſſelben) ver-
(e) Haſſe a. a. O., S. 21. —
Bey der Erbſchaft iſt dieſes un-
zweifelhaft. Bey der Arrogation
gehen wenigſtens die meiſten For-
derungen über; die Schulden
würden auch übergehen, wenn ſie
nicht durch capitis deminutio zer-
ſtört würden (§ 70 N. III.). — In
Beziehung auf den Erben wird
dieſer Umſtand geradezu als Kenn-
zeichen angegeben in L. 37 de
adqu. vel om. her. (29. 2.).
(f) Bey den Obligationen giebt
es keine Singularſucceſſion, ſon-
dern nur Surrogate derſelben für
die Zwecke des Verkehrs; näm-
lich Umtauſch gegen eine neue
Obligation von gleichem Werth
(novatio), oder Verfolgung der
Schuld durch einen Stellvertre-
ter (cessio actionis).
(g) Eine Aufzählung dieſer Fälle
findet ſich bey Haſſe S. 49.
|0028 : 16|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
kauft wird. — In vielen anderen Fällen dagegen kann
zwar auch die Abſicht auf die Übertragung eines ganzen
Vermögens gerichtet ſeyn; ſie geht aber nicht unmittelbar
in Erfüllung, weil von der Univerſalſucceſſion nicht will-
kührlich Anwendung gemacht werden kann; vielmehr müſ-
ſen in ſolchen Fällen alle Beſtandtheile des Vermögens
einzeln übertragen werden (h).
5) Man kann nun fragen, aus welchem Grund dieſer
künſtliche Rechtsbegriff aufgeſtellt, und auf beſtimmte Fälle
angewendet, auf andere aber nicht angewendet worden iſt?
Ohne Zweifel lag die Veranlaſſung dazu in dem uralten,
ſtets wiederkehrenden, höchſt wichtigen Verhältniß der he-
reditas. In dieſes die Forderungen und Schulden, ſo wie
beſonders die sacra, mit herein zu ziehen, war unentbehr-
lich. Dieſer praktiſche Zweck konnte durch einzelne, für
jedes dieſer Verhältniſſe beſonders erlaſſene, Vorſchriften
erreicht werden; es war aber dem juriſtiſchen Takt der
Roͤmer angemeſſen, dieſe Einzelnheiten durch einen Total-
(h) Haſſe S. 23 — 40. — Die
wichtigſten Fälle ſind die, wenn
ein ganzes Vermögen verſchenkt,
zu einer Dos verwendet, in eine
Societät eingebracht werden ſoll,
oder wenn ein Erbe die ihm an-
gefallene Erbſchaft verkauft. Ge-
wiſſermaßen gehört dahin auch das
legatum partitionis, indem die-
ſes gleichfalls nur als Singular-
ſucceſſion wirkt, obgleich es eine
Quote der Erbſchaft zum Gegen-
ſtand hat; nur iſt hier der Un-
terſchied, daß der Erblaſſer dieſe
Quote dem ernannten Legatar
eben ſo leicht als Erbeinſetzung
zuwenden könnte, wodurch es eine
Univerſalſucceſſion werden würde,
daß alſo hier gerade die Abſicht
des Erblaſſers darauf gerichtet iſt,
die angewieſene Quote in den
Gränzen einer Singularſucceſſion
zu halten. — Eben dahin gehörte
urſprünglich die Reſtitution einer
fideicommiſſariſchen Erbſchaft, bis
das Sc. Trebellianum die Natur
einer Univerſalſucceſſion hinein
legte. Gajus II. § 252. 253.
|0029 : 17|
§. 105. Succeſſionen.
begriff zuſammen zu faſſen, in welchem dann, neben jenen
wichtigſten Zwecken, zugleich alle Nebenfragen ihre ganz
zuſammenſtimmende Erledigung fanden. An die hereditas
ſchloſſen ſich dann die wichtigſten anderen Fälle, wie die
bonorum possessio, unmittelbar an, da ſie ohnehin nur
erweiterte Anwendungen jenes Rechtsbegriffs waren. Auch
für die Arrogation u. ſ. w. war eine angemeſſenere Ana-
logie gewiß nicht aufzufinden. Weiter zu gehen mit die-
ſer künſtlichen Anſtalt, als wohin das unmittelbare Be-
dürfniß führte, ſagte wieder dem juriſtiſchen Sinn der
Roͤmer nicht zu; insbeſondere konnte es zu großen Härten
führen, wenn man die Anwendung jenes künſtlichen Rechts-
inſtituts ganz der Privatwillkühr hätte überlaſſen wol-
len (i). Inſoferne könnte man wohl im Sinne der Römi-
ſchen Juriſten ſagen, die Anwendung der Univerſalſucceſ-
ſion ſey juris publici (§ 16).
Es bleibt nun noch übrig, den Sprachgebrauch der
Römer genau feſtzuſtellen (k).
Der Ausdruck Successio (Successor, Succedere) allein,
ohne Zuſatz, iſt unſicher, indem er in zwey verſchiedenen
Bedeutungen gebraucht wird, ſo daß in jeder einzelnen
(i) Man kann daneben wohl
annehmen, daß die Gränzen der
Anwendung mitunter etwas Zu-
fälliges an ſich tragen mögen, und
daß unter den minder wichtigen
Fällen einzelne mehr oder weni-
ger der Univerſalſucceſſion hätten
zugezählt werden können, ohne
das Weſen dieſes Rechtsverhält-
niſſes zu gefährden. Haſſe S. 60
unterſucht ansführlich, warum die
Römer gerade dieſe und keine an-
dere Fälle dahin gerechnet haben,
wobey er vielleicht hie und da et-
was zu ſubtil verfährt.
(k) Vergl. Haſſe a. a. O.
S. 40 fg.
III. 2
|0030 : 18|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Stelle deſſen Bedeutung nur aus dem Zuſammenhang zur
Gewißheit gebracht werden kann. — In mehreren Stellen
bezeichnet derſelbe ſchon für ſich allein ausſchließend die
Univerſalſucceſſion (l); dahin gehören unter andern auch
die Stellen, worin heredes ceterique successores zuſam-
mengeſtellt werden (m); ja nicht ſelten wird der Ausdruck
noch enger auf die durch einen Todesfall veranlaßte
Univerſalſucceſſion beſchränkt (n). — In anderen Stellen
dagegen hat derſelbe eine ganz allgemeine Bedeutung,
ſo daß beide Arten der Succeſſion von ihm umfaßt wer-
den. Dahin gehören diejenigen Stellen, worin er beſtimmt
auf einzelne Fälle bloßer Singularſucceſſion angewendet
wird (o); ganz beſonders aber diejenigen, worin die Ver-
faſſer nöthig finden, durch Zuſätze auszudrücken, daß die eine
oder die andere Art beſonders gemeynt ſey, welche Aus-
drucksweiſe unverkennbar vorausſetzt, daß Successio ohne
Zuſatz eine ganz allgemeine, beide Arten umfaſſende, Be-
deutung habe. Davon werden ſogleich viele Beyſpiele an-
gegeben werden.
Was nun aber die genauere Bezeichnung für jede Art
beſonders betrifft, ſo ſind vor allen diejenigen Stellen
(l) Gajus III. § 82. — pr. J.
de eo cui lib. (3. 11.). — Inscript.
tit. J. de successionibus sublatis
(3. 12.). — L. 170 de V. S. (50.
16.), L. 7 § 2 de cond. furt.
(13. 1.), L. 1 § 37. 43 de aqua
(43. 20.) u. a. m.
(m) L. 1 § 44. 48 de vi (43.
16.), L. 14 § 1 de div. temp.
(44. 3.), L. 17 § 1 de proc. (3. 3.).
(n) Haſſe S. 43 fg.
(o) L. 17 § 5 de pactis (2. 14.)
„etsi per donationem successio
„facta sit.” L. 4 § 29 de doli
exc. (44. 4.), L. 7 in f. L. 8
de jurej. (12. 2.).
|0031 : 19|
§. 105. Succeſſionen.
wichtig, worin beide Arten neben einander, alſo in ihrem
Gegenſatz, erwähnt werden. Dahin gehören folgende:
I. L. 3 § 1 de exc. rei vend. (21. 3.). „Pari ratione
etiam venditoris successoribus nocebit: sive in uni-
versum jus, sive in eam dumtaxat rem successerint.”
II. L. 1 § 13 quod leg. (43. 3.). „In locum successisse
accipimus, sive per universitatem, sive in rem his
sit successum.”
III. L. 37 de adqu. vel om. her. (29. 2.). „Heres in
omne jus mortui, non tantum singularum rerum
dominium succedit.”
IV. L. 24 § 1 de damno inf. (39. 2.). „.. successo-
res autem non solum qui in universa bona succe-
dunt, sed et hi, qui in rei tantum dominium
successerint, his verbis continentur.” (Nämlich in
den Worten einer vorher erwähnten Stipulation,
worin der Ausdruck successorum ohne näheren Zu-
ſatz vorkam.)
Ich will nun theils aus dieſen, theils aus anderen
Stellen eine Überſicht derjenigen Ausdrücke geben, wodurch
die eine oder andere Art der Succeſſion beſonders bezeich-
net wird.
A. Die Univerſalſucceſſion:
Per universitatem successio oder succedere.
N. II. der abgedruckten Stellen.
pr. J. de succ. subl. (3. 12.).
2*
|0032 : 20|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Per universitatem adquirere oder adquisitio.
§ 1 J. de succ. subl. (3. 12.).
§ 6 J. per quas pers. (2. 9.).
Gajus II. § 97.
Per universitatem transire.
L. 62 de adqu. rer. dom. (41. 1.).
L. 1 § 1 de fundo dot. (23. 5.).
Universitatis successio.
L. 3 pr. de B. P. (37. 1.).
In jus succedere.
L. 9 § 1 de edendo (2. 13.).
L. 177 § 1 de R. J. (50. 17.).
L. 3 pr. de B. P. (37. 1.).
In omne jus succedere.
N. III. der abgedruckten Stellen.
L. 11 de div. temp. (44. 3.).
In universum jus succedere und successio.
N. I. der abgedruckten Stellen.
L. 19 § 5 de aedil. ed. (21. 1.).
L. 24 de V. S. (50. 16.).
L. 62 de R. J. (50. 17.).
Juris successor.
L. 9 § 12 de her. inst. (28. 5.).
L. 9 § 1 de edendo (2. 13.).
§ 11 de J. test. ord. (2. 10.).
In universa bona succedere.
N. IV. der abgedruckten Stellen.
|0033 : 21|
§. 106. Altersſtufen.
B. Die Singularſucceſſion.
In rem succedere.
N. I. II. der abgedruckten Stellen.
L. 8 de jurej. (12. 2.).
In rei dominium succedere.
N. IV. der abgedruckten Stellen.
In singularum rerum dominium succedere.
N. III. der abgedruckten Stellen.
Bey den angeführten Formen: per universitatem suc-
cedere u. ſ. w., iſt jedoch zu bemerken, daß dadurch die
Univerſalſucceſſion, d. h. die Succeſſion in das Vermögen
ſelbſt als eine universitas, nur auf mittelbare Weiſe be-
zeichnet wird. Denn zunächſt iſt in dieſem Ausdruck die
Rede von dem Erwerb einer einzelnen Sache, und es wird
durch jenen Zuſatz nur ausgedrückt, daß der Erwerb der
einzelnen Sache vermittelſt des Ganzen, wozu dieſelbe
als Beſtandtheil gehört, vor ſich gehe.
§. 106.
II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Alters-
ſtufen. Einleitung.
Freye Handlungen können in zwey verſchiedenen Be-
ziehungen zu den Rechtsverhältniſſen gedacht werden: als
Gegenſtände der Rechte, und als Entſtehungsgründe
derſelben. Die erſte Beziehung iſt nur anwendbar auf eine
einzelne Klaſſe der Rechte, die Obligationen, fällt alſo
|0034 : 22|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
dem ſpeciellen Theil des Syſtems anheim. Die zweyte Be-
ziehung dagegen, in welcher ſie als Gründe der Entſte-
hung, oder auch des Untergangs der Rechte, und daher
als die wichtigſte Klaſſe der juriſtiſchen Thatſachen über-
haupt, erſcheinen, gehört weſentlich hierher, indem ſie für
die gemeinſame Betrachtung folgende wichtige Frage dar-
bietet: Welches ſind die perſönlichen Bedingungen der
Handlungsfähigkeit (a), oder genauer: welches ſind
einestheils die Hinderniſſe, wodurch jene Fähigkeit ausge-
ſchloſſen oder vermindert wird, anderntheils die künſtlichen
Erweiterungen derſelben?
Die Hinderniſſe der Handlungsfähigkeit, oder des voll-
ſtändig freyen Vernunftgebrauchs, können auf folgende
Fälle zurückgeführt werden, die nunmehr einzeln zu erwä-
gen ſind:
Unreifes Alter.
Vernunftloſigkeit.
(a) Der weſentliche Unterſchied
der Rechtsfähigkeit von der Hand-
lungsfähigkeit iſt ſchon oben (§ 60)
bemerkt worden. Das Verhält-
niß beider Rechtsbegriffe zu ein-
ander iſt aber dieſes: Der Rechts-
fähige kann nach Umſtänden bald
handlungsfähig ſeyn, bald auch
nicht. Der Rechtsunfähige dage-
gen muß gerade ſoweit, als er die-
ſes iſt, auch handlungsunfähig
ſeyn, weil in ihm die Handlung
die ihr ſonſt zukommende Wir-
kung gar nicht hervorbringen kann.
Wo dieſes anders zu ſeyn ſcheint,
da iſt es in der That, juriſtiſch
zu reden, nicht ſeine Handlung,
ſondern die Handlung eines von
ihm nur vertretenen Anderen. So
z. B. konnte ein Römiſcher Sklave
allerdings die wichtigſten Geſchäf-
te, ſelbſt Mancipationen und Sti-
pulationen, gültig abſchließen:
allein er galt hierin nur als das
juriſtiſche Inſtrument des Herrn,
dem die Handlungen des Skla-
ven gerade ſo zu gut gerechnet
wurden, als ob er ſelbſt gehan-
delt hätte.
|0035 : 23|
§. 106. Altersſtufen.
Interdiction.
Natur der juriſtiſchen Perſonen.
Daß der Menſch, unmittelbar nach ſeiner Geburt, alles
Vernunftgebrauchs gänzlich ermangelt, iſt unzweifelhaft.
Zwiſchen dieſem Zuſtand aber, und dem der vollſtändigen
Ausbildung, liegen allmälige, ganz unmerkliche Übergänge
in der Mitte. Dadurch entſteht für die Rechtsanwendung
eine zwiefache große Schwierigkeit: erſtlich durch die un-
ſichere Gränzbeſtimmung im Leben jedes Einzelnen, zwey-
tens durch die ungleiche Entwicklung verſchiedener Men-
ſchen. Das praktiſche Bedürfniß führt darauf, hierin po-
ſitiv durchzugreifen, weil nur dadurch die erwähnte zwie-
fache Ungewißheit gehoben werden kann. Dieſes iſt die
Bedeutung der im poſitiven Recht beſtimmten Altersſtufen,
die alſo lediglich auf die Handlungsfähigkeit, nicht auf
die Rechtsfähigkeit, Einfluß haben, und deren Feſtſtellung
daher nur an dieſem Ort unternommen werden kann.
Das Römiſche Recht nimmt in dem Leben jedes ein-
zelnen Menſchen Drey wichtige Gränzpunkte an, wodurch
folgende Vier juriſtiſch verſchiedene Lebensalter entſtehen:
1) Von der Geburt bis zum Ende des Siebenten Jah-
res. — Infantes, Qui fari non possunt, Kinder.
2) Von Sieben Jahren bis zum Ende des Vierzehen-
ten oder Zwölften Jahres, nach Verſchiedenheit der Ge-
ſchlechter. — Qui fari possunt (bey den Neueren Infantia
majores). — Beide erſte Lebens alter zuſammengefaßt: Im-
puberes, Un mündige.
|0036 : 24|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
3) Von Vierzehen oder Zwölf Jahren bis zum Ende
des Fünf und zwanzigſten Jahres. — Adolescentes, Adulti.
— Dieſes Lebensalter mit den zwey erſten zuſammen: Mi-
nores (b), Minderjährige. — Dieſes Lebensalter mit dem
folgenden zuſammen: Puberes, Mündige.
4) Von Fünf und zwanzig Jahren an, ohne weitere
Gränze. — Majores, Volljährige, Großjährige.
Als Grundlage der weiteren Ausführung aber muß
gleich hier bemerkt werden, daß unter dieſen drey Gränz-
punkten der mittlere (Pubertas), wie der älteſte, ſo auch
der wichtigſte iſt (c). Das Römiſche Recht nämlich, ſo
weit hiſtoriſche Nachrichten aufwärts reichen, nimmt an,
mit der Geſchlechtsreife ſey zugleich auch der volle Ver-
nunftgebrauch wirklich vorhanden. Vor dieſem Zeitpunkt
iſt daher der Menſch handlungsunfähig, weshalb ſein Ver-
mögen unter der Verwaltung eines Tutors ſteht. Nach
demſelben Zeitpunkt iſt er voͤllig handlungsfähig, beherrſcht
alſo ſelbſt ſein Vermoͤgen, und bedarf eines Tutors nicht
mehr (d). Beide Regeln aber haben allmälig Modifica-
(b) Der Ausdruck Minores iſt
eine bloße Abkürzung, da es roll-
ſtändig heißt: Minores XXV an-
nis; eben ſo auch Majores.
(c) Dieſe vorherrſchende Wich-
tigkeit der pubertas zeigt ſich auch
darin, daß das Alter der Impu-
beres und Puberes geradezu als
prima und secunda aetas bezeich-
net wird, gleich als ob dieſes die
einzigen Altersſtufen wären. L. 30
C. de ep. aud. (1. 4.), L. 10 C.
de impub. et al. subst. (6. 26.),
L. 8 § 3 C. de bon. quae lib.
(6. 61.).
(d) Im männlichen Geſchlecht
hörte nun jede Tutel auf; im
weiblichen trat allerdings eine
neue Tutel (die muliebris) an
die Stelle der bisherigen, allein
dieſe neue hatte gar keine Be-
ziehung mehr auf das Alter, und
hörte auch niemals des bloßen Al-
ters wegen auf.
|0037 : 25|
§. 107. Altersſtufen. Infantes.
tionen erhalten, worauf ſich nun der erſte und dritte
Gränzpunkt beziehen. Das Ende der Kindheit bezeichnet
den Punkt, bis zu welchem aufwärts doch noch ein ge-
wiſſer Grad der Handlungsfähigkeit reicht; ſo wie das
Ende der Minderjährigkeit den Punkt bezeichnet, bis zu
welchem abwärts die urſprünglich unbedingte Handlungs-
fähigkeit der Mündigen ſpäterhin doch noch einigen Ein-
ſchränkungen unterworfen worden iſt.
Unter dieſen Vier Lebensaltern bedarf das letzte keiner
beſonderen Betrachtung, da daſſelbe nur den normalen Zu-
ſtand in ſich ſchließt, worin überhaupt kein Hinderniß der
Handlungsfähigkeit wahrzunehmen iſt. Die drey erſten aber
ſind nunmehr nach ihrer natürlichen Zeitfolge abzuhan-
deln, und zwar iſt bey jedem derſelben ſowohl der Gränz-
punkt ſelbſt, als die praktiſche Bedeutung deſſelben zu un-
terſuchen: beides, ſo weit es geſchehen kann, mit Rück-
ſicht auf die hiſtoriſche Entſtehung der darauf bezüglichen
Rechtsregeln.
§. 107.
II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Alters-
ſtufen. Infantes und Qui fari possunt.
Wir fragen zuerſt: durch welche Betrachtungen wur-
den die Römer veranlaßt, innerhalb der Unmündigkeit noch
einen beſonderen Zeitraum unter dem Namen Infantia aus-
zuſcheiden? oder mit anderen Worten: welches war die
praktiſche Bedeutung der Infantia?
|0038 : 26|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Nach dem älteſten und durchgreifendſten Grundſatz wa-
ren alle Impuberes zu juriſtiſchen Handlungen ganz un-
fähig, und deshalb hatten ſie ſtets einen Tutor, der für
ſie handelte (§ 106). Allein die ſtrenge Durchführung die-
ſes Grundſatzes, auch in dem Fall wenn der Unmündige
von väterlicher Gewalt frey, folglich im Beſitz eines eige-
nen Vermögens war, würde für den Rechtsverkehr im
Ganzen ſehr ſtörend, für die Unmündigen ſelbſt aber äu-
ßerſt nachtheilig geweſen ſeyn. Denn die meiſten und
wichtigſten Geſchäfte des älteren Rechts konnten nur durch
eigenes Handeln des Betheiligten zu Stande kommen, und
die Vertretung durch einen Fremden (wie hier durch den
Tutor) war dabey ganz unzuläſſig und wirkungslos. Folg-
lich hätte der Tutor zwar die Felder des Unmündigen be-
ſtellen, Pachtgelder und Kapitalzinſen erheben, den Unter-
halt des Mündels beſtreiten, kurz alles Dasjenige, was
zur laufenden Verwaltung gehört, beſorgen können: aber
die vortheilhafteſten und nothwendigſten Rechtsgeſchäfte,
wie Mancipationen, Stipulationen, Kaufcontracte u. ſ. w.,
hätten zum großen Schaden des Unmündigen gänzlich un-
terbleiben müſſen. Wie war da zu helfen?
Zunächſt durch folgende Betrachtung. Der Grundſatz
der Pubertät, als Anfang und Bedingung der Handlungs-
fähigkeit, beruht auf der Vorausſetzung, von dieſem Zeit-
punkt an werde gewiß die nöthige Einſicht in die Natur
der vorkommenden Geſchäfte vorhanden ſeyn. Allein Nie-
mand kann annehmen, daß dieſe Einſicht mit jenem Zeit-
|0039 : 27|
§. 107. Altersſtufen. Infantes.
punkt plötzlich entſtehe. Sie wird alſo wohl auch ſchon
einige Zeit vorher (prope pubertatem) vorhanden ſeyn,
und es hat kein Bedenken, auch ſchon in dieſer Zeit den
Unmündigen, der jetzt proximus pubertati iſt, ſelbſt han-
deln zu laſſen, wenn nur dafür geſorgt wird, daß er da-
bey nicht zu Schaden komme. Dieſe Gefahr aber wird
ſicher verhütet, wenn man den Unmündigen nur diejeni-
gen Geſchäfte, bey welchen nichts zu verlieren iſt (wie
das Stipulari), allein vornehmen läßt, bey bedenklichen
Geſchäften aber (wie das Promittere) die Genehmigung
des Tutors erfordert. Darin lag dann eine ganz unge-
fährliche Erleichterung des Verkehrs, in Beziehung auf die
oben dargeſtellte Schwierigkeit, und dieſe Erleichterung ha-
ben die Roͤmer wirklich anerkannt, wobey wohl zu bemer-
ken iſt, daß ſie Dieſes nicht als eine Abweichung von all-
gemeinen Grundſätzen anſehen, ſondern als Etwas, das
ſich eigentlich von ſelbſt verſtehe.
Allein genügend war dieſe Abhülfe nicht, da ſie nur
einen ſo kurzen Zeitraum umfaßte. Man that alſo einen
zweyten und wichtigeren Schritt, indem man annahm, der
Unmündige ſolle auch ſchon früher, alſo noch ehe man ihm
Geſchäftseinſicht zuſchreiben konnte, dennoch ſelbſt handeln
dürfen: verſteht ſich mit den ſchon erwähnten ſchützenden
Maasregeln, ſo daß er allein handeln ſollte nur wo kein
Verluſt möglich war, ſonſt aber ſtets mit Genehmigung
ſeines Tutors. Es iſt wohl zu bemerken, daß die Römer
dieſen zweyten, wichtigeren Schritt als Etwas anſahen,
|0040 : 28|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
das ſich nicht von ſelbſt verſtehe, vielmehr als eine ganz
poſitive, zur Erleichterung des Rechtsverkehrs getroffene
Einrichtung, als benigna interpretatio, utilitatis causa
recepta (a), folglich als ein jus singulare (§ 16). Das
Beſondere dabey lag aber nach ihrer Anſicht darin, daß
(unter dem Schutz der erwähnten Vorſichtsmaasregeln) auch
Derjenige handeln kann, der von dem Geſchäft noch Nichts
verſteht: eben darum aber betrachteten ſie die Fähigkeit
des proximus pubertati vielmehr als etwas Natürliches.
Jedoch ſollte auch dieſe wichtige Erleichterung wieder
eine beſtimmte Gränze haben, damit nicht mit Rechtsge-
ſchäften ein bloßes Spiel getrieben würde. Sie ſollte erſt
anfangen mit dem Ende der Infantia. Und ſo iſt alſo die
praktiſche Bedeutung der Infantia dieſe: ſie iſt der Lebens-
abſchnitt, mit deſſen Ablauf der Menſch zu Rechtsge-
(a) Am vollſtändigſten ausge-
drückt findet ſich dieſer Gang der
Gedanken in § 9. 10 J de inut.
stip. (3. 19.). „Pupillus omne
negotium recte gerit … Sed
quod diximus de pupillis, uti-
que de his verum est, qui jam
aliquem intellectum habent:
nam infans, et qui infanti pro-
ximus est … nullum intellectum
habent. Sed in proximis in-
fanti, propter utilitatem eo-
rum, benignior juris interpre-
tatio facta est, ut idem juris
habeant, quod pubertati proxi-
mi.” (iſt theils wörtlich über-
einſtimmend mit Gajus III. § 107.
109, theils aber beſtimmter und
unzweydeutiger; ohne Zweifel aus
einem anderen Urtext.) — L. 6
rem pupilli (46. 6.) „si (pupil-
lus) .. fari potest, etiamsi ejus
aetatis erit, ut non intelligat
quid agat: tamen propter uti-
litatem receptum est, recte eum
stipulari et agere.” — L. 1 § 13
de O. et A. (44. 7.). „Huic (fu-
rioso) proximus est, qui ejus
aetatis est, ut nondum intelli-
gat quid agatur. Sed quod ad
hunc, benignius acceptum est:
nam qui loqui potest, creditur
et stipulari et promittere recte
posse.” — „favorabiliter eis
praestatur.” L. 9 de adqu. vel
om. her. (29. 2.).
|0041 : 29|
§. 107. Altersſtufen. Infantes.
ſchäften (theils allein, theils mit dem Tutor) fähig
wird (b).
Welches iſt aber die Gränze der Infantia? Infans heißt
wörtlich ein Nichtſprechender, insbeſondere jedoch verſtand
man darunter Den, welcher noch nicht durch ſein Alter
zum Beſitz der Sprache gekommen iſt, da der durch orga-
niſche Mängel Sprachloſe mutus genannt wurde (c). Daß
man nun in der That den Ausdruck in ſeinem etymologi-
ſchen Sinn genommen hat, erhellt unwiderſprechlich aus
dem Umſtand, daß die Römer in vielen Stellen, mit ganz
willkührlicher Abwechslung, bald Infans, bald qui fari non
potest ſagen; und dieſes wird wieder am anſchaulichſten
in ſolchen Stellen, worin beide Ausdrücke unmittelbar
neben einander als gleichbedeutend gebraucht werden (d).
Alſo ſollen Diejenigen, und nur Diejenigen, Geſchäfte be-
treiben dürfen, welche ſchon ſprechen können. Allein
in dieſer Gränzbeſtimmung liegt noch eine unverkennbare
Zweydeutigkeit. Man kann nämlich den Ausdruck nehmen
in dem Sinn des gewöhnlichen Lebens, von der niederen
Fertigkeit, wodurch das Kind ſeine kindiſchen Vorſtellun-
(b) L. 70 de V. O. (45. 1.).
„Mulier .. fecerat .. promittere
dotem … Infanti … placebat
ex stipulatu actionem non esse,
quoniam qui fari non poterat,
stipulari non poterat.” L. 141
§ 2 eod. „Pupillus .. ex quo
fari coeperit, recte stipulari po-
test.” — Vgl. auch L. 5 de R. J.
(50. 17.), und die in der Note a
abgedruckte Stellen.
(c) In L. 65 § 3 ad Sc. Treb.
(36. 1.) wird neben dem Infans,
oder qui fari non potest, der
mutus als verſchieden genannt.
(d) L. 70 de V. O. (45. 1.),
ſ. o. Note b. — L. 65 § 3 ad Sc.
Treb. (36. 1.), L. 30 § 1. 2. 4 de
fid. lib. (40. 5.), L. 1 C. ad Sc.
Tert. (6. 56.).
|0042 : 30|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
gen in Tönen zu bezeichnen vermag, welches meiſt im
zweyten oder dritten Lebensjahr anfängt; oder in dem hö-
heren Sinn, nach welchem die Sprache ſchon ein zuſam-
menhängender Ausdruck verſtändiger Gedanken iſt, und
alſo zugleich einen Fortſchritt der Geiſtesentwicklung vor-
ausſetzt und anzeigt. Die Römer nun haben den Aus-
druck in dieſem letzten Sinn genommen, folglich auch der
Infantia eine weit größere Ausdehnung gegeben, als welche
aus dem erſten Sinn folgen würde (e). Daß ſie über-
haupt das fari posse als Gränzpunkt annahmen, hatte
ſeinen Grund in der uralten Sitte, alle wichtigen Ge-
ſchäfte in feyerliche Formeln mündlicher Rede einzuklei-
den (f). Nun war ihre Meynung gar nicht, juriſtiſche
Handlungen dadurch herabzuwürdigen, daß man ein Kind
hätte gedankenlos unverſtandene Worte nachſprechen laſ-
ſen, welches oft auch bey einem Blödſinnigen bewirkt wer-
den könnte; vielmehr ſollte der Knabe immer ſchon ver-
ſtehen, was er ſagte, alſo mit Bewußtſeyn ſprechen, wenn
ihm auch vielleicht das Geſchäft ſelbſt, nach ſeinen Grün-
(e) Die erſte Bedeutung der
Infantia (beſchränkt auf die aller-
erſten Lebensjahre) wird verthei-
digt in einer Abhandlung von
Unterholzner, Zeitſchrift für
geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 1
N. 3 S. 44—53. Eine gelehrte
Widerlegung findet ſich in einer
Recenſion dieſer Abhandlung, Hei-
delberger Jahrbücher Jahr 1815
S. 664—683.
(f) Das fari posse drückte alſo
zweyerley zugleich aus: diejenige
Verſtandesentwicklung, welche ſich
durch den verſtändigen Redege-
brauch kund giebt, und die Fä-
higkeit zu mündlichen Rechtsge-
ſchäften. Beides fällt zuſammen,
und daher war der Ausdruck auch
auf diejenigen Rechtsgeſchäfte an-
wendbar, wozu mündliche Rede
nicht gerade erfordert wurde, wie
die Conſenſualcontracte.
|0043 : 31|
§. 107. Altersſtufen. Infantes.
den und Zwecken, Vortheilen und Nachtheilen, noch unbe-
kannt ſeyn mochte. Dabey lag alſo zum Grunde die ſehr
natürliche Unterſcheidung folgender drey Zuſtände: I. Ein-
ſicht in das Geſchäft ſelbſt, worüber verhandelt wird,
II. Mangel dieſer (materiellen) Einſicht, neben (formaler)
Verſtandesentwicklung, das heißt neben dem Verſtändniß
der bey der Verhandlung auszuſprechenden Worte (g),
III. Mangel dieſes letzten Verſtändniſſes, obgleich vielleicht
die Worte vernehmlich, aber gedankenlos nachgeſprochen
(g) Dieſe Unterſcheidung von
zwey verſchiedenen Entwicklungs-
ſtufen, die in den Stellen der
Römiſchen Juriſten unverkennbar
zum Grunde liegt, würde darin
weniger überſehen worden ſeyn,
wenn die Römer dabey einen fe-
ſteren und beſtimmteren Sprach-
gebrauch durchgeführt hätten. Zu-
weilen allerdings finden ſich ſolche
Ausdrücke, welche denjenigen, die
noch nicht proximi pubertati ſind,
nur die Einſicht in den Gegen-
ſtand, alſo die materielle Ge-
ſchäftskenntniß, abſprechen (z. B.
L. 5 de R. J. „qui fari possunt,
quamvis actum rei non intelli-
gerent, eben ſo L. 1 § 13 de O.
et A. (Note a) „nondum intel-
ligat quid agatur,” und L. 9
de adqu. vel om. her. „ut cau-
sam adquirendae hereditatis
non intelligat”), während ſie ih-
nen das intelligere überhaupt,
d. h. das verſtändige Bewußtſeyn,
wohl zuſprechen (L. 14 de spons.,
abgedruckt eben im Text N. 4).
Dagegen ſind wieder andere Stel-
len, welche von jenen Unmündi-
gen ſchlechthin ſagen: nullum in-
tellectum habent (§ 10 J. de
inut. stip. 3. 19., ſ. o. Note a). —
Übrigens iſt die höhere Entwick-
lung (das actum rei intelligere)
relativ, und zwar nicht blos ab-
hängig von den individuellen An-
lagen, ſondern auch von der Na-
tur des Geſchäfts ſelbſt. Ein
Knabe z. B. wird früher lernen,
mit Sachkenntniß ein Kleidungs-
ſtück einzukaufen, als einen ver-
wickelten Societätscontract abzu-
ſchließen. — Der Gedanke iſt alſo
eigentlich der: Nach zurückgeleg-
ter Kindheit hat der Unmündige
hinreichend paſſiven Verſtand, um
das Denken und Wollen des aucto-
rirenden Tutors in ſich aufzu-
nehmen und zu dem ſeinigen zu
machen; ſteht er nahe an der
Mündigkeit, ſo darf ihm auch
ſchon ein ſelbſtthätiger, die Ge-
ſchäfte begreifender und verar-
beitender Verſtand zugeſchrieben
werden.
|0044 : 32|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
werden könnten. Bey dem erſten Zuſtand (Puberes und
pubertati proximi) verſteht ſich die Handlungsfähigkeit
von ſelbſt; bey dem zweyten (qui fari possunt) iſt ſie als
Erleichterung des Verkehrs nachgelaſſen worden; bey dem
dritten (Infantia) ſoll auch dieſe Erleichterung nicht ſtatt
finden.
Ehe aber dieſes Alles hiſtoriſch bewieſen werden kann,
muß an die ſchon oben erwähnte Schwierigkeit erinnert
werden, die für das praktiſche Leben aus der bey jedem
Einzelnen allmäligen, bey verſchiedenen Menſchen aber ſehr
ungleichen, Entwicklung der Sprachfähigkeit hervorgeht.
Hier war eine feſte und für Alle gleichförmige Gränze
praktiſch ſehr wünſchenswerth. Nun wurde den Römern
eine uralte Lehre griechiſcher Philoſophie bekannt, welche
der Zahl Sieben geheimnißvolle Kräfte, und den ſieben-
jährigen Lebensperioden eine beſondere Wichtigkeit beylegte.
Dieſe Lehre kam jenem praktiſchen Bedürfniß auf die will-
kommenſte Weiſe entgegen, und ſo geſchah es, daß die
Gränze der Kindheit gerade auf das Ende des ſiebenten
Jahres allgemein angeſetzt wurde, anſtatt daß wohl auch
Sechs oder Acht Jahre dafür angenommen werden konn-
ten (h). Nimmt man nun Sieben Jahre an, ſo folgt
(h) Es darf alſo nicht ſo ver-
ſtanden werden, als wäre dieſe
ganze Lehre von der Infantia erſt
durch griechiſche Philoſophie in
das Römiſche Recht gekommen;
nur die Fixirung auf ein beſtimm-
tes Jahr überhaupt, und gerade
auf Sieben Jahre, iſt daher ab-
zuleiten. Die Zeugniſſe für die
alte Philoſophenlehre ſind ſehr
gründlich zuſammengeſtellt in der
oben (Note e) angeführten Re-
cenſion S. 669 fg.
|0045 : 33|
§. 107. Altersſtufen. Infantes.
daraus zugleich unmittelbar die Beſtätigung der oben auf-
geſtellten Behauptung, daß das fari posse nicht in dem
gemeinen, ſondern in einem hoͤheren Sinn verſtanden wurde,
indem es kaum jemals vorkommen wird, daß ein Kind
vor dem achten Jahr gar nicht ſprechen lernen ſollte.
Die Richtigkeit dieſer Sätze beruht auf dem Beweiſe,
daß in der That die Infantia genau die erſten Sieben Le-
bensjahre ausfüllt, und dieſer Beweis ſoll nunmehr durch
Zuſammenſtellung folgender übereinſtimmenden Zeugniſſe ju-
riſtiſcher und nichtjuriſtiſcher Art geführt werden.
1) L. 1 § 2 de admin. (26. 7.). Der Tutor kann für
ſeinen Mündel, wenn dieſer verklagt wird, den Prozeß
führen. Dieſen Satz führt Ulpian in folgenden Worten
weiter aus:
licentia igitur erit, utrum malint ipsi suscipere judici-
um, an pupillum exhibere, ut ipsis auctoribus judici-
um suscipiatur: ita tamen, ut pro his qui fari non
possunt, vel absint, ipsi tutores judicium suscipiant:
pro his autem qui supra septimum annum aetatis sunt,
et praesto fuerint, auctoritatem praestent.
Das heißt: der Tutor hat die Wahl, ob er will allein
den Prozeß führen, oder dem prozeßführenden Mündel die
auctoritas geben. Freylich wenn der Mündel noch nicht
ſprechen kann, oder abweſend iſt, ſo kann nur der Tutor
allein handeln; das erwähnte gemeinſchaftliche Handeln
kann alſo nur eintreten, wenn der Mündel ſowohl das
ſiebente Jahr zurückgelegt hat, als auch anweſend iſt. —
III. 3
|0046 : 34|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Hier iſt alſo das fari posse als gleichbedeutend geſetzt mit
dem Ablauf des ſiebenten Lebensjahres, und die Schluß-
worte auctoritatem praestent müſſen in Gedanken ergänzt
werden durch si velint, ſo daß ſie blos die Wiederho-
lung bilden ſollen von den vorhergehenden Worten licen-
tia erit (i).
2) L. 8 C. Th. de maternis bonis (8. 18.). Wenn ei-
nem in vaͤterlicher Gewalt ſtehenden Sohn eine hereditas
oder bonorum possessio zufällt, ſo ſoll während der In-
fantia der Vater allein den Erwerb beſorgen, nach der
Kindheit, das heißt nach dem Ende des ſiebenten Lebens-
(i) Unterholzner (Note e)
nimmt in dieſer Stelle die Un-
terſcheidung von drey Lebensal-
tern an: 1) Kinder, die noch gar
nicht ſprechen, 2) Von da bis
Sieben Jahre, 3) Über Sieben
Jahre. Im erſten ſoll nur der
Tutor allein handeln, im zweyten
ſoll er die Wahl haben, im drit-
ten ſollen nur beide vereinigt han-
deln können. Zunächſt wird aber
durch dieſe Erklärung dem Ulpian
eine ſehr fehlerhafte Ausdrucks-
weiſe aufgebürdet, wie dieſes der
oben angeführte Recenſent S. 678
ausgeführt hat. Ganz entſchei-
dend aber gegen dieſe Erklärung
iſt Folgendes. Unter jenen drey
Sätzen wäre der wichtigſte der
dritte, durch welchen es dem Tu-
tor unterſagt ſeyn ſoll, für den
ſchon Siebenjährigen den Prozeß
allein zu führen. Allein dieſer
wichtigſte Satz iſt auch ganz ge-
wiß falſch. Für die active Pro-
zeßführung (im § 2 iſt von der
paſſiven die Rede) giebt der § 4
dem Tutor ohne alle Einſchrän-
kung die Befugniß, allein zu han-
deln. Beſonders aber hat dieſe
uneingeſchränkte Befugniß, ſo-
wohl bey der activen als bey der
paſſiven Prozeßführung, auch der
Curator eines Minderjährigen
(L. 1 cit. § 3. 4). Es iſt aber
völlig undenkbar, daß jemals die-
ſer Curator ſollte ein ausgedehn-
teres Recht gehabt haben, als der
Tutor eines Unmündigen über
Sieben Jahre. Nimmt man nun
aus dieſen Gründen an, daß der
am Ende ſtehende Ausdruck aucto-
ritatem praestent eben ſo wie
der vorhergehende licentia erit,
dem Tutor die Wahl läßt, ſo
unterſcheidet Ulpian überhaupt
nicht Drey Lebensalter, ſondern
nur Zwey.
|0047 : 35|
§. 107. Altersſtufen. Infantes.
jahres, der Sohn ſelbſt; auch ſoll dabey nicht auf die
frühere oder ſpätere Sprachentwicklung der Individuen ge-
ſehen werden.
.. infantis filii aetatem nostra auctoritate praescribi-
mus, ut sive maturius, sive tardius, filius fandi sumat
auspicia, intra septem annos aetatis ejus, pater .. im-
ploret .. hac vero aetate finita, filius Edicti beneficium
petat rel.
Stände dieſe Stelle allein, ſo könnte man glauben,
Arcadius habe die Sieben Jahre erfunden; die Verglei-
chung mit allen übrigen Stellen läßt keinen Zweifel, daß
dieſer Ausdruck nur dem Geſetzſtyl der ſpäteren Kaiſer zu-
zurechnen iſt. Eben deshalb iſt ſelbſt auf die Worte sive
maturius sive tardius nicht allzu viel Gewicht zu legen,
aus welchen man ſonſt wohl abnehmen könnte, nach einer
abweichenden Meynung mancher Juriſten hätte die indivi-
duelle Sprachfähigkeit unterſucht werden müſſen, und dieſe
Controverſe hätte jetzt der Kaiſer entſcheiden wollen. Un-
möglich iſt eine ſolche Controverſe nicht, aber jene Worte
können auch als ganz müßige Amplification, oder als Vor-
beugung gegen einen blos denkbaren Zweifel, daſtehen.
3) L. 18 pr. und § 4 C. de jure delib. (6. 30.).
Si infanti, id est minori septem annis, … hereditas
sit derelicta .... und nachher § 4: Si autem septem
annos aetatis pupillus excesserit rel.
4) L. 14 de sponsal. (23. 1.).
In sponsalibus contrahendis aetas contrahentium defi-
3*
|0048 : 36|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
nita non est … si modo id fieri ab utraque persona
intelligatur, id est si non sint minores quam septem
annis.
Hier iſt nicht geradezu geſagt, daß unter den minores
quam septem annis eben Diejenigen zu verſtehen ſind,
welche anderwärts Infantes heißen; aber die Meynung des
Juriſten war es ohne allen Zweifel, und die Veranlaſſung
zu dieſer Zeitbeſtimmung lag ganz einfach darin, daß in
der älteren Zeit die Verlobung durch eine Stipulation ge-
ſchloſſen zu werden pflegte (k).
5) Quinctilianus I. 1: Aut cur hoc usque ad septem
annos lucrum fastidiamus? … quantum in infantia prae-
sumptum est temporis, adolescentiae adquiritur.
Hier nimmt er offenbar Infantia und Alter unter Sie-
ben Jahren als völlig gleichbedeutend.
6) Macrobius in somu. Scip. I. 6: eodemque anno,
id est septimo, plene absolvitur integritas loquendi.
7) Isidori origines XI. 2. Prima aetas infantia est
… quae porrigitur in septem annis.
In dieſem Theil der Unterſuchung ſind bisher zwey
Ausdrücke ſtillſchweigend angewendet worden, welche nun
noch einer genaueren Feſtſtellung um ſo mehr bedürfen,
als darüber unſere Juriſten von jeher ſehr viel geſtritten
(k) L. 2 de sponsal. (23. 1.).
— „Sponsalia autem dicta sunt
a spondendo: nam moris fuit
veteribus stipulari, et spondere
sibi uxores futuras.”
|0049 : 37|
§. 107. Altersſtufen. Infantes.
haben; es ſind die Ausdrücke Pubertati und Infantiae pro-
ximus (l). Manche haben Dieſes von einer genauen Hal-
birung des Zeitraums zwiſchen der Kindheit und Pubertät
verſtanden, ſo daß, nach Verſchiedenheit der Geſchlechter,
10½ und 9½ Jahre den Graͤnzpunkt bilden wuͤrden (m).
Andere nehmen es ganz ſubjectiv, ſo daß ein frühreifer
Knabe ſchon im achten Jahr pubertati proximus heißen
könnte, ein ſehr unentwickelter noch im vierzehenten Jahr
infantiae proximus. Hält man ſich aber ganz einfach an
den Wortſinn, ſo muß man beide Erklärungen verwerfen,
und unter dem proximus denjenigen verſtehen, der dem ei-
nen oder anderen Gränzpunkte ſehr nahe ſteht. Dann
liegt zwiſchen beiden in der Mitte ein größerer Zeitraum,
der gar keinen Namen führt. Der praktiſche Sinn jener
Ausdrücke iſt aber ohne Zweifel der, daß eine gewiſſe Ge-
ſchäftskenntniß nahe an der Pubertät zu vermuthen, nahe
an der Kindheit nicht zu vermuthen iſt, wobey alſo die
Beurtheilung der unbeſtimmten Zwiſchenzeit ganz dem rich-
terlichen Ermeſſen überlaſſen bleibt, ja ſelbſt nicht ausge-
ſchloſſen wird von jener Vermuthung da abzuweichen, wo
eine ganz ungewöhnlich frühe oder ſpäte Entwicklung klar
(l) Über die Bedeutung dieſer
Ausdrücke finden ſich viele ältere
Meynungen zuſammengeſtellt in
J. Gothofredi Comm. in tit. de
reg. juris, L. 111 tit. cit. — Von
neueren Schriftſtellern ſind dar-
über zwey beſondere Abhandlun-
gen zu bemerken: Gensler im
Archiv für civiliſt. Praxis B. 4
N. 18, und Dirkſen im Rhei-
niſchen Muſeum B. 1 (Jurispru-
denz) S. 316—326.
(m) Dieſe Meynung hat ſchon
Accursius in L. Pupillum (111.)
de R. J.
|0050 : 38|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
vorliegt (n). Inſoferne liegt alſo auch in der zweyten,
oben verworfenen, Erklärung ein wahres Element, nur
daß ſie ganz ohne Noth den Worten Gewalt anthut. Bey
Rechtsgeſchäften hat nun dieſe ganze Unterſcheidung ihren
praktiſchen Werth völlig verloren, ſeitdem hier die oben
erwähnte benigna interpretatio (Note a) Alles ausgegli-
chen hat. Sie iſt daher nur noch bey Delicten erheblich
geblieben, wie dieſes im folgenden § bemerkt werden wird.
Zum Behuf der genauen Anwendung der zwey aufge-
ſtellten Vermuthungen kann man fragen, welches die eigent-
liche Gränze des proximus ſey. Darüber findet ſich keine
Beſtimmung. Will man indeſſen eine Gränze annehmen,
die doch auf einem allgemeinen Grunde, nicht auf bloßer
Willkühr, beruht, ſo kann man proximus Denjenigen nen-
(n) Dieſer praktiſche Sinn des
proximus infantiae und puber-
tati leuchtet deutlich genug aus
ſolchen Stellen hervor, worin das
ſo bezeichnete Alter als Kennzei-
chen des Daſeyns einer vollſtän-
digeren Urtheilsfähigkeit, das heißt
als Vermuthungsgrund dafür, an-
gegeben wird. § 10 J. de inut.
stip. (3. 19.) „infans et qui in-
fanti proximus est .. nullum
intellectum habent (Note a). —
§ 18 (al. 20) J. de oblig. ex del.
(4. 1.) „si proximus pubertati
sit et ob id intelligat se delin-
quere.” — L. 4 § 26 de doli exc.
(44. 4.) „doli pupillos, qui pro-
pe pubertatem sunt, capaces
esse.” — Mit dieſer Anſicht über-
einſtimmend iſt Dirken a. a. O.
Anders verfährt Gensler a. a.
O. Er meynt, die Halbirung des
Zeitraums (nach Accurſius) liege
zwar nicht in den Worten, aber
doch im Geiſte des R. R., und
zwar in folgendem Sinn. Bey
dem infantiae proximus ſey Do-
lus unmöglich, Culpa möglich,
aber erſt zu erweiſen; der pub.
prox. ſey des Dolus wie der Culpa
fähig, doch werde nur die Culpa
präſumirt, der Dolus müſſe er-
wieſen werden; neben beiden Prä-
ſumtionen aber gelte ſtets der
Gegenbeweis. Eine unrömiſchere
Behandlung der Sache läßt ſich
ſchwer anbringen.
|0051 : 39|
§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)
nen, der weniger als ein volles Jahr von dem einen oder
andern Gränzpunkt entfernt iſt. Dann wären durch jene
Ausdrücke die Zeiträume zwiſchen 7 und 8 Jahren und
zwiſchen 13 und 14 (oder 11 und 12 im weiblichen Ge-
ſchlecht) bezeichnet (o). Daß die Roͤmiſchen Juriſten es
nicht nöthig fanden, eine ſolche genauere Beſtimmung hin-
zuzufügen, erklärt ſich wohl aus der ſo eben bemerkten
geringen praktiſchen Wichtigkeit, welche dieſen Begriffen
übrig geblieben war.
§. 108.
II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Altersſtufen.
Infantes und Qui fari possunt. (Fortſetzung.)
Die im vorigen §. über den Einfluß der zurückgelegten
Kindheit aufgeſtellten Regeln ſollen nunmehr auf die wich-
tigſten einzelnen Rechtsverhältniſſe angewendet werden,
wobey zugleich noch einige merkwürdige Ausnahmen zur
Sprache kommen müſſen.
Der hier anzuwendende Grundſatz lautete aber alſo.
Das Kind iſt aller juriſtiſch wirkſamen Handlungen un-
fähig. Der Unmündige, der nicht mehr Kind iſt, kann
mit Genehmigung des Tutors alle Handlungen vorneh-
men: ohne Genehmigung nur diejenigen, welche blos Vor-
theil bringen ohne Nachtheil oder Gefahr. Dieſer letzte
Theil des Grundſatzes wird ſo ausgedrückt: meliorem qui-
(o) Auch dieſe Meynung iſt ſchon früher aufgeſtellt worden. Vgl.
J. Gothofredus l. c.
|0052 : 40|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
dem suam condicionem licere eis facere, etiam sine tu-
toris auctoritate, deteriorem vero non aliter quam tutore
auctore (a).
I. Bey den obligatoriſchen Verträgen zeigt ſich
jener Grundſatz am reinſten und vollſtändigſten.
Jeder Unmündige alſo, der nicht mehr Kind iſt, kann
auch ohne Tutor gültig ſtipuliren, nicht promittiren (b).
So bey einſeitigen Verträgen. Schließt er dagegen
allein einen zweyſeitigen Vertrag, worin ſtets Gewinn und
Verluſt gemiſcht iſt (wie Kauf und Miethe), ſo iſt der Ver-
trag für den Gegner bindend, für den Unmündigen nicht,
das heißt es ſteht in der Wahl des Tutors, ob er den
Vertrag ganz anerkennen oder verwerfen will (c).
Eine natürliche Beſchränkung erleiden dieſe Regeln bey
(a) pr. J. de auctor. (1. 21.),
L. 28 pr. de pactis (2. 14.). In
der Pandektenſtelle ſteht nur die
erſte Hälfte dieſer Regel, in den
Inſtitutionen ſtehen beide, obgleich
in manchen Handſchriften die
zweyte Hälfte gleichfalls fehlt.
Eine beſondere Anwendung der
zweyten Hälfte enthält L. 10 de
jur. et facti ign. (22. 6.). „Im-
puberes sine tutore agentes ni-
hil posse scire intelliguntur.”
So wie hier die Stelle in die
Digeſten aufgenommen iſt, er-
klärt ſie den Pupillen für unfähig,
durch ſein Bewußtſeyn in irgend
einen Nachtheil zu kommen, wo-
durch alſo jede Verpflichtung durch
Culpa ausgeſchloſſen ſeyn würde.
Zunächſt dachte aber Papinian an
den Verluſt durch verſäumte Friſt
der bonorum possessio, welches
daraus erhellt, daß die Stelle durch
ihre Inſeription mit L. 2 de suc-
cessorio ed. (38. 9.) zuſammen-
hängt, worin nicht von einem Pu-
pillen, ſondern von einem Min-
derjährigen die Rede iſt, der die
B. P. wirklich agnoſcirt, und dann
dagegen reſtituirt wird.
(b) pr. J. de auctor. (1. 21.),
§ 9 J. de inut. stip. (3. 19.). (Ga-
jus III. § 107), L. 9 pr. de auctor.
(26. 8.), L. 8 pr. de adqu. her.
(29. 2.), L. 41 de cond. ind. (12.
6.), L. 1 C. de inut. stip. (8. 39.).
(c) pr. J. de auctor. (1. 21.),
L. 5 § 1 de auctor. (26. 8.), L. 13
§ 29 de act. emti (19. 1.).
|0053 : 41|
§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)
dem Unmündigen, der noch unter väterlicher Gewalt ſteht,
und der auf keine Weiſe eine Schuld contrahiren kann (d).
Denn auch bey dem proximus pubertati paterfamilias grün-
dete ſich die Möglichkeit des Eintritts in ein Schuldver-
hältniß, wenngleich nicht wie bey einem jüngeren auf be-
nigna interpretatio (§ 107. a), dennoch auf die künſtliche
Anſtalt der auctoritas, und dieſe war nur eingeführt we-
gen des dringenden Bedürfniſſes bey einem mit eigenem
Vermoͤgen verſehenen Unmündigen (§ 107). Bey dem fili-
usfamilias, der kein Vermögen haben konnte, war dieſes
Bedürfniß nicht vorhanden, und darum war es ganz un-
nütz dem Vater eine ähnliche Macht wie die tutoris aucto-
ritas zu verleihen, blos damit der Sohn möchte Schuld-
ner werden können.
II. Bey den Obligationen aus Delicten gelten
andere Regeln. Delicte ſind nicht, wie die Rechtsge-
ſchäfte, Bedürfniß für den Verkehr, ſondern vielmehr nur
Stoͤrungen deſſelben. Daher iſt für ſie weder die benigna
interpretatio (§ 107. a) angewendet worden, noch auch
überhaupt die auctoritas, wodurch ja nur erlaubte Ge-
(d) § 10 J. de inut. stip. (3. 19.),
L. 141 § 2 de V. O. (45. 1.). —
Dieſer Satz bezieht ſich nur auf
das ältere Recht, nicht auf die
der neueren Zeit des R. R. an-
gehörenden ſogenannten Peculien.
Ein castrense kann der Unmün-
dige überhaupt noch nicht haben;
als aber das ſogenannte adven-
titium aufkam, war die Gewohn-
heit und das Bedürfniß der aucto-
ritas ſchon ſo vermindert, daß
man es wohl deswegen unter-
ließ, beſondere Vorkehrung für
dieſen Fall zu treffen. Nament-
lich für das ſogenannte extraor-
dinarium bekam der unmündige
Sohn keinen Tutor, ſondern ei-
nen Curator, der alſo zur aucto-
ritas unfähig war. L. 8 § 1 C.
de bon. quae lib. (6. 61.).
|0054 : 42|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſchäfte erleichtert werden ſollten. Wollte man aber dabey
ſtrenge ſtehen bleiben, ſo läge darin ein großes Unrecht
gegen den Verletzten, der gegen das Delict des Unmündi-
gen gar keine Hülfe gehabt hätte. Deshalb gilt hier fol-
gende Regel. So lange der Unmündige das in ſeiner
Handlung liegende Unrecht noch nicht begreift, entſteht
für ihn überhaupt keine Verpflichtung; iſt er fähig es zu
begreifen, ſo wird er durch ſeine einſeitige Handlung ver-
pflichtet, ſo daß alſo dieſe Art der Obligationen auf der
einen Seite ſchwerer, auf der andern aber leichter ent-
ſteht, als die Obligationen aus Verträgen. Daß er fähig
iſt das Unrecht zu begreifen, wird bey ihm vermuthet ſo-
bald er proximus pubertati iſt; hier alſo iſt der einzige
Fall, worin dieſer Begriff noch praktiſchen Einfluß hat (e).
Allein die individuelle Beurtheilung ſollte durch dieſe Ver-
muthung nicht ausgeſchloſſen ſeyn. Dieſe gründet ſich
nicht blos auf die größere oder geringere Entwicklung des
Unmündigen, ſondern auch auf die mehr oder weniger ein-
fache Natur der verbotenen Handlung; ſo z. B. wird ein
zwölfjähriger Knabe leicht wiſſen was er thut, wenn er
Geld ſtiehlt; aber er wird es vielleicht nicht begreifen,
wenn ihn ein Anderer zu einem künſtlich angelegten Be-
(e) In manchen Stellen wird
als Bedingung der Zurechnung
das proximus pubertati ausge-
drückt, in anderen das doli (oder
culpae) capax; mit ſo willkühr-
licher Abwechslung, daß Beides
nothwendig als gleichbedeutend ge-
dacht ſeyn muß. Am unverkenn-
barſten iſt es in den Stellen,
worin beide Bedingungen, als in
einem Cauſalzuſammenhang ſte-
hend, mit einander verbunden
werden, vgl. § 107. n.
|0055 : 43|
§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung).
trug als Werkzeug gebraucht (f). Dagegen würde es ganz
unrichtig ſeyn, hierin den Unterſchied zwiſchen culpoſen
und doloſen Delicten als entſcheidend anzuſehen, ſo daß
der Unmündige früher zu jenen als zu dieſen für fähig
zu halten wäre (g). — Dieſe Grundſätze werden nun in
vielen Delicten mit großer Conſequenz durchgeführt (h). —
Ganz dieſelben Grundſätze aber gelten auch bey ſolchen
Obligationen, deren erſte Entſtehung nicht in einem De-
lict, ſondern in einem Vertrag u. ſ. w., enthalten iſt, wo-
bey aber die einzelne Anwendung der Klage auf einen
(f) L. 13 § 1 L. 14 de dolo (4.
3.). Die erſte Stelle ſagt, auch die
doli actio könne gegen den pro-
ximus pubertati gehen; dieſes
führt die zweyte Stelle weiter aus
in folgenden Worten: Quid enim
si impetraverit a procuratore
petitoris ut absolveretur … vel
alia similia admisit, quae non
magnam machinationem exi-
gunt?” Noch deutlicher tritt
dieſe Anſicht bey der Frage wegen
der Zurechnung mancher öffentli-
chen Verbrechen hervor, von wel-
chen ſogleich die Rede ſeyn wird.
(Note k).
(g) Dieſen Unterſchied behaup-
tet Gensler (§ 107. n), ohne
Zweifel weil bey mehreren dolo-
ſen Delicten der proximus pu-
bertati ausgedrückt wird, bey cul-
poſen (die aber überhaupt nur
ſelten vorkommen) nicht, wie in
L. 5 § 2 ad L. Aquil. (9. 2.),
L. 23 de furtis (47. 2.). Allein
in eben ſo vielen Stellen wird
auch dort nur der doli capax
erwähnt, gerade ſo wie hier nur
der culpae capax. Ja in L. 23
cit. werden beide mit völlig gleich-
artigen Ausdrücken unmittelbar
neben einander genannt. — Sieht
man auf das Weſen der Sache,
ſo iſt es wohl einleuchtend, daß
man einem Knaben meiſt früher
einen Diebſtahl wird zurechnen
können, als die Unvorſichtigkeit
woraus gegen einen Erwachſenen
unfehlbar die actio legis Aqui-
liae entſtehen würde.
(h) So bey furtum, damnum
injuria datum, und injuria. § 18
(al. 20.) J. de oblig. ex del. (4.
1.), L. 23 de furtis (47. 2.), L. 5
§ 2 ad L. Aquil. (9. 2.), L. 111
pr. de R. J. (50. 17.), L. 3 § 4
de injur. (47. 10.). — Bey vi
bonorum raptorum. L. 2 § 19
vi bon. rapt. (47.8.). — Bey se-
pulchrum violatum. L. 3 § 1
de sep. viol. (47. 12.). — Bey
dolus. L. 13 § 1 L. 14 de dolo
|0056 : 44|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Dolus ſich gründet (i). — Und eben ſo werden dieſe Grund-
ſätze auch auf die Beſtrafung öffentlicher Verbrechen an-
gewendet, bey welchen ganz beſonders hervorgehoben wird,
daß die Zurechnung von der mehr oder weniger einfachen
und leicht einzuſehenden Natur des Verbrechens abhängig
ſeyn ſoll (k).
III. Bey der Auflöſung der Obligationen iſt
die Anwendung des Grundſatzes einfach und unbedenklich.
Der Unmündige kann einen Erlaßvertrag ſchließen: wenn
er Schuldner iſt für ſich allein, als Glaubiger aber nur
mit dem Tutor (l). — Zahlung leiſten würde er können,
weil er dadurch Befreyung erwirbt: dennoch kann er es
nicht ohne Tutor, weil es nicht geſchehen kann ohne Ver-
äußerung des Geldes. Ganz eben ſo verhält es ſich mit
dem Empfang einer Zahlung, wodurch er zwar Geld er-
wirbt, auf der andern Seite aber auch eine Forderung
verliert (m).
(4. 3.), L. 4 § 26 de doli except.
(44. 4.).
(i) L. 1 § 15 depos. (16. 3.),
L. 46 de O. et A. (44. 7.), L. 3
§ 2 de tribut. (14. 4.).
(k) So ſoll das Falſum nicht
leicht jemals bey Unmündigen an-
wendbar ſeyn. (L. 22 pr. ad
L. Corn. de falsis (48. 10.). Bey
dem Falſchmünzen wird ſonſt auch
das Mitwiſſen beſtraft, an den
Unmündigen nicht weil ſie es nicht
verſtehen. (L. 1 C. de falsa mon.
9. 24.). Beſonders lehrreich iſt
auch die feine Beurtheilung eines
einzelnen Falls in L. 14 de Sc.
Silan. (29. 5.). — Schon in den
zwölf Tafeln war für das fur-
tum manifestum und den Feld-
ſchaden beſtimmt, der Unmündige
ſolle praetoris arbitratu gepeitſcht
werden; dieſes Ermeſſen betraf
wohl weniger das Maas der Züch-
tigung, als die Zurechnung über-
haupt. Vgl. Dirkſen zwölf Ta-
feln S. 45. 577, und im Rhein.
Muſeum B. 1 S. 325.
(l) L. 28 pr. de pactis (2. 14.).
(m) § 2 J. quib. alienare (2.
|0057 : 45|
§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)
IV. Die Prozeßführung, der Unmündige mag nun
Kläger oder Beklagter ſeyn, iſt wegen des ungewiſſen
Ausgangs ſtets ein gefährliches Geſchäft; daher iſt dazu
der Unmündige fähig nur mit Genehmigung des Tutors (n).
V. Eigenthum erwerben kann der Unmündige auch
allein, weil er dadurch nur reicher wird. Veräußern
kann er nur mit dem Tutor, weil er dadurch ſein Ver-
mögen vermindert (o). — So konnte alſo namentlich die
Freylaſſung eines Sklaven von dem Unmündigen nur mit
dem Tutor gemeinſchaftlich vorgenommen werden (p).
VI. Sponſalien ſchließen kann der Unmündige für
ſich allein (q), welches ſo zu erklären iſt. Steht er in
väterlicher Gewalt, ſo iſt er ohnehin, auch unabhängig
von dem unreifen Alter, an des Vaters Einwilligung ſtreng
gebunden. Iſt er unabhängig, ſo konnte freylich die Ge-
nehmigung des Tutors nicht aushelfen, da dieſe ſich nur
auf das Vermögen bezieht, womit die Sponſalien nicht in
Verbindung ſtehen. Man möchte alſo, nach der Analogie
8.), L. 9 § 2 de auctor. (26. 8.),
L. 14 § 8 L. 15 de solut. (46. 3.).
(n) L. 1 § 2. 4 de admin. (26.
7.). Vgl. § 107. Num. 1.
(o) § 2 J. quib. alienare (2.
8.), L. 9 pr. § 2 de auctor. (26.
8.), L. 11 de adquir. rer. dom.
(41. 1.). — Die erſte Hälfte der
Regel kommt nicht leicht rein für
ſich zur Anwendung. Denn grün-
det ſich der Erwerb auf ein feyer-
liches Geſchäft, wie die Manci-
pation, ſo konnte wohl niemals
der Unmündige ohne Tutor da-
bey überhaupt auftreten, ſo daß
hierin Gewinn und Verluſt kei-
nen Unterſchied machte; entſteht
er aber durch Beſitz, wie bey der
Tradition, ſo kommen die etwas
modificirten Regeln vom Beſitz-
erwerb (ſ. u. Num. VIII.) zur An-
wendung.
(p) L. 24 de manum. vind.
(40. 2.), L. 30 § 1. 2. 3. 4 de fid.
lib. (40. 5.), L. 9 § 1 de auctor.
(26. 8.).
(q) L. 14 de sponsal. (23. 1.).
Vgl. oben § 107. Num. 4.
|0058 : 46|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
der Obligationen, erwarten, daß die Sponſalien in jenem
Alter vielmehr gänzlich unterbleiben müßten. Daß man
ſie dennoch, und zwar dem Unmündigen allein, geſtattete,
erklärt ſich wohl aus der ganz ungefährlichen Natur einer
Handlung, die durch einſeitige Willkühr jederzeit wieder
entkräftet werden kann. Die einzige Gefahr war etwa
die, daß vielleicht derſelbe Unmündige abermals Sponſa-
lien eingieng, ohne die erſten gekündigt zu haben, auf
welche Handlung allerdings die Infamie folgte (§ 77. IV.).
In den bisher abgehandelten Fällen (mit Ausnahme
der Delicte) kam unſer Grundſatz rein zur Anwendung;
in den folgenden Fällen ſind durch eigenthümliche Schwie-
rigkeiten einige Ausdehnungen der ſonſt geltenden Fähig-
keit veranlaßt worden.
VII. Erwerb einer Erbſchaft. Dieſer iſt ſtets
mit der Übernahme von Obligationen verbunden. Daher
kann der Unmündige nie allein dieſe Handlung vornehmen,
wohl aber (vom achten Lebensjahr an) ſtets mit dem Tu-
tor, ſelbſt wenn er ſo jung und unentwickelt iſt, daß er
die Wichtigkeit dieſer Handlung nicht begreift (r). Dieſes
Alles liegt in der reinen Anwendung unſres Grundſatzes.
(r) § 1 J. de auctor. (1. 21.),
L. 9 L. 8 pr. de adqu. her. (29.
2.), L. 9 § 3. 4 de auctor. (26.
8.), L. 1 C. ad Sc. Tert. (6. 56.):
„Licet liberi .. ita demum per
se heredes existant, si fari pos-
sint” rel. Hier heißt das per se
nicht etwa: für ſich allein — denn
ſo können es auch die älteren Un-
mündigen nicht; ſondern: durch
ihre Mitwirkung. Wahrſcheinlich
ſind die Worte eingeſchoben, um
die Stellen mit den ſogleich zu
erwähnenden ſpäteren Erleichte-
rungen in Einklang zu bringen.
|0059 : 47|
§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)
Allein damit war hier das praktiſche Bedürfniß noch
lange nicht befriedigt. Der Erwerb der Erbſchaft unter-
ſcheidet ſich von jedem andern Erwerb dadurch, daß er
ein höchſt perſoͤnliches Geſchäft iſt. Darum konnte zu kei-
ner Zeit ein Sklave die dem Herrn deferirte Erbſchaft für
dieſen erwerben, anſtatt daß er ihm durch Mancipation
oder Stipulation allerdings erwerben konnte. Eben ſo
konnte dieſer Erwerb niemals durch freye Mittelsperſonen
bewirkt werden, ſelbſt nachdem dieſe zu vielen anderen
Erwerbungen zugelaſſen worden waren. War alſo der
berufene Erbe noch in der Kindheit, ſo konnte für ihn
weder der Tutor durch eigenes Handeln, noch auch ein
Sklave, aushelfen, und dieſe wichtigſte unter allen Er-
werbungen hätte alſo überhaupt bey Kindern unterbleiben
müſſen, lediglich zu Ehren der ſtrengen Rechtsform. —
Dieſelbe Schwierigkeit trat ein bey denjenigen Infantes,
die noch in väterlicher Gewalt ſtanden, nur kam bey die-
ſen im älteren Recht der Anfall einer Erbſchaft ſeltner
vor; er wurde erſt häufig und wichtig ſeit dem Sc. Or-
phitianum und den neueren Kaiſergeſetzen (s). Wie war
nun in dieſen Fällen zu helfen?
Paulus ſchlägt eine Auskunft vor, die von folgender
(s) Nach Agnationsrecht näm-
lich konnte dem filiusfamilias
keine Erbſchaft zufallen, weil der
Vater dem Verſtorbenen ſtets um
einen Grad näher ſtand. Durch
Teſtament war es zwar möglich,
aber die Erbeinſetzung eines Kin-
des von Seiten eines Fremden
iſt wohl überhaupt nicht häufig;
vollends wenn dieſes Kind in vä-
terlicher Gewalt ſtand, war es
einfacher ſogleich den Vater ein-
zuſetzen.
|0060 : 48|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Betrachtung ausgeht. Die Erbſchaft könne überhaupt er-
worben werden durch ausgeſprochene Worte (cernendo
oder nuda voluntate) oder durch Handlungen (gerendo) (t).
Die erſte Art ſey freylich nicht möglich bey dem qui fari
non potest, wohl aber die zweyte, der Tutor könne alſo
das Kind Handlungen eines Erben vornehmen laſſen und
dazu die Genehmigung ertheilen (u). Hier geſtattet er alſo
die auctoritas während der Infantia, worin ſie ſonſt durch-
aus nicht zugelaſſen wird; offenbar nur aus Noth, und
indem er ſich zu dieſem Zweck hinter den Wortſinn von
Infans verſteckt, ſich alſo darüber hinwegſetzt, daß in allen
anderen Beziehungen nicht blos wegen der Sprachunfähig-
keit die Möglichkeit der auctoritas bey dem Infans ver-
neint wird, ſondern zugleich wegen des damit verbunde-
nen gänzlichen Mangels an intellectus (v).
(t) Gajus II. § 167.
(u) L. 65 § 3 ad Sc. Treb.
(36. 1.) „sive enim heres insti-
tutus esset, non dubie pro he-
rede, tutore auctore, gerere
posse videtur.” Er macht da-
von Anwendung auf den Empfang
eines Erbſchaftsfideicommiſſes, wo-
bey er nur unter der Voraus-
ſetzung einige Schwierigkeit fin-
det, daß der eingeſetzte Erbe zum
Antritt gezwungen werden muß;
eben dieſe Schwierigkeit beſeitigt
er in den angeführten Worten
durch die Analogie der heredi-
tas. — Bey der bonorum pos-
sessio, die als ein prätoriſches
Inſtitut viel freyer behandelt wur-
de, half man ſich einfacher. Der
Vater ſollte für das Kind, der
Tutor für den Mündel, ſelbſt
die B. P. erbitten dürfen, alſo
ganz ohne perſönliches Mitwir-
ken des berufenen bonorum pos-
sessor. L. 7. § 1 L. 8 L. 11 de
B. P. (37. 1.), L. 3 C. qui ad-
mitti (6. 9.). — Über die Be-
handlung der Erbſchaftsfideicom-
miſſe, die ein Unmündiger em-
pfangen oder reſtituiren ſoll, vgl.
außer der angeführten L. 65 § 3
ad Sc. Treb. auch L. 37 § 1 eod.
und L. 7 pr. C. eod. (6 49.).
(v) Vgl. oben § 107. f. Wäre
die Anſicht des Paulus durchgrei-
fend, und nicht blos ein Nothbe-
|0061 : 49|
§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)
Späterhin beſeitigte man die Schwierigkeit auf eine
durchgreifendere, weniger ſubtile Weiſe, durch Kaiſerge-
ſetze. Während der Kinderjahre des berufenen Erben ſollte
ihm ganz ohne eigenes Zuthun die hereditas erworben
werden können durch ſeinen Tutor, oder (wenn er noch
in väterlicher Gewalt ſtand) durch den Vater (w). Da-
durch war nun die Abweichung von den ſtrengen alten
Rechtsregeln auf eine andere Seite gelegt. Anſtatt daß
Paulus die auctoritas während der Kinderjahre zulaſſen
wollte, ließ man jetzt die Regel fallen, daß der berufene
Erbe nur in eigener Perſon die hereditas erwerben könne;
dadurch war aber auch jene frühere Auskunft ganz über-
flüſſig geworden, und ſie ſteht in den Digeſten nur noch
als eine Antiquität da.
VIII. Erwerb des Beſitzes.
Nach der Analogie der bisher abgehandelten Rechts-
inſtitute möchte man hier Folgendes erwarten. Erwerben
müßte der Unmündige den Beſitz auch für ſich allein, weil
darin reiner Gewinn liegt; aufgeben koͤnnte er ihn nur
mit dem Tutor, denn obgleich der Beſitz an ſich ſelbſt
kein Recht iſt, ſo ſind doch bedeutende rechtliche Vortheile
helf geweſen, ſo hätte man auch
die auctoritas neben dem Con-
ſenſualcontract eines Infans be-
haupten müſſen. Dieſes iſt jedoch
niemals verſucht worden, offen-
bar weil kein praktiſches Bedürf-
niß dazu trieb.
(w) L. 8 C. Th. de bonis mat.
(8. 18.), L. 18 pr. § 2. 4 C. de
j. delib. (6. 30.). — Praktiſch wich-
tig war dieſe Neuerung eben nicht,
da in allen Fällen einer ſolchen
hereditas auch ſchon durch Agni-
tion der bonorum possessio
(Note u) der Zweck des Vermögens-
erwerbs erreicht werden konnte.
III. 4
|0062 : 50|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
daran geknüpft worden. Dieſer letzte Theil der aufge-
ſtellten Sätze iſt denn auch im R. R. unbedenklich aner-
kannt (x).
Nicht ſo der erſte Theil der aufgeſtellten Regel. Hierin
zeigte ſich der Erwerb des Beſitzes ſchwieriger, als der
Erwerb der ſtrengen Rechtsverhältniſſe des alten Rechts.
Zwar der Erwerb mit Genehmigung des Tutors wird auch
für den Beſitz unbedenklich zugelaſſen (y). Dagegen ſoll
der allein handelnde Pupill ſchlechthin nur dann zu dieſem
Erwerb fähig ſeyn, wenn er perſönlich bereits Einſicht in
die Natur dieſes Geſchäfts (rei intellectum) haben kann;
fehlt es ihm hieran, ſo erwirbt er nicht, und die fuͤr den
Erwerb eigentlicher Rechte eingeführte benigna interpre-
tatio (§ 107. a) kommt ihm hier nicht zu gut (z). Der
(x) L. 11 de adqu. rer. dom.
(41. 1.). „Pupillus, quantum
ad adquirendum, non indiget
tutoris auctoritate: alienare
vero nullam rem potest, nisi
praesente tutore auctore, et ne
quidem possessionem quae est
naturalis” rel. Verlieren frey-
lich kann der Unmündige den Be-
ſitz auch allein, nämlich corpore.
L. 29 de adqu. poss. (41. 2.).
Das iſt aber nicht veräußern,
das heißt verlieren durch ſeinen
Willen, ſo daß die Handlung,
neben dem Verluſt des Beſitzes,
auch zugleich die Natur einer Suc-
ceſſion hat. Vergl. Savigny
Recht des Beſitzes, 6te Auflage,
S. 418. 419.
(y) L. 1 § 3. 11 de adqu. poss.
(41. 2.), L. 4 § 2 de usurp. (41. 3.).
(z) L. 1 § 3 de adqu. poss.
(41. 2.). „… Ofilius quidem et
Nerva filius, etiam sine tutoris
auctoritate possidere incipere
posse pupillum ajunt: eam enim
rem facti, non juris esse: quae
sententia recipi potest, si ejus
aetatis sint, ut intellectum ca-
piant.” Daß hier der rei intel-
lectus, alſo der Geſchäftsbegriff,
gemeynt iſt, ergiebt ſich theils aus
der Vergleichung mit dem be-
ſtimmteren Ausdruck einiger oben
(§ 107. g) angeführten Stellen,
theils aus L. 26 C. de don. (8.
54.). „aut habeat rei, quae sibi
donatur, adfectum.” Eben dar-
auf geht L. 4 § 2 de usurp. (41.
3.). „Pupillus .. si non tutore
|0063 : 51|
§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)
Grund liegt darin, daß der Beſitz ſeinem Weſen nach ein
faktiſches Verhältniß iſt, deſſen Grundbedingung, der ani-
mus possidendi, außerdem gänzlich fehlen würde. Bey
der auctoritas, die allerdings auch nur ein künſtliches Ver-
hältniß iſt, ließ man ſich durch dieſe Bedenklichkeit nicht
ſtören, weil in derſelben der Tutor mit dem Pupillen als
zu Einem Individuum verſchmolzen gedacht wird, ſo daß
in dieſer Vereinigung das Bewußtſeyn des Tutors zugleich
als Bewußtſeyn des Pupillen zu betrachten iſt. — Iſt nun
in dieſer Hinſicht der Erwerb des Beſitzes, verglichen mit
eigentlichen Rechten, dem Unmündigen erſchwert, ſo wird
er ihm auf der anderen Seite künſtlich erleichtert. Anſtatt
daß nämlich außerdem während der Kinderjahre keine aucto-
ritas zugelaſſen wird, ſo iſt dieſelbe hier, abweichend von
der Regel, und blos wegen der Bedürfniſſe des Verkehrs
(utilitatis causa), beſonders geſtattet (aa). Der Grund
auctore possideat, et animum
possidendi habeat, dicemus pos-
se eam usucapere;” das heißt,
wenn er, ſeiner Entwicklung nach,
ſchon fähig iſt, für dieſe Sache
einen wahren animus possidendi
zu faſſen. — Das Daſeyn dieſes
intellectus iſt nun hier, wie an-
derwärts (§ 107. g), nach der Be-
ſchaffenheit der Gegenſtände zu be-
urtheilen, ſo daß alſo derſelbe Un-
mündige vielleicht den Beſitz ei-
nes Geldſtücks oder eines Klei-
des wird erwerben können, dem
dieſe Fähigkeit bey einem Land-
gut abzuſprechen iſt. — Aus den
oben angeführten ſehr beſtimm-
ten Stellen ſind übrigens einige
unbeſtimmtere zu erklären. L. 1
§ 11 de adqu. poss. (41. 2.).
;, … pupillus, maxime tutore
auctore, adquirit possessionem”
(maxime, d. h. dann unbedingt,
ohne Tutor nicht immer). L. 32
§ 2 eod. „Pupillus tamen etiam
sine tutoris auctoritate posses-
sionem nancisci potest” (näm-
lich wenn er hinreichend entwik-
kelt iſt). Eben ſo auch L. 9 pr.
de auctor. (26. 8).
(aa) L. 32 § 2 de adqu. poss.
(41. 2.). „Infans possidere recte
4*
|0064 : 52|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
dieſer eigenthümlichen Abweichung iſt ſo zu erklären. Nach
dem älteren Recht konnte überhaupt Niemand durch freye
Mittelsperſonen Rechte erwerben, alſo auch nicht der Pu-
pill durch die Handlungen ſeines Tutors: bey dem Beſitz
insbeſondere, welcher freylich nicht wie ein Recht, ſondern
wie eine Thatſache entſteht, gehört zu dieſer Thatſache
weſentlich der Wille des Beſitzerwerbers, der aber nicht
vorhanden iſt, wenn blos der Tutor will. Daher konnte
denn im älteren Recht der Tutor ſeinem Pupillen eben ſo
wenig den Beſitz, als Eigenthum oder Obligationen, er-
werben. Allein bey dieſen eigentlichen Rechten half das
Sklavenverhältniß aus, indem jeder Sklave des Pupillen
durch Mancipation oder Stipulation ſeinen Herrn zum
Eigenthümer oder Glaubiger machte. Dieſe rein juriſti-
ſche Aushülfe fehlte bey dem Beſitz, der nur durch die
Thatſache des Willens, neben der körperlichen Herrſchaft
potest, si tutore auctore coe-
pit, nam judicium infantis sup-
pletur auctoritate tutoris: uti-
litatis enim causa hoc recep-
tum est” rel. — Vgl. über dieſe
Stelle Savigny Recht des Be-
ſitzes 6te Aufl. S. 285. — Es würde
ganz unrichtig ſeyn, wenn man
ſich dieſe utilitas ſo vorſtellen
wollte, als hätten dadurch die ei-
genen Speculationen der Kinder
begünſtigt werden ſollen; es kam
darauf an, den Erwerbungen
rechtliche Vollendung zu geben,
die ſich auf Rechtsgeſchäfte des
Tutors, oder auch des Erblaſſers
des Pupillen gründeten. Wie wich-
tig die Sache war, ergiebt ſich aus
der Betrachtung folgendes einfa-
chen und häufigen Falles. Wenn
ein Mann ſtarb und einen Sohn
unter Sieben Jahren als suus
heres hinterließ, ſo erwarb die-
ſer fogleich ipso jure das ganze
Vermögen, aber den Beſitz deſ-
ſelben, alſo auch den Interdicten-
ſchutz, konnte er nicht anders als
mit Hülfe jener anomaliſchen tu-
toris auctoritas erwerben. (Vgl.
Savigny Recht des Beſitzes
§ 28).
|0065 : 53|
§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)
(corpore et animo), zu Stande kommen ſollte: daher konn-
ten Sklaven dem Pupillen zwar jedes Eigenthum durch
Mancipation aus eignem Entſchluß erwerben, den Beſitz
aber nicht anders als wenn ihnen der Pupill, tutore
auctore, dazu Befehl gegeben hatte (bb). Da nun in der
Regel einem Kinde keine auctoritas gegeben werden konnte,
ſo hätte für ein Kind auf keine Weiſe jemals Beſitz ent-
ſtehen können. Dieſem ſehr fühlbaren Nachtheil abzuhel-
fen, war das dringende Bedürfniß, oder die utilitas, um
derenwillen die Römer bey dem Beſitz ausnahmsweiſe die
auctoritas zur Ergänzung der Handlung eines Kindes zu-
ließen. Eine formelle Schwierigkeit fand ſich dabey nicht,
weil der Beſitzerwerb, eben ſo wie die pro herede gestio,
keiner mündlichen Rede bedarf, wozu gerade das fari
posse nöthig geweſen wäre (Note u. v).
Späterhin half man einfacher und durchgreifender da-
durch, daß man dem Tutor geſtattete, durch ſeine eigene
Handlung dem Pupillen Beſitz zu erwerben (cc), ſo daß
(bb) Eigenthum erwarb durch
einen Sklaven Jeder, er mochte
es wiſſen und wollen, oder nicht.
Den Beſitz dagegen erwarb man
durch den Sklaven nur entweder
vermittelſt des eigenen animus
possidendi, oder (was nicht hier-
her gehört) peculiariter, d. h.
wenn dieſer Erwerb nur zur Er-
weiterung eines ſchon ertheilten
peculii gehört. L. 1 § 5 de adqu.
poss. (41. 2.). Ganz conſequent
konnte daher ein Unmündiger durch
den Sklaven Beſitz erwerben nur
1) in Folge eines Befehls, den
er ſelbſt, tutore auctore, gege-
ben hatte (L. 1 § 11 eod.), 2) oder
peculiariter, welches letzte auch
bey der Infantia des Unmündigen
von ſelbſt anwendbar war (L. 32
§ 2 in f eod.).
(cc) L. 1 § 20 de adqu. poss.
(41. 2.), L. 13 § 1 de adqu. rer.
dom. (41. 1.), L. 11 § 6 de pign.
act. (13. 7.). Vgl. Savigny
Recht des Beſitzes 6te Aufl. S. 367.
|0066 : 54|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
man für dieſen Fall über den manglenden animus possi-
dendi des Beſitzers ganz hinwegſah. Dadurch verlor nun
freylich der anomaliſche Erwerb des Kindes, auctore tu-
tore, alle Wichtigkeit, und behielt eigentlich nur noch ein
Intereſſe für die Entwicklungsgeſchichte des ganzen Rechts-
inſtituts. Außerdem hätte er für das Juſtinianiſche Recht
ſogar noch eine weit groͤßere Wichtigkeit, als für das frü-
here, haben müſſen, da in jenem die Tradition (die ſich
immer auf Beſitzerwerb gründet) die einzige Form für die
Veräußerung des Eigenthums geworden iſt.
Im Anfang dieſes §. wurde die Regel aufgeſtellt, daß
der Unmündige ſolche Handlungen, woraus möglicherweiſe
Schaden entſtehen kann, für ſich allein vorzunehmen nicht
fähig iſt. Solche von ihm ausgehende Handlungen (wie
Verſchuldung, Veräußerung, Aufgeben einer Forderung)
ſind alſo ungültig. Allein dieſe Ungültigkeit muß nun noch
durch eine gemeinſame Ausnahme beſchränkt werden. Die
erwähnte Ungültigkeit hat nämlich nur den Zweck, Nach-
theil von dem Unmündigen abzuwehren, nicht ihn zu be-
reichern. Iſt er alſo in Folge jener Handlung zugleich
bleibend bereichert worden, ſo muß dieſe Bereicherung her-
ausgegeben oder angerechnet werden. So geſchicht es bey
Rechtsgeſchäften. Wenn z. B. ein Unmündiger Zahlung
von ſeinem Schuldner annimmt, ſo wird dadurch allein
der Schuldner nicht frey (Num. III.). Soweit aber das
Geld ſich noch vorfindet, iſt es allerdings als Tilgung
|0067 : 55|
§. 109. Altersſtufen. Impuberes.
der Schuld anzurechnen (dd). Eben ſo aber auch bey De-
licten. Wenn alſo der Unmündige eine delictartige Hand-
lung in einem Alter begeht, worin er des Dolus noch
nicht fähig iſt, ſo muß dennoch Dasjenige herausgezahlt
werden, was ſich in Folge jener Handlung in ſeinem Ver-
mögen befindet (ee).
§. 109.
II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. A. Altersſtu-
fen. Impuberes und Puberes (a).
An die Pubertät oder Geſchlechtsreife iſt nach dem älte-
ſten Recht der Genuß vollſtändiger Handlungsfähigkeit ge-
knüpft (§ 106). Dieſe Fähigkeit äußert ſich in drey wich-
tigen Beziehungen. Erſtlich hat der Mündige die eigene
Herrſchaft über ſein Vermoͤgen in der Gegenwart, womit
alſo nothwendig verbunden iſt das Ende der bisher beſte-
henden Tutel. Zweytens hat er dieſe Herrſchaft ſelbſt für
die Zeit nach ſeinem Tode, indem er nunmehr ein Teſta-
ment machen kann. Drittens hat derſelbe die Fähigkeit
zur Ehe. Dieſe drey wichtigen Wirkungen ſind im Juſti-
nianiſchen Recht unſtreitig an die Pubertät mit der nähe-
ren Beſtimmung geknüpft, daß das zurückgelegte vierze-
(dd) L. 5 pr. de auctor. (26.
8.), L. 4 § 4 de doli exc. (44
4.), L. 15 L. 47 pr. § 1 L. 66
de solut. (46. 3.).
(ee) L. 1 § 15 depositi (16. 3.),
L. 13 § 1 de dolo (4. 3.), L. 4
§ 26 de doli exc. (44. 4.).
(a) Vgl. A. G. Cramer progr.
de pubertatis termino Kiliae
1804. Rudorff Recht der Vor-
mundſchaft B. 3 § 202.
|0068 : 56|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
hente oder zwoͤlfte Jahr als Pubertät allgemein gelten ſoll,
ohne Beachtung individueller Zuſtände und Verſchieden-
heiten. Früher war dieſe einfache Beſtimmung von Vie-
len beſtritten, und zwar namentlich für die Vierzehen
Jahre des männlichen Geſchlechts. Es fragt ſich aber,
und iſt jetzt zu unterſuchen, ob dieſer Streit alle angege-
bene Wirkungen der Pubertät, oder etwa nur eine derſel-
ben, zum Gegenſtand hatte; ferner, ob er ſich auch auf
die Zwölf Jahre des weiblichen Geſchlechts erſtreckte. Was
nun dieſe letzte Frage betrifft, ſo kann gleich hier bemerkt
werden, daß wir durch kein altes Zeugniß zu der An-
nahme veranlaßt ſind, als wären hier die Zwölf Jahre,
als Gränze der Mündigkeit, jemals auch nur bezwei-
felt worden.
I. Ich betrachte nunmehr genauer die erſte und wich-
tigſte unter jenen drey Wirkungen, die eigene Herrſchaft
über das Vermögen, welche gleichbedeutend iſt mit der
Beendigung der Tutel; man kann dieſelbe auch als die
allgemeine Handlungsfähigkeit bezeichnen, im Gegenſatz der
beiden anderen, deren jede nur ein einzelnes Rechtsge-
ſchäft zum Gegenſtand hat.
Juſtinian ſagt uns, in Beziehung auf das männliche
Geſchlecht, die Alten hätten außer den Jahren auch die
Geſchlechtsreife der Einzelnen geprüft; dieſe Unterſuchung
unterſage er, als dem keuſchen Sinn ſeiner Zeit widerſtre-
bend, weshalb ohne Unterſchied der Individuen das Ende
des vierzehenten Lebensjahres als Zeitpunkt der Pubertät
|0069 : 57|
§. 109. Altersſtufen. Impuberes.
gelten ſolle (b). Genauere Nachricht über die früheren
Meynungen finden wir bey Gajus und Ulpian. Die Sa-
binianer forderten die individuelle Reife, die alſo unter-
ſucht werden müſſe, die Proculejaner nahmen 14 Jahre
an, (Javolenus) Priſcus meynte, es müſſe beides verei-
nigt ſeyn, das Alter von 14 Jahren und die individuell
feſtzuſtellende Reife (c). Eigentlich iſt wohl dieſe dritte
Meynung blos als die Ergänzung der Sabinianiſchen an-
zuſehen, indem Priſcus wohl nur ausſprach, was auch
Jene gedacht hatten, daß die körperliche Unterſuchung nur
nach Ablauf der 14 Jahre eintreten ſolle, daß ſie alſo die
Zeit der Impubertät nie verkürzen, wohl aber oft ver-
längern ſolle. — Wie ſtand es nun aber vor der Entſte-
hung jener Controverſe? Und wie wurde es neben der-
ſelben in der Praxis gehalten?
In der älteren Zeit iſt von einer Begränzung des Kna-
benalters die Rede, hergeleitet aus einer alten religiöſen
Lehre der Römer; die Natur hatte das Lebensziel des
Menſchen auf 120 Jahre beſtimmt, dieſes wurde durch
das Fatum auf 90 Jahre verkürzt, welche drey gleiche
Hauptabſchnitte des Lebens, jeden zu 30 Jahren, geben;
(b) pr. J. quib. mod. tut. (1.
22.), L. 3 C. quando tutores
(5. 60.). Die Inſtitutionenſtelle
iſt ausführlicher als die des Codex.
(c) Gajus I. § 196, Ulpian. XI.
§ 28. Die Stelle des Gajus iſt
lückenhafter als die des Ulpian,
worin die Angabe für das männ-
liche Geſchlecht vollſtändig ſteht;
eine Verſchiedenheit in den An-
gaben beider Schriftſteller erhellt
nicht. — Schilling Inſtitutio-
nen B. 2 § 35 Note m verwirft
die handſchriftliche Leſeart Pris-
cus, und emendirt: plerisque
visum est.
|0070 : 58|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
genau die erſte Hälfte des erſten Abſchnitts (alſo 15 Jahre)
bildet die Knabenzeit (d). — Daneben ſteht eine andere
rein praktiſche, die auf die Militärverfaſſung des Königs
Servius zurückgeführt wird; das Knabenalter dauert hier
17 Jahre, dann fängt die Kriegspflicht an (e). Inwie-
fern die zweyte Angabe durch Vorausſetzung ungenauer
Ausdrücke und hiſtoriſcher Irrthümer auf die erſte zurück-
geführt werden kann, mag hier dahin geſtellt bleiben (f).
Neuerlich iſt aber die Vermuthung aufgeſtellt worden, dieſe
politiſch-militäriſche Gränze des Knabenalters (mag es
nun 15, 16 oder 17 Jahre umfaſſen) ſey damals zugleich
im Privatrecht der Anfangspunkt der Handlungsfähigkeit
geweſen. Dieſe Annahme iſt nicht nur möglich, ſondern
(d) Censorinus de die natali
C. 14 (aus Varro). Servius ad
Virgil. Aen. IV. 653.
(e) Gellius X 28. „C. Tubero
in historiarum primo scripsit,
Servium Tullium … pueros
esse existimasse, qui minores
essent annis XVII., atque inde
ab anno XVII. .. milites scrip-
sisse” — Livius XXII. 57 (a. 538)
„juniores ab annis XVII. et quos-
dam praetextatos scribunt.” Die
natürliche Erklärung ſcheint mir
dieſe: Die Aushebung betraf (nach
der Schlacht bey Cannä) alle ju-
niores, d. h. die älter als 17 Jahre
waren (und dieſes war in der Re-
gel der Kriegsverfaſſung), dieſes-
mal aber auch manche, die noch
nicht dieſes Alter hatten, folglich
noch zu den praetextati gehörten.
(f) Niebuhr R. Geſch. B. 1
S. 492 ed. 3 erklärt die Angabe
des Tubero (Note e) von denje-
nigen, die noch nicht das 17te
Jahr angetreten hätten (was
wohl nicht den Worten gemäß iſt),
und fügt hinzu, Tubero habe doch
noch um ein Jahr geirrt, indem
das Knabenalter (nach Varro) mit
dem Anfang des 16ten Jahres auf-
gehört habe. Allein es ſcheint mir
durchaus keine innere Nothwen-
digkeit vorhanden, die alte, von
Varro und Servius erwähnte,
Lehre mit der praktiſchen Ein-
richtung des Kriegsdienſtes zu
identificiren. Die Stelle des Li-
vius iſt allerdings noch mehr, als
die des Tubero, verſchiedener Er-
klärungen empfänglich.
|0071 : 59|
§. 109. Altersſtufen. Impuberes.
auch natürlich, und darum nicht unwahrſcheinlich; aber
ein Zeugniß dafür haben wir nicht, und beſonders darf
nicht überſehen werden, daß dadurch in die ältere Zeit des
Privatrechts ein ganz neues Princip willkührlich hinein
getragen wird. Denn die Geſchlechtsreife und die körper-
liche Fähigkeit zum Kriegsdienſt ſind nicht nur den Be-
griffen nach verſchieden, ſondern ſie können auch praktiſch
aus einander liegen, indem mit früher Entwicklung der
Geſchlechtsreife ein ſchwächlicher Körperbau wohl verein-
bar iſt. Alle unſre Nachrichten aber knüpfen die privat-
rechtliche Fähigkeit unbedingt an die Pubertät; die Zwei-
fel und Streitigkeiten betreffen blos die Feſtſtellung der
Zeit der Pubertät, durchaus nicht die Berückſichtigung
irgend eines von der Pubertät ſelbſt verſchiedenen Princips.
Wir fragen alſo nun: wie wurde der Zeitpunkt der
Pubertät beſtimmt, ehe dieſe Beſtimmung in den beiden
Juriſtenſchulen ein Gegenſtand des Schulſtreites geworden
war? Und wir laſſen daneben ganz auf ſich beruhen die
weitere Frage, ob vielleicht in irgend einer Zeit, wovon
ſich gar keine Nachricht erhalten hat, die privatrechtliche
Fähigkeit durch ganz andere Gründe als die Pubertät be-
ſtimmt worden ſey.
Bey der älteſten Beſtimmung der Pubertät iſt es noth-
wendig, eine uralte Roͤmiſche Sitte zu erwähnen, die da-
mit unverkennbar in irgend einem Zuſammenhang ſtand.
Jeder Knabe nämlich unterſchied ſich von dem Jüngling
und Mann auf eine ſichtbare Weiſe durch die Kleidung,
|0072 : 60|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
indem er ein Kleid mit einem Purpurſaum (praetexta) trug,
anſtatt daß die toga virilis ohne einen ſolchen farbigen
Saum war. Die Anlegung dieſer männlichen Tracht aber
geſchah öffentlich, als eine feyerliche Handlung, und darin
lag augenſcheinlich die öffentliche Erklärung des Ein-
tritts in das Jünglingsalter. Das Alter nun, in wel-
chem dieſe Handlung vorgenommen wurde, war keines-
weges gleichförmig. Zunächſt ſchon deshalb nicht, weil
ſie in der Regel für alle Jünglinge auf einen und den-
ſelben Tag, den 17ten März, oder das Feſt der Libe-
ralien, geſetzt war (g), wodurch alſo, ſelbſt wenn man
ein beſtimmtes Lebensjahr zum Grund gelegt hätte, den-
noch unter den Einzelnen ein Unterſchied von beynahe
einem Jahr entſtehen konnte. Als eine ſolche Grundlage
galt nun wohl das Alter von Vierzehen Jahren, ſo daß
regelmäßig die männliche Toga an den nächſtfolgenden Li-
beralien, folglich im Laufe des funfzehenten Lebensjahres,
angelegt wurde (h). Jedoch band man ſich keinesweges
(g) Ovid. fasti III. v. 771—788.
— Daß man in einzelnen Fällen
auch wohl einen anderen Tag
wählte, ſteht damit nicht im Wi-
derſpruch. Wegen ſolcher ausge-
nommenen Fälle will Noris ce-
notaphia Pisana Diss. 2 C. 4
p. 113 die ganze Regel verwer-
fen, und die Stelle des Ovid ſo
erklären, daß an den Liberalien
jeder Knabe vorübergehend eine
weiße Toga getragen hätte. Dem
widerſpricht beſonders v. 777. 778:
„Sive, quod es Liber, vestis
quoque libera per te Sumitur,
et vitae liberioris iter.”
(h) Schol. in Juvenalem X.
99 p. 605 ed. Cramer: „Prae-
texta genus erat togae, qua
utebantur pueri, adhuc sub dis-
ciplina, usque ad XV. annum:
deinde togam virilem accipie-
bant.” Usque ad XV. annum
heißt, wenn es nicht ungenau ge-
braucht ſeyn ſoll: bis zum An-
fang des 15ten Jahres. Beſon-
|0073 : 61|
§. 109. Altersſtufen. Impuberes.
ſtreng an dieſe Regel, vielmehr ſcheint es, daß man oft
im einzelnen Fall die Zeit mit ziemlich freyer Willkühr
auswählte, hauptſächlich wohl mit Rückſicht auf die gei-
ſtige und leibliche Entwicklung der Individuen, jedoch ſo
daß auch manche äußere Convenienz Einfluß haben mochte.
Dieſes wird durch folgende ſichere Fälle beſtätigt. Auguſt
nahm die Toga im ſechzehenten Jahr (i); Caligula weit
ſpäter, nämlich (nach Verſchiedenheit der Leſearten) im
19ten, 20ſten oder 21ſten (k); Nero umgekehrt ſchon im
vierzehenten (k¹); Marc Aurel im funfzehenten, alſo auf
die regelmäßige Weiſe (l).
So lange nun kein Rechtsſtreit in irgend einem ein-
ders aber ſcheint mir für dieſen
Zeitpunkt entſcheidend die Mey-
nung der Proculejaner, deren
Entſtehung ja nicht anders un-
gezwungen erklärt werden kann,
als aus der ohnehin ſchon als
Regel geltenden Volksſitte. —
Noris l. c. p. 113—116 nimmt
die Zeit nach dem vollendeten 15ten
Jahr (alſo ein Jahr ſpäter) als
Regel an; allein theils muß er
doch wieder Ausnahmen daneben
zugeben, theils ſind mehrere von
ihm angeführte Fälle ſchwankend;
ſo p. 114 Cicero der Sohn ge-
boren 690, Toga 705: Virgil ge-
boren 684, Toga 699. Beide
Fälle können auf das 15te oder
das 16te Jahr bezogen werden,
da wir die Tage nicht kennen.
(i) Sueton. Augustus C. 8
„duodecimum annum agens avi-
am Juliam defunctam pro con-
cione laudavit. Quadriennio
post virili toga sumta” rel.
Vgl. Noris l. c. p. 115.
(k) Sueton. Caligula C. 10
„et inde vicesimo aetatis anno
… togam sumsit.” Andere Hand-
ſchriften leſen undevicesimo. Ou-
dendorp aber emendirt unetvice-
simo, weil er durch Berechnung
darthut, daß in der That damals
Caligula im 21ſten Lebensjahr
ſtand. Er war nämlich geboren
765, und die Erzählung des Sue-
ton fällt in 786. Vergl. Noris
l. c. p. 116.
(k¹) Er war geboren am 16.
December 790, und nahm die
Toga ſchon im Lauf des Jahres
804. Noris l. c. p. 115.
(l) Capitolini Marcus C. 4:
„Virilem togam sumsit XV. ae-
tatis anno.”
|0074 : 62|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
zelnen Fall entſtand, galt wohl in ganz Rom Jeder unbe-
denklich als impubes oder pubes, jenachdem er die Prä-
texta oder die männliche Toga trug. Und ſo werden bey
Juriſten und Nichtjuriſten die Ausdrücke praetextatus (oder
investis) und impubes, ſo wie vesticeps und pubes, als
ganz gleichbedeutend genommen (m). Die Folgen davon
waren dieſe. Der in väterlicher Gewalt ſtehende Sohn
war unfähig Schulden zu contrahiren, ſo lange er die
Prätexta trug, mit der männlichen Toga wurde er dazu
fähig (n). Weit wichtiger aber war die Folge bey dem
Unabhängigen. So lange dieſer die Prätexta trug, ſtand
er unter dem Tutor, wenn er die männliche Toga anlegte,
war die Tutel zu Ende (o). Dieſes konnte alſo bey ein-
(m) L. 3 § 6 de lib. exhib.
(43. 30). „In hoc interdicto,
donec res judicetur, feminam,
praetextatum, eumque qui pro-
xime praetextati aetatem ac-
cedet, interim apud matrem-
familias deponi Praetor jubet.
Proxime aetatem praetextati
accedere eum dicimus, qui pu-
berem aetatem nunc ingressus
est.“ Unbegreiflich haben dieſe
Stelle Manche mißverſtanden,
indem ſie meynten, accedere
müſſe heißen: ſich von unten an-
nähern, alſo im Begriffe ſtehen
hinein zu treten. Es bezeichnet
aber nur das Naheſtehen, und
zwar hier nachdem jene aetas
bereits überſchritten iſt, genau
ſo wie bei dem infantiae proxi-
mus. Der Prätor ſpricht alſo
1) von Unmündigen, 2) von de-
nen, die eben erſt puberes ge-
worden ſind, Jenen alſo noch ſehr
nahe ſtehen. — Festus: Vesti-
ceps puer, qui jam vestitus est
pubertate: econtra investis, qui
necdum pubertate vestitus est.“
— Ferner war es alte Rechts-
regel, (bis auf Hadrian und An-
tonin) daß nur puberes arrogirt
werden dürften. Gajus I. § 102.
Ulpian. VIII. § 5. Dieſe Regel
drückt aber Gellius V. 19 ſo aus:
„Sed arrogari non potest nisi
jam vesticeps.“
(n) S. o. § 108 d. und § 67. f.
(o) Daß das Ablegen der Prä-
texta und das Ende der Tutel
zuſammenfielen, folgt ſchon dar-
aus, daß Jenes und Dieſes iden-
tiſch war mit der eintretenden
|0075 : 63|
§. 109. Altersſtufen. Impuberes.
zelnen Pupillen bald früher bald ſpäter geſchehen, und ſo
lange der Tutor mit dem Pupillen darüber einverſtanden
war, hatte kein Dritter ein Intereſſe zu widerſprechen.
Vielmehr war es eine für die Rechtsſicherheit ſehr wohl-
thätige Einrichtung, daß man es jedem jungen Mann ſo-
gleich an der Kleidertracht anſehen konnte, ob er zu eige-
nen Geſchäften fähig ſey oder nicht; und wo in einzelnen
Fällen ein Irrthum über dieſen Punkt erwähnt wird (p),
da iſt wohl vorauszuſetzen, daß ein Pupill durch betrüg-
liche Anlegung einer männlichen Toga den Andern ge-
täuſcht hatte. — Nur wenn Beide nicht übereinſtimmten,
war eine richterliche Entſcheidung nöthig, und auf dieſen
Fall allein muß der Streit der Schulen bezogen werden.
Hier wollten die Proculejaner nach derjenigen Zahl von
Lebensjahren entſcheiden, die ohnehin von jeher als Grund-
lage der erwähnten Sitte gegolten hatte (Note h); die
Sabinianer wollten die Pubertät durch individuelle Unter-
ſuchung ausmitteln. Jetzt erklärt ſich auch leicht die Ent-
ſtehung dieſer zweyten Meynung. Der Zeitpunkt der Pu-
bertät war von jeher verſchieden geweſen, aber nach freyer
Wahl; im Fall eines Streites, wo dieſe freye Wahl nicht
Pubertät. Es giebt aber dafür
auch unmittelbare Andeutungen.
Dahin gehören die Worte des
Scholiaſten in Note h „adhuc
sub disciplina,” die zwar auch
die väterliche Zucht, aber gewiß
ebenſowohl die Abhängigkeit vom
Tutor bezeichnen. Ferner Festus:
„Bulla aurea insigne erat pue-
rorum praetextatorum … ut
significaretur eam aetatem al-
terius regendam consilio.”
(p) L. 2 § 15 pro emtore
(41. 4.) „si a pupillo emero
sine tutoris auctoritate, quem
puberem esse putem” rel.
|0076 : 64|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
gelten konnte, weil die Betheiligten uneinig waren, woll-
ten die Sabinianer die individuelle Verſchiedenheit, die ja
auch außer dem Fall des Streites galt, beybehalten,
und nur der eigenen freyen Wahl des Zeitpunktes die kör-
perliche Unterſuchung ſubſtituiren. Der Fall eines ſolchen
Streites aber kam wohl nur ſelten vor. Er ſetzt voraus
einen Pupillen, der nach Unabhängigkeit ſtrebt, und einen
Tutor, der die Herrſchaft nicht aufgeben will. Aber die-
ſer Fall war gewiß ſelten, weil die Führung der Pupil-
lartutel, wie wir aus den ſehr ausgebildeten Excuſationen
wiſſen, faſt immer als unerwünſcht galt, indem ſie Mühe
ohne Lohn, und gefährliche Verantwortung mit ſich führte.
Aus dieſer Seltenheit eines ſolchen Rechtsſtreits erklärt es
ſich auch wohl, warum die ganze Frage, die auf den
erſten Blick eine ſolche praktiſche Wichtigkeit für das täg-
liche Leben zu haben ſcheint, dennoch erſt zur Zeit der
zwey Schulen angeregt wurde, und ſich in dieſen Schulen
lange als theoretiſcher Streit erhalten konnte, ohne durch
feſte Praxis oder Geſetzgebung beſeitigt zu werden.
Dieſe letzte Betrachtung hat nun auch Einfluß auf Das,
was wir über den ſpäteren Zuſtand der Sache anzuneh-
men haben. Es mag ſeyn, daß hie und da einmal die
Frage vor Gericht gebracht worden iſt (q), ſelten genug
geſchah Dieſes gewiß, und zu der Annahme, daß jemals
(q) Quinctilian. Inst. or. IV.
2 „cum .. de jure quaeritur
apud centumviros … pubertas
annis an habitu corporis aesti-
metur.”
|0077 : 65|
§. 109. Altersſtufen. Impuberes.
die Beſichtigung der bisherigen Pupillen herrſchende Sitte
geworden wäre, haben wir durchaus keinen Grund. Viel-
mehr ſprechen alle zuverläſſigen Zeugniſſe der nachfolgen-
den Zeit für die ſtete Anerkennung der Vierzehen Jahre
als des unzweifelhaften Zeitpunktes der Pubertät (r). Da-
gegen ſind die wenigen Zeugniſſe, die für eine entgegenge-
ſetzte Praxis etwa angeführt werden könnten, von der un-
zuverläſſigſten Beſchaffenheit (s). Ja es läßt ſich aus fol-
(r) Ulpian. XVI. § 1 „.. aut
XIV. annorum filium vel filiam
XII. amiserint … at intra an-
num tamen et sex menses etiam
.. impubes amissus solidi ca-
piendi jus praestat.” (Hier iſt
offenbar 14 und 12 Jahre der
Gegenſatz von impubes). — L.
11 pr. quod falso (27. 6.). —
L. un. § 1 C. Th. de his qui
ven. (2. 17.) „feminas .. qua-
rum aetas biennio viros prae-
cedit”). — Ferner von Nicht-
juriſten: Seneca consol. ad Mar-
ciam C. 24 „pupillus relictus
sub tutorum cura usque ad
XIV. annum fuit: sub matris
tutela semper.” — Macrobius
in somn. Scip. I. 6. „.. tutela
.. de qua tamen feminae .. ma-
turius biennio legibus liberan-
tur.” Macrobius Saturn. VII.
7 „secundum jura publica duo-
decimus annus in femina et
quartusdecimus in puero defi-
nit pubertatis aetatem.” — Fe-
stus v. pubes. — Isidori orig.
XI. 2.
(s) Servius in Virg. ecl. VIII.
39 „cum annis recte jungit ha-
bitum corporis, nam pubertas
de jure ex utroque colligitur.”
— Servius in Virg. Aen. VII.
53 „secundum jus locutus est,
in quo et ex annorum ratione,
et ex habitu corporis aetas
probatur.” Daß dieſes bloße
Büchergelehrſamkeit iſt, und zwar
wenig verſtandene, erhellt beſon-
ders aus der zweyten Stelle, die
ſich auf das Alter einer Jung-
frau bezieht, da doch bey dem
weiblichen Geſchlecht nie auf die
körperliche Beſchaffenheit, ſondern
ſtets nur auf die Jahre geſehen
wurde. — Isodori orig. XI. 2.
welche Stelle aufgenommen iſt
in C. 3. X. de despons. impub.
(4. 2.): „Quidam autem ex an-
nis pubertatem existimant: id
est eum puberem esse qui XIV.
annos expleverit, quamvis tar-
dissime pubescat. Certissimum
autem (Decr. Certum autem
est eum) puberum esse, qui et
(deest et in Decr.) ex habitu
corporis pubertatem ostendat
et generare jam possit.“ Auch
III. 5
|0078 : 66|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
gendem Grunde annehmen, daß ſchon frühe unter den
Kaiſern die Vierzehen Jahre eine weit allgemeinere Anwen-
dung erhielten, als ſie zur Zeit der Republik gehabt hatten.
Denn in der älteren Zeit kamen in der That die Vierzehen
Jahre rein zur Anwendung nur in den nicht häufigen
Streitfällen, außerdem entſchied der mit ziemlicher Willkühr
behandelte Wechſel der Toga. Unter den Kaiſern aber
fieng man an, den früheren Reiſerock (paenula) auch in
der Stadt zu tragen (t), der dann nach einiger Zeit die
Toga gänzlich verdrängte. Eine Folge dieſer Revolution
in der Kleidertracht war es nun ohne Zweifel, daß auch
die feyerliche Anlegung der männlichen Toga als Natio-
nalſitte ganz wegfiel, da eine ſolche alte Sitte auf das
neue, ohnehin nur allmälig eingeführte Kleid gewiß nicht
übertragen wurde (u). Dann hatte man, auch außer dem
ſeltenen Fall eines Rechtsſtreites, nur noch die Wahl zwi-
ſchen den Vierzehen Jahren und der körperlichen Beſichti-
gung, und es erklärt ſich hieraus, warum die angeführten
Stellen (Note r) ſo unbedingt die Vierzehen Jahre als
wirklichen Zeitpunkt erwähnen, wie es bey Schriftſtellern
aus der Zeit der Republik ſchwerlich geſchehen ſeyn würde.
dieſe Anführung und Billigung
der Sabinianiſchen Meynung
ſieht bloßer Buchgelehrſamkeit
ähnlich, wie das Meiſte in die-
ſem Schriftſteller.
(t) Schon zur Zeit des Taci-
tus wurde die Pänula ſelbſt in
Gerichten getragen. Dial. de
caussis corruptae eloquentiae
C. 39.
(u) Daneben iſt es allerdings
nicht unwahrſcheinlich, daß in ein-
zelnen vornehmen Familien, na-
mentlich bey dem Sohn eines
Kaiſers, die alte Feyerlichkeit den-
noch beobachtet wurde.
|0079 : 67|
§. 109. Altersſtufen. Impuberes.
— Iſt nun dieſe ganze Anſicht der Sache richtig, ſo war
auch zu Juſtinians Zeit in der Praxis ſchon längſt nur
von Vierzehen Jahren die Rede, und an eine Beſichtigung
dachte Niemand mehr. Juſtinians Geſetz ſollte alſo, wie
gewiß auch manches andere, nicht den praktiſchen Zuſtand
des Rechts ändern, ſondern eine in Büchern vorgefundene
alte Streitfrage entſcheiden. Die gewöhnliche Meynung
freylich iſt Dieſes nicht, vielmehr pflegt man anzunehmen,
die Meynung des Priſcus habe bleibend die Oberhand be-
halten, und zur Zeit von Juſtinian ſey ſtets wirklich be-
ſichtigt worden (v). Dieſe Annahme erklärt ſich leicht aus
der ſittlichen Entrüſtung, womit die beiden Juſtinianiſchen
Geſetzſtellen offenbar abgefaßt ſind, und die aus einem
wahrgenommenen ſcandalöſen Gebrauch herzurühren ſcheint.
Indeſſen hindert uns Nichts, dabey auch ein blos theore-
tiſches Scandal vorauszuſetzen, und daß auch über ein
ſolches Juſtinian in Affect gerathen konnte, iſt gewiß dem
rhetoriſchen Styl ſeiner Geſetze ganz angemeſſen. Ja ſo-
gar findet ſich bey ihm ein Ausdruck, der auf dieſen Zu-
ſtand der Sache geradezu hindeutet. In den Inſtitutionen
heißt es nämlich: Pubertatem .. veteres .. ex habitu cor-
poris in masculis aestimari volebant. So konnte man
ſprechen, wenn Das was getadelt wurde blos in alten
Büchern ſtand, aber der Ausdruck wäre ſehr unpaſſend
geweſen, wenn die Praxis der Gegenwart mit jener ge-
tadelten Lehrmeynung übereingeſtimmt hätte. — Wie kam
(v) Cramer l. c. p. 16.
5*
|0080 : 68|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
man aber überhaupt auf das Alter von Vierzehen Jahren
als Zeitpunkt der Pubertät? Dieſes könnte zuſammenhän-
gen mit der alten Lehre griechiſcher Philoſophen von der
Wichtigkeit der Zahl Sieben, ſo daß die Jahre der Im-
pubertät genau den doppelten Zeitraum der Kindheit aus-
füllen ſollten (w). Dennoch glaube ich dieſe Erklärung ver-
werfen zu müſſen. Erſtlich weil, wenn man blos auf den
Werth der Zahlen ſehen wollte, die altrömiſche Zahl 15
(Note d) mehr Anſpruch auf Beachtung gehabt hätte.
Zweytens weil daneben die Zwölf Jahre für Frauen vor-
kommen, die in dieſes Zahlenſyſtem gar nicht paſſen. Drit-
tens weil ſich für die Erklärung der 14 und 12 ein an-
derer, weit einfacherer und natürlicherer, Weg darbietet.
Man hatte nämlich als Erfahrungsſatz, angemeſſen der
Einwirkung des Italieniſchen Himmels, feſtgeſtellt, die Ge-
ſchlechtsreife trete wirklich in den meiſten Fällen alſo im
Durchſchnitt, mit 14 und 12 Jahren ein.
Die ganze bisherige Unterſuchung betraf lediglich das
männliche Geſchlecht, und es bleibt nur noch die Frage
übrig, wie in dem weiblichen die Pubertät, in Beziehung
auf das Ende der Pupillartutel, beſtimmt wurde. Hier-
über nun ſtimmen die alten Zeugniſſe überein, daß ſtets
der Ablauf von Zwölf Lebensjahren angenommen wurde,
ohne Streit der Schulen, und ohne Anſpruch auf Beſich-
(w) S. oben § 107. h. — So
nimmt es auch Macrobius in
somn. Scip. I. 6. „Post annos
autem bis septem … pubescit.”
Eben ſo auch Censorinus de die
nat. C. 14 aus Hippokrates.
|0081 : 69|
§. 109. Altersſtufen. Impuberes.
tigung (x). Die Gründe der verſchiedenen Behandlung
beider Geſchlechter waren folgende. Zuerſt in der That
die Rückſicht auf das durch ein entgegengeſetztes Verfah-
ren verletzte weibliche Zartgefühl, welchen Grund Juſti-
nian allein ausdrückt. Dazu kam aber ferner der Um-
ſtand, daß bey den Jungfrauen keine ähnliche Veranlaſ-
ſung zu individuellen Schwankungen, wie bey den Kna-
ben durch die Anlegung der männlichen Toga eintrat: denn
die Prätexta trugen ſie beſtändig bis zur Ehe (y), ſo daß
bey ihnen gar Nichts geſchah, wodurch ein Abſchnitt des
Alters auf ſichtbare Weiſe ausgedrückt worden wäre. End-
lich kam auch noch hinzu, daß hier das Ende der Tutel
weniger wichtig und merklich wurde, indem nur die Ge-
ſchlechtstutel an die Stelle der pupillariſchen trat, und
ganz gewöhnlich auch in der Perſon deſſelben Tutors fort-
dauerte. Die Zahl der Zwölf Jahre aber gründete ſich
ohne Zweifel auf uraltes Herkommen, und wir haben kei-
nen Grund anzunehmen, daß ſie durch Geſetze eingeführt,
oder auch nur beſtätigt worden wäre (z).
(x) So ſagt es ausdrücklich
Juſtinian in den Inſtitutionen
und im Codex. Ulpian. XI. 28
iſt bey den Frauen lückenhaft, aber
die Art des Ausdrucks zeigt au-
genſcheinlich, daß beide Geſchlech-
ter völlig verſchieden behandelt
wurden. Ferner gehören hierher
die in der Note r für das männliche
Geſchlecht angeführten Stellen.
(y) Die Stellen ſind geſam-
melt bey Pitiscus v. Praetexta
Num. 3.
(z) Cramer p. 9. 17 nimmt
eine geſetzliche Beſtätigung an we-
gen des Ausdrucks legitima uxor
in L. 4 de ritu nupt. (23. 2.).
Allein dieſer Ausdruck iſt wohl
ganz gleichbedeutend mit dem ſonſt
gewöhnlicheren justa uxor oder
civiliter nupta (z. B. in L. 28
§ 3 de lib. et posth. 28. 2.), ge-
rade ſo wie auch legitime oder
|0082 : 70|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
§. 110.
II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. A. Altersſtu-
fen. Impuberes und Puberes. (Fortſetzung.)
II. Einfacher und leichter ſtellt ſich die Frage nach
der Beſtimmung der Pubertät in Beziehung auf die Te-
ſtamentsmündigkeit. Hier ſagen mehrere Stellen des Ju-
ſtinianiſchen Rechts unbedingt, und ohne Hindeutung auf
einen Schulſtreit, daß Alles auf das zurückgelegte zwölfte
oder vierzehente Jahr ankomme (a). Dieſe Stellen könnte
man noch etwa für interpolirt halten. Allein jeder Zwei-
fel dieſer Art wird beſeitigt durch die ganz übereinſtim-
menden Zeugniſſe des Gajus und des Paulus (b). — Es
läßt ſich aber auch natürlich erklären, warum es die Sa-
binianer ohne Inconſequenz unterlaſſen konnten, in dieſer
Anwendung die Forderung individueller Unterſuchung gel-
tend zu machen. Wenn Derjenige, welcher Vierzehen Jahre
alt war, deſſen wirkliche Pubertät aber bezweifelt werden
illegitime concepti (Gajus I.
§ 89) nur auf jus civile über-
haupt, nicht auf eine einzelne lex
geht. — Macrobius ſagt einmal
legibus liberantur, ein anderes-
mal secundum jura publica
(Note r); auch dieſe beiden Aus-
drücke ſcheinen gleichbedeutend, ſo
daß legibus nicht mehr heißt als
jure oder jure civili.
(a) L. 5 qui test. (28. 1.), L. 2
pr. L. 15 de vulg. (28 6.), L. 4
C. qui test. (6. 22.). In der letz-
ten Stelle findet ſich ſogar eine
Hinweiſung darauf, daß hier von
der individuellen Entwicklung gar
nicht die Rede ſeyn könne: „Nam
si hanc aetatem egressus, licet
vigoris nondum emersissent ve-
stigia” rel.
(b) Gajus II. § 113 „mascu-
lus minor XIV. annorum testa-
mentum facere non potest …
femina vero post XII. annum
testamenti faciendi jus nancis-
citur.” — Paulus III. 4 A. § 1.
„Testamentum facere possunt
masculi post completum quar-
tum decimum annum, feminae
post duodecimum.”
|0083 : 71|
§. 110. Altersſtufen. Impuberes. (Fortſetzung.)
konnte, ein Teſtament machte, ſo war für den Augenblick
Niemand vorhanden, der die Pubertät beſtreiten, und die
Unterſuchung veranlaſſen konnte. Vor Gericht kommen
konnte die Frage erſt nach dem Tode, im Rechtsſtreit zwi-
ſchen dem Teſtamentserben und dem Inteſtaterben; dann
aber war es augenſcheinlich zu ſpät, durch Unterſuchung
auszumitteln, ob der Erblaſſer zur Zeit des errichteten
Teſtaments die Pubertät erreicht haben möchte. Daher
ließen für dieſen Fall die Sabinianer ihre Behauptung,
die hier ganz unpraktiſch geweſen wäre, fallen. Zugleich
iſt aber dieſer Umſtand wichtig, indem er beweiſt, daß
von allen Seiten das Alter von Vierzehen Jahren als
Zeitpunkt präſumtiver Pubertät unbedenklich anerkannt
wurde, und daß die Sabinianer nur noch ſicherer gehen
wollten, indem ſie, ſo weit es ausführbar war, Gewiß-
heit durch Unterſuchung an die Stelle der auch von ihnen
nicht bezweifelten Präſumtion zu ſetzen verſuchten.
III. Es bleibt übrig die Feſtſtellung der Pubertät in
Beziehung auf die Möglichkeit der Ehe. — Für das weib-
liche Geſchlecht werden auch hier wieder Zwölf Jahre als
unzweifelhaft angegeben (c). Dagegen wird für die Män-
ner lediglich die Pubertät erfordert (d), ohne irgend eine
Hinweiſung, ob dieſelbe durch Jahre oder durch Unterſu-
chung ermittelt werden ſolle. Dieſes Stillſchweigen er-
(c) L. 9 de sponsal. (23. 1.),
L. 4 de ritu nupt. (23. 2.), L. 32
§ 27 de don. int. v. et ux. (24. 1.),
L. 17 § 1 de reb. auct. jud. (42.
5.), L. 11 § 3. 4 quod falso (27. 6.).
(d) pr. J. de nupt. (1. 10.).
|0084 : 72|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
klärt ſich wohl aus dem an ſich zufälligen Umſtand, daß
das Unternehmen einer ungewoͤhnlich frühen Ehe weit oͤfter
im weiblichen als im männlichen Geſchlecht vorkommen
wird, weshalb bey dieſem weniger Veranlaſſung zu ge-
nauen Beſtimmungen vorhanden war. Wie haben wir
aber jenes Stillſchweigen zu deuten? Daß dem Sinn des
Juſtinianiſchen Geſetzes in dieſer, wie jeder anderen Be-
ziehung die Beſichtigung entgegen ſeyn würde, bezweifelt
Niemand; dagegen nehmen Manche ein ſolches Verfahren
für das ältere Recht an (e), und nicht ohne Schein, da
die Pubertät in der That eine unmittelbarere Beziehung
zu der Ehe hat, als zu der Tutel oder zu den Teſtamen-
ten. Dennoch halte ich dieſe Meynung bey der Ehe aus
demſelben inneren Grunde für verwerflich, welcher ſchon
bey den Teſtamenten geltend gemacht worden iſt. Zu der
Zeit nämlich, wo eine ſolche Ehe von einem Vierzehen-
jährigen, deſſen wirkliche Pubertät bezweifelt werden könnte,
geſchloſſen wird, iſt wieder Niemand vorhanden, der durch
ſeinen Widerſpruch die gerichtliche Einmiſchung und die
Unterſuchung veranlaſſen koͤnnte. Wäre nun auch die Ehe
einſtweilen noch ungültig, ſo würde ſie mit eintretender
Pubertät eben ſo von ſelbſt und ſtillſchweigend gültig wer-
den, wie z. B. unſtreitig die ungültige Ehe einer elfjähri-
gen Frau am Ende des zwölften Lebensjahres von ſelbſt
gültig wird (f). Nun koͤnnte allerdings hinterher einmal
(e) Zimmern Rechtsgeſch. I. § 120 S. 428.
(f) L. 4 de ritu nupt. (23. 2.).
|0085 : 73|
§. 110. Altersſtufen. Impuberes. (Fortſetzung.)
Streit darüber entſtehen, ob an irgend einem beſtimmten
Tage die Ehe ſchon gültig geweſen ſey oder nicht, wel-
ches z. B. auf die Gültigkeit einer an dieſem Tage ge-
machten Schenkung Einfluß haben könnte; allein dann iſt
es auch nicht mehr möglich, durch Unterſuchung den kör-
perlichen Zuſtand feſtzuſtellen, der an einem vielleicht längſt
vergangnen Tage beſtanden hat. Der einzige Fall, worin
etwa die Unterſuchung ſtattfinden konnte, war der, wenn
bald nach dem Anfang einer ſolchen zweydeutigen Ehe ein
Theil die Scheidung ausſprach, oder auch die Nichtigkeit
behauptete, und nun die Frage entſtand, ob bis jetzt eine
Ehe beſtanden habe; für einen ſo ſeltenen, vielleicht nie
eingetretenen Fall haben aber ſchwerlich die Sabinianer,
aus bloßer Liebe zur Conſequenz, die Anwendung ihres
Princips behauptet. Höchſt wahrſcheinlich alſo hat man
auch in Anwendung auf die Ehe die Vierzehen Jahre ſtets
ohne Streit gelten laſſen (g).
(g) Die einzige Stelle, worin
die Unterſuchung in Beziehung auf
Ehe erwähnt wird, iſt Quincti-
lian. declam. 279. Der Fall iſt
dieſer. Ein Vater hat ſeinen un-
reifen Knaben verheurathet; die-
ſer findet einen Ehebrecher bey
der Frau und läßt ſich von ihm
mit Geld abfinden; deswegen will
ihn der Vater abdiciren, und ge-
gen die Rechtmäßigkeit dieſer ab-
dicatio iſt die ganze Rede gerich-
tet. Der Redner behauptet nun
unter andern, es ſey noch gar
keine wahre Ehe geweſen, und
will es deshalb auf eine Beſich-
tigung des Knaben ankommen
laſſen. Allein ſchon an ſich kön-
nen ſolche romanhafte Einfälle
Nichts für das Daſeyn eines
Rechtsſatzes beweiſen; vollends
aber in dieſer Rede, deren gan-
zer Gegenſtand die abdicatio iſt,
welches Inſtitut dem Römiſchen
Recht gar nicht angehört.
|0086 : 74|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Nach eingetretener Pubertät, und vor der Volljährig-
keit, werden noch manche Mittelſtufen des Alters behaup-
tet, die auch juriſtiſche Bedeutung haben ſollen. Inſofern
ſich dieſe auf ganz einzelne Rechtsgeſchäfte beziehen, ha-
ben ſie mit der allgemeinen Betrachtung der durch das
Alter bedingten Handlungsfähigkeit Nichts zu ſchaffen, viel-
mehr gehören ſie dann blos jenen einzelnen Inſtituten an,
und ſind als Elemente derſelben zu betrachten. So ver-
hält es ſich mit folgenden Rechtsregeln. Siebenzehen Jahre
werden erfordert, um poſtuliren zu koͤnnen (h); Achtzehen
zur Ausübung des (altrömiſchen) Richteramts (i). Wer
Zwanzig Jahre alt iſt, und ſich betrüglich als Sklaven
verkaufen läßt, wird in der That Sklave zur Strafe dieſes
Betrugs (k). Zwanzig Jahre alt ſollte ein Herr ſeyn, um
einen Sklaven ohne obrigkeitliche Prüfung frey laſſen zu
können: welches Juſtinian auf Siebenzehen Jahre herunter
geſetzt hat (l).
Etwas mehr Zuſammenhang mit der Pubertät hat fol-
gende Beſtimmung. Trajan hatte vielen Knaben und Mäd-
chen Alimente ausgeſetzt, welche bis zur Pubertät (14 und
12 Jahre) ausgezahlt wurden; Hadrian dehnte dieſelben
bis zu 18 und 14 Jahren aus. Darin lag eine freyge-
bige Willkühr, ohne alle Beziehung auf Pubertät; eine
ſolche Beziehung entſtand erſt durch die Anwendung, die
(h) L. 1 § 3 de postul. (3. 1.).
(i) L. 57 de re jud. (42. 1.).
(k) § 4 J. de j. pers. (1. 3.).
(l) Ulpian. I. § 13, Gajus I.
§ 38, § 7 J. qui et quib. ex cau-
sis (1. 6.).
|0087 : 75|
§. 110. Altersſtufen. Impuberes. (Fortſetzung)
davon im Privatrecht gemacht wurde; wenn in einem Te-
ſtament Alimente ausgeſetzt werden bis zur Pubertät, ſo
ſoll das in dieſem Fall, nach der Analogie jener kaiſerli-
chen Freygebigkeit, ſo ausgelegt werden, als wären die
Alimente bis zu 18 und 14 Jahren ausgeſetzt (m). — Eine
andere, nur dem Namen nach ähnliche, Beſtimmung iſt
dieſe. Bey der Adoption war es noch zur Zeit des Ga-
jus beſtritten, ob der Adoptivvater nothwendig älter ſeyn
müſſe, als das Adoptivkind (n). Später aber wurde als
feſte Regel angenommen, der Adoptivvater müſſe wenig-
ſtens Achtzehen Jahre älter ſeyn, und dieſe Differenz des
Alters nannte man die plena pubertas, wodurch alſo die-
ſer Rechtsſatz wenigſtens durch den Namen mit der Pu-
bertät in Verbindung geſetzt wird (o). Mehr als dieſes
läßt ſich über die plena pubertas nicht behaupten, und es
iſt ganz ohne Grund, wenn um dieſes Namens willen
neuere Schriftſteller hieraus ein eigenes Rechtsinſtitut, ähn-
lich der Pubertät ſelbſt, machen wollen.
Zuletzt iſt noch eine Schwierigkeit zu erwähnen, die in
Folge der Meynung der Sabinianer entſtehen mußte. Dieſe
wollten die individuelle Pubertät der jungen Männer be-
(m) L. 14 § 1 de alim. leg.
(34. 1.). Vgl. über dieſe merk-
würdige Stelle Cramer l. c. p. 20.
(n) Gajus I. § 106.
(o) L. 40 § 1 de adopt. (1. 7.)
von Modeſtin, § 4 J. de adopt.
(1. 11.). Modeſtin ſagt: „major
esse debet eo, quem .. filium
facit: et utique plenae puber-
tatis, id est decem et octo an-
nis eum praecedere debet.” Die
Inſtitutionen ſagen plena puber-
tate praecedere.
|0088 : 76|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
achtet wiſſen; wie aber wenn ſie Spadonen waren, alſo
niemals zur Pubertät kamen? Ja ſelbſt bey den Procu-
lejanern wäre es nicht gerade inconſequent geweſen, die-
ſen Fall abweichend von anderen Fällen zu behandeln;
denn wenn überhaupt eine innere Verbindung zwiſchen Ge-
ſchlechtsreife und Geſchäftsfähigkeit angenommen wird, wie
ſie die Römer unſtreitig annehmen, ſo wäre es nicht un-
natürlich, Denjenigen, der niemals zur Pubertät kommt,
auch zu Geſchäften ſpäter als Andere zuzulaſſen.
Wir betrachten dieſe Frage zuerſt in Anwendung auf
die Teſtamentsfähigkeit. Hier ſagt Paulus III. 4 A. § 2
ausdrücklich: Spadones eo tempore testamentum facere
possunt, quo plerique pubescunt, id est anno decimo
octavo. Nach dieſer Stelle ſcheinen alſo beide Schulen
darin übereingeſtimmt zu haben, daß bey den Spadonen
ein feſtes Lebensjahr angenommen werden müſſe, aber ein
ſpäteres als bey Anderen; und dieſes erhält eine nicht ge-
ringe Unterſtützung durch die oben erwähnte plena puber-
tas der Achtzehenjährigen; man muß dann zu decimo oc-
tavo hinzudenken completo, oder noch beſſer die Leſeart
(wie es ſcheint, der meiſten Handſchriften) annehmen: an-
norum decem et octo. Dabey liegt zum Grunde folgende
ſehr natürliche Betrachtung. Mit Vierzehen Jahren tritt
die Pubertät im Durchſchnitt ein, alſo bey den Meiſten;
bey Einigen verzögert ſie ſich bis zum Ende des achtzehen-
ten Jahres (plena pubertas), und es iſt natürlich, daß
man dieſen ſpäteren Zeitpunkt auf die Spadonen anwen-
|0089 : 77|
§. 110. Altersſtufen. Impuberes. (Fortſetzung.)
det (p). Man muß dann unter plerique nicht die Mei-
ſten verſtehen, ſondern gerade umgekehrt Einige, alſo
gerade die Wenigſten, die Spätreifen; auch iſt dieſe Er-
klärung durch den Sprachgebrauch anderer Schriftſteller
beſtätigt (q). — Manche verwerfen den Zuſatz von Acht-
zehen Jahren als einen eingeſchobenen Zuſatz der Abſchrei-
ber (r); andere wollen emendiren decimo quarto (s). Beide
Vorſchläge haben alle Handſchriften gegen ſich: durch den
erſten wird außerdem die Stelle ganz unverſtändlich: durch
den zweyten wird ſie unnütz, da es nicht der Mühe lohnte
die Spadonen zu erwähnen, wenn ſie ganz daſſelbe Recht
wie Andere haben ſollten. — Eine Conſtitution von Con-
ſtantin ſtellt bey der Abfaſſung der Teſtamente die Eunu-
chen (alſo die unterſte Klaſſe der Spadonen) den übrigen
Menſchen gleich (t); dieſe Vorſchrift ſcheint als Aufhebung
(p) So verſteht es auch Cuja-
cius in L. 1 D. de minoribus
(Opp. I. p. 988): „Sed in eis
causis (bey der Adoption) non
ideo dicitur plena, quod is sit
pubertatis finis, sed quod fri-
gidiores, qui tardius pubescunt,
ea fere aetate puberes fiant, ut
Paulus significat lib. 3 Sent.
tit. 4.”
(q) Tacitus hist. IV. 84. „De-
um ipsum multi Aesculapium
… quidam Osirin … plerique
Jovem … plurimi Ditem pa-
trem … conjectant.” Eben ſo
bezeichnet plerumque in L. 25
§ 2 L. 26 de pactis (2. 14.) den
ſeltneren, ausgenommenen Fall,
im Gegenſatz des regelmäßigen.
Vgl. auch L. 32 § 10 de don. int,
v. et ux. (24. 1.), und Brisso-
nius v. plerumque. — In unſrer
Stelle des Paulus laſſen einige
Handſchriften das plerique weg,
wodurch aber der Sinn zerſtört
wird.
(r) Dirkſen Beiträge S. 53,
und Frühere in den Noten von
Schulting.
(s) So die Note 3 der Bon-
ner Quartausgabe.
(t) L. 4 C. qui test. (6. 22.).
„Eunuchis liceat facere testa-
mentum, componere postremas
exemplo omnium voluntates”
|0090 : 78|
Buch. II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
der früheren Regel der Achtzehen Jahre gemeynt, die alſo
dadurch wiederum eine indirecte Beſtätigung erhält.
Noch wichtiger war die Frage, wann die Spadonen
von der Tutel frey werden ſollten. Darüber ſagt Gajus
(I. 196) Folgendes. Die Sabinianer nehmen juriſtiſch als
pubes an Denjenigen qui generare potest; sed in his,
qui pubescere non possunt, quales sunt spadones, eam
aetatem esse spectandam, cujus aetatis puberes fiunt.
Das puberes fiunt kann nicht auf die Spadonen gehen,
von welchen er ſelbſt ſo eben bemerkt hatte, daß ſie nie-
mals pubeſcirten; es muß alſo heißen: in welchem Alter
Andere die Pubertät erlangen. Hätte er damit die Vier-
zehen Jahre gemeynt, die gleich nachher als Meynung
der Proculejaner vorkommen, ſo hätte er ohne Zweifel die
Zahl ausgedrückt; der umſtändliche, umſchreibende Aus-
druck deutet auf eine abweichende Beſtimmung, und wenn
man ihn mit der Stelle des Paulus über die Teſtamente
vergleicht, ſo ſcheint es natürlich, ſo zu erklären: in wel-
chem Alter auch noch Einige (die Spätreifen) die Puber-
tät erlangen. Dann wäre das puberes fiunt des Gajus
gleichbedeutend mit dem plerique pubescunt des Paulus.
Vielleicht hat aber auch Gajus wirklich geſchrieben pleri-
que puberes fiunt, und das plerique iſt dann in unſrer
Handſchrift eben ſo ausgefallen, wie es in einigen Hand-
ſchriften des Paulus in der That ausgefallen iſt.
Es ſcheint ſonderbar, daß auch für die Möglichkeit
rel. — Die Stelle bekommt den das exemplo omnium auf das
beſtimmteſten Sinn, wenn man Alter bezieht.
|0091 : 79|
§. 111. Altersſtufen. Minores.
der Ehe den Spadonen ein Zeitpunkt vorgeſchrieben ſeyn
ſollte; und doch konnte von einem ſolchen die Rede ſeyn,
da denſelben (nur mit Ausnahme der Eunuchen) die Ehe
überhaupt geſtattet iſt (u). Indeſſen iſt eine ſolche Ehe
ſchon an ſich ſo ſelten, daß es ſich leicht erklärt, wenn
ihr noch ſeltneres Zuſammentreffen mit ſehr früher Jugend
nirgend erwähnt wird. Wäre es überhaupt vorgekommen,
ſo würde man vielleicht auch hier Achtzehen Jahre gefor-
dert haben.
Im Juſtinianiſchen Recht kann von dieſen eigenthümli-
chen Beſtimmungen für die Spadonen nicht mehr die Rede
ſeyn; vielmehr muß die Regel der Vierzehen Jahre in je-
der Beziehung auch auf ſie angewendet werden, weil be-
ſondere Ausnahmen für Dieſelben nicht anerkannt ſind. Es
iſt nur zufällig, daß dieſe Behauptung lediglich in Anſe-
hung der Teſtamente (Note t) eine ausdrückliche Beſtäti-
gung gefunden hat.
§. 111.
II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. A. Altersſtu-
fen. Minores und Majores (a).
Die urſprünglich vollſtändige Freyheit aller Mündigen
in der Beherrſchung ihres Vermögens erſchien ſchon fruͤhe
als gefährlich, und machte daher neue künſtliche Anſtalten
(u) L. 39 § 1 de j. dot. (23. 3.).
(a) Vgl. Savigny von dem
Schutz der Minderjährigen im
Römiſchen Recht und insbeſon-
dere von der Lex Plaetoria, in
den Abhandlungen der Berliner
Akademie von 1833 S. 1—39.
|0092 : 80|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
nöthig, die bis zu Ende des fünf und zwanzigſten Lebens-
jahres reichen ſollten. Dadurch wurde die letzte juriſti-
ſche Altersgränze herbeygeführt, die der früheren Zeit ganz
fremd geweſen war. Auf dieſes neue Bedürfniß führte
die ſteigende Ausdehnung des Staats, verbunden mit dem
zunehmenden Reichthum und Luxus der Einzelnen; in Folge
derſelben auf der einen Seite das einreißende Sittenver-
derben, auf der andern Seite eine größere Verwicklung
der Geſchäfte, auf welche die der älteren Zeit wohl an-
gemeſſene Vorausſetzung der Geſchäftsfähigkeit aller Mün-
digen nicht mehr paßte (§ 107. g).
Der künſtliche Schutz für die Minderjährigen wurde
aber nur allmälig, und zwar in folgenden Abſtufungen,
eingerichtet.
Zuerſt wurde um die Mitte des ſechſten Jahrhunderts
der Stadt eine Lex Plaetoria gegeben, die den früher un-
bekannten Zeitpunkt von Fünf und zwanzig Jahren ein-
führte (b), weshalb auch dieſes Alter, und nicht die wich-
tigere und früher anerkannte Pubertät, den Namen legi-
tima aetas erhielt (c). Das Geſetz aber ſuchte nur auf
indirecte Weiſe die Minderjährigen zu ſchützen, indem es
Diejenigen, die mit ihnen betrügliche Geſchäfte eingehen
würden, mit einer Criminalanklage bedrohte.
(b) Der unmittelbarſte Beweis
liegt in der L. 2 C. Th. de don.
(8. 12.). Bey Plautus heißt da-
her das Geſetz Lex quinavice-
naria. Pseudolus I. 3. 69.
(c) L. 2 C. Th. cit., L. un. § 3
C. Th. de his qui ven. (2. 17.),
L. 28 in f. de appell. (49. 1.).
Vergl. Brissonius v. legitimus.
|0093 : 81|
§. 111. Altersſtufen. Minores
Darauf folgte der viel wichtigere und durchgreifendere
Schutz des prätoriſchen Edicts, welches den Minderjähri-
gen eine allgemeine Reſtitution gegen alle nachtheilige
Handlungen oder Unterlaſſungen ankündigte.
Endlich kam noch hinzu die Verordnung von K. Marc
Aurel, welche alle Minderjährige, zur Erhaltung ihres
bereits vorhandenen Vermögens, unter Curatoren ſtellte.
Alle dieſe Anſtalten, innerhalb der letzten Altersſtufe,
betrafen alſo weniger unmittelbar, als die niederen Stu-
fen, die Handlungsfähigkeit der Minderjährigen ſelbſt. Ihre
genauere Darſtellung gehört daher anderen Theilen des
Rechtsſyſtems an (d), und die gegenwärtige allgemeine Uber-
ſicht iſt hier nur deshalb gegeben worden, um den Zuſam-
menhang ſämmtlicher Altersſtufen anſchaulich zu machen.
Am Schluß dieſer Lehre von den Altersſtufen iſt nun
noch anzugeben, welche Theile derſelben im heutigen Rechte
fortbeſtehend ſind.
Die Römiſche Lehre von der Infantia hat ihren prak-
tiſchen Werth größtentheils verloren, weil ſie ſich haupt-
ſächlich auf die tutoris auctoritas bezog, deren unprakti-
ſche Natur erſt im Zuſammenhang der ganzen Vormund-
ſchaft vollſtändig dargeſtellt werden kann. Es iſt alſo nur
(d) Die Lex Plaetoria iſt ſchon
frühe aus dem praktiſchen Recht
verſchwunden (Savigny a. a. O.
S. 18). Die Reſtitution wird im
folgenden Kapitel des zweyten
Buchs (unter den Mitteln zum
Schutz der Rechte) dargeſtellt wer-
den. Endlich die Curatoren der
Minderjährigen gehören in das
Recht der Vormundſchaft, alſo
zu dem ſpeciellen Theil des Sy-
ſtems.
III. 6
|0094 : 82|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
noch als praktiſches Recht zu betrachten die Regel, daß
der Siebenjährige theils Sponſalien ſchließen, theils ſolche
Handlungen, die reinen Gewinn bringen, gültig vorneh-
men kann.
Die Pubertät als Anfang freyer Vermögensherrſchaft,
folglich als Ende der Tutel, hat durch die der Vormund-
ſchaft im heutigen Recht gegebene neue Geſtalt ganz auf-
gehoͤrt. — Die Pubertät als Anfang der Teſtamentsfä-
higkeit hat ſich am reinſten erhalten. — Die Pubertät von
14 und 12 Jahren als Anfang möglicher Ehe iſt auch
noch im canoniſchen Recht beſtimmt anerkannt (e). Unſe-
ren Sitten iſt dieſe Zeitbeſtimmung völlig fremd, und
neuere Geſetzgebung hat ſie in den meiſten Ländern aus-
drücklich und ſtark abgeändert.
Endlich iſt die Minderjährigkeit als Grund einer Re-
ſtitution auch im heutigen Recht unverändert beybehalten.
Als Grund einer eigenthümlichen Curatel aber kann ſie
nicht mehr gelten, weil dieſe Curatel mit der alten Tutel
der Unmündigen verſchmolzen worden iſt.
(e) C. 6. 10. 11. 14 X. de de-
spons. impub. (4. 2.). — Nur
darin findet ſich eine kleine Ab-
weichung vom R. R., daß, wenn
vor den 14 oder 12 Jahren den-
noch wirklich der Beyſchlaf ſtatt
findet, dadurch die Ehe gültig
und folglich auch unauflöslich
wird. C. 6. 8. 9. 11 X. eod. C. un.
eod, in VI. (4. 2.). Um dieſer
Modification willen wurde denn
auch die Stelle des Iſidor als
C. 3 X. eod. aufgenommen, wel-
che die zwey Meynungen der Rö-
miſchen Juriſtenſchulen anführt,
und der Sabinianiſchen den Vor-
zug giebt (§ 709. s). — Vgl. über-
haupt Glück Pandekten B. 23
§ 1203 und Eichhorn Kirchen-
recht B. 2 S. 339 fg.
|0095 : 83|
§. 112. Vernunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen.
§. 112.
II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. B. Vernunft-
loſe. C. Interdicirte. D. Juriſtiſche Perſonen.
B. Die Vernunftloſigkeit oder der Wahn-
ſinn iſt ein natürliches und unzweifelhaftes Hinderniß
für freye Handlungen und ihre Folgen. Die Beurthei-
lung iſt hier theilweiſe weniger ſchwierig als bey dem
unreifen Alter, indem die Veränderung nicht wie bey
dem Alter durch lang dauernde, unmerkliche Entwick-
lungsſtufen hindurchgeht, ſondern oft ganz plötzlich, au-
ßerdem wenigſtens in raſchen Übergängen, erfolgt. Da-
gegen kann auch hier eine Schwierigkeit entſtehen durch
zweifelhafte Gränzen der Zuſtände; dieſe Schwierigkeit
aber iſt nicht, wie bey dem Alter, durch poſitiv durchgrei-
fende Regeln zu beſeitigen möglich, auch liegt ſie weniger
auf dem Gebiet des Richters, als auf dem des Sachver-
ſtändigen, an deſſen Urtheil der Richter hier meiſt gebun-
den ſeyn wird.
Die äußere Erſcheinung dieſes Zuſtandes iſt verſchie-
den, je nachdem er von heftigen Ausbrüchen begleitet iſt
oder nicht. Die Römer haben zwey Ausdrücke, furiosus
und demens, die ſie auf verſchiedene Weiſe gebrauchen:
bald mit ganz willkührlicher Abwechſlung, als völlig gleich-
bedeutende Bezeichnung der Vernunftloſigkeit überhaupt (a);
bald als beſondere Benennung der zwey erwähnten Er-
(a) Cicero tusc. quaest. III. 5, L. 7 § 1 de cur. fur. (27. 10.),
L. 14 de off. praes. (1. 18.).
6*
|0096 : 84|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſcheinungsformen (b). Dieſe Unſicherheit des Sprachge-
brauchs iſt jedoch ohne allen Nachtheil, da die juriſtiſche
Beurtheilung beider Zuſtände völlig dieſelbe iſt (c).
Die Vernunftloſen nun ſind eben ſo rechtsfähig als
Andere; nicht blos ihr Vermögen bleibt unverändert, ſon-
dern auch jedes Familienverhältniß, wie Ehe und väter-
liche Gewalt (d). Nur ihre Handlungsfähigkeit iſt völlig
ruhend. Alles alſo, Was durch ſie geſchieht, kann nur
den täuſchenden Schein einer Handlung an ſich tragen,
die rechtlichen Folgen einer Handlung entſtehen daraus
niemals (e). Dieſer wichtige Satz gilt in den mannichfal-
tigſten Anwendungen. Er gilt bey Rechtsgeſchäften, als
Verträgen, Teſtamenten, Eheſcheidung, Beſitzerwerbung (f).
Er gilt aber auch eben ſo entſchieden bey Verbrechen und
Delicten (g), ſo daß alſo die von dem Vernunftloſen aus-
(b) L. 25 C. de nupt. (5. 4.),
L. 8 § 1 de tut. et cur. (26. 5.).
— Im Deutſchen gebrauchen wir
als beſondere Bezeichnungen: Ra-
ſende und Blödſinnige.
(c) Ausdrücklich anerkannt iſt
dieſe praktiſche Gleichheit in L. 25
C. de nupt. (5. 4.).
(d) L. 8 pr. de his qui sui
(1. 6.).
(e) L. 40 L. 5 de R. J. (50.
17.), § 8 J. de inut. stip. (3. 19.).
— Nur den Schein einer Aus-
nahme hat der in L. 8 pr. de
his qui sui (1. 6.) aufgeſtellte
Satz, daß ungeachtet des Wahn-
ſinns eines Ehegatten oder auch
beider, das in dieſem Zuſtand er-
zeugte Kind dennoch in väterliche
Gewalt kommt. Denn die Er-
zeugung (verſchieden von dem Bey-
ſchlaf) gilt nicht als freye Hand-
lung, ſondern als ein von dem
Willen unabhängiges Naturer-
eigniß.
(f) L. 2 C. de contr. emt. (4.
38.), L. 2 de inoff. (5. 2.), L. 17
qui test. (28. 1.), L. 22 § 7 sol.
matr. (24. 3.), L. 1 § 12 de O.
et A. (44. 7.), L. 18 § 1 de adqu.
poss. (41. 2.).
(g) L. 14 de off. praes. (1. 18),
L. 5 § 2 ad L. Aqu. (9. 2.).
|0097 : 85|
§. 112. Vernunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen.
gehende Verletzung fremder Vermögensſtücke durchaus keine
Verpflichtung erzeugt.
Nur wo der Zuſtand des Vernunftloſen abwechſlend mit
vernünftigem Zuſtand vorkommt, iſt jede in ſolchen lichten
Zwiſchenzeiten vorgenommene Handlung ganz eben ſo wirk-
ſam, wie wenn vor und nach derſelben keine Vernunftlo-
ſigkeit vorhanden wäre (h).
Wohl zu unterſcheiden aber von der Vernunftloſigkeit
iſt die bloße Geiſtesſchwäche (i). Dieſe macht keinesweges
unfähig zu freyen Handlungen, wohl aber kann ſie, wenn
ſie einen hohen Grad erreicht, eine außerordentliche obrig-
keitliche Vorſorge durch Anordnung einer Curatel veran-
laſſen (k).
Was nun hier über den Fall des Wahnſinns beſtimmt
worden iſt, darf nicht auf dieſen allein beſchränkt wer-
den, indem es vielmehr auch auf jeden völlig gleichar-
tigen Zuſtand eben ſo angewendet werden muß. Gleich-
artig aber iſt jeder Zuſtand eines Menſchen, worin dem-
ſelben der Vernunftgebrauch fehlt, während der äußere
Schein einer menſchlichen Thätigkeit allerdings vorhanden
(h) L. 6 C. de cur. fur. (5.
70.), L. 9 C. qui test. (6. 22.),
L. 14 de off. praes. (1. 18.),
L. 2 C. de contr. emt. (4. 38.).
(i) Die Römiſchen Ausdrücke
ſind: Stultus, fatuus, insanus.
§ 4 J. de curat. (1. 23.), L. 25
C. de nupt. (5. 4.). — Zweydeu-
tig iſt der Ausdruck mente cap-
tus, welcher bald den Wahnſin-
nigen, bald blos den Geiſtes-
ſchwachen bezeichnet, alſo überall,
wo er vorkommt, eine beſonders
vorſichtige Erklärung nöthig macht.
(k) § 4 J. de curat. (1. 23.),
L. 2 de cur. fur. (27. 10.), L. 2
de postul. (3. 1.).
|0098 : 86|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
iſt (l). Dahin gehört das fieberhafte Delirium (m), das
Nachtwandeln, und der durch magnetiſche Behandlung er-
regte Somnambulismus. Wenn alſo in einem dieſer Zu-
ſtände der Menſch dahin gebracht wird, die einen Ver-
trag enthaltenden Worte bewußtlos nachzuſprechen, oder
eine Urkunde zu unterzeichnen, ſo entſteht durchaus nicht
die einer freyen Handlung zukommende Wirkung; eben ſo
auch entſteht keine Delictsobligation, wenngleich der Menſch
in ſolchen Zuſtänden (was noch leichter eintreten kann als
der Schein eines Rechtsgeſchäfts) das Vermögen eines An-
deren beſchädigt.
Zweifelhafterer Natur ſind folgende Zuſtände. Zuerſt
ein hoher Grad der Trunkenheit. In Anſehung der Rechts-
geſchäfte muß hier daſſelbe wie bey dem Wahnſinn be-
hauptet werden, wenn etwa der Trunkene (was wohl zu-
weilen geſchehen kann) zum bewußtloſen Nachſprechen von
Worten, oder zur Unterſchrift ſeines Namens gebracht wird.
Anders verhält es ſich bey Verbrechen und Delicten. Zwar
ein Dolus wird auch in dieſer Beziehung dem völlig Be-
trunkenen nicht zugeſchrieben werden können. Da jedoch
nicht leicht Jemand ohne ſeine Schuld in dieſen Zuſtand
(l) Für diejenigen Zuſtände alſo
iſt dieſe Rechtsregel unnütz und
unanwendbar, in welchen, neben
dem fehlenden gegenwärtigen Ver-
nunftgebrauch, auch nicht einmal
der Schein einer Thätigkeit vor-
handen iſt, wie Schlaf, Ohnmacht,
Starrſucht, Scheintod.
(m) Vom fieberhaften Zuſtand
ſprechen L 60 de re jud. (42.
1.), L. 113 de V. S. (50. 16.),
aber nicht in der Beziehung, in
welcher hier die Rede davon iſt,
ſondern in Beziehung auf die Fra-
ge, ob das Fieber als ein voll-
gültiges Hinderniß der Anweſen-
heit im Gericht betrachtet wer-
den könne.
|0099 : 87|
§. 112. Vernunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen.
gerathen kann, ſo wird bey Verbrechen eine öffentliche
Strafe, bey Delicten aber eine Verbindlichkeit zur Ent-
ſchädigung behauptet werden müſſen, weil der Trunkene,
indem er ſich berauſchte, die culpoſe Urſache der ſpäter
erfolgenden Verletzung wurde (n). — Etwas Ähnliches iſt
auch von dem höchſten Grad des Zornes behauptet wor-
den, aber ohne Grund. Von Rechtsgeſchäften kann in ei-
nem ſolchen Zuſtand kaum die Rede ſeyn. Bey Verbre-
chen und Delicten aber kann durch denſelben der Dolus
keinesweges ausgeſchloſſen werden. Ein Zweifel hieran iſt
veranlaßt worden durch die Regel des Römiſchen Rechts,
daß eine in der Aufwallung des Zorns ausgeſprochene Ehe-
ſcheidung wirkungslos ſeyn ſoll (o). Dieſes betrifft aber
nur das juriſtiſche Weſen der zu einer wahren Eheſchei-
dung tauglichen Handlung. Dahin gehören ſoll nicht je-
der Ausſpruch der bey der Scheidung üblichen Worte,
ſondern nur ein Ausſpruch mit ruhiger, beſonnener Über-
legung; ein ſolcher freylich wird durch einen hohen Grad
des Zornes allerdings ausgeſchloſſen.
C. Die Interdiction wegen Verſchwendung wird
(n) Dieſe Beurtheilung der
Trunkenheit wird als die richtige
anerkannt in c. 7. C. 15. q. 1.
(o) L. 48 de R. J. (50. 17.),
L. 3 de divort. (24. 2.). — Recht
praktiſche Bedeutung hatte dieſe
Regel wohl nur im früheren R. R.
Denn ſeit der von Auguſt für die
Scheidung eingeführten feyerli-
chen Form (L. 9 de divort.)
konnte eine Scheidung in erſter
Aufwallung des Zornes kaum noch
vorkommen; in den oben ange-
führten Stellen ſcheinen daher die
alten Juriſten eine traditionelle
Regel aus früherer Zeit vorzu-
tragen.
|0100 : 88|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
einmal dem Wahnſinn gleich geſtellt und als völlige Wil-
lenloſigkeit bezeichnet (p). Andere Stellen aber beſtimmen
das Verhältniß genauer ſo, daß man den Interdicirten
völlig gleich ſtellen darf dem impubes pubertati proximus.
Er kann nämlich durch Stipulation eine Forderung erwer-
ben, aber nicht ſich als Schuldner durch Vertrag verpflich-
ten (q). Er kann Nichts veräußern (r), und hat über-
haupt nicht die Verwaltung ſeines Vermögens, die ſtets
unter einem beſondern Curator ſteht (s). Eine Novation
kann er vornehmen, inſofern er dadurch ſeinen Zuſtand
verbeſſert (t). Eine ihm deferirte Erbſchaft kann er gültig
antreten, was jedoch unter der ſo eben bey der Novation
(p) L. 40 de R. J. (50. 17.).
(Pomp. lib. 34 ad Sab.) „Fu-
riosi, vel ejus cui bonis inter-
dictum est, nulla voluntas est.”
Die ſcheinbare Allgemeinheit die-
ſer Stelle iſt ſehr gut aus der
Inſcription erklärt von J. Go-
thofred., Comm. in tit. de R.
J., L. 40 cit. Die Stelle ſteht
nämlich, ihrem Inhalt nach, in
Verbindung mit L. 19. 20 de aqua
pluv. (39. 3.) (der Inſcription
nach nur mit L. 20 cit.), welche
ſo lauten: „Labeo ait, si pa-
tiente vicino opus faciam, ex
quo ei aqua pluvia noceat, non
teneri me actione aquae plu-
viae arcendae. — Sed hoc ita,
si non per errorem aut impe-
ritiam deceptus fuerit: nulla
enim voluntas errantis est.”
Daran ſchloß ſich nun der aus
demſelben Buch des Pomponius
(34 ad Sab.) herrührende Satz
der L. 40 cit. an, welcher in die-
ſer Beziehung auch dem In-
terdicirten die voluntas abſpricht:
nämlich weil er ſich durch ſein
wiſſentliches Dulden, das als ſtill-
ſchweigende Einwilligung gilt,
ſchaden würde, wozu er eben
keine Fähigkeit hat.
(q) L. 6 de V. O. (45. 1.),
L. 9 § 7 de reb. cred. (12. 1.).
(r) L. 10 pr. de cur. fur. (27.
10.), L. 6 de V. O. (45. 1.), L. 26
de contr. emt. (18. 1.), L. 11 de
reb. eor. (27. 9.). Daher kann
er auch nicht gültige Zahlung lei-
ſten, indem der Curator das Geld
vindiciren kann. L. 29 de cond.
indeb. (12. 6.).
(s) L. 1 pr. de cur. fur. (27.
10.).
(t) L. 3 de novat. (46. 2.).
|0101 : 89|
§. 112. Vernunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen.
bemerkten Einſchränkung gedacht werden muß (u). Er kann
kein Teſtament machen (v). Da er aber augenſcheinlich
des Dolus fähig iſt, ſo muß er auch durch ſeine Delicte
eben ſo, wie ein der Pubertät nahe ſtehender Unmündiger,
verpflichtet werden (w).
D. Endlich ſind alle juriſtiſche Perſonen ihrer
Natur nach, und für immer, handlungsunfähig (§ 90. 96),
weil jede Handlung die menſchliche Thätigkeit des Den-
kens und Wollens vorausſetzt, welche in der juriſtiſchen
Perſon, als einer bloßen Fiction, nicht gedacht werden kann.
Vergleichen wir die hier dargeſtellten Fälle der Hand-
lungsunfähigkeit mit einander, ſo findet ſich unter ihnen
folgende Ahnlichkeit und Unähnlichkeit. Die drey erſten
Fälle (unreifes Alter, Wahnſinn und Interdiction) haben
einen zufälligen Character, indem ſie auf individuellen Un-
(u) L. 5 § 1 de adqu. her.
(29. 2.). „Eum, cui lege bonis
interdicitur, heredem institutum
posse adire hereditatem con-
stat.” Nach der gewöhnlichen
Meynung iſt der Conſens des Cu-
rators nöthig. Vgl. die ausführ-
liche Abhandlung von Reinold.
Var. Cap. 1. Betrachtet man die
Form der Handlung (die gerade
bey dem Erbſchaftsantritt ſo viele
Schwierigkeit macht), ſo iſt da-
zu der Interdicirte fähig, und
wenn er es nicht wäre, ſo würde
von dieſer Seite der consensus,
der niemals die Kraft einer aucto-
ritas hat, Nichts helfen. Aber
materiell kann die Handlung un-
gültig ſeyn, wenn die Erbſchaft
Nachtheil bringt; daß nun dieſes
nicht der Fall iſt, kann durch den
Conſens des Curators feſtgeſtellt
werden.
(v) L. 18 pr. qui test. (28. 1.),
§ 2 J. quib. non est perm. (2.
12.), Ulpian. XX. 13. — Nicht
einmal Zeuge bey einem fremden
Teſtament kann er ſeyn (§ 6 J.
de test. ord. 2. 10.), gerade wie
jeder Unmündige, auch ſelbſt der
pubertati proximus.
(w) J. Gothofrfdus l. c.
|0102 : 90|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
vollkommenheiten beruhen, jedoch mit dem Unterſchied, daß
das unreife Alter eine regelmäßige, in jedem menſchlichen
Leben nothwendig vorkommende, aber vorübergehende Un-
vollkommenheit iſt, anſtatt daß der Wahnſinn und die In-
terdiction als ungewöhnliche und krankhafte Zuſtände zu
betrachten ſind. Dagegen beruht die Unfähigkeit der juri-
ſtiſchen Perſonen überhaupt gar nicht auf einer individu-
ellen Unvollkommenheit, ſondern auf dem allgemeinen und
bleibenden Weſen dieſer Klaſſe von Perſonen.
§. 113.
II. Freye Handlungen. — Erweiterung durch Stell-
vertreter.
Die natürliche Fähigkeit der Perſon, durch ihre freye
Handlungen Veränderungen im Rechtszuſtand hervorzubrin-
gen, kann nach zwey Seiten hin poſitiv modificirt wer-
den: erſtlich einſchränkend, indem gewiſſe Perſonen ganz
oder theilweiſe für unfähig erklärt werden, durch ihre
Handlungen auf den Rechtszuſtand einzuwirken (§ 106 —
112); zweytens erweiternd, indem eine Stellvertre-
tung in juriſtiſchen Handlungen geſtattet wird. — Dieſe
Stellvertretung, welche jetzt genauer zu betrachten iſt, greift
auf zweyerley Weiſe, als wichtige Förderung, in den ge-
ſammten Rechtsverkehr ein. Zunächſt als bloße Erleich-
terung, indem dadurch die juriſtiſchen Organe eines Je-
den dergeſtalt gleichſam vervielfältigt werden, daß auf
dieſem Wege Rechtsgeſchäfte zu Stande kommen, welche
|0103 : 91|
§. 113. Handlungen durch Stellvertreter.
außerdem aus faktiſchen Gründen vielleicht gar nicht, viel-
leicht nur mit größerer Schwierigkeit entſtehen könnten.
Außerdem aber dient die Stellvertretung auch als Erſatz
für die nach den aufgeſtellten Regeln fehlende eigene Hand-
lungsfähigkeit, und in dieſer Anwendung zeigt ſie ſich noch
weit wichtiger als in der erſten. Denn durch ſie wird es
möglich, die Rechtsverhältniſſe des Unmündigen, des Wahn-
ſinnigen, des Interdicirten, ſo wie die der juriſtiſchen Per-
ſonen, durch freye Handlungen neu zu geſtalten, welches
ohne Stellvertretung meiſt ganz unmöglich ſeyn würde.
Ehe aber die Regeln ſelbſt über die Stellvertretung
aufgeſtellt werden, iſt es nöthig, das Gebiet, worin ſie
wirkſam iſt, zu bezeichnen. Dieſes Gebiet iſt das Ver-
moͤgen, ſo weit daſſelbe Gegenſtand des lebendigen Rechts-
verkehrs unter den Zeitgenoſſen iſt. — Daher findet die
Stellvertretung nur unbedeutende Anwendung innerhalb des
Familienrechts (a). Eben ſo auch im Erbrecht, welches die
Vermögensverhältniſſe nicht zwiſchen Zeitgenoſſen, ſondern
im Übergang von einem Geſchlecht auf das andere zum
Gegenſtand hat (b). Endlich auch in den Obligationen,
(a) So kann eine Ehe oder
Adoption nur in eigener Perſon,
nie durch Stellvertreter, geſchloſ-
ſen werden; eben ſo iſt es bey
der Emancipation, und bey der
Freylaſſung der Sklaven. Ge-
wiſſermaßen konnte es als Stell-
vertretung gelten, wenn der fili-
usfamilias eine Ehe durch con-
farreatio oder coemtio ſchloß,
und dadurch dem Vater das Recht
der manus über die Schwieger-
tochter erwarb.
(b) So kann Niemand durch
Stellvertreter ein Teſtament ma-
chen, oder eine ihm ſelbſt ange-
fallene Erbſchaft antreten. An-
ders iſt es, wenn der filiusfami-
lias oder der Sklave eine ihm
angefallene Erbſchaft antritt, und
dadurch dem Vater oder Herrn
das Erbrecht erwirbt.
|0104 : 92|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſo weit dieſe nicht auf dem Rechtsverkehr beruhen, das
heißt auf der rechtmäßigen Wechſelwirkung zwiſchen Per-
ſon und Perſon, ſondern auf der nothwendigen Ausglei-
chung der Rechtsverletzungen (c).
Die Rechtsregeln ſelbſt haben ſich in folgender Weiſe
entwickelt. — Urſprünglich beſtand der ſtrenge, für den
Rechtsverkehr ſehr beſchwerliche Grundſatz, daß eine Ver-
tretung nur gelte durch die von unſrer juriſtiſchen Gewalt
abhängenden Menſchen, und auch durch dieſe nur zum Er-
werben, nicht zur Verminderung des Vermögens.
Nach dieſem urſprünglichen Grundſatz alſo konnten Kin-
der und Sklaven, ſo wie Die welche in manu oder in
mancipio ſtanden, dem Familienhaupt gültigerweiſe erwer-
ben, und zwar ſowohl Eigenthum und jura in re, als
Schuldforderungen: dieſes konnte geſchehen ſelbſt durch
ſolche Rechtsgeſchäfte, welche unter den ſtrengen Regeln
und Formen des alten jus civile ſtanden, wie Mancipa-
tion und Stipulation. Dieſe Wirkung war ſelbſt unab-
hängig von dem Willen des Vertretenen und des Vertreters;
das heißt es konnte nicht blos der Vater zu ſeiner Be-
quemlichkeit dem Sohne den Auftrag geben, für ihn zu
ſtipuliren oder eine Mancipation zu empfangen, ſondern
auch wenn dieſe Handlungen von dem Sohn ohne Wiſſen
des Vaters vorgenommen wurden, kam dennoch das ſo
erworbene Recht unmittelbar in des Vaters Vermoͤ-
(c) So können Verträge durch
Stellvertreter geſchloſſen werden;
bey Delicten iſt das Verhältniß
der Stellvertretung unanwendbar.
|0105 : 93|
§. 113. Handlungen durch Stellvertreter.
gen (d). Es waren demnach alle in ſolcher Abhängigkeit
ſtehende Menſchen allgemeine Erwerbsinſtrumente des ge-
meinſamen Familienhauptes.
Dagegen konnte vermittelſt dieſer Vertretung das Ver-
mögen des Familienhauptes auf keine Weiſe vermindert
werden. Wenn alſo der Sohn durch Stipulation etwas
verſprach, ſo wurde der Vater nicht Schuldner: wenn er
eine Sache des Vaters mancipirte, ſo gieng auf den Em-
pfänger kein Eigenthum über (e). Auch in dieſer Hinſicht
war wieder der Wille des Vaters gleichgültig, ſo daß zu
ſolchen Zwecken der Vater zu ſeiner Bequemlichkeit den
Sohn nicht als Inſtrument gebrauchen konnte (f).
(d) Gajus II. § 86—96, III.
§ 163—167. Ulpian. XIX. § 18
— 21, tit. J. per quas pers. nob.
adqu. (2. 9.), tit. J. per quas
pers. nob. obl. adqu. (3. 28.),
L. 3 C. per quas pers. (4. 27.).
— Nur die in jure cessio konnte
durch dieſe Vertretung nicht be-
wirkt werden, weil der Sohn und
der Sklave nicht die Worte aus-
ſprechen konnten: hanc rem
meam esse ajo ex jure Quiri-
tium (Gajus II. § 96); bey dem
Sklaven auch ſchon deswegen nicht,
weil er niemals vor Gericht auf-
treten durfte.
(e) L. 133 de R. J. (50. 17.).
„Melior conditio nostra per ser-
vos fieri potest, deterior fieri
non potest.” L. 27 § 1 ad Sc.
Vell. (16. 1.), L. 3 C. de pactis
(2. 3.), L. 12 C. de adqu. poss.
(7. 32.). — Es iſt ganz zufällig,
daß in dieſen Stellen nur die
Sklaven erwähnt werden; der
Satz iſt gleich wahr bey allen an-
deren Arten der Abhängigkeit. —
Werden die von uns Abhängigen
zu Erben eingeſetzt, ſo können ſie
nur mit unſrem Willen die Erb-
ſchaft antreten, weil dieſe inſol-
vent ſeyn, alſo Schaden bringen
kann; haben ſie ſo angetreten, ſo
kommt dadurch das Erbrecht auf
uns, ganz als ob wir ſelbſt zu
Erben eingeſetzt wären. Gajus II.
§ 87, Ulpian. XIX. § 19.
(f) Wenn alſo der Herr dem
Sklaven befahl, für ihn eine
Schuld zu contrahiren, ſo wurde
dennoch der Herr nach altem
Recht nicht Schuldner; deswegen
führte hier der Prätor eine ei-
gene Klage ein, quod jussu.
Eben ſo verhält es ſich mit den
anderen, allmälig eingeführten,
|0106 : 94|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Unabhängige Menſchen endlich konnten nach keiner Seite
hin eine wirkſame Vertretung übernehmen, ſo daß es ganz
unmöglich war, durch die juriſtiſchen Handlungen fremder
oder freyer Menſchen (g) Rechte zu erwerben, Rechte auf-
zugeben, oder Verpflichtungen zu übernehmen, ſelbſt wenn
alle dabey betheiligte Perſonen über dieſe Vertretung ein-
verſtanden waren (h).
Ein ſo beſchränkender Grundſatz konnte ſich nicht er-
halten, ſobald der Verkehr lebendiger und vielſeitiger wurde.
Man fieng daher an, in einzelnen Fällen auch eine freye
Stellvertretung zuzulaſſen. Zuerſt geſchah dieſes bey dem
Erwerb des Beſitzes, und bey den auf den Beſitz gegrün-
deten Erwerbungsarten des Eigenthums, wie Tradition
und Occupation (i). Sehr natürlich wurde dann auch bey
der Veräußerung durch Tradition, eben ſo wie bey der
Erwerbung durch dieſelbe, die Vertretung zugelaſſen, die
dabey durch eigene Sklaven und Kinder eben ſowohl als
durch freye Menſchen bewirkt werden konnte (k). Nun
indirecten Verpflichtungen durch
Kinder und Sklaven: actio de
peculio, tributoria, de in rem
verso.
(g) Derjenige, welcher von uns
unabhängig, und deshalb zu un-
ſrer Vertretung nach altem Recht
unfähig iſt, heißt extranea oder
auch libera persona (Gajus II.
§ 95); libera bezeichnet alſo hier
den Gegenſatz nicht blos (wie ſonſt
gewöhnlich) der dominica pote-
stas, ſondern jeder Abhängigkeit
von potestas, manus, manci-
pium.
(h) Gajus II. §. 95, § 5 J. per
quas pers. nob. adqu. (2. 9.).
(i) §. 5. J. per quas pers.
(2. 9.), L. 1 C. de adqu. poss.
(7. 32.), L. 20 § 2 de adqu.
rer. dom. (11. 1.), L. 1 C. per
quas pers. (4. 27.), L. 11 § 6
de pign. act. (13. 7.), Paulus
V. 2 § 2. — Vgl. Savigny,
Recht des Beſitzes § 26.
(k) 42, 43 J. de rer. div.
|0107 : 95|
§. 113. Handlungen durch Stellvertreter.
alſo war im Verkehr des Eigenthums die freye Vertre-
tung nur noch für diejenigen Formen ausgeſchloſſen, die
dem alten Civilrecht angehörten, das heißt für die Man-
cipation und die in jure cessio. — Eine ähnliche Erleich-
terung des Verkehrs wurde dann auch bey den Obliga-
tionen geſtattet, nur daß man hier die Veränderung mehr
allmälig und zögernd, als bey dem Eigenthum, eintreten
ließ (l). Man ließ es alſo zu, daß bey Contracten, wie
Kauf und Miethe, durch Stellvertreter Forderungen er-
worben und Schulden übernommen würden; als vermitt-
lende Rechtsform wurde dabey die Ertheilung von utiles
actiones angewendet. Contracte aber, die auf der ſtren-
gen Form des alten Civilrechts beruhten, das heißt die
Stipulationen, ſollten ſtets nur in eigener Perſon, nicht
durch freye Stellvertreter, geſchloſſen werden, und dieſe
Regel iſt noch im Juſtinianiſchen Recht anerkannt (m).
Nur wurde auch dabey noch eine praktiſche Milderung zu-
gelaſſen. Für eine einzelne Stipulation zwar ſollte kein
Stellvertreter zugelaſſen werden. Wenn aber während
einer allgemeineren Verwaltung fremder Geſchäfte unter
andern auch Stipulationen, als einzelne Stücke der Ge-
ſchäftsführung, geſchloſſen werden mußten, ſo ſollten die
Klagen aus dieſen nicht für und wider den Geſchäftsfüh-
(2. 1.), L. 9 §. 4 de adqu. rer.
dom. (41. 1.), L. 41 § 1 de rei
vind. (6. 1.)
(l) Die genauere quellenmä-
ßige Ausführung dieſes Punktes
iſt nur im Zuſammenhange des
Obligationenrechts möglich.
(m) L. 3 C. de contr. stip.
(8. 38.), L. 1 C. per quas pers.
(4. 27.), § 4 J. de inut. stip.
(3. 17.), L. 126 § 2 de V. O.
(45. 1.)
|0108 : 96|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
rer, ſondern für und wider den Herrn des Geſchäfts, ge-
geben werden. So bey dem Vormund (n), und eben ſo
bey dem Prozeßprocurator (o), wenn jener in den vor-
mundſchaftlichen Geſchäften, dieſer im Lauf des Prozeſſes,
Stipulationen abzuſchließen veranlaßt wurde.
Aus dieſen einzelnen Fällen bildete ſich denn endlich die
allgemeine Regel, die im Juſtinianiſchen Recht nur in fol-
gender Stelle zu allgemeiner Anerkennung gekommen iſt.
L. 53 de adqu. rer. dom. (41. 1.) (aus Modestin. lib. 14
ad Q. Mucium): „Ea, quae civiliter adquiruntur, per
eos qui in potestate nostra sunt adquirimus, veluti
stipulationem: quod naturaliter adquiritur, sicuti est
possessio, per quemlibet volentibus nobis possidere
adquirimus.”
Das Reſultat, welches hieraus für das Juſtinianiſche
Recht hervorgeht, läßt ſich in folgenden Sätzen darſtellen:
1) Civile Handlungen ſtehen noch jetzt unter den oben
dargeſtellten Regeln des alten Rechts; bey ihnen gilt alſo
nur Vertretung im Erwerb, und nur durch die vom Er-
werber abhängigen Menſchen.
Civile Handlungen aber ſind im Juſtinianiſchen Recht
(innerhalb der oben beſtimmten Gränzen, alſo mit Aus-
ſchluß des Erbrechts und des Familienrechts) nur noch die
Stipulationen.
(n) L. 2 pr. de admin. (26. 7.),
L. 5. 6. 7. 8. quando ex facto
tut. (26. 9.)
(o) L. 5 de stip. praetor.
(46. 5.)
|0109 : 97|
§. 113. Handlungen durch Stellvertreter.
2) Naturale Handlungen laſſen jede Vertretung zu:
durch abhängige, und durch freye Menſchen: wir mögen
durch die Handlung erwerben oder verlieren.
Dahin alſo gehören bey weitem die meiſten und wich-
tigſten Geſchäfte des Juſtinianiſchen Rechts, ſo daß die-
ſer Theil der Regel nunmehr von überwiegender Bedeu-
tung iſt (p).
3) Die Vertretung ſelbſt iſt nun von zweyerley Art:
a) Die ſchon im alten Recht gegründete nothwendige
Vertretung gilt nur für den Erwerb (geſchehe dieſer durch
civile oder durch naturale Handlungen), hier aber unab-
hängig vom Bewußtſeyn und Willen des Herrn. Sie
kommt aber faſt nur noch vor bey Sklaven; denn manus
und mancipium ſind ganz verſchwunden, und Kinder in
väterlicher Gewalt erwerben in der Regel nicht mehr für
den Vater, ſondern für ſich ſelbſt (q).
(p) Mehrere Stellen des Ju-
ſtinianiſchen Rechts ſcheinen damit
im Widerſpruch zu ſtehen, z. B.
§ 5 J. per quas pers. (2. 9.) und
L. 1 C. per quas pers. (4. 27.),
nach welchen man glauben könnte,
der Erwerb durch Beſitz ſey der
einzige Fall, worin ausnahms-
weiſe eine Vertretung durch freye
Menſchen gelte (wodurch damals,
als jene Stellen geſchrieben wur-
den, beſonders die Mancipation
ausgeſchloſſen werden ſollte); eben
ſo andere Stellen, worin noch die
freye Vertretung bey naturalen
Contracten als zweifelhaft er-
ſcheint. Alle dieſe Stellen kön-
nen nun im Zuſammenhang des
Juſtinianiſchen Rechts nur ſo an-
geſehen werden, daß ſie die Ent-
wicklungsgeſchichte der Regel dar-
ſtellen, die in ihrer unzweifelhaf-
ten neueſten und allein gültigen
Geſtalt, durch die im Text ab-
gedruckte L. 53 de a. r. d. aus-
geſprochen wird.
(q) Das heißt, wenn ein fili-
usfamilias Etwas erwirbt, ohne
dabey des Vaters zu erwähnen,
ſo wird er ſelbſt Eigenthümer,
anſtatt daß hier vor Juſtinian
der Vater das Eigenthum er-
warb. Will aber der Vater Et-
was erwerben, ſo verſteht es ſich
III. 7
|0110 : 98|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
b) Die freye Vertretung kann auf zweyerley Weiſe
begründet werden.
In der Regel geſchieht es durch den Willen Desjeni-
gen, deſſen Rechte entſtehen oder untergehen ſollen.
Iſt aber Dieſer ſelbſt handlungsunfähig, ſo geſchieht
es durch ein allgemeines, jenen Willen erſetzendes, Rechts-
verhältniß: in den Fällen des unreifen Alters, des Wahn-
ſinns, und der Interdiction, durch die Vormundſchaft;
bey juriſtiſchen Perſonen durch die in ihrer beſonderen
Verfaſſung dazu beſtimmten Perſonen.
Was iſt nun von dieſem Juſtinianiſchen Syſtem der
Vertretung noch übrig in unſrem heutigen Recht? Wir
haben keine Stipulationen und keine Sklaven mehr. Da-
her beſteht für uns nur noch:
die unbeſchränkte Zulaſſung der freyen Vertretung,
indem in unſrem Recht alle Handlungen naturale ſind,
und indem die nothwendige Vertretung durch Sklaven
nicht mehr vorkommen kann.
§. 114.
III. Willenserklärungen. — Zwang und Irrthum.
Unter Willenserklärungen oder Rechtsgeſchäften ſind
diejenigen juriſtiſchen Thatſachen zu verſtehen, die nicht
von ſelbſt, daß dazu der Sohn,
eben ſo wie jeder Fremde, als
Mittelsperſon dienen kann; ge-
rade ſo, wie er auch zu Veräu-
ßerungen vom Vater als Mit-
telsperſon gebraucht werden darf.
|0111 : 99|
§. 114. Zwang und Irrthum.
nur freye Handlungen ſind, ſondern in welchen zugleich
der Wille des Handelnden auf die Entſtehung oder Auf-
löſung eines Rechtsverhältniſſes unmittelbar gerichtet iſt
(§ 104).
Drey Momente derſelben ſind hier einzeln zu erwägen:
der Wille ſelbſt, die Erklärung des Willens, und die
Übereinſtimmung des Willens mit der Erklärung.
Der Wille ſelbſt bedarf nach zwey Seiten hin einer
genaueren Beſtimmung:
1) Das Daſeyn deſſelben kann zweifelhaft werden
durch entgegen wirkende Thatſachen, deren Einfluß unter-
ſucht und feſtgeſtellt werden muß. Dieſe Thatſachen ſind:
Zwang und Irrthum.
2) Der Umfang des Willens kann modificirt werden
durch Beſchränkungen, die er ſich ſelbſt giebt. Dieſe mög-
liche Selbſtbeſchränkungen ſind: Bedingung, Zeit, Modus.
Das Daſeyn des Willens ſcheint durch Zwang und
Irrthum ausgeſchloſſen zu werden nach folgender Betrach-
tung. Zwang iſt der Gegenſatz der Freyheit. Wenn alſo
Zwang als Beweggrund auf den Willen eingewirkt hat,
ſo iſt kein freyer, alſo kein wirklicher Wille vorhanden,
ſondern nur der Schein des Willens. — Wenn ferner ein
Irrthum als Beweggrund auf den Willen einwirkt, ſo iſt
der Wollende ohne wahres (mit der Wirklichkeit überein-
ſtimmendes) Bewußtſeyn, folglich eben ſo wenig einer wirk-
7*
|0112 : 100|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſamen Willenserklärung fähig, als der Unmündige oder
Vernunftloſe.
Die genauere Ergründung beider Fälle wird die in
dieſen Behauptungen enthaltene Täuſchung darlegen. Je-
doch muß ſchon jetzt auf das wahre Element hingewieſen
werden, welches bey dieſer Täuſchung im Hintergrund
ſteht. Es findet ſich nämlich hier die wichtige Einwirkung
ſittlicher, dem Rechtszuſtand weſentlich verwandter, Mo-
mente. Der Zwang an ſich hebt das Daſeyn und die
Wirkſamkeit des Willens nicht auf; aber die in demſelben
enthaltene, in das Rechtsgebiet ſtörend eingreifende, Un-
ſittlichkeit macht eine poſitive Gegenwirkung nothwendig.
— Eben ſo hebt der Irrthum an ſich das Bewußtſeyn,
und mit dieſem den Willen, nicht auf; aber es kann da-
bey eine ähnliche, das Rechtsgebiet ſtörende, Unſittlichkeit
vorkommen, und dann iſt die gleiche Nothwendigkeit poſi-
tiver Gegenwirkung vorhanden. — Nunmehr ſind dieſe bei-
den Fälle abgeſondert darzuſtellen.
Zwang oder Gewalt (vis) bezeichnet zwey ganz ver-
ſchiedene Arten der Einwirkung eines Menſchen auf einen
andern.
1) Überwältigung durch körperliche Übermacht, ſo daß
ſich der Gezwungene blos leidend verhält. Von dieſer kann
hier, bey Willenserklärungen, die in geiſtiger Thätigkeit
beſtehen, gar nicht die Rede ſeyn. Denn wenn z. B. Ei-
ner dem Andern mit Gewalt die Hand zur Unterſchrift
einer Urkunde führt, ſo liegt darin, eben ſo wie bey der
|0113 : 101|
§. 114. Zwang und Irrthum.
von einem Anderen nachgemachten Unterſchrift, gar keine
Einwilligung, ſondern höchſtens der täuſchende Schein ei-
ner ſolchen. — Negativ freylich kann dieſe Art des Zwangs
bey Willenserklärungen wohl vorkommen, nämlich um die-
ſelben unmöglich zu machen; wenn z. B. Einer durch Ein-
ſperren verhindert wird, einen Vertrag zu ſchließen, oder
ein Teſtament zu machen. — Die Neueren nennen dieſe
Art der Gewalt vis absoluta.
2) Einwirkung auf den Willen des Handelnden durch
Drohung, alſo durch die zu dieſem Zweck in ihm abſicht-
lich erregte Furcht, bey den Neueren vis compulsiva ge-
nannt (a). Von dieſer allein, als von einer Einwirkung
auf den Willen des Andern, kann hier die Rede ſeyn.
Eigentlich wäre es daher beſſer, in dieſer Unterſuchung
nur von Furcht, nicht von Zwang zu ſprechen, wie es
auch bey den Römern in der That geſchieht (b); dennoch
iſt hier der Ausdruck Zwang gebraucht worden, theils
weil er bey neueren Schriftſtellern der üblichere iſt, theils
weil aus ihm allein der Schein begreiflich wird, als ob
gar kein Wille vorhanden wäre: dieſer Schein aber iſt es,
(a) Der Gegenſatz beider Ar-
ten der Gewalt wird beſonders
anſchaulich bey dem Verluſt des
Beſitzes; dieſer kann ſowohl durch
abſolute Gewalt bewirkt werden,
als durch compulſive; im erſten
Fall iſt es eine Dejection, im
zweyten eine erzwungene Tradi-
tion; im erſten Fall iſt das in-
terdictum de vi begründet, im
zweyten die actio quod metus
causa. Vgl. L. 9 pr. quod me-
tus (4. 2.), L. 5 de vi (43. 16.)
(b) Das Edict lautete urſprüng-
lich ſo: quod vi metusque causa
gestum erit, ſpäterhin wurde die
Erwähnung der vis weggelaſſen,
ſo daß es nun blos heißt: quod
metus causa gestum erit. L. 1
quod metus (4. 2.).
|0114 : 102|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
auf deſſen Vernichtung es in dieſer Unterſuchung vorzugs-
weiſe ankommt.
Allerdings liegt es ſehr nahe, Zwang und Freyheit
als einander ausſchließende Zuſtände anzuſehen, mithin die
Freyheit ſchlechthin zu verneinen, da wo Zwang vorhan-
den iſt. Dennoch müſſen wir bey genauerer Betrachtung
dieſe Anſicht gänzlich aufgeben. Mit den ſpeculativen
Schwierigkeiten des Freyheitsbegriffs haben wir im Rechts-
gebiet Nichts zu ſchaffen; uns berührt blos die Freyheit
in der Erſcheinung, das heißt die Fähigkeit, unter meh-
reren denkbaren Entſchlüſſen eine Wahl zu treffen. Daß
aber dieſe Fähigkeit bey dem Gezwungnen, das heißt bey
dem Bedrohten, wahrhaft vorhanden iſt, kann nicht be-
zweifelt werden. Er hat die Wahl ſogar zwiſchen Drey
möglichen Entſchlüſſen: die Handlung vorzunehmen, wozu
ihn der Drohende beſtimmen will; das gedrohte Übel durch
Widerſtand abzuwehren; oder endlich dieſes Übel zu er-
dulden. Hat er nun den erſten dieſer drey Wege erwählt,
ſo iſt die Freyheit der Wahl, alſo ſeines Wollens, wahr-
haft vorhanden, und wir müſſen das wirkliche, nicht blos
ſcheinbare, Daſeyn einer Willenserklärung, z. B. eines
Vertrags, mit allen daran geknüpften Rechtswirkungen,
unbedenklich anerkennen.
Dieſe Anſicht iſt denn auch die des Römiſchen Rechts
in ſo klaren, entſcheidenden Stellen (c), daß ſelbſt die
(c) L. 21 § 5 quod metus (4.
2.). „Si metu coactus adii he-
reditatem, puto me heredem
effici, quia, quamvis si liberum
|0115 : 103|
§. 114. Zwang und Irrthum.
ſcheinbar entgegenſtehenden Zeugniſſe keinen erheblichen
Zweifel erregen können (d). Ganz vorzüglich aber iſt die
unzweifelhafte praktiſche Behandlung dieſes Falles, von
welcher ſogleich die Rede ſeyn wird, nur unter Voraus-
ſetzung jener Grundregel begreiflich.
Obgleich nun der Zwang zu einer Willenserklärung
die Freyheit des Handelnden an ſich nicht aufhebt, folg-
lich der natürlichen Wirkſamkeit der Erklärung nicht im
Wege ſteht, ſo ſteht er dennoch im geraden Widerſpruch
mit dem Zweck alles Rechts, welcher auf die ſichere und
ſelbſtſtändige Entwicklung der Perſönlichkeit gerichtet iſt
esset noluissem, tamen coactus
volui: sed per Praetorem re-
stituendus sum, ut abstinendi
mihi potestas tribuatur.” —
L. 21. 22 de ritu nupt. (23. 2.).
„.. Si patre cogente ducit uxo-
rem, quam non duceret si sui
arbitrii esset … maluisse hoc
videtur.” Es iſt kein Grund vor-
handen, unter dem allgemeinen
Ausdruck dieſer letzten Stelle, wie
Manche wollen, etwas Anderes
als den eigentlichen Zwang, näm-
lich die ehrfurchtsvolle Nachgie-
bigkeit gegen den ernſten Willen
des Vaters (metus reverentia-
lis) zu verſtehen.
(d) L. 6 § 7 de adqu. vel om.
her. (29. 2.). „Celsus .. scripsit,
eum qui metu … coactus, fal-
lens adierit hereditatem .. he-
redem non fieri” etc. Fallens
ſteht für simulans, er hatte alſo
nur zum Schein etwa Handlun-
gen eines Erben (als gestio) aus
Furcht vorgenommen, folglich gar
nicht wirklich angetreten (fallens
adierit für simulaverit se adire).
Die Emendation pallens für fal-
lens iſt verwerflich. Vgl. über
die Stelle, außer der Gloſſe,
auch Cujacius in L. 21 quod me-
tus Opp. I. 971. Marckart in-
terpret. II. 13. — L. 9 pr. qui
et a quib. manum. (40. 9.). In
der hier erwähnten erzwungnen
Handlung liegt gar keine Manu-
miſſion, ſondern blos die an ſich
unwirkſame ſchriftliche Anerken-
nung der Freyheit. L. 17 pr.
eod. ſpricht von einem poſitiven,
polizeylichen Verbot der durch
Volksgewalt erzwungenen Frey-
laſſungen; das Bedürfniß eines
ſolchen Verbots beweiſt gerade,
daß die Handlung ohne daſſelbe
gültig geweſen wäre.
|0116 : 104|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
(§ 52). Demnach liegt in dem Zwang eine in das Rechts-
gebiet ſtörend eingreifende Unſittlichkeit; ſie iſt dem Un-
recht verwandt, wenngleich kein wirkliches, unmittelbares
Unrecht (e). Es iſt die Aufgabe des poſitiven Rechts,
dieſe Unſittlichkeit, durch poſitive Gegenwirkung, von dem
Rechtsgebiet abzuwehren, und genau dieſe Aufgabe findet
ſich im Römiſchen Recht deutlich anerkannt (f). Die ſehr
mannichfaltigen Mittel zu dieſer Abwehr koͤnnen nur in
den einzelnen Theilen des Syſtems ganz deutlich gemacht
werden; hier muß eine allgemeine Überſicht genügen. Es
dient zu dieſem Zweck erſtlich eine beſondere Klage; ferner
eine Exception gegen die Klage jedes Andern; endlich,
wenn dieſe regelmäßigen Mittel nicht genügen, die Wie-
derherſtellung des veränderten Rechtszuſtandes auf dem
Wege einer Reſtitution (g).
(e) Der Zwang oder die Dro-
hung enthält nicht einmal noth-
wendig ein beabſichtigtes, vorbe-
reitetes Unrecht, da der Drohende
feſt entſchloſſen ſeyn kann, die
Drohung nicht zu vollziehen. Für
die rechtliche Wirkung macht Die-
ſes keinen Unterſchied, da die un-
gehörige Einwirkung auf den frem-
den Willen ſtets dieſelbe bleibt.
(f) L. 116 pr. de R. J. (50.
17.). „Nihil consensui tam con-
trarium est, qui bonae fidei ju-
dicia sustinet, quam vis atque
metus: quem comprobare, con-
tra bonos mores est.” Anſtatt
qui bonae fidei lieſt die Floren-
tina qui ac b. f., mehrere Hand-
ſchriften leſen qui et b. f. Die
hier angenommene beſſere Leſe-
art beruht gleichfalls auf Hand-
ſchriften. — L. 3 § 1 quod me-
tus (4. 2.). „.. vim accipimus
… quae adversus bonos mores
fiat.” — L. 1 eod. „Ait Prae-
tor: Quod metus causa gestum
erit, ratum non habebo.” —
L. 21 § 5 eod. (ſ. o. Note c).
(g) Die Behandlung dieſes Ge-
genſtandes iſt in Beziehung auf
dingliche Rechte und Obligatio-
nen großentheils unzweifelhaft.
Mehr beſtritten iſt die Wirkung
ſolcher Drohungen, wodurch ein
letzter Wille veranlaßt wird. Vgl.
Glück B. 33 S. 426. Mühlen-
|0117 : 105|
§. 114. Zwang und Irrthum.
Die Bedingungen aber, unter welchen allein der Zwang
dieſe wichtige Wirkung haben kann, ſind gleich hier voll-
ſtändig zuſammen zu ſtellen.
1) Es iſt noͤthig die Furcht vor einem bedeutenden
Übel, das heißt die Bedrohung des Lebens, oder des Lei-
bes (h), oder der Freyheit. Dieſes letzte gilt in einem
doppelten Sinn: ſowohl für die factiſche Entziehung der
Freyheit durch Gefängniß oder Ketten (i), als auch für
den wirklichen Sklavenſtand (k), wenn etwa die Drohung
darauf geht, eine vindicatio in servitutem durch Unter-
drückung von Urkunden verderblich zu machen (l), oder
wenn es in der Macht des Drohenden ſteht, den Freyen
in einen Sklaven zu verwandeln (m). In allen dieſen
bruch § 643. — Bey der Ehe
hatte das ältere R. R., wegen der
freyen Scheidung, kein Bedürf-
niß einer beſonderen Abhülfe; die
bey Obligationen angewendeten
Mittel paßten hier nicht. Das
neueſte Recht, welches die Schei-
dung ſo ſehr erſchwert, hat hier
eine Lücke gelaſſen. Das cano-
niſche Recht nimmt ganz conſe-
quent Nichtigkeit der Ehe an. C. 15.
28 X. de spons. (4. 1.), C. 2 X.
de eo qui dux. (4. 7.). Böhmer
§ 348. Eichhorn II. S. 351.
(h) L. 3 § 1 L. 7 § 1 L. 8 pr.
§ 2 quod metus (4. 2.), L. 3 ex
quib. causis majores (4. 6.), L. 13
C. de transact. (2. 4.), L. 7 C.
de his quae vi (2. 20.).
(i) L. 7 § 1 L. 22 L. 23 § 1.
2 quod metus (4. 2.).
(k) L. 4 quod metus (4. 2.).
„Ego puto etiam servitutis ti-
morem, similiumque admitten-
dum.” Die Similia ſind nun eben
die in Note i angeführten Dro-
hungen: Gefängniß oder Feſſeln.
(l) L. 8 § 1 quod metus (4. 2.).
(m) So z. B. die mit einem
fremden Sklaven verheirathete
freye Frau, nach dem Sc. Clau-
dianum. Eben ſo den undank-
baren Freygelaſſenen. Wenn in
dieſem letzten Fall die Anwend-
barkeit des Edicts verneint wird
(L. 21 pr. quod metus 4. 2.),
ſo geſchieht dieſes nicht deswe-
gen, weil die revocatio in ser-
vitutem kein hinreichendes Übel
wäre, ſondern weil in dem durch
die angeführte Stelle vorausge-
ſetzten Fall die Furcht gar nicht
|0118 : 106|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Fällen iſt es gleichgültig, ob dem Handelnden für ſich
ſelbſt, oder für ſeine Kinder, die Gefahr angedroht
wird (n). — Auf dieſe Fälle aber beſchränkt ſich jene wich-
tige Wirkung der Drohungen, weshalb folgende Fälle ohne
Einfluß ſind: Bedrohung des guten Rufs (o), oder auch
des Vermögens. Insbeſondere iſt die Bedrohung mit Pro-
zeſſen, ſeyen es Civilklagen oder Criminalanklagen, dazu
nicht hinreichend (p). — Man kann alſo ſagen, daß die-
jenigen Übel, deren Androhung jene Wirkung hervorbrin-
gen ſoll, faſt immer wahre Rechtsverletzungen enthalten
müſſen (q): umgekehrt aber würde die Drohung einer blos
durch eine Drohung des Patrons,
ſondern nur durch das böſe Ge-
wiſſen der Freygelaſſenen ſelbſt,
entſtanden war.
(n) L. 8 § 3 quod metus (4. 2.).
(o) L. 7 pr. quod metus (4. 2.).
„Nec timorem infamiae hoc
edicto contineri.” Der Ausdruck
iſt zweydeutig. Er kann auf Zu-
ziehung wahrer Infamie gehen (z.
B. wenn der Drohende es in ſei-
ner Macht hat, durch doli oder
furti actio die Ehre wirklich zu
entziehen), oder auch auf Gefähr-
dung des guten Rufs durch üble
Nachreden. In beiden Bedeutun-
gen muß der Satz für wahr ge-
halten werden.
(p) L. 7 pr. quod metus (4. 2)
„neque alicujus vexationis ti-
morem per hoc edictum resti-
tui.” — L. 10 C. de his quae vi
(2. 20.). „Accusationis institu-
tae vel futurae metu alienatio-
nem seu promissionem factam
rescindi postulantis, improbum
est desiderium.” — Damit iſt
nicht geſagt, daß gegen die Dro-
hung einer Klage, um Geld oder
Geldeswerth zu erpreſſen, kein
Schutz zu finden wäre; vielmehr
bezieht ſich darauf das Edict de
calumniatoribus (Dig. III. 6),
welches jedoch andere Regeln hat,
als die actio quod metus causa.
(q) Ich ſage: fa ſt immer, denn
wenn die freye Frau eines Skla-
ven, oder der undankbare Frey-
gelaſſene, in Sklaven verwandelt
werden, ſo iſt das keine Rechts-
verletzung. Dieſe ſcheinbare In-
conſequenz erklärt ſich daraus, daß
der zum Sklaven Gemachte recht-
los wird, ſo daß von nun an ge-
gen ſeine Perſon Alles möglich und
erlaubt iſt, was außerdem Rechts-
verletzung geweſen wäre.
|0119 : 107|
§. 114. Zwang und Irrthum.
auf das Vermögen gerichteten Rechtsverletzung zu jener
Wirkung gewiß nicht hinreichen (r).
2) Es iſt ferner nöthig eine gegründete Furcht, alſo
ein wahrſcheinliches Übel, welchem ſchwer zu widerſtehen
iſt, ſo daß der Characterſchwäche oder der leeren Einbil-
dung kein Schutz verheißen ſeyn ſoll (s).
3) Endlich aber, und was das Wichtigſte iſt, es ge-
nügt nicht das bloße Daſeyn der Furcht, ſondern die Furcht
muß auf einer Drohung beruhen, das heißt ſie muß von
irgend einem Menſchen abſichtlich erregt worden ſeyn, um
dieſe Handlung zu bewirken (t). War dieſes der Fall, ſo
beſchränkt ſich allerdings die Wirkung nicht auf den Ur-
heber allein, ſondern ſie erſtreckt ſich auch auf andere,
ſchuldloſe Perſonen, das heißt ſie geht in rem (u).
Faſſen wir das hier Geſagte, und im Einzelnen Be-
wieſene, zu einer kurzen Überſicht zuſammen, ſo ergiebt
ſich daraus die Beſtätigung des oben aufgeſtellten Grund-
(r) Auch hier wieder (wie in
Note p) muß gegen das Mis-
verſtändniß gewarnt werden, als
ob gegen ſolche Drohungen jegli-
cher Schutz fehlte. Hier kann die
condictio ob turpem causam
helfen (L. 2 pr. L. 4 § 2 de cond.
ob turp. 12. 5.), die nur andere
Regeln hat, als die actio quod
metus causa. Der durchgrei-
fendſte praktiſche Unterſchied liegt
darin, daß die actio quod me-
tus causa gegen jeden Dritten
wirkt, anſtatt daß die erwähnten
anderen Rechtsmittel (Note p und
r) nur gegen den Thäter gehen.
(s) L. 6 quod metus (4. 2.).
„Metum autem non vani homi-
nis, sed qui merito et in ho-
mine constantissimo cadat, ad
hoc edictum pertinere constat.”
L. 7 pr. L. 9 pr. eod. L. 184 de
R. J. (50. 17.).
(t) L. 14 § 3 quod metus (4.
2.) „sufficit enim hoc docere,
metum sibi illatum.” L. 9 § 1
L. 21 pr. eod.
(u) L. 9 § 8 quod metus (4.
2.), L. 4 § 33 de doli except.
(44. 4.).
|0120 : 108|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſatzes: der Zwang ſchließt nicht die Freiheit aus, ſo daß
neben ihm die Willenserklärung dennoch beſteht und wirkt.
Ihre natürlichen Folgen aber werden durch eine poſitive
Gegenwirkung gehemmt, deren Grund in der Unſittlichkeit
liegt, wodurch der Zwang das Rechtsgebiet ſtört.
In dieſer Verbindung aber tritt die Wahrheit der
Grundregel, daß der Zwang die Freyheit nicht ausſchließt,
noch deutlicher hervor. Erſtlich wegen der nöthig gefun-
denen poſitiven Gegenanſtalten. Wenn ein Unmündiger
oder ein Wahnſinniger ſolche Worte ausſpricht, wodurch
ein Handlungsfähiger, welcher ſie ausſpräche, verpflichtet
werden würde, ſo wird nicht daran gedacht, ihm dagegen
einen künſtlichen Schutz zu bereiten, z. B. durch eine Ex-
ception gegen die Contractsklage des Gegners; es iſt ju-
riſtiſch gar Nichts geſchehen, das iſt genug. Ganz ſo
müßte es auch ſeyn bey Demjenigen, welcher durch Dro-
hungen zu einer Willenserklärung beſtimmt wird, wenn
wirklich der Zwang die Willensfreyheit ausſchlöſſe; da es
hier nicht ſo iſt, ſo muß wohl Freyheit als vorhanden
vorausgeſetzt ſeyn. — Zweytens, wenn die Freyheit durch
Furcht ausgeſchloſſen würde, ſo müßte es ganz gleichgül-
tig ſeyn, ob dieſe Furcht durch das bloße Denken des
Fürchtenden allein, oder durch fremde Drohung entſtanden
wäre, da in beiden Fällen der Seelenzuſtand des Fürch-
tenden derſelbe iſt. Da nun aber jener Rechtsſchutz nie
der bloßen Furcht allein, ſondern lediglich der durch Dro-
hung erzeugten Furcht gewährt wird, ſo muß der Grund
|0121 : 109|
§. 114. Zwang und Irrthum.
dieſes Rechtsſchutzes nicht in die mangelnde Willensfrey-
heit des Fürchtenden, ſondern in die rechtswidrige Unſitt-
lichkeit des Drohenden, geſetzt werden.
Um die hier bekämpfte Meynung, nach welcher der
Zwang das Daſeyn des freyen Wollens ausſchließen ſoll,
völlig zu beſeitigen, iſt es nöthig, zum Schluß noch eine
mögliche Geſtalt derſelben zu erwähnen, welche mehreren
ihrer Vertheidiger, wenn auch nicht ganz deutlich gedacht,
vorgeſchwebt zu haben ſcheint. Man kann ſich nämlich
den durch die Drohung erzeugten Seelenzuſtand in Gedan-
ken ſo ſteigern, daß er dem Wahnſinn oder der äußerſten
Trunkenheit gleichartig wird, in welchem Fall der ſo Ge-
ängſtete in der That nicht mehr weiß was er thut oder
redet, alſo wirklich bewußtlos iſt. In dieſem Fall iſt nun
in Wahrheit gar kein Wille vorhanden (§ 112), und kein
Richter wird darüber im Zweifel ſeyn. Dabey iſt es auch
ganz gleichgültig, ob dieſe Art der Bewußtloſigkeit durch
menſchlichen böſen Willen, oder durch Naturereigniſſe, viel-
leicht blos durch die Einbildungskraft eines höchſt furcht-
ſamen Menſchen, hervorgebracht worden iſt. Das Roͤ-
miſche Recht denkt entſchieden gar nicht an dieſen Fall,
theils weil in demſelben gewiß Alles ipso jure nichtig ſeyn
würde, theils weil die Drohung als Grund der Furcht
dabey gleichgültig iſt, die doch das Roͤmiſche Recht als
unerläßliche Bedingung ſeiner indirecten Schutzanſtalten
fordert. Dieſer Fall iſt aber auch praktiſch eben ſo un-
|0122 : 110|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
wichtig, als deſſen Behandlung unzweifelhaft iſt. Er iſt
unwichtig, weil er nur höchſt ſelten vorkommen kann.
Denn wo die Angſt dieſen höchſten Grad erreicht, in wel-
chem ſie den Menſchen wahrhaft bewußtlos macht, da
wird meiſt auch nicht die Möglichkeit einer ſcheinbaren
Thätigkeit zurück bleiben; es wird vielmehr eine Ohn-
macht erfolgen, oder wenigſtens die gänzliche Unfähigkeit
zu jeder Aeßerung, die als eine Willenserklärung fälſch-
lich ausgelegt werden könnte.
Die ganze Frage übrigens, die hier für das Privat-
recht aufgeworfen und beantwortet worden iſt, kommt
auch im Criminalrecht vor, und hat auch hier ähnliche
Schickſale gehabt, wie im Privatrecht. Das Princip iſt
auch hier daſſelbe. Wer durch Drohungen beſtimmt wird,
ein Verbrechen zu begehen, handelt frey, und iſt zurech-
nungsfähig, mit Ausnahme der ſeltenen Fälle, worin die
Angſt zur wahren Bewußtloſigkeit wird. Allein die prak-
tiſche Behandlung wird hier eine ganz andere. Von einer
indirecten Ungültigkeit (per exceptionem) kann im Crimi-
nalrecht natürlich nicht die Rede ſeyn; dagegen wird hier
die Drohung zuweilen Grund einer Milderung oder ſelbſt
der Strafloſigkeit ſeyn. Die genauere Ausführung dieſer
Frage kann hier nicht unternommen werden.
|0123 : 111|
§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)
§. 115.
III. Willenserklärungen. — Zwang und Irrthum.
(Fortſetzung.)
Es bleibt übrig die Betrachtung des Irrthums als
eines denkbaren Hinderniſſes für das Daſeyn einer wahren,
wirkſamen Willenserklärung.
Irrthum überhaupt iſt der Zuſtand des Bewußtſeyns, in
welchem die wahre Vorſtellung eines Gegenſtandes von ei-
ner unwahren verdeckt und verdrängt wird. Das Weſentliche
jedoch in dieſem Zuſtand iſt blos der Mangel der wahren
Vorſtellung, welcher ſich auch in der Geſtalt bloßer Be-
wußtloſigkeit über dieſen Gegenſtand zeigen kann, ohne
daß eine beſtimmte andere Vorſtellung an die Stelle der
wahren tritt. Hierin liegt der innere Unterſchied zwiſchen
Irrthum und Unwiſſenheit (error und ignorantia), welche
jedoch juriſtiſch einander völlig gleich ſtehen. Es wäre
genauer und erſchöpfender, überall von Unwiſſenheit zu
reden, da dieſer Ausdruck das Weſen jenes mangelhaften
Zuſtandes des Bewußtſeyns am allgemeinſten bezeichnet.
Dennoch iſt bei unſren Schriftſtellern häufiger von Irr-
thum die Rede, ohne Zweifel weil dieſe Geſtalt des er-
wähnten Zuſtandes die häufigere und darum praktiſch
wichtigere iſt; auch iſt dieſer Sprachgebrauch ohne alles
Bedenken, ſobald man ſich voraus darüber verſtändigt
hat, Alles, was über den Irrthum geſagt wird, auch für
die bloße Unwiſſenheit gelten zu laſſen.
|0124 : 112|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Der Irrthum nun kommt als ein wichtiges Moment
in ſo mancherley juriſtiſchen Beziehungen vor, daß es
unmöglich iſt, dieſelben an einer einzelnen Stelle des Rechts-
ſyſtems zu erſchöpfen. Dennoch iſt es für die Vollſtän-
digkeit der Einſicht wichtig, dieſe verſchiedenen Beziehungen
zu einer gemeinſamen Ueberſicht zu verbinden. Dieſe zu-
ſammenhängende Darſtellung des Irrthums in ſeinen ver-
ſchiedenen Beziehungen auf Rechtsverhältniſſe habe ich in
einer abgeſonderten Abhandlung zu geben verſucht (Bey-
lage VIII.).
Gegenwärtig faſſen wir den Irrthum blos in der Be-
ziehung auf, da er als Beweggrund zu einer Wil-
lenserklärung erſcheint. Bey dieſer Beziehung wird
faſt immer ein eigentlicher Irrthum zum Grunde liegen,
da die reine Unwiſſenheit gewöhnlich nur Unterlaſſungen
zur Folge haben wird. — Wir fragen nun in dieſer Be-
ziehung, ob wohl der aus Irrthum entſprungene Wille
als ein eigentlicher und wirkſamer Wille zu betrachten
ſeyn möge? Der ſchon oben angedeutete Schein für die
Verneinung dieſer Frage liegt in einer gewiſſen Aehnlich-
keit des Irrthums mit der Bewußtloſigkeit. So wie näm-
lich der Unmündige oder Wahnſinnige, könnte man ſagen,
zu Willenserklärungen unfähig ſind wegen ihres allge-
meinen Mangels an Bewußtſeyn überhaupt (§. 106.), ſo
muß dazu auch Derjenige unfähig ſeyn, welchem ein rich-
tiges Bewußtſeyn in beſonderer Beziehung auf die den
Willen beſtimmenden Thatſachen mangelt. Es finden ſich
|0125 : 113|
§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)
ſogar einige ſehr allgemein lautende Stellen des Römi-
ſchen Rechts, wodurch man verſuchen könnte, dieſe Ver-
gleichung zu unterſtützen (a).
Allein bey genauerer Betrachtung muß dennoch dieſe
Gleichſtellung gänzlich aufgegeben werden. Wenn wir
ſagen, die irrige Vorſtellung habe den Willen beſtimmt,
ſo iſt dieſes nur in einem ſehr uneigentlichen Sinne anzu-
nehmen. Immer war es der Handelnde ſelbſt, der dem
Irrthum dieſe beſtimmende Kraft einräumte. Die Frey-
heit ſeiner Wahl zwiſchen entgegengeſetzten Entſchlüſſen
war unbeſchränkt; welche Vortheile ihm der Irrthum auch
vorſpiegeln mochte, er konnte ſie verwerfen, und durch
den Einfluß jener irrigen Vorſtellungen iſt daher das
Daſeyn der freyen Willenserklärung keinesweges aufge-
hoben. Die richtige Auffaſſung der Frage beruht alſo
auf der ſcharfen Unterſcheidung des Wollens ſelbſt, von
Demjenigen was ihm in der Seele des Wollenden vor-
herging; das Wollen iſt eine ſelbſtſtändige Thatſache, die
allein für die Bildung der Rechtsverhältniſſe von Wich-
tigkeit iſt, und es iſt ganz willkührlich und grundlos, wenn
wir mit dieſer Thatſache jenen vorbereitenden Prozeß ſo
verbinden, als ob derſelbe ein Beſtandtheil ihres Weſens
wäre. Auch iſt hier der Schein für eine entgegengeſetzte
Anſicht weit geringer, als im Fall des Zwanges; ſie hat
(a) L. 20 de aqua et aq. pluv.
(39. 3.) „nulla enim voluntas
errantis est.” Eben ſo mehrere
andere Stellen. Vgl. Beyl. VIII.
Num. VII.
III. 8
|0126 : 114|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
in dieſer Allgemeinheit keine Vertheidiger gefunden, und
die in dieſer Lehre häufig vorkommenden Misverſtändniſſe
haben ſich mehr an einzelne Momente, als an die allge-
meine Betrachtung dieſes Falles überhaupt, angeknüpft.
Dieſe Grundanſicht des Irrthums führt nun zu fol-
genden Sätzen des römiſchen Rechts, die, für die hier
vorliegende Anwendung (auf die Wirkſamkeit der Wil-
lenserklärungen), ſo wie für alle anderen, Gültigkeit haben.
Der Irrthum an ſich hat in der Regel gar keine Wir-
kung, und es iſt überall nur durch beſondere Ausnahme,
wo ihm eine Einwirkung eingeräumt wird (b).
Auch in dieſen ausgenommenen Fällen wird ſeine Wir-
kung ausgeſchloſſen, wenn dem Irrenden eine beſondere
Verſchuldung zur Laſt fällt, das heißt wenn der Irrthum
leicht zu vermeiden war.
Eine ſolche Verſchuldung wird in der Regel angenom-
men, wenn der Irrthum nicht Thatſachen zum Gegenſtand
hat (facti error s. ignorantia), ſondern Rechtsregeln (ju-
ris error s. ignorantia). Doch kann unter beſonderen Um-
ſtänden, und vorzüglich nach dem heutigen Rechtszuſtand,
auch dieſer Rechtsirrthum ein ſchuldloſer, und daher wirk-
ſamer, ſeyn (c).
Bey Willenserklärungen insbeſondere gilt die hier auf-
geſtellte Regel (d): neben ihr finden ſich zwey Ausnah-
(b) Beylage VIII. Num. VI. —
Es iſt alſo falſch, wenn das Prin-
cip aufgeſtellt wird, um Schaden
abzuwenden gelte jeder Irrthum,
um Gewinn zu ziehen gelte der
factiſche, nicht der Rechtsirrthum.
Beylage VIII. Num. VIII. XL.
(c) Beylage VIII. Num. III. IV.
(d) Beylage VIII. Num. X.
|0127 : 115|
§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)
men, in welchen der unverſchuldete Irrthum eigene Kla-
gen erzeugt, um die Willenserklärungen hinterher zu ent-
kräften: die aͤdiliciſchen Klagen, und die auf irrige causa
gegründeten Condictionen, insbeſondere die wichtigſte der-
ſelben, die condictio indebiti (e).
Allein alle dieſe Sätze finden doch nur da Anwendung,
wo der Irrthum für ſich allein in Betracht kommt; denn
er kann, eben ſo wie die Furcht, eine andere Natur
annehmen, wenn eine beſondere Entſtehungsweiſe hinzuge-
dacht wird. Iſt nämlich der Irrthum hervorgebracht durch
den unredlichen Willen eines Andern, das heißt durch Be-
trug, ſo hat dieſer Fall eine unverkennbare Ähnlichkeit mit
dem des Zwanges. In beiden Fällen findet ſich gleiche
Unſittlichkeit in der Einwirkung auf Andere; auch wird in
beiden recht eigentlich das Rechtsgebiet durch dieſe Unſitt-
lichkeit geſtoͤrt. Denn das Weſen des Rechts geht auf
ſelbſtſtändige Entwicklung der Einzelnen in lebendiger Ge-
meinſchaft und Wechſelwirkung. Die nothwendige Bedin-
gung aller Gemeinſchaft aber iſt Wahrhaftigkeit und das
durch ſie begruͤndete Vertrauen. So wie nun die Selbſt-
ſtändigkeit beeinträchtigt wird durch den Zwang, ſo das
Vertrauen durch den Betrug. Daher kommen beide Arten
der Einwirkung auf Andere — Zwang und Betrug — in
folgenden Stücken überein. Beide haben eine unſittliche
Natur. Beide enthalten an ſich kein Unrecht, aber ſie grei-
(e) Beylage VIII. Num. XI.
8*
|0128 : 116|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
fen ſtoͤrend ein in die nothwendigen Bedingungen menſch-
licher Lebensgemeinſchaft, die in dem Rechtsgebiet Regel
und Schutz empfängt. Beide alſo verdienen gleicherweiſe,
durch das poſitive Recht als Unrecht anerkannt, verfolgt
und bekämpft zu werden.
Auf den erſten Blick möchte man geneigt ſeyn, einen
Unterſchied zwiſchen beiden Fällen darin zu ſetzen, daß
der Zwang unbedingt verwerflich iſt und eine juriſtiſche
Gegenwirkung hervorruft, anſtatt daß der Irrthum in der
Regel ganz gleichgültig iſt, und nur durch die Verbindung
mit Betrug einen hemmenden Einfluß auf die Willenser-
klärung erhält. Allein der Schein dieſer Verſchiedenheit
entſteht nur aus dem zufälligen Umſtand, daß man von
dem Begriff des Zwanges auszugehen pflegt, anſtatt von
dem der Furcht (§ 114). In jedem der beiden Fälle muß
gleich ſorgfältig unterſchieden werden Dasjenige, was in
dem Innern des Handelnden vorgeht, von dem was durch
die unſittliche Einwirkung eines Andern hinzutritt. Im
Innern des Handelnden finden wir dort die Furcht, hier
den Irrthum; beide ſind für das Daſeyn wahrer Willens-
erklärung ganz gleichgültig, und ohne Einfluß auf deren
Wirkſamkeit. Aber beide koͤnnen eine beſondere Natur an-
nehmen, wenn ſie in einer unſittlichen Einwirkung von au-
ßen ihre Entſtehung haben. Dann erſcheint die Furcht als
Zwang, der Irrthum als Betrug. Hier iſt alſo überall
der vollſtändigſte Parallelismus wahrzunehmen.
Bey dem Betrug, wie bey dem Zwang, kann die ge-
|0129 : 117|
§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)
naue Darſtellung der dagegen geltenden Rechtsmittel nur
in dem ſpeciellen Theil des Rechtsſyſtems ihre Stelle fin-
den. Im Allgemeinen laſſen ſich dieſe Rechtsmittel auf
dieſelben Klaſſen, wie oben bey dem Zwang, zurückführen:
dem Betrogenen wird nach Umſtaͤnden durch Klage, Ex-
ception, oder Reſtitution geholfen, wie er es gerade be-
darf (f). Der durchgreifendſte Unterſchied zwiſchen Zwang
und Betrug liegt darin, daß die dem Gezwungenen ge-
währte Hülfe auch gegen fremde, ſchuldloſe Perſonen
wirkt (in rem), die des Betrogenen nur gegen den Be-
trüger und deſſen Succeſſoren (in personam) (g). Dabey
liegt alſo die Anſicht zum Grunde, daß in dem Zwang
die ſchlimmere, gefährlichere Störung des Rechtszuſtandes
enthalten iſt, vergleichungsweiſe mit dem Betrug.
So wie es oben (§ 114) bey dem Zwang geſchehen
iſt, müſſen auch bey dem Betrug die Bedingungen gleich
hier angegeben werden, unter welchen er dem Irrenden
Anſpruch auf Schutz gegen die Folgen der Willenserklä-
rung geben kann.
Der Ausdruck dolus bezeichnet überall eine unſittliche
Verletzung desjenigen Zutrauens, worauf aller menſchliche
(f) Bey der Ehe gilt für den
Betrug weſentlich daſſelbe, was
oben (§ 114. g) für den Zwang
bemerkt worden iſt, nur mit dem
Unterſchied, daß in jedem Fall
der weſentliche Betrug vom un-
weſentlichen unterſchieden werden
muß, ſo daß nur der weſentliche
die Ehe vernichtet. Vergl. G. L.
Böhmer jus can. § 348. Eich-
horn Kirchenrecht II. S. 355.
Pufendorf I. obs. 161.
(g) Nämlich gegen die Erben
allgemein, gegen die Singular-
ſucceſſoren nur mit Einſchrän-
kung. Dieſes gehört zur genaue-
ren Ausführung.
|0130 : 118|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Verkehr beruht. Dieſer umfaſſende Begriff nun kommt in
ſehr verſchiedener Weiſe vor. Zuerſt in verſchiedener Abſtu-
fung, ſo daß er bald den härteſten Tadel in ſich ſchließt (h),
bald nur eine mäßige Misbilligung (i). Ferner in verſchie-
dener Anwendung. Die beſtimmteſten und einflußreichſten
Anwendungen des Begriffs ſind dieſe: 1) Abſichtliches Zu-
widerhandeln eines Schuldners gegen den Inhalt ſeiner
Verpflichtung; dieſes iſt der dolus in Obligationen, wo
er als Gegenſatz von culpa und casus erſcheint. 2) Ab-
ſichtliche Erzeugung eines Irrthums, wodurch der Irrende
zu einer Willenserklärung beſtimmt wird; von dieſer An-
wendung allein iſt hier die Rede.
In dieſer Anwendung alſo heißt dolus Verfälſchung
der Wahrheit, und ſo iſt der Ausdruck gleichbedeutend mit
fraus (k). Es muß aber noch hinzugedacht werden die
böſe Abſicht, das heißt die welche auf des Gegners Nach-
theil gerichtet iſt, ohne Unterſchied ob zugleich eigener Vor-
theil bezweckt wird oder nicht (l). Dieſen Zuſatz bezeich-
nen die Römiſchen Juriſten durch den Ausdruck dolus ma-
lus, im Gegenſatz eines denkbaren dolus bonus in ſolchen
(h) Beſonders ſichtbar tritt die-
ſes hervor in den vielen Fällen,
worin der in Privatrechtsverhält-
niſſen begangene dolus die In-
famie zur Folge hat (§ 77).
(i) So in vielen Fällen der
doli exceptio, wo das Unred-
liche oft nur in der hartnäckigen
Rechtsverfolgung liegt, während
den Kläger für ſeine bisherigen
Handlungen gar kein Tadel trifft.
L. 2 § 5 de doli exc. (44. 4.)
„petendo facit dolose.” L. 36
de V. O. (45. 1.) „hoc ipso dolo
facit quod petit.”
(k) L. 1 § 2 de dolo (4. 2.),
L. 7 § 9. 10 de pactis (2. 14.),
L. 43 § 2 de contr. emt. (18 1.).
(l) L. 39. 40 de dolo (4. 3.).
|0131 : 119|
§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)
Fällen, worin ſelbſt Gewalt als Selbſtvertheidigung er-
laubt ſeyn würde, worin alſo augenblicklich ein Rechts-
verhältniß gar nicht vorhanden iſt (m).
In der Regel wird der Betrug durch poſitive Thätig-
keit verübt. Er iſt aber auch denkbar durch ein blos lei-
dendes Verhalten, alſo durch wiſſentliches, ſtillſchweigen-
des Dulden des fremden Irrthums, den wir nicht ſelbſt
hervorgebracht haben. Dieſes letzte jedoch nur unter Vor-
ausſetzung eines ſolchen Vertragsverhältniſſes, worin der
Andere von uns Offenheit zu erwarten berechtigt iſt, ſo
daß hier Schweigen und Reden als ein untrennbares
Ganze betrachtet werden muß (n).
Die Begriffe von Zwang und Betrug, deren Verſchie-
denheit und Verwandtſchaft hier nur in Beziehung auf die
Gültigkeit der Willenserklärungen unterſucht worden iſt,
kommen auch anderwärts in wichtigen und ausgedehnten
Anwendungen vor. So in der ſehr alten Zuſammenſtel-
lung von vi, clam, precario in der Lehre vom Beſitz (o).
Ganz vorzüglich aber bey den aus Delicten entſpringen-
den Obligationen, welche großentheils auf jenen Begriffen
beruhen, und nur vermittelſt der ſcharfen Auffaſſung der-
ſelben richtig verſtanden werden können. Allerdings iſt in
dieſen anderen Anwendungen weit mehr von abſolutem,
(m) L. 1 § 2. 3 de dolo (4. 3.)
„sicuti faciunt qui … tuentur
vel sua vel aliena” … „maxi-
me, si adversus hostem latro-
nemve quis machinetur.”
(n) L. 43 § 2 L. 35 § 8 de
contr. emt. (18. 1.), L. 11 § 5
de act. emti (19. 1.).
(o) Nämlich clam und preca-
rio ſind nur äußerlich verſchie-
dene Anwendungen des dolus bey
Entziehung des Beſitzes.
|0132 : 120|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
als von compulſivem Zwang die Rede. Allein dieſe bei-
den Formen des Zwangs oder der Gewalt ſind in ihrer
unſittlichen Natur und in ihrer Gefährlichkeit für das
Rechtsgebiet gar nicht verſchieden. Wenn aber in der
gegenwärtigen Unterſuchung die Rückſicht auf die abſolute
Gewalt abgelehnt worden iſt (§ 114), ſo geſchah dieſes
nicht wegen einer weſentlich verſchiedenen Natur dieſer Art
der Gewalt ſelbſt, ſondern nur weil ſie als Veranlaſſung
von Willenserklärungen (von welchen allein hier die Frage
war) gar nicht vorkommen kann. Darin iſt allerdings
zwiſchen beiden Arten der Gewalt ein Unterſchied, daß
die abſolute meiſt ſchon an ſich eine unmittelbare Rechts-
verletzung in ſich ſchließt, die durch die Gewaltſamkeit oft
nur noch eine erhöhte Wirkung erhält, anſtatt daß die
compulſive Gewalt erſt durch das poſitive Recht zu einer
Rechtsverletzung geſtaltet wird.
§. 116.
III. Willenserklärungen. — Bedingung. Begriff.
In der Willenserklärung kann der Wille einen eigen-
thümlichen Character dadurch annehmen, daß er ſich ſelbſt
beſchränkt, und ſo den Umfang, den er außerdem haben
würde, vermindert. Dieſes geſchieht durch Hinzufügung
von Bedingung, Zeit, oder Modus (§ 114). Ge-
meinſchaftliche Quellen für dieſe Zuſätze einer Willenser-
klärung finden ſich in folgenden Titeln:
|0133 : 121|
§. 116. Bedingung. Begriff.
Dig. XXVIII. 7, XXXV. 1.
Cod. VI. 25. 45. 46, VIII. 55.
Schriftſteller:
Balduinus de conditionibus (Heineccii Jurispr. Rom.
et Att. T. 1).
Donellus VIII. 30 — 34 (Legate), XV. 8 — 12
(Verträge).
Die wichtigſten Anwendungen ſind die auf Verträge
und Teſtamente, deren jede ihre Eigenthümlichkeiten hat (a).
An dieſer Stelle wird von ſolchen beſonderen Anwendun-
gen nur Dasjenige ausgehoben werden, welches zur voll-
ſtändigen Einſicht in die gemeinſame Natur dieſer Beſtim-
mungen nöthig iſt.
Bedingung (conditio) heiſt der Zuſatz einer Willens-
erklärung, welcher das Daſeyn eines Rechtsverhältniſſes
von einem künftigen, ungewiſſen Ereigniß auf willkührliche
Weiſe abhängig macht. Die einzelnen Momente dieſes
(a) Ich gebrauche hier der Kürze
und Anſchaulichkeit wegen, den
Ausdruck Teſtament als Re-
präſentanten jeder Art des letz-
ten Willens, ſo daß alſo ſtets auch
der Codicill darunter mit begrif-
fen iſt. Übrigens iſt die Anwen-
dung der Bedingungen auf den
letzten Willen häufiger und man-
nichfaltiger, als auf die Verträge,
und daher auch mehr von den
alten Juriſten ausgebildet. — Noch
weit weniger bedarf es einer Er-
klärung und Rechtfertigung dar-
über, daß ich den concreten Aus-
druck Vertrag gebrauche, an-
ſtatt abſtracter von Rechtsgeſchäf-
ten unter Lebenden zu reden;
denn bey Quaſicontracten können
Bedingungen nicht leicht vorkom-
men, Pollicitationen aber, ohne-
hin ſelten und wenig wichtig, wer-
den hier vielmehr den Legaten ähn-
lich behandelt. L. 13 § 1 de pol-
lic. (50. 12.). Sell Verſuche II.
107. 110.
|0134 : 122|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Begriffs werden durch die Betrachtung ſolcher Fälle an-
ſchaulich werden, worin eine Bedingung nur dem Schein,
nicht dem Weſen nach, vorhanden iſt, weil es an einem
jener Momente fehlt (b).
Es iſt alſo keine wahre Bedingung, wenn der Eintritt
des Ereigniſſes nicht ungewiß iſt, ſondern entweder ſicher
Statt findet, oder ſicher unterbleibt (nothwendige oder un-
mögliche Bedingung). Die Behandlung dieſer Fälle wird
unten, bey den Wirkungen der Bedingung, angegeben
werden (c).
Eben ſo iſt es keine wahre Bedingung, wenn das als
Bedingung Ausgedrückte ohnehin ſchon nothwendige Vor-
ausſetzung des Rechtsverhältniſſes war, ſo daß die Noth-
wendigkeit nicht erſt auf willkührliche Weiſe hervorgebracht
worden iſt. Solche Bedingungen heißen conditiones taci-
tae, oder quae insunt, tacite insunt, extrinsecus veniunt (d).
Beyſpiele ſind folgende: Erbeinſetzung unter der Bedingung,
(b) Die unmittelbare Folge iſt
freylich meiſt dieſelbe, wir mö-
gen es nun als eine Scheinbe-
dingung anſehen, oder als eine
wirkliche, aber erfüllte Bedin-
gung. Im Einzelnen aber wird
oft der Unterſchied wichtig, na-
mentlich da wo überhaupt Be-
dingungen verboten ſind. Aus
jener gewöhnlichen Gleichgültig-
keit erklärt es ſich, wenn unſre
Rechtsquellen ſich zuweilen ſo aus-
drücken, als wäre es eine wirk-
liche und erfüllte Bedingung; ſol-
che Ausdrücke finden ſich in man-
chen der in Note o angeführten
Stellen.
(c) Vgl. § 121 — 124.
(d) L. 1 § 3 de cond. (35. 1.),
L. 99 eod., L. 25 § 1 quando
dies (36. 2.), L. 68 de j. dot.
(23. 3.). Man kann die Natur
dieſes Falles auch ſo ausdrücken,
daß darin die conditio juris zu-
gleich zu einer conditio facti ge-
macht wird (L. 21 de cond. 35.
1.). — Über dieſen Gegenſtand iſt
zu vergleichen Donellus III. 32
§ 2 — 4.
|0135 : 123|
§. 116. Bedingung. Begriff.
daß der Erbe den Teſtator überlebt; Erbeinſetzung eines
extraneus unter der Bedingung, wenn er Erbe ſeyn will;
Legat unter der Bedingung, daß der eingeſetzte Erbe die
Erbſchaft antrete; Legat der Früchte eines Landguts, wenn
ſolche entſtehen ſollten; Legat unter derſelben Bedingung,
woran auch ſchon die ganze Erbeinſetzung geknüpft iſt
(weil durch deren Nichterfüllung die Erbeinſetzung, mit
dieſer das Teſtament, und mit dieſem das Legat, ohnehin
zerfällt); Verſprechen einer Dos unter der Bedingung, daß
die Ehe zu Stande kommen wird. — Im Allgemeinen ſind
ſolche Bedingungen blos überflüſſige Wiederholungen Des-
jenigen, was ohnehin gilt, alſo unſchädlich, aber auch
unnütz und wirkungslos (e). In den meiſten Anwendungen
wird dabey nicht einmal ein Zweifel möglich ſeyn. Von
Erheblichkeit iſt der Satz nur bey Legaten, bey welchen
der Zeitpunkt wichtig iſt, den der Legatar erlebt haben
muß, damit das Legat auf ſeine Erben übergehen könne
(dies legati cedit). Dieſer Zeitpunkt iſt in der Regel der
Tod des Teſtators, bey bedingten Legaten aber die Er-
füllung der Bedingung (f). Da jedoch die hier erwähnten
Bedingungen gar nicht wahre Bedingungen ſind, ſo wird
durch ſie das Legat nicht zu einem bedingten, ſo daß un-
geachtet derſelben der unwiderrufliche Erwerb ſchon mit
dem Todestag des Teſtators eintritt (g). Darin liegt alſo
(e) „frustra adduntur.” L. 12
de cond. inst. (28. 7.), L. 47 de
cond. (35. 1.).
(f) L. 1 § 1. 8 C. de caducis
toll. (6. 51.).
(g) L. 99. 107 de cond. (35.
1.), L. 21 § 1 L. 22 § 1 L. 25
§ 1 quando dies (36. 2.). — An-
|0136 : 124|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
zwar auch nur eine Anerkennung der aufgeſtellten allge-
meinen Regel; ſie iſt aber inſofern erheblich, als dieſe ein-
zelne Anwendung leicht verkannt werden könnte. — Anders
verhält es ſich nur bey denjenigen Willenserklärungen, für
welche der Zuſatz einer Bedingung durch eine poſitive Rechts-
regel unterſagt iſt. Hier ſind auch jene Bedingungen nicht
als wirkungslos anzuſehen, vielmehr vernichten ſie die
ganze Beſtimmung, welcher ſie als Zuſätze beygefügt ſind,
ſo daß alſo in dieſer Beziehung die ganz poſitive Regel
gilt: Expressa nocent, non expressa non nocent (h).
Beyſpiele ſind dieſe. Der Vater hat die Wahl, ſeinen
Sohn einzuſetzen oder zu enterben, nur darf die Enterbung
keine bedingte ſeyn (i); wenn nun der Vater den Sohn
enterbt, unter der Bedingung, daß der eingeſetzte einzige
Erbe die Erbſchaft antrete, ſo ſagt er eigentlich etwas
Überflüſſiges (da bey dem Nichtantritt das ganze Teſtament
zerfällt), dennoch iſt eine ſolche Enterbung ungültig (k).
ders iſt es z. B. bey einem Legat
unter der Bedingung: si volet le-
gatarius, weil nun eine Willens-
erklärung des Legatars erfordert
wird, die ſich nicht von ſelbſt ver-
ſteht, da vielmehr andere Legate
ohne Zuthun des Legatars er-
worben werden. L. 65 § 1 de
leg. 1 (30. 1.), L. 69 de cond.
(35. 1.). Hier iſt alſo jener Zu-
ſatz eine wahre und wirkſame Be-
dingung. Nicht ſo in der ſchein-
bar ähnlichen Beſtimmung bey ei-
nem Fideicommiß „cum ipsi pe-
tissent sine ulla juris cavilla-
tione,” welches nur als Einſchär-
fung der unverzüglichen, unwei-
gerlichen Entrichtung, nicht als
Bedingung gemeynt iſt. L. 85
de cond. (35. 1.), ſ. § 117. b.
(h) L. 195 de R. J. (50. 17.),
L. 68 de her. inst. (28. 5.), L. 47
in f. de cond. (35. 1.).
(i) L. 3 § 1 de lib. et posth.
(28. 2). Der Grund liegt darin,
daß der Sohn für den der Be-
dingung entgegengeſetzten Fall
präterirt ſeyn würde.
(k) L. 68 de her. inst. (28. 5.).
|0137 : 125|
§. 116. Bedingung. Begriff.
Die Acceptilation kann bey einer bedingten Stipulation
natürlich nur dann wirken, wenn die Bedingung eintritt,
weil ſonſt gar keine Schuld vorhanden iſt (l); die Accep-
tilation ſelbſt aber darf durch keine Bedingung beſchränkt
werden (m). Wenn nun der Acceptilation dieſelbe Bedin-
gung hinzugefügt wird, die auch ſchon in der Stipulation
ſtand, ſo iſt das eigentlich nur eine müßige Wiederholung
des ohnehin Gültigen; dennoch iſt eine ſo gefaßte Accep-
tilation ſchlechthin ungültig (n). — Dieſe letzte Beſtimmung
iſt unſtreitig ſehr ſubtil, und opfert unverkennbar das We-
ſen der Form auf; im heutigen Recht wird dazu bey Ver-
trägen ohnehin keine Anwendung moͤglich ſeyn, da wir
keine Acceptilation in Römiſcher Form haben; und auch
bey Enterbungen möchten gegen die Anwendbarkeit Beden-
ken eintreten, die jedoch hier noch nicht klar gemacht wer-
den koͤnnen.
Ferner iſt es keine wahre Bedingung, wenn das Er-
eigniß ſchon nach dem gebrauchten Ausdruck nicht in die
Zukunft, ſondern in die Vergangenheit oder Gegenwart
fällt (in praeteritum vel praesens collata, relata, concepta
conditio), z. B. wenn Titius im vorigen Jahr Conſul war,
oder: wenn Titius gegenwärtig Conſul iſt. Eine ſolche
Beſtimmung iſt ſtets wirkſam, und zwar im Ganzen auf
dieſelbe Weiſe, wie wenn es eine Bedingung wäre, ſo daß
alſo die Gültigkeit des Rechtsgeſchäfts ganz von dem Da-
(l) L. 12 de acceptil. (46. 4.).
(m) L. 4 de acceptil. (46. 4.).
(n) L. 77 de R. J. (50. 17.).
|0138 : 126|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſeyn oder Nichtdaſeyn der als Bedingung ausgedrückten
Thatſache abhängt. Dennoch iſt es durchaus nicht Be-
dingung, ſondern das Rechtsgeſchäft iſt ein unbedingtes,
da alle Ungewißheit nur für das Bewußtſeyn des Urhebers
beſteht, in der Sache ſelbſt aber Alles bereits völlig ent-
ſchieden iſt, und als ſolches auch durch den gebrauchten
Ausdruck anerkannt wird (o). Praktiſch wichtig iſt die
Unterſcheidung dieſes Falles von dem Fall wahrer Bedin-
gung in zwey Beziehungen. Erſtlich wird dadurch die
Gültigkeit derjenigen Geſchäfte, in welchen Bedingungen
überhaupt verboten ſind, nicht gefährdet (p). Zweytens
wenn eine ſolche Beſtimmung einer Erbeinſetzung oder
einem Legat hinzugefügt wird, und ſich nun als deficirend
erweiſt, könnte man geneigt ſeyn, ſie einer unmöglichen
Bedingung zu vergleichen, und deshalb als nicht geſchrie-
ben zu behandeln; dieſes darf jedoch nicht gelten, eben
deswegen, weil es überhaupt keine Bedingung iſt (§ 121. p).
Von dieſem Fall iſt aber noch der zu unterſcheiden,
da das Ereigniß als ein künftiges gedacht und ausgedrückt
wird, jedoch zur Zeit des Rechtsgeſchäfts ohne Wiſſen
(o) L. 16 de injusto (28. 3.).,
L. 3 § 13 de bonis lib. (38. 2.),
L. 10 § 1 de cond. inst. (28. 7.)
(bey Teſtamenten). — § 6 J. de
verb. oblig. (3. 15.), L. 37. 38.
39 de reb. cred. (12. 1.), L. 100.
120 de verb. oblig. (45. 1.) (bey
Verträgen).
(p) Wenn alſo ein Vater ſei-
nen Suus unter der Bedingung,
wenn jetzt Titius Conſul iſt, zum
Erben einſetzt, und Titius iſt
wirklich Conſul, ſo iſt die Erb-
einſetzung gültig, obgleich es
ſcheinbar eine nichtpoteſtative Be-
dingung war. Iſt freylich Titius
nicht Conſul, ſo iſt der Sohn
präterirt, und das Teſtament iſt
nichtig.
|0139 : 127|
§. 117. Bedingung. Arten.
des Urhebers deſſelben, bereits eingetreten oder vereitelt iſt.
Dieſer Fall unterſcheidet ſich von dem vorigen durch die
Abſicht des Urhebers, die auf eine wahre Bedingung ge-
richtet iſt. Iſt das Ereigniß eingetreten, ſo wird dadurch
dennoch dasjenige Rechtsgeſchäft, in welchem Bedingungen
verboten ſind, ungültig: iſt es dagegen vereitelt, und iſt
das Rechtsgeſchäft eine teſtamentariſche Verfügung, ſo gilt
die Bedingung einer unmöglichen gleich, folglich als nicht
geſchrieben (§ 121.).
§. 117.
III. Willenserklärungen. — Bedingung. Arten.
Es ſind jetzt die verſchiedenen Gegenſätze zu betrachten,
die mit dem allgemeinen Begriff der Bedingung vereinbar
ſind, das heiſt die Eintheilungen dieſes Gattungsbegriffs.
A. Sehen wir auf die logiſche Form der bedingenden
Thatſache, ſo beſteht dieſe entweder in einem Seyn oder
Nichtſeyn (poſitive, negative Bedingung).
B. Die Urſache ferner, wovon der Eintritt der Be-
dingung abhängt, kann enthalten ſeyn in der menſchlichen
Freyheit oder der Natur; und, wenn wir dieſen Gegenſatz
mit dem vorigen in Verbindung ſetzen, ſo können alle Be-
dingungen beſtehen in einem Handeln oder Unterlaſſen, ſo
wie in dem Eintreten oder Unterbleiben eines zufälligen,
von menſchlichem Willen unabhängigen, Ereigniſſes. —
Dieſe Unterſcheidung wird eben ſo von den Römiſchen
|0140 : 128|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Juriſten anerkannt. Nur waren ſie von jeher gewohnt,
die freyen Handlungen in zwey Klaſſen, dare und facere,
zu ſondern, und ſo nehmen ſie, durch Zuziehung dieſes
untergeordneten Gegenſatzes, drey Arten der Bedingun-
gen an (a).
Die in der Freyheit beruhenden Bedingungen bedürfen
jedoch noch einer genaueren Betrachtung. Es kann näm-
lich die Erfüllung abhängen von der freyen Handlung
Desjenigen, der in dieſem Rechtsverhältniß lediglich als
Berechtigter erſcheint; oder Desjenigen, der darin Ver-
pflichteter iſt (mag er auch daneben, in anderer Hinſicht,
berechtigt ſeyn); oder endlich von der freyen Handlung
eines unbetheiligten Dritten.
1) Beruht die Erfüllung auf der Freyheit des in die-
ſem Rechtsverhältniß ausſchließend Berechtigten, z. B. des
Stipulators, des ernannten Erben oder Legatars, ſo wird
dadurch niemals das Rechtsverhältniß ſelbſt ungültig.
Allerdings iſt oft die Bedingung ſelbſt überflüſſig und wir-
kungslos, wenn ſie nämlich auf ein bloßes Wollen gerich-
tet iſt (si velit), und es ſich ohnehin von ſelbſt verſteht,
daß das Recht nur durch den Willen erworben oder aus-
geübt werden kann. So z. B. iſt die Erbeinſetzung eines
freywilligen Erben (extraneus) unter der Bedingung si
(a) L. 60 pr. de cond. (35. 1.).
„In facto consistentes condi-
tiones varietatem habent, et
quasi tripartitam recipiunt di-
visionem, ut quid detur, ut quid
fiat, ut quid obtingat: vel retro
ne detur, ne fiat, ne obtingat:
Ex his dandi faciendique con-
ditiones in personas collocan-
tur aut ipsorum, quibus quid
relinquitur, aut aliorum; tertia
species in eventu ponetur.”
|0141 : 129|
§. 117. Bedingung. Arten.
velit in der That eine unbedingte (§ 116); eben ſo die
Stipulation mit dem Zuſatz cum petiero, da es ſich ohne-
hin von ſelbſt verſteht, daß es von der Willkühr des
Stipulators abhängt, ſein Recht geltend zu machen oder
nicht (b).
Anders iſt es bey ſolchen Rechten, die außerdem ihrer
Natur nach ohne Willenserklärung erworben werden, und
deren Erwerbung daher durch die Bedingung si velit aller-
dings modificirt wird; dahin gehört die Erwerbung von
Legaten (§ 116. g.), ſo wie die Erwerbung der Erbſchaft
von Seiten eines eingeſetzten unfreywilligen Erben, z. B.
eines Suus (c).
Eben ſo iſt es anders, ohne Unterſchied der Rechte
und ihrer regelmäßigen Erwerbung, wenn die Bedingung
nicht auf den bloßen Willen an ſich ſelbſt (si velit) geſtellt
iſt, ſondern auf irgend eine äußere Handlung, z. B. si
Capitolium ascenderit. Denn wenngleich dieſe Handlung
ganz von dem Willen abhängig ſeyn kann, auch vielleicht
als ganz gleichgültig erſcheint, ſo daß man geneigt ſeyn
könnte, ſie blos als einen veränderten Ausdruck des si
velit anzuſehen, ſo iſt dabey doch immer ein materielles
(b) L. 48 de verb. oblig. (45.
1.). Es iſt, den Worten nach,
ein dies, der nur der Ungewiß-
heit wegen zu einer Bedingung
wird (§ 125). Hier hat ihn aber
der Stipulator nicht als Bedin-
gung gemeynt, ſondern er wollte
die augenblickliche Leiſtung, ſo-
bald nur gefordert würde, ein-
ſchärfen. Wäre es eine auf die
perſönliche Handlung des Stipu-
lators geſtellte Bedingung, ſo
würde dieſe durch den Tod des
Stipulators vereitelt werden, wel-
ches nun nicht geſchieht. Vergl.
§ 116. g.
(c) L. 86 de her. inst. (28. 5.),
L. 12 de cond. inst. (28. 7.).
III. 9
|0142 : 130|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Intereſſe der Betheiligten wenigſtens denkbar, und ſie gilt
und wirkt daher ſtets als wahre Bedingung (d).
Für dieſe Art der Bedingungen, die ganz auf der Frey-
heit des künftigen Berechtigten beruhen, kommt in der be-
ſondern Anwendung auf Legate der Ausdruck potestativae
vor, ſo daß hiernach alle Bedingungen in dieſer Anwen-
dung eingetheilt werden in casuales, potestativae, mixtae (e).
Wichtig iſt der Begriff ſolcher Poteſtativbedingungen bey
der Erbeinſetzung des Suus filius, die nur unter einer rei-
nen Poteſtativbedingung gültig geſchehen kann (f). Dabey
wird nun die nähere Beſtimmung gegeben, es ſolle die
Natur der Poteſtativbedingung aus den beſonderen Um-
ſtänden jedes einzelnen Falles beurtheilt werden (g).
(d) Bey Teſtamenten liegt das
Intereſſe ſchon darin, daß der
Erbe oder Legatar durch Erfül-
lung der Bedingung ſeinen Ge-
horſam gegen den Willen des Te-
ſtators beweiſt.
(e) L. un. § 7 C. de caducis
toll. (6. 51.). In anderen Stel-
len heißt es ſtets conditio quae
est in potestate ipsius. Auch
außer den Rechtsquellen ſcheint
das Wort potestativus nur in
einer einzigen Stelle bey Tertul-
lian vorzukommen. — Das Fran-
zöſiſche Geſetzbuch hat dieſe Ter-
minologie auch, giebt ihr aber
eine abweichende Bedeutung. Art.
1169 — 1171.
(f) L. 4 pr. de her. inst. (28.
5.), L. 4 C. de inst. et subst.
(6. 25.).
(g) L. 4 § 1 L. 5 de her. inst.
(28. 5.), L. 28 de cond. inst.
(28. 7.), L. 4 C. de inst. et subst.
(6. 25.). — Aus dieſen Stellen
erhellt, daß auch ſchon die unge-
wöhnliche Schwierigkeit und Ge-
fährlichkeit der Erfüllung der Na-
tur einer Poteſtativbedingung im
Wege ſteht (ganz nach der in L. 137
§ 2 de V. O. 45. 1 angewende-
ten Anſicht), ſo daß es alſo nur
darauf ankommt, ob der gute,
kräftige Wille eines beſonnenen
Menſchen die Erfüllung bewirken
konnte. Ohnehin iſt eigentlich nur
eine negative Bedingung ſchlecht-
hin poteſtativ, da den Entſchloſ-
ſenen keine menſchliche Gewalt
zum Handeln zwingen kann. Die
leichteſte poſitive Handlung dage-
gen (z. B. si Capitolium ascen-
|0143 : 131|
§. 117. Bedingung. Arten.
2) Beruht die Erfüllung auf einer freyen Handlung
Desjenigen, der in dieſem Rechtsverhältniß als verpflichtet
erſcheint (mag er nun auch von ſeiner Seite Rechte haben
oder nicht), ſo gelten folgende Regeln.
Iſt die Bedingung geſtellt auf das bloße Wollen an
ſich (si velit), ſo wird dadurch das Daſeyn eines Rechts-
verhältniſſes überhaupt gänzlich ausgeſchloſſen. Dieſes
gilt zunächſt bey einſeitigen Verpflichtungen, wenn in einer
Stipulation der Schuldner unter jener Bedingung Etwas
verſpricht (h). Eben ſo aber auch, wenn bey einem Kauf
der Käufer oder der Verkäufer dieſe reine Willkühr ſich
vorbehält; denn er ſelbſt iſt dann ja zu gar Nichts ver-
pflichtet, woraus aber, wegen der in dieſem Vertrag lie-
genden Gegenſeitigkeit, nothwendig folgt, daß auch der
Gegner nicht verpflichtet ſeyn kann (i). Auch verhält es
ſich nicht anders mit einem Legat, welches dem Erben un-
ter der Bedingung ſeiner Einwilligung auferlegt wird (k).
derit) kann wenigſtens durch
fremde Gegenwirkung unmöglich
gemacht werden, z. B. wenn der
ſo eingeſetzte Erbe gefangen ge-
halten wird.
(h) L. 17 L. 46 § 3 L. 108
§ 1 de verb. oblig. (45. 1.), L. 7
pr. de contr. emt. (18. 1.). —
Das Preußiſche A. L. R. Th. 1
Tit. 4 § 108 hat weſentlich den-
ſelben Satz. Der Franzöſiſche
Code civil art. 1174 giebt dem-
ſelben einen viel zu weit gehen-
den Ausdruck, wodurch nament-
lich alle Conventionalſtrafen aus-
geſchloſſen ſeyn würden.
(i) L. 7 pr. de contr. emt. (18.
1.), L. 13 C. eod. (4. 38.) — Es
iſt eine ganz einzelne Ausnahme
dieſer Regel, daß der Kauf ad
gustum, alſo auf einſeitige (je-
doch nur die Güte der Sache be-
treffende) Willkühr des Käufers
geſchloſſen werden kann. L. 34
§ 5 de contr. emt. (18. 1.), § 4
J. de emtione (3. 23.).
(k) L. 43 § 2 de leg. 1 (30.
un.). „Legatum in aliena vo-
luntate poni potest, in heredis
non potest.” (Vgl. jedoch unten
9*
|0144 : 132|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Anders wenn die Bedingung auf eine äußere Handlung
des Verpflichteten geſtellt iſt, wenngleich dieſe ganz von
der Willkühr abhängen mag. So waren alſo zu allen
Zeiten die höchſt wichtigen Conventionalſtrafen gültig, deren
Wirkſamkeit lediglich auf dieſem Grunde ruht. Das le-
gatum poenae nomine freylich war im älteren Recht nicht
gültig (l), und erſt Juſtinian hat daſſelbe zugelaſſen (m).
Das lag aber nicht an der allgemeinen Natur einer Be-
dingung von der oben beſchriebenen Art, ſondern daran,
daß man es für unwürdig hielt, den Schein der Liberali-
tät (die ja das Weſen des Legats ausmacht) anzunehmen,
da wo blos auf den Willen des Erben durch die Drohung
eines Geldverluſtes gewirkt werden ſollte (n). Daher wäre
es ganz irrig, jede von dem bloßen Willen des Erben
abhängige Bedingung ſtets für ein legatum poenae nomine
zu halten. Dieſes hieng vielmehr ganz von der indivi-
duellen Prüfung der Abſicht ab (o), und fand es ſich, daß
Note t). L. 11 § 7 de leg. 3
(32. un.). — Waren unbeſtimmtere
Ausdrücke gebraucht, z. B. si ae-
stimaverit, si justum putaverit,
ſo legte man dieſe als nichtsſa-
gende Höflichkeit gegen den Er-
ben aus (nicht als Bedingung),
und erhielt ſo das Legat aufrecht.
L. 75 pr. de leg. 1 (30. un.),
L. 11 § 7 de leg. 3 (32. un.).
Noch leichter wurde es hierin mit
den Fideicommiſſen genommen.
L. 46 pr. § 3. 4 de fideic. lib.
(40. 5.), deren Ausdrücke aller-
dings etwas ſchwankend ſind.
(l) Gajus Lib. 2 § 235, Ul-
pian. XXIV. 17, XXV. 13.
(m) L. un. C. de his quae poe-
nae (6. 41.), § 35. 36 J. de leg a-
tis (2. 20.).
(n) Göschen observ. jur. Rom.
Berolini 1811. 8. p. 52 — 59.
(o) L. 2 de his quae poenae
(34. 6.). „Poenam a conditione
voluntas testatoris separat, et
an poena, an conditio .. sit, ex
voluntate defuncti apparet.”.
|0145 : 133|
§. 117. Bedingung. Arten.
dieſe Abſicht nicht vorzugsweiſe auf eine Bedrohung des
Erben gieng, ſo war die von dem Willen des Erben ab-
hängige Bedingung auch ſchon nach dem älteren Rechte
gültig (p).
3) Beruht endlich die Erfüllung der Bedingung auf
der freyen Handlung eines Dritten, ſo ſind die Verträge
von den Teſtamenten zu unterſcheiden.
Die Gültigkeit eines Vertrags von der bloßen Ein-
willigung eines Dritten abhängig zu machen, hat nicht
das geringſte Bedenken, da Derſelbe ein mögliches Intereſſe
haben kann, den Vertrag zu verhindern, welches beide
Theile zu ſchonen geneigt ſeyn möchten.
Anders bey Erbeinſetzungen und Legaten, in welchen
der Teſtator gewiſſermaßen als Geſetzgeber auftritt (q).
Dieſer ſoll aus eigner Ueberzeugung von der Würdigkeit
der durch ihn bedachten Perſonen verfügen, und nicht frem-
den Willen walten laſſen. Daher iſt die Erbeinſetzung und
das Legat ungültig, wenn dieſelben von dem bloßen Wil-
len eines Dritten abhängig gemacht werden (r). Bey Fi-
deicommiſſen fällt jener, in der formellen Stellung des
Teſtators liegende Grund weg, und daher koͤnnen ſie auch
(p) L. 3 de leg. 2 (31. un.),
in welcher daher keine Interpo-
lation vorauszuſetzen iſt, wie denn
auch keine Spur einer ſolchen er-
ſcheint.
(q) Ulpian. XXI. und XXIV. 1.
(r) L. 68 de her. inst. (28. 5.),
L. 52 de cond. (35. 1.). — Man-
che glauben, dieſe Regel ſey auf-
gehoben in C. 13 X. de test. (3.
26.). Dieſe Meynung iſt aber
gründlich widerlegt in der Anmer-
kung von Böhmer zu dieſer
Stelle. Vergl. Sell Verſu-
che II. 290.
|0146 : 134|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
geradezu von dem Willen eines Dritten abhängig gemacht
werden (s). — Beſteht dagegen die Bedingung in einer
materiellen Handlung jenes Dritten, ſo iſt ſowohl die Erb-
einſetzung oder das Legat ſelbſt, als auch die hinzugefügte
Bedingung, voͤllig gültig (t).
Faſſen wir alle dieſe Beſtimmungen in einem gemein-
ſamen Ueberblick zuſammen, ſo ergiebt ſich, daß in den
meiſten Fällen die auf den bloßen Willen (eines Betheilig-
ten oder eines Dritten) geſtellte Bedingung entweder ſelbſt
wirkungslos iſt, oder das ganze Rechtsgeſchäft ungültig
macht. Dagegen iſt, wiederum in den meiſten Fällen, die
Bedingung gültig und wirkſam, wenn ſie auf eine mate-
rielle Handlung gerichtet iſt, mag auch dieſe lediglich von
der Willkühr der Perſon abhängen, und vielleicht nur dazu
dienen, jene beſchränkende Rechtsregel zu umgehen (Note t).
Auch in dieſer Beziehung alſo gilt der oben (§ 116) in
(s) L. 46 § 2 de fid. lib. (40.
5.). Conſequent wäre es gewe-
ſen, dieſes freye Recht der Fidei-
commiſſe auch auf die Erbein-
ſetzung auszudehnen, nach L. 15
C. de test. (6. 23.), allein die in
die Digeſten aufgenommenen Stel-
len (Note r) ſtehen entgegen. Da-
gegen müſſen wir es wohl auf
Legate anwenden, weil zwiſchen
dieſen und Fideicommiſſen aller
Unterſchied gänzlich aufgehoben iſt.
(t) L. 68 de her. inst. (28. 5.),
L. 52 de cond. (35. 1.). We-
ſentlich daſſelbe ſagt auch L. 1 pr.
de leg. 2 (31. un.), die nur dar-
auf aufmerkſam macht, daß der
Teſtator durch eine ſolche indi-
recte Form das geſetzliche Ver-
bot leicht umgehen könne. Das
war aber unvermeidlich, wenn
nicht über Gebühr die Willens-
freyheit beſchränkt werden ſollte,
da der als Bedingung vorgeſchrie-
benen Handlung des Dritten nie
mit Sicherheit anzuſehen iſt, ob
ſie um eines materiellen Intereſſe
willen, oder zum Zweck jener Um-
gehung, gewählt wurde.
|0147 : 135|
§. 118. Bedingung. Regelmäßige Erfüllung.
einem andern Sinn gebrauchte Ausſpruch: Expressa no-
cent, non expressa non nocent (u).
C. Die wichtigſte Eintheilung der Bedingungen betrifft
die Art der Einwirkung, die ſie auf das Rechtsverhältniß
haben ſollen; es iſt die Eintheilung in ſuspenſive und
reſolutive, welche weiter unten (§ 120) dargeſtellt wer-
den wird.
§. 118.
III. Willenserklärungen. — Bedingung. Regelmäßige
Erfüllung.
Bey der Unterſuchung, wie eine Bedingung gemeynt
ſey, worin alſo regelmäßig ihre Erfüllung beſtehen müſſe,
iſt überall auf die Abſicht des Urhebers der Bedingung,
mehr als auf den wörtlichen Ausdruck, zu ſehen (a).
(u) L. 52 de cond. (35. 1.),
L. 195 de R. J. (50. 17.) (die
aus jener Stelle excerpirt iſt),
L. 68 de her. inst. (28. 5.). —
Am meiſten Gleichförmigkeit fin-
det ſich hierin bey den Teſtamen-
ten, in welchen (mit Ausnahme
des alten Verbots der legata
poenae nomine) Nichts darauf
ankommt, ob die Bedingung auf
die freye Handlung des Berech-
tigten, des Verpflichteten, oder
eines Dritten geht. In dieſen
drey Fällen nämlich iſt der als
Bedingung ausgedrückte bloße
Wille meiſt entweder wirkungs-
los, oder für die Verfügung ſelbſt
vernichtend. Dagegen iſt die ma-
terielle freye Handlung als Be-
dingung wirkſam. Dieſer behaup-
teten Gleichheit der drey Fälle
ſcheint zu widerſprechen L. 43
§ 2 de leg. 1 (30. un.), ſ. oben
Note k. Ohne Zweifel entſteht
dieſer Schein aus der Weglaſ-
ſung eines urſprünglichen Theils
der Stelle, welche durch das ver-
änderte Recht der legata poe-
nae nomine veranlaßt ſeyn dürfte.
(a) L. 19 pr. de cond. (35. 1.),
L. 101 pr. eod. „… cum in con-
ditionibus testamentorum vo-
luntatem potius quam verba
considerari oporteat” … Was
hier von Teſtamenten geſagt iſt,
ſoll gewiß auch von Verträgen
|0148 : 136|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Bey poſitiven Bedingungen (§ 117. A.) kann die Na-
tur des darin geforderten Ereigniſſes verſchieden ſeyn. Iſt
dieſes von ſolcher Art, daß es ſich nicht oft und leicht
wiederholt, ſo iſt es genug, daß es irgend einmal geſchehe,
alſo bey Teſtamenten auch wenn es während des Lebens
des Teſtators geſchieht, z. B. „wenn der Erbe heurathet,“
„wenn er Conſul wird“. Nur wenn es ſchon vor dem
Teſtament geſchah, und der Teſtator dieſes weiß, iſt eine
ſpätere Wiederholung erforderlich. — Bey ſolchen Ereig-
niſſen dagegen, deren Natur eine öftere und willkührliche
Wiederholung zuläßt, z. B. Zahlung einer beſtimmten Summe
an eine beſtimmte Perſon (conditio promiscua), iſt die Voll-
ziehung der Handlung nach des Teſtators Tod (als Be-
weis des Gehorſams) nöthig, ſelbſt wenn dieſelbe Hand-
lung zufällig ſchon früher einmal geſchehen ſeyn ſollte (b).
Bey Verträgen iſt es gleichgültig, ob die Erfüllung
vor oder nach dem Tode des Glaubigers eintritt, ſo daß
das bedingte Recht ſtets auf die Erben übergeht (c). An-
ders bey Teſtamenten, wegen der hoͤchſt perſönlichen Natur
der darin enthaltenen Succeſſionen, ſo daß der bedingte
Erbe oder Legatar die Erfüllung der Bedingung erleben
muß, wenn dieſe überhaupt Etwas wirken ſoll (d).
gelten, nur mit Ausnahme der
Stipulation, die wir aber nicht
mehr haben.
(b) L. 11 pr. § 1 de cond.
(35. 1.), L. 45 § 2 de leg. 2
(31. un.), L. 7 C. de inst. et
subst. (6. 25.).
(c) § 4 J. de verb. oblig. (3. 15.).
(d) L. 1 § 1. 2 de cond. (35.
1.), L. un. § 7 C. de caducis
toll. (6. 51.). Darum eben iſt
es ſo wichtig, die wahren von
den Scheinbedingungen zu unter-
ſcheiden (§ 116). — Sogar wird
|0149 : 137|
§. 119. Bedingung. Regelmäßige Erfüllung.
Negative Bedingungen (§ 117. A.) können auf folgende
verſchiedene Arten in Erfüllung gehen.
Zuerſt (wenn ſie auf eine beſtimmte Zeit beſchränkt
ſind), ſobald dieſe Zeit abgelaufen iſt, ohne daß darin das
Ereigniß eingetreten war.
Ferner dadurch, daß das Ereigniß unmöglich wird,
z. B. indem der Sklave ſtirbt, deſſen Nichtfreylaſſung die
Bedingung eines Rechts war.
Endlich durch den Tod des Berechtigten, ohne daß
Derſelbe die ihm durch die Bedingung unterſagte Hand-
lung vorgenommen hat (e). Zur Erleichterung der Erben
und Legatare, deren Recht an eine negative Bedingung
gebunden iſt, wird die Muciana cautio zugelaſſen, wodurch
ſie ſogleich in den Genuß der ihnen zugedachten Rechte
durch Stellung einer Caution gelangen können, indem dieſe
die Rückgabe des Empfangenen für den Fall künftiger Ver-
letzung der Bedingung ſichert (f).
einmal die Benennung creditor
dem bedingten Legatar abgeſpro-
chen, dem bedingten Stipulator
beygelegt (L. 42 pr. de O. et A.
44. 7.); jedoch iſt ſie auch bey die-
ſem letzten nur in beſchränkten
Beziehungen zuzulaſſen.
(e) Gewöhnlich alſo hat eine
negative Bedingung dieſelbe Wir-
kung, wie wenn es hieße: zur
Zeit des Todes. § 4 J. de verb.
oblig. (3. 15.), L. 73 de cond.
(35. 1.). — Vgl. L. 103 de cond.
(35. 1.), L. 61 pr. de manum.
test. (40. 4.).
(f) L. 7 L. 73 de cond. (35. 1.).
|0150 : 138|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
§. 119.
III. Willenserklärungen. — Bedingung. Fingirte
Erfüllung (a).
In drey Fällen wird, vermittelſt einer Fiction, die un-
erfüllte Bedingung als erfüllt angeſehen und behandelt;
der Grund dieſer Fiction liegt wiederum in der ſchon oben
(§ 118. a.) erwähnten Regel einer freyen, auf Billigkeit
gegründeten, Auslegung und Anwendung der Bedingungen.
Zwey dieſer Fälle werden ſchon in den Rechtsquellen aus
urſprünglichen und natürlichen Regeln abgeleitet; ſie ſind
auf Verträge und Teſtamente gleich anwendbar, wiewohl
die häufigſte Anwendung allerdings bey Teſtamenten vor-
kommt. Die Fiction für den dritten Fall wird dagegen
als eine ganz poſitive Rechtsregel dargeſtellt, ſie iſt ent-
ſprungen aus der Begünſtigung der Freylaſſungen, und
nur anwendbar bey Teſtamenten. Es iſt wichtig, die drey
Regeln über dieſe Fictionen gerade in dem hier angegebe-
nen Verhältniß zu einander aufzufaſſen, welches von neue-
ren Schriftſtellern öfter vernachläſſigt worden iſt.
A. Die Bedingung gilt als erfüllt, wenn Derjenige,
auf deſſen Vortheil die Erfüllung berechnet iſt, darauf frey-
willig verzichtet. Man kann dieſes ſo ausdrücken: quo-
tiens per eum, cujus interest conditionem impleri, fit quo
minus impleatur (b). Dieſer Satz wird dem jus commune
(a) Vgl. Donellus VIII. 34.
(b) L. 5 § 5 quando dies (36.
2.), L. 78 pr. de cond. (35. 1.),
L. 14. 31 eod., L. 23 de cond.
inst. (28. 7.), L. 11 eod., L. 34
§ 4 de leg. 2 (31. un.), L. 1 C.
de his quae sub modo (6. 45.),
Ulpian. II. § 6 „.. si is, cui jus-
|0151 : 139|
§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.
zugeſchrieben, und er gründet ſich offenbar darauf, daß
der Zweck erreicht iſt, die in der Bedingung vorgeſchriebene
Handlung mag wirklich geſchehen, oder von jener Perſon,
auf welche dabey allein geſehen war, erlaſſen, alſo für
überflüſſig erklärt werden. Beſonders einleuchtend iſt Die-
ſes bey einer auf ein Geben gerichteten Bedingung; denn
wollte man hier auch auf der buchſtäblichen Vollziehung,
ungeachtet des Verzichts, beſtehen, ſo würde doch den
Empfänger Nichts abhalten koͤnnen, das empfangene Geld
ſogleich wieder zurück zu geben. Allein der Satz iſt keines-
weges auf dieſen, beſonders unzweifelhaften, Fall einge-
ſchränkt; vielmehr gilt er auch bey der Bedingung, eine
beſtimmte Frau zu heurathen, wenn Dieſe die Ehe aus-
ſchlägt (c): eben ſo bey der Bedingung der Arrogation,
die der zu Arrogirende verweigert (d), oder der öffentlichen
Aufſtellung von Bildſäulen, die von der Stadtgemeinde
nicht zugelaſſen wird (e).
Überall wird alſo bey dieſer Fiction eine mixta con-
ditio (§ 117. e.) vorausgeſetzt, deren Erfüllung durch den
Willen einer beſtimmten Perſon (nicht durch zufällige Um-
ſtände) verhindert wird (f). Unter dieſer Vorausſetzung
sus est dare .. nollet accipere.”
— Das Preußiſche A. L. R., Th. 1
Tit. 4 § 112. 113 beſtimmt gerade
das Gegentheil von dieſer Regel.
(c) L. 23 de cond. inst. (28.
7.), L. 31 de cond. (35. 1.), L. 1
C. de his quae sub modo (6. 45.).
(d) L. 11 de cond. inst. (28. 7.).
(e) L. 14 de cond. (35. 1.).
(f) Wenn alſo die Bedingung
der Ehe mit einer beſtimmten Frau
deswegen unerfüllt bleibt, weil
dieſe Frau die Ehe verſagt, ſo
gilt ſie als erfüllt: wenn dage-
gen durch den früheren Tod der
Frau die Ehe unmöglich iſt, ſo
tritt die Fiction nicht ein, und
das Legat iſt verloren. Eben ſo in
|0152 : 140|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
aber muß der Satz bey Verträgen ebenſowohl gelten, als
bey Teſtamenten, und es iſt daher als ganz zufällig an-
zuſehen, daß in unſeren Rechtsquellen nur bei Teſtamenten
Erwähnung davon geſchieht; dieſes mag daher entſtehen,
daß bey Verträgen dieſe Fiction faſt immer mit der fol-
genden zweyten zuſammen fallen wird, ſo daß ſie dann
in ihrer Eigenthümlichkeit nicht wahrzunehmen iſt.
B. Die Bedingung gilt ferner als erfüllt, wenn Der-
jenige die Erfüllung verhindert, der aus der Nichterfüllung
Vortheil zieht. Unſre Rechtsquellen ſelbſt drücken dieſen
Satz ſo aus: Jure civili receptum est, quotiens per eum,
cujus interest conditionem non impleri, fiat, quo minus
impleatur, perinde haberi, ac si impleta conditio fuisset (g).
anderen, ähnlichen Fällen. L. 31
L. 94 pr. de cond (35. 1.), L. 23
§ 2 ad L. Aquil. (9. 2.), L. 72
§ 7 de cond. (35. 1.), L. 4 C.
de cond. (6. 46.).
(g) L. 161 de R. J. (50. 17.),
L. 24 de cond. (35. 1.), L. 85
§ 7 de verb. oblig. (45. 1.), L. 50
de contr. emt. (18. 1.) — L. 5
§ 5 quando dies (36. 2.), L. 66.
81. 110 de cond. (35. 1.). L 3,
L. 4 § 4, L. 20, L. 23 § 1, L. 34
§ 1 de statulib. (40. 7.), L. 3
§ 9 de cond. causa data (12. 4.).
— Ulpian. II. § 5, Festus v. Sta-
tuliberi. — Die zwey erſten un-
ter den hier angeführten Stellen
ſind faſt ganz wörtlich gleichlau-
tend. In der erſten iſt die Leſe-
art non impleri ſicher, in der
zweyten (L. 24. de cond.) leſen
die Handſchriften theils non im-
pleri, theils (wie die Flor.) im-
pleri (ohne non). Nach dieſer letz-
ten Leſeart würde die Stelle nicht
auf die zweyte, ſondern auf die
erſte Fiction gehen, und ihr Inhalt
wäre dann ein anderer, aber nicht
minder wahr und gewiß. Jedoch
entſcheidet für die Leſeart non
impleri nicht nur die übrigens
wörtliche Übereinſtimmung beider
Stellen, ſondern auch das am
Schluß angeführte Beyſpiel von
dem die Erfüllung verhindernden
promissor; denn dieſes Beyſpiel
paßt nur zu non impleri, das
heißt zu der zweyten Fiction, da
man von dem promissor nur ſa-
gen kann, daß er durch die Nicht-
erfüllung allgemein Vortheil habe
(nämlich nicht Schuldner werde),
anſtatt daß er durch die Erfül-
lung gar nicht immer Vortheil
|0153 : 141|
§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.
Auch dieſe Fiction wird als eine natürliche Regel be-
trachtet. Der Grund derſelben liegt in dem Dolus Des-
jenigen, der aus Eigennutz den durch die Willenserklärung
in die Bedingung gelegten Charakter der Zufälligkeit und
Ungewißheit aufhebt; dieſer Dolus ſoll ihm keinen Vortheil
bringen (h).
Sie gilt nicht blos bey Bedingungen, die auf freyen
Handlungen beruhen, ſondern auch bey der casualis con-
ditio, da bey dieſer ein poſitives Entgegenwirken durch
menſchliche Willkühr wohl denkbar iſt.
Die Perſon, durch deren hindernde Einwirkung die
Fiction begründet wird, iſt oft dieſelbe, welche in der er-
ſten Fiction erwähnt war (i), oft auch eine andere (k).
hat, ſondern nur in dem beſon-
deren Fall, da die Bedingung ge-
rade in einer an ihn zu entrich-
tenden Leiſtung beſteht. — Der-
ſelbe Rechtsſatz findet ſich auch in
dem Franzöſiſchen Code civil art.
1178, und in dem Preußiſchen
A. L. R. Th. 1 Tit. 4 § 104—107
(doch hier mit Beſchränkungen).
(h) Die hierauf gerichtete Ab-
ſicht alſo iſt das Entſcheidende.
L. 38 de statulib. (40. 7.). „Non
omne ab heredis persona in-
terveniens impedimentum sta-
tulibero pro expleta condi-
tione cedit: sed id dumtaxat,
quod impediendae libertatis
(causa) factum est.” Das Wort
causa fehlt zwar in der Flor.,
ſteht aber in allen anderen Hand-
ſchriften, und iſt ſchon durch die
Conſtruction ganz unentbehrlich.
— In vielen Fällen wird von ei-
nem ſolchen Dolus gar nicht die
Rede ſeyn können, und dann wird
auch nicht die Erfüllung fingirt.
So z. B. wenn Einer unter ei-
ner Conventionalſtrafe eine Un-
terlaſſung verſpricht, und nun
wirklich unterläßt, ſo iſt blos ſein
freyer Wille Urſache der vereitel-
ten Bedingung der Strafe; den-
noch braucht er nicht die Strafe
zu zahlen, weil ſein Unterlaſſen
gerade der Zweck des Vertrags
war.
(i) So z. B. wenn der Teſta-
tor einen Sklaven frey läßt, un-
ter der Bedingung dem Erben
100 zu zahlen. Verweigert der
Erbe die Annahme, weil er dem
Sklaven die Summe erlaſſen will,
ſo tritt die erſte Fiction ein: ver-
weigert er die Annahme, um die
Freyheit zu hindern, die zweyte.
(k) So z. B. wenn die Bedin-
|0154 : 142|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Dieſe Fiction endlich gilt nicht nur bey Teſtamenten,
ſondern auch bey Verträgen, und dieſe zweyte Art der
Anwendung wird hier in unſren Rechtsquellen ausdrücklich
erwähnt (l).
C. Eine ganz andere Natur hat die dritte Fiction,
welche nicht auf einer, aus allgemeineren Grundſätzen ab-
geleiteten, Rechtsregel beruht, ſondern auf der bloßen Be-
günſtigung der Freyheit, folglich auch den Charakter eines
ganz poſitiven Rechtsſatzes, eines jus constitutum oder
singulare (§ 16. q.) an ſich trägt. Wenn nämlich ein
Sklave durch letzten Willen, direct oder fideikommiſſariſch,
freygelaſſen wird unter einer mixta conditio, und wenn
derſelbe von ſeiner Seite zur Erfüllung bereit iſt, auch
alle von ihm erwartete Mittel zur Erfüllung in Bereit-
ſchaft hat, nun aber die Erfüllung durch eine äußere Ur-
ſache verhindert wird, ſo gilt die Bedingung dennoch als
erfüllt, und der Sklave wird frey (m). Dieſes geſchieht
alſo namentlich in dem Fall, wenn der Sklave einer be-
gung der Freyheit darin beſteht,
daß der Sklave einem Dritten
100 zahle. Hier tritt die erſte
Fiction ein, wenn der Dritte die
Annahme verweigert: die zweyte,
wenn der Erbe dem Sklaren die
Zahlung verbietet. L. 3 § 2 de
statulib. (40 7.). Vgl. L. 3 § 9
de cond. causa data (12. 4.).
(l) Vgl. die vier erſten unter
den in Note g angeführten Stellen.
(m) L. 20 § 3. 4, L. 19, L. 3
pr. § 8. 10. 11, L. 4 § 2. 5, L. 5
pr., L. 28 pr. de statulib. (40.
7.), L. 55 pr. § 1. 2 de manum.
test. (40. 4.), L. 94 pr. § 1 de
cond. (35. 1.). — Ulpian. II. § 6
„si paratus sit dare, et is cui
jussus est dare … moriatur.”
Ulpian hat in den §§ 5 und 6 un-
ſre drey Fictionen neben einan-
der (ſ. o. Note b und g), ohne ſie
genau zu unterſcheiden, was auch
in dem Fall des statuliber, von
welchem allein er hier ſpricht, gar
nicht nöthig war.
|0155 : 143|
§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.
ſtimmten Perſon Geld zahlen ſollte, und Dieſe vor dem
Empfang ſtarb, der Sklave aber das Geld bereit hatte (n).
Es wird aber in unſren Rechtsquellen die hierin liegende
poſitive Begünſtigung der Freyheit ausdrücklich bemerkt,
und zwar gerade im Gegenſatz der Legate. Wenn alſo
demſelben Sklaven, unter derſelben mixta conditio, ſowohl
die Freyheit, als ein Legat hinterlaſſen iſt, ſo wird er in
dem oben bezeichneten Fall zwar frey, bekommt aber den-
noch das Legat nicht (o).
Aber ſelbſt dieſe Begünſtigung der Freyheit ſollte doch
nur innerhalb der hier bezeichneten Gränzen eintreten. Ge-
ſetzt alſo der Sklave kann die Mittel zur Erfüllung nicht
herbeyſchaffen, ſo wird er nicht frey, ſelbſt wenn ihm da-
bey keine Verſchuldung zur Laſt fällt (p). Eben ſo darf
die Begünſtigung nicht ausgedehnt werden auf die casualis
conditio, wobey ja von einer Bereitſchaft des Sklaven
gar nicht die Rede ſeyn kann (q).
(n) Auch hierin wurde die Be-
günſtigung allmälig erweitert. An-
fangs ſollte es nur gelten, wenn
jene Perſon den Teſtator über-
lebte; dann ließ man es auch zu,
wenn ſie vor dem Teſtator ver-
ſtorben war. L. 39 § 4 de sta-
tulib. (40. 7.). (Starb ſie ſelbſt
vor Abfaſſung des Teſtaments, ſo
war die Bedingung unmöglich,
alſo wie nicht geſchrieben. Vgl.
§ 121).
(o) L. 20 § 3 de statulib. (40.
7.).
(p) L. 3 § 5. 8, L. 4 § 6, L. 5
§ 1 de statulib. (40. 7.). — Et-
was beſonderes iſt ſpäterhin be-
ſtimmt worden für den Fall, da
er das Geld überbringt, aber auf
dem Wege durch Räubergewalt
verliert. Hier wird er ſogleich
frey, und die Bedingung wird in
einen Modus verwandelt, ſo daß
er ſie nachträglich erfüllen muß.
L. 7 C. de cond. insertis (6. 46.).
(q) L. 4 § 7 de statulib. (40.
7.), L. 96 pr. de cond. (35. 1.).
— Beſteht die caſuelle Bedingung
|0156 : 144|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Dieſe letzte Fiction iſt an ſich ſelbſt für das heutige
Recht gleichgültig; ſie iſt aber wichtig, weil ſie zur Be-
ſeitigung der mancherley Irrthümer dienen kann, die von
den Neueren in dieſe Lehre eingemiſcht werden. So neh-
men Manche an, das zufällige Hinderniß der Erfüllung
ſchade nicht, wenn es vor dem Tode des Teſtators ein-
trete. Andere, es ſchade nicht, wenn es eine Poteſtativ-
bedingung betreffe, ſondern nur wenn eine gemiſchte da-
durch unerfüllt bleibe. Alles ohne Grund, und der wahren
Natur der Bedingungen ganz entgegen. Dieſe Irrthümer
ſind entſtanden, indem man theils die ganz ſinguläre Be-
günſtigung der Freylaſſung auf Erbeinſetzungen und Legate
willkührlich übertragen, theils indem man die in den Rechts-
quellen, für dieſe Begünſtigung ſelbſt, gezogenen ſcharfen
Gränzen verkannt hat. Allen dieſen Irrthümern liegt die
mehr oder weniger dunkle Vorausſetzung zum Grunde, es
komme bey der potestativa und mixta conditio nur auf die
Bereitwilligkeit und Schuldloſigkeit des Handelnden an,
darin, daß der Verpflichtete, oder
daß ein Dritter ein gewiſſes Le-
bensjahr erreiche, und ſtirbt Der-
ſelbe vor dieſem Jahr, ſo wird,
durch begünſtigende Interpreta-
tion, die conditio in einen dies
certus verwandelt, und der Sklave
wird frey an dem Tage, an wel-
chem Jener, bey fortdauerndem
Leben, das beſtimmte Jahr er-
reicht haben würde. L. 16 de
manum test. (40. 4.), L. 19 de
statulib. (40. 7.), L. 23 § 3, L. 41
§ 10 de fideic. lib. (40. 5.), L. 10
C. eod. (7. 4.). Für Legate gilt
dieſes nicht. Vgl. unten § 125. —
Wiederum etwas Beſonderes gilt
für den Fall, wenn der Sklave
pure zum Erben eingeſetzt, und
unter einer caſuellen Bedingung,
die deficirt, freygelaſſen iſt. Hier
wird er ſogleich frey, bekommt
aber die Erbſchaft nur wenn ſie
inſolvent iſt. L. 6 C. de neces-
sariis (6. 27.).
|0157 : 145|
§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.
und äußere Hinderniſſe der Erfüllung ſchadeten nicht. Die-
ſes iſt ausnahmsweiſe wahr in den Fällen der oben dar-
geſtellten drey Fictionen, in allen anderen Fällen iſt es
nicht wahr, und es iſt grundfalſch, es in irgend einer Ge-
ſtalt zur Regel erheben zu wollen.
Ich will aber noch einige einzelne Beſtimmungen an-
führen, welche, durch Misverſtändniß über ihre wahre Na-
tur, zur Befeſtigung jener Irrthümer beygetragen haben.
1) Wenn ein Teſtament die Erfüllung einer Bedingung
vor einem beſtimmten Tage vorſchreibt, der Erbe oder
Legatar aber die Erfüllung unterläßt, weil wegen des Sc.
Silaniani das Teſtament vor jenem Tage gar nicht eröffnet
wurde, ſo bekommt er Reſtitution gegen dieſe Verſäumniß (r).
Dieſer Fall gehört unter die (nicht häufigen) Reſtitutionen
wegen Unwiſſenheit, und gerade daß eine ſolche Reſtitution
möglich und nöthig gefunden wird, iſt ein Beweis dafür,
daß die regelmäßige Natur der Bedingung auf einen ent-
gegengeſetzten Erfolg führen mußte. Die einleuchtende
Rechtfertigung der Reſtitution liegt aber darin, daß die
Unwiſſenheit eine nothwendige Folge der Befolgung einer
geſetzlichen Vorſchrift war.
2) Werden Alimente oder Jahrgelder hinterlaſſen unter
der Bedingung, daß der Legatar ſeinen ſteten Aufenthalt
in der Nähe einer beſtimmten Perſon habe, und ſtirbt
dieſe Perſon, ſo dauert dennoch das Legat fort bis zum
(r) L. 3 § 31 de Sc. Silan. (29. 5.). Vgl. Beylage VIII. Num. XXIX.
am Ende.
III. 10
|0158 : 146|
Buch. II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Tode des Legatars, obgleich er die Bedingung nicht mehr
erfüllen kann (s). Dieſes beruht auf einer begünſtigenden
Auslegung ſolcher Legate, als ob der Bedingung des Auf-
enthalts die Worte hinzugefügt wären: „ſo lange dieſe
Perſon lebt“. Dieſes gehört alſo zur Interpretation der
Legate, und zwar in einem Fall, deſſen Natur ohnehin zu
einer Behandlung nach Milde und Billigkeit auffordert:
die Natur der Bedingungen und ihrer Erfüllung hat damit
Nichts zu ſchaffen.
3) Wird ein Legat gegeben unter der Bedingung, daß
der Legatar nach dem Gutfinden des Titius heurathe, und
ſtirbt Titius vor dem Teſtator, ſo iſt dennoch das Legat
gültig, obgleich die Bedingung unerfüllt bleiben muß. Al-
lein dieſe Bedingung ſoll, als unſittlich, ohnehin nicht be-
achtet werden, ſelbſt wenn Titius noch lebte; alſo kann
natürlich auch deſſen Tod hierin Nichts ändern (t).
4) Das Legat unter der Bedingung eines Eides, den
Sklaven Stichus zu manumittiren, iſt gültig, auch wenn
die Manumiſſion durch den Tod dieſes Sklaven unmöglich
wird. Das gründet ſich aber darauf, daß die Bedingung
des eidlichen Verſprechens einer Handlung überhaupt nicht
als Bedingung gelten ſoll; vielmehr wird dann die Hand-
lung ſelbſt als Modus behandelt, und durch deſſen Un-
(s) L. 20 pr. de annuis (33.
1.), L. 20 § 3 de alim. (34. 1.),
L. 84 de cond. (35. 1.), L. 1 C.
de leg. (6. 37.). — Vergl. auch
L. 18 § 2 de alim. (34. 1.).
(t) L. 72 § 4 L. 28 pr. de
cond. (35. 1.), L. 54 § 1 de leg. 1
(30. un.) (ſ. u. § 123. c).
|0159 : 147|
§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.
möglichkeit kann niemals die Gültigkeit des Legats gehin-
dert werden (u).
5) Zwey Brüder werden zu Erben eingeſetzt, ſo daß
Derjenige, welchen die Seja zum Ehegatten erwählt, Zwey
Drittheile, der Andere Ein Drittheil der Erbſchaft erhalten
ſoll. Stirbt Seja vor der Wahl, ſo ſind dennoch Beide
Erben, und zwar Jeder zur Hälfte (v). Allein hier war
die Erbeinſetzung ſelbſt unbedingt, und nur die Ungleich-
heit der Portionen bedingt. Da die Bedingung unerfüllt
blieb, ſo fällt dieſe Ungleichheit weg, und es bleibt bey
der regelmäßigen Gleichheit, wie wenn gar keine Portio-
nen ausgedrückt wären.
6) Das Cap. 66 de Reg. juris in VI. iſt ſo allgemein
und unbeſtimmt gefaßt, daß es offenbar nicht dazu dienen
kann, die Regeln des Römiſchen Rechts abzuändern, ſon-
dern nur in Erinnerung zu bringen. Es muß daher dieſe
Stelle als eine, nur etwas zu allgemein ausgedrückte, An-
erkennung der erſten und zweyten oben dargeſtellten Fiction
angeſehen werden. Dieſe Auffaſſung iſt dem allgemeinen
Charakter des ganzen Titels angemeſſen, worin ſich jene
einzelne Stelle befindet.
7) Die bedenklichſte Stelle endlich, und die vorzüglich
(u) L. 8 § 7 de cond. inst.
(28. 7.), vgl. mit § 8 eod. und
mit L. 26 pr. de cond. (35. 1.),
ſo daß alſo nur der Ausdruck
conditio in dem § 7 (ſo wie in
gar manchen anderen Stellen)
uneigentlich gebraucht iſt. Vgl.
Donellus VIII. 34 § 7. Avera-
nius Interpr. II. 24 Num. 28. 29.
— Vgl. auch unten § 123. s.
(v) L. 24 de cond. inst. (28. 7.).
10*
|0160 : 148|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
zu den oben gerügten Irrthümern beygetragen hat, iſt
L. 54 § 2 de leg. 1. (30. un.).
Sed et si servi mors impedisset manumissionem, cum
tibi legatum esset, si eum manumisisses: nihilo minus
debetur tibi legatum, quia per te non stetit quo minus
perveniat ad libertatem.
Sollte nun wohl dieſe einzige Stelle Dasjenige zweifel-
haft machen können, was in ſo vielen anderen einſtimmig
anerkannt iſt? Dann wäre ja die oben dargeſtellte dritte
Fiction keine ſinguläre Begünſtigung der Freyheit, und es
beſtände nicht in dieſer Hinſicht der Gegenſatz zwiſchen
Legat und Freylaſſung, der doch von mehreren alten Ju-
riſten ſo ſcharf und beſtimmt hervorgehoben wird (Note m.
und o.). Durch die geringe Veränderung eines einzigen
Buchſtabens ließe ſich der Widerſpruch heben, wenn an-
ſtatt mors geleſen würde mora, ſo daß die servi mora,
das heißt das aus ſeinem widerſtrebenden Willen hervor-
gehende Hinderniß (z. B. indem er ſich verſteckte oder ent-
fernte) der wirklichen Erfüllung im Wege ſtände. Nun
würde die Bedingung als erfüllt gelten müſſen, weil die
erſte unter den drey dargeſtellten Fictionen anwendbar
wäre (w).
(w) Die Art, wie Donellus
VIII. 34 § 9 dieſen Fall als ein-
zelne Ausnahme zu beſeitigen ſucht,
ſcheint mir gezwungen und will-
kührlich. — Sell Verſuche im
Gebiete des Civilrechts Th. 2
S. 228. 232 nimmt an, bey rei-
nen Poteſtativbedingungen ſchade
die Nichterfüllung wegen eines
äußeren Hinderniſſes nicht, die
Bedingung si Stichum manumi-
serit ſey aber eine ſolche. Schon
der aufgeſtellte Grundſatz ſelbſt
gehört in die Reihe der oben ge-
|0161 : 149|
§. 120. Bedingung. Regelmäßige Wirkung.
§. 120.
III. Willenserklärungen. — Bedingung. Regel-
mäßige Wirkung.
Indem nunmehr die regelmäßige Wirkung der Bedin-
gungen darzuſtellen iſt, muß die ſchon oben (§ 117) an-
gedeutete wichtigſte Eintheilung in Erinnerung gebracht,
und jetzt genau dargeſtellt werden. Das allgemeine We-
ſen der Bedingungen wurde in die Abhängigkeit eines
Rechtsverhältniſſes von einem ungewiſſen Ereigniß geſetzt
(§ 116). Dieſe Abhängigkeit aber läßt ſich auf zwiefache
Weiſe denken, indem durch das Ereigniß entweder der
Anfang oder das Ende des Rechtsverhältniſſes beſtimmt
werden ſoll. Unſere Juriſten nennen die Bedingung im
erſten Fall eine ſuspenſive (aufſchiebende), im zweyten
eine reſolutive (auflöſende); in unſren Rechtsquellen
finden ſich Kunſtausdrücke für dieſe Begriffe nicht. Der
erſte Fall iſt übrigens ſo ſehr der häufigere und darum
wichtigere, daß überall, wo von conditio ohne nähere Be-
ſtimmung geredet wird, zunächſt an die ſuspenſive zu den-
ken iſt.
Das unter einer ſuspenſiven Bedingung ſtehende
Rechtsverhältniß kann in drey verſchiedenen Zuſtänden ge-
dacht werden. Zunächſt in dem Zuſtand der Unentſchie-
rügten willkührlichen Behauptun-
gen; ferner iſt Das, was von
außen verhindert werden kann,
eben darum nicht mehr rein po-
teſtativ; endlich iſt beſonders die
angeführte Bedingung gar nicht
poteſtativ, weil, wenn auch nicht
die Einwilligung des Sklaven,
doch deſſen Gegenwart zur Ma-
numiſſion nöthig iſt, ſo daß er
dieſe durch die Flucht wohl hin-
der n kann.
|0162 : 150|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
denheit, der aus dem Weſen der Bedingung hervorgeht
(pendet conditio). Hier iſt ein Recht noch gar nicht vor-
handen, und es iſt nur das künftige Daſeyn deſſelben von
der Willkühr der Betheiligten mehr oder weniger unabhän-
gig gemacht. — Dieſer Zuſtand kann ſich in Gewißheit
verwandeln auf zweyerley entgegengeſetzte Weiſe. Erſtlich
indem das Ereigniß wirklich eintritt (erfüllte Bedingung,
impleta oder expleta conditio), wodurch das Rechtsver-
hältniß völlig zu Stande kommt, wie wenn es ohne Be-
dingung geweſen wäre (a). Zweytens indem umgekehrt
gewiß wird, daß das Ereigniß nicht eintritt (vereitelte
Bedingung, deficit conditio), wodurch nun die Erwartung
eines Rechtsverhältniſſes ſpurlos verſchwindet.
Die erfüllte Bedingung alſo begründet das Rechts-
verhältniß gerade ſo, wie wenn es unbedingt geweſen wäre,
und für die künftige Zeit iſt dieſe Wirkung unzweifelhaft.
Es fragt ſich aber, ob dieſe Wirkung auch rückwärts, auf
die Zwiſchenzeit zwiſchen dem eingegangenen Rechtsgeſchäft
und der erfüllten Bedingung, zu beziehen iſt? Im Allge-
(a) L. 26 de cond. inst. (28.
7.). „… conditione expleta, pro
eo est, quasi pure ei hereditas
vel legatum relictum sit.” Jetzt
alſo kann man erſt ſagen: cessit
dies, das Recht ſelbſt iſt in das
Vermögen gekommen, welches
pendente conditione noch nicht
behauptet werden konnte. L. 213
pr. de verb. sign. (50. 16.). In-
deſſen iſt doch dieſer Begriff und
Kunſtausdruck nicht bey allen
Anwendungen von Erheblichkeit,
worin Bedingungen vorkommen
können, ſondern nur bey Teſta-
menten, und zwar insbeſondere
bey Legaten, deren Übergang auf
die Erben des Legatars davon
abhängt, daß der Legatar den
dies cedens erlebt (§. 116).
|0163 : 151|
§. 120. Bedingung. Regelmäßige Wirkung.
meinen kann dieſe Frage bejaht werden (b), jedoch ſind
dabey manche Beſchränkungen zu bemerken.
1) Iſt eine Sache bedingungsweiſe tradirt, ſo bleibt
ſie einſtweilen im Eigenthum des Schuldners, der ſie alſo
auch ferner verpfänden oder mit Servituten beſchweren
kann. Sobald aber die Bedingung erfüllt wird, ſind alle
dieſe Veräußerungen der Zwiſchenzeit vernichtet. Eben ſo
wird die Priorität eines bedingungsweiſe gegebenen Pfand-
rechts nicht nach der Zeit der Erfüllung, ſondern nach der
Zeit des Pfandvertrags, beſtimmt (c). — Dieſes leidet je-
doch eine Ausnahme, wenn die Erfüllung der Bedingung
in einer von der Willkühr des Schuldners abhängenden
Handlung beſteht (d); und zwar nicht als ob dieſes keine
(b) Vgl. im Allgemeinen: W.
Sell über bedingte Traditionen
Zürich 1839 S. 100 fg. Man
kann Das ſo ausdrücken: retro-
trahitur impleta conditio ad
conventionis diem. Zwar kommt
der Ausdruck in dieſer Verbin-
dung nicht vor; aber bey der Ra-
tihabition eines in fremdem Na-
men geſchloſſenen Vertrags ge-
braucht ihn Juſtinian in der That,
und ganz in demſelben Sinn. L. 7
C. ad Sc. Maced. (4. 28.). Eben
ſo ſagt Marcian in L. 15 pr. de
reb. dubiis (34. 5.) „ex post
facto retro ducitur,” von einer
legirten Sache, die der Erbe ver-
äußert, wenn ſpäterhin der Le-
gatar das Legat entweder an-
nimmt oder ausſchlägt. Eben ſo
Ulpian in L. 17 § 1 L. 35 ad
L. Aquil. (9. 2.) „retro adcre-
visse dominium.” — In L. 11
§ 2. 9 de don. int. vir. (24. 1.)
ſteht retro agi, in L. 40 de m.
c. don. (39. 6.) reducitur, in
L. 25 C. de don. int. vir. (5.
16.) referatur und reduci. Vgl.
über dieſe letzte Stellen, und über
ihre Verbindung mit der Lehre
von den Bedingungen, § 170.
(c) L. 8 pr. de peric. (18. 6.),
L. 9 § 1 L. 11 § 1 qui pot. (20.
4.). Sell bedingte Traditionen
S. 157 fg.
(d) L. 16 § 7 de pign. (20.
1.), L. 4 quae res pign. (20. 3.),
L. 9 § 1 L. 11 pr. § 2 qui pot.
(20. 4.). So z. B. bey einer Ver-
pfändung unter der Bedingung,
daß der Schuldner ein Darlehen
empfangen, oder daß er Mobi-
|0164 : 152|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
wahre Bedingung wäre, welches doch in der That anzu-
nehmen iſt (§ 117), ſondern weil der Schuldner, der die
Entſtehung des ganzen Rechts ſeines Gegners verhindern
kann, auch dauernd wirkſame Beſchränkungen deſſelben muß
hervorbringen können.
2) Ob die Früchte, welche in der Zwiſchenzeit entſtan-
den ſind, mit der Sache ſelbſt herausgegeben werden müſ-
ſen, iſt ſtreitig; conſequenterweiſe muß im Allgemeinen
dieſe Frage bejaht werden, jedoch mit ſteter Rückſicht auf
die wahrſcheinliche Abſicht in einzelnen Fällen (e).
3) Bey einer bedingten Erbeinſetzung muß die Frage
in jeder denkbaren Beziehung bejaht werden, und zwar
ſchon aus dem Grunde, weil jeder Verſtorbene von dem
Augenblick ſeines Todes an beerbt ſeyn muß, ſo daß das
Recht des Erben zwar lange Zeit ungewiß ſeyn kann,
ſobald es aber gewiß iſt, auf die Todeszeit zurück bezogen
werden muß (f).
4) Bey bedingten Legaten tritt allerdings dieſer Grund
lien in ein Haus hereinbringen
wird, die dann als Pfand gelten
ſollen. Denn er kann es willkühr-
lich unterlaſſen, das Darlehen an-
zunehmen, oder Mobilien in das
Haus zu bringen. Vgl. Sell
bedingte Traditionen S. 166.
(e) Vergl. Thibaut civiliſt.
Abhandlungen S. 363; Sell be-
dingte Traditionen S. 144; da-
gegen iſt, was die Regel betrifft,
Vangerow Pandekten I. 116.
Durch die hier (im Text) hinzu-
gefügte Einſchränkung verſchwin-
det großentheils die praktiſche Be-
deutung der Streitfrage. — Hier
und bey den folgenden Sätzen
konnte es nicht die Abſicht ſeyn,
in das theilweiſe ſehr weit füh-
rende Detail einzugehen. Viel-
mehr ſollte nur eine überſichtliche
Zuſammenſtellung der verſchiede-
nen Anwendungen gegeben wer-
den, worin ſich die Wirkung der
erfüllten Bedingung zeigt.
(f) S. o. § 102, und beſon-
ders die in der Note b dieſes §
angeführte Stellen.
|0165 : 153|
§. 120. Bedingung. Regelmäßige Wirkung.
nicht ein. Dennoch ſind auch hier, wie bey den Verträgen,
alle Veräußerungen der Zwiſchenzeit vernichtet, ſobald die
Bedingung erfüllt wird (g).
5) Dagegen gilt bey bedingten Legaten ein anderes
Recht in Anſehung der Früchte der Zwiſchenzeit. Man
nimmt nämlich an, daß der Teſtator die Bedingung zu-
gleich als Zeitbeſtimmung gedacht habe (h), und daß daher
der Fruchtgenuß der Zwiſchenzeit dem Erben verbleiben
ſolle, auch nachdem durch die eingetretene Erfüllung alle
Ungewißheit aufgehört hat (i). Dieſes iſt jedoch nur In-
terpretation des Willens, und es muß daher anders gehal-
ten werden, wenn der Teſtator ausdrücklich verordnet, daß
bey eintretender Erfüllung das Legat von der Todeszeit
an zu entrichten ſey, das heiſt, daß die in der Zwiſchen-
zeit entſtandenen Früchte dem Legatar herausgegeben wer-
den ſollten (k).
(g) L. 11 § 1 quemadm. serv.
(8. 4.), L. 105 de cond. (35. 1.),
L. 3 § 3 C. comm. de leg. (6.
43.). — Die Proculejaner nahmen
an, die per vindicationem legirte
Sache ſey einſtweilen herrenlos,
die Sabinianer ſahen den Erben
als Eigenthümer an, ſo lange
die Erfüllung nicht eingetreten
war. Gajus II. § 200. Juſtinian
hat die Sabinianiſche Meynung
(für alle Legate) anerkannt, und
nur unter dieſer Vorausſetzung hat
auch der im Text aufgeſtellte Satz
Sinn. L. 66 de rei vind. (6. 1.),
L. 12 § 5 de usufr. (7. 1.), L. 12
§ 2 fam. herc. (10. 2.), L. 29 § 1
qui et a quib. manum. (40. 9.),
und mehrere andere Stellen.
(h) L. 22 pr. quando dies (36.
2.). „… per conditionem tem-
pus demonstratur” …
(i) L. 15 § 6 L. 24 § 1 L. 88
§ 3 ad L. Falc. (35. 2.), L. 18
pr. L. 33 L. 57 pr. ad Sc. Tre-
bell. (36. 1.).
(k) Darauf wohl iſt zu bezie-
hen das praeposterum, wovon
Juſtinian ſagt, es ſey früher all-
gemein ungültig geweſen, K. Leo
habe es bey der Dos zugelaſſen,
er ſelbſt geſtatte es allgemein, bey
Stipulationen und Teſtamenten.
L. 25 C. de testam. (6. 23.), § 14
|0166 : 154|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Das unter einer reſolutiven Bedingung ſtehende
Rechtsverhältniß hat eine viel einfachere Natur. Zunächſt
iſt es einem unbedingten völlig gleich. Tritt aber die Be-
dingung ein, ſo iſt es dadurch völlig vernichtet, als wenn
es nie vorhanden geweſen wäre: es iſt eine pura conven-
tio, quae resolvitur sub conditione(l). Das Eigenthum
kehrt daher von ſelbſt zurück, ohne neue Tradition, und
alle in der Zwiſchenzeit vorgenommene Veräußerungen, die
bis dahin allerdings gültig waren, ſind augenblicklich ver-
nichtet (m).
Der letzte Zweck einer ſolchen Reſolutivbedingung kann
auch unter zwey anderen Rechtsformen erreicht werden,
die ihr alſo verwandt ſind, aber nicht mit ihr verwechſelt
(13) J. de inut. stip. (3. 19.).
Dahin würde z. B. dieſes Legat
gehören: Si Consul factus erit
Titius, a die mortis meae fun-
dum ei heres dato. Der Sinn
und Erfolg war nun der, daß
Titius die Früchte der Zwiſchen-
zeit bekam. Auch lag in der Sache
nichts Anſtößiges, denn dieſe Be-
ſtimmung über die Früchte konnte
unbedenklich zu allen Zeiten in
Stipulationen und in Teſtamen-
ten getroffen werden. Vgl. L. 18
pr. ad Sc. Trebell. (36. 1.). Das
Anſtößige lag nur in dem Aus-
druck, weil wörtlich etwas Un-
mögliches und Widerſinniges vor-
geſchrieben war, nämlich die Voll-
ziehung einer Handlung in einer
bereits vergangnen Zeit. Dieſe
Unvollkommenheit der wörtlichen
Faſſung ſollte nicht mehr ſchaden,
die unzweifelhafte Abſicht ſollte
zur Ausführung kommen.
(l) L. 3 de contr. emt. (18.
1.), L. 2 de in diem addict.
(18. 2), L. 1 de L. Commiss.
(18. 3.), L. 4 C. de pactis inter
emt. (4. 54.). — L. 29 de mor-
tis causa don. (39. 6.). — Man
kann alſo die Reſolutivbedingung
auch auffaſſen als eine ſuspen-
ſive für die Vernichtung des Rechts-
geſchäfts; nur nicht als eine Sus-
penſivbedingung für ein neues
Rechtsgeſchäft von umgekehrtem
Inhalt und Zweck.
(m) L. 41 pr. de rei vind.
(6. 1.). — L. 4 § 3 de in diem
addict. (18. 2.), L. 3 quib. mod.
pign. (20. 6.). — Vgl. Sell be-
dingte Traditionen S. 219 fg.
|0167 : 155|
§. 120. Bedingung. Regelmäßige Wirkung.
werden duͤrfen, da ſie ſich in einzelnen Folgen ſehr von
ihr unterſcheiden. Es kann nämlich:
1) die umgekehrte Thatſache als Suspenſivbedingung
ausgedrückt ſeyn, da denn die oben angegebenen Wirkun-
gen eintreten (n);
2) die Wiederherſtellung des urſprünglichen Zuſtandes
zum Gegenſtand eines eigenen Nebenvertrages unter ſus-
penſiver Bedingung gemacht ſeyn. Dann entſteht aus die-
ſem ein blos obligatoriſcher Anſpruch, das Eigenthum kehrt
nicht von ſelbſt zurück, und die Veräußerungen der Zwi-
ſchenzeit bleiben gültig (o).
(n) Es iſt mithin in ſolchen
Fällen eine factiſche Frage, wel-
che von beiden Arten der Bedin-
gungen die Parteyen gemeynt ha-
ben. L. 2 de in diem addict.
(18. 2.), L. 1 de L. commiss.
(18. 3.).
(o) L. 12 pr. de praescr. ver-
bis. (19. 5.), L. 2 C. de pactis
inter emt. (4. 54.). — Thibaut
civiliſt. Abhandl. S. 361 überſieht
dieſe Unterſchiede, indem er blos
darauf Rückſicht nimmt, wer am
Ende die Sache bekommen und
behalten ſoll, weshalb er den we-
ſentlichen Unterſchied zwiſchen ſus-
penſiven und reſolutiven Bedin-
gungen ohne Grund verneint.
(Vgl. Sell S. 183). In einem
anderen Sinn freylich läßt ſich
allerdings die Reſolutivbedingung
auf eine ſuspenſive zurückführen
(Note l). — Auch hier alſo iſt es
eine factiſche Frage, ob die Par-
teyen nur die erſte Veräußerung
durch Bedingungen einſchränken
wollten, oder ob ſie vielmehr ei-
nen zweyten Vertrag über be-
dingte Rückübertragung zur Ab-
ſicht gehabt haben. Nun fragt
es ſich ferner, woran der Richter
dieſe Abſicht erkennen ſoll. Die
Römer haben, ächt praktiſch, für
beſtimmte einzelne Geſchäfte Prä-
ſumtionen aufgeſtellt: ſo enthält
die in diem addictio und die lex
commissoria eine bedingte Ver-
äußerung, die retrovenditio ei-
nen zweyten Vertrag auf Rück-
veräußerung. Weniger praktiſch
haben viele neuere Juriſten die
Entſcheidung davon abhängig ge-
macht, ob die Parteyen verba
directa oder obliqua gebraucht
haben; Andere haben, auf noch
bedenklichere Weiſe, eine durch-
greifende Präſumtion für alle
Fälle, und zwar gerade für einen
|0168 : 156|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Dieſes iſt die Natur der Reſolutivbedingung, da wo
ſie überhaupt gültig und wirkſam iſt. Für welche Rechts-
geſchäfte aber dieſes zu behaupten iſt, kann erſt weiter
unten, in Verbindung mit den gleichartigen Zeitbeſtim-
mungen, (§ 127) unterſucht werden.
Eine eigenthümliche Natur haben hierin die Schen-
kungen auf den Todesfall (§ 170). Bey ihnen hat der
Geber die Wahl zwiſchen der ſuspenſiven und reſolutiven
Bedingung, und zwar ſo daß im Zweifel die letzte anzu-
nehmen iſt. Eben daher aber wird die ſuspenſive, wenn
er ihr den Vorzug giebt, nicht retrotrahirt in Beziehung
auf die Veräußerungen der Zwiſchenzeit; wohl aber behält
der Beſchenkte die Früchte der Zwiſchenzeit. Geſchieht eine
ſolche Schenkung unter Ehegatten, ſo iſt die augenblickliche
Übertragung des Eigenthums (mit Reſolutivbedingung)
unmöglich; daher bekommt aber nun die allein moͤgliche
Suspenſivbedingung in der Regel eine retroactive Wirkung.
§. 121.
III. Willenserklärungen. — Bedingung. Nothwen-
dige und unmögliche(a).
Außer der regelmäßigen Wirkung der Bedingungen
(§ 120) muß nun auch die großentheils anomaliſche Wir-
zweyten Vertrag, aufzuſtellen ver-
ſucht. Vergl. über die neueſten,
dieſe Frage betreffenden, Äuße-
rungen: Vangerow Pandek-
ten I. S. 117. Sell bedingte
Traditionen S. 220 fg.
(a) Vgl. Donellus VIII. 32
§ 5—24. W. Sell Verſuche im
|0169 : 157|
§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche.
kung dargeſtellt werden, welche im Fall der nothwendi-
gen und der unmöglichen Bedingungen ſtattfindet. So
nennt man nämlich, mit etwas abgekürztem Ausdruck, die-
jenigen Bedingungen, deren Erfüllung nothwendig oder
unmöglich eintritt.
Daß dieſe keine wahren Bedingungen ſind, indem in
ihnen die Ungewißheit des Erfolgs, alſo das Weſen der
Bedingung, fehlt, iſt ſchon oben bemerkt worden (§ 116).
Um aber deutlich machen zu können, welche Wirkung eine
ſolche irrig angewendete Form der Willenserklärung auf
das Rechtsgeſchäft ſelbſt hat, iſt es nöthig, zuvor die hier
angedeuteten Fälle ſelbſt, nach den verſchiedenen Geſtalten,
deren ſie empfänglich ſind, genau ins Auge zu faſſen.
Zuvörderſt iſt es einleuchtend, daß jene ſogenannte Be-
dingungen ſowohl poſitiv als negativ ſeyn können (§ 117).
Sehen wir ferner auf den Grund der vorhandenen Noth-
wendigkeit und Unmöglichkeit, ſo kann derſelbe bald in
einem Naturgeſetz liegen, bald in einer Rechtsregel, und
wir können daher eine phyſiſche und eine juriſtiſche Noth-
wendigkeit oder Unmöglichkeit unterſcheiden, die jedoch völ-
lig gleiches Recht haben (b).
Hieraus ergeben ſich nun folgende mögliche Combina-
Gebiete des Civilrechts Th. 2
Gieſſen 1834. Arndts Beiträge
zu verſchiedenen Lehren des Ci-
vilrechts. Heft 1. Bonn 1837.
Num. IV.
(b) Die Gleichheit phyſiſcher und
juriſtiſcher Unmöglichkeit der Be-
dingung iſt ausdrücklich anerkannt
in L. 137 § 6 de verb. obl. (45.
1.). Eben ſo auch da, wo nicht
von Bedingungen die Rede iſt,
nämlich bey der Unmöglichkeit der
Handlung ſelbſt, vgl. L. 35 pr.
eod.
|0170 : 158|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
tionen, die überall durch Beyſpiele anſchaulich gemacht
werden ſollen:
I. Nothwendig:
A. poſitiv:
a) phyſiſch nothwendig.
Wenn den Tag nach meinem Tode die Sonne
aufgehen ſollte; oder: wenn ich jemals ſterben
ſollte.
b) juriſtiſch.
Wenn Titius überhaupt rechtsfähig ſeyn ſollte (c).
B. negativ (d):
a) phyſiſch nothwendig.
Wenn Titius unterläßt, den Mond zu erſteigen.
(c) Weil nämlich wir eine gänz-
liche Rechtsunfähigkeit nicht ken-
nen. Bey den Römern hätte
dieſe Bedingung den Sinn ge-
habt: „wenn Titius ein freyer
Menſch iſt“ (welches ja zweifel-
haft ſeyn konnte), und ſie wäre
nicht nothwendig geweſen.
(d) Die Neueren nennen irrig
eine ſolche Bedingung: negativ
unmöglich, da ſie doch in der
That nothwendig (und daneben
zugleich negativ) iſt; da nämlich
der Gegenſtand des Unterlaſſens
unmöglich iſt, (welches eben den
falſchen Ausdruck veranlaßt hat),
ſo iſt die Bedingung ſelbſt, d. h.
die Erfüllung, nothwendig. Al-
lerdings hat jenen unrichtigen
Sprachgebrauch ſchon Ulpian in
L. 50 § 1 de her. inst. (28. 5.).
„Si in non faciendo impossibi-
lis conditio institutione here-
dis sit expressa, secundum om-
nium sententiam heres erit, pe-
rinde ac si pure institutus es-
set.” Man könnte glauben, Ul-
pian habe nicht an dieſen Fall ge-
dacht, ſondern an den, welchen ich
mit II. B. bezeichnet habe, wobey
ſein Ausdruck richtig ſeyn würde.
Das kann aber nicht angenom-
men werden, weil gerade dieſer
Fall ſtreitig war, ſo daß er von
ihm nicht ſagen konnte: secun-
dum omnium sententiam. Der-
ſelbe Sprachgebrauch liegt zum
Grunde in L. 7 de verb. oblig.
(45. 1.), und L. 20 pr. de cond.
inst. (28. 7.). Dieſe ganze Be-
merkung iſt gut ausgeführt von
Arndts S. 162—169.
|0171 : 159|
§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche.
b) juriſtiſch.
Wenn Titius, mein einziger Erbe, das was ich
ihm ſchuldig bin nach meinem Tode nicht ein-
fordern wird (e).
Wenn Titius unterläßt, vor ſeiner Mündigkeit
ein gültiges Teſtament zu machen; oder das Ei-
genthum der Kirchen meines Wohnorts zu er-
werben.
II. Unmöglich:
A. poſitiv:
a) phyſiſch unmöglich.
Wenn Titius den Mond erſteigt.
Eben dahin gehören, ihrem Begriffe nach, die einen
inneren Widerſpruch in ſich ſchließende Bedingungen (con-
ditiones perplexae) (f).
b) juriſtiſch.
Wenn Titius vor ſeiner Mündigkeit ein gültiges
Teſtament macht; oder: wenn er das Eigenthum
der Kirchen meines Wohnorts erwirbt.
B. negativ:
a) phyſiſch unmöglich.
Wenn Titius niemals ſterben ſollte.
(e) L. 20 pr. in f. de cond.
inst. (28. 7.). Er muß dieſe
Schuld wohl uneingeklagt laſſen,
da vor der Antretung Niemand
vorhanden iſt, gegen den er kla-
gen könnte, durch die Antretung
aber Confuſion eintritt, alſo die
Forderung untergeht.
(f) Sie ſind nämlich unmög-
lich durch das in der menſchlichen
Natur gegründete logiſche Geſetz.
— Vgl. Sell S. 267. Beyſpiele
kommen vor in L. 16 de cond.
inst. (28. 7.), L. 39 de man. test.
|0172 : 160|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
b) juriſtiſch.
Wenn der jetzt vierzehenjährige Titius bey mei-
nem Tod noch nicht mündig ſeyn ſollte; oder:
wenn Titius zur Zeit meines Todes gar nicht
rechtsfähig ſeyn ſollte.
Dieſe Fälle ſind nun nach folgenden Regeln zu be-
urtheilen.
Nothwendige Bedingungen ſind gar nicht als Be-
dingungen zu betrachten, vielmehr gilt das Rechtsgeſchäft,
dem ſie hinzugefügt ſind, als ein unbedingtes (g). Im
Ganzen dieſelbe Wirkung würde auch eintreten, wenn man
ſie als wahre Bedingungen betrachtete, die bereits in Er-
füllung gegangen wären. Dennoch iſt es nicht einerley,
ob man ſie nach jenem oder nach dieſem Grundſatz be-
handelt. Denn wären ſie wahre Bedingungen, ſo würden
durch ihre Hinzufügung diejenigen Rechtsgeſchäfte, in wel-
chen alle Bedingungen überhaupt unterſagt ſind, ungültig
werden (§ 116). Da aber das Geſchäft, neben welchem
ſie ſich ausgedrückt finden, als ein unbedingtes angeſehen
(40. 4.), L. 88 pr. ad L. Falc.
(35. 2.). — Ihre praktiſche Be-
handlung aber iſt abweichend
(Note m).
(g) L. 9 § 1 de nov. (46. 2.).
„Qui sub conditione stipulatur,
quae omnimodo exstitura est,
pure videtur stipulari.” L. 7.
8 de verb. oblig. (45. 1.), L. 17.
18 de cond. indeb. (12. 6.) (von
Verträgen). — L. 50 § 1 de her.
inst. (28. 5.). „.... heres erit,
perinde ac si pure institutus
esset” (von Teſtamenten). Über
dieſe letzte Stelle vgl. Note d. —
Eine merkwürdige Ausnahme (bey
dem legatum poenae nomine)
wird am Ende des § 124 er-
wähnt werden. Eine andere,
weit willkührlichere, findet ſich in
L. 13 quando dies (36. 2.).
|0173 : 161|
§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche.
wird, ſo kann auch durch ſie deſſen Gültigkeit nicht ge-
fährdet werden.
Ähnlichkeit hat mit ihnen diejenige, an ſich zufällige,
Bedingung, die zur Zeit des vorgenommenen Rechtsgeſchäfts
bereits in Erfüllung gegangen war, ohne daß der Urheber
des Geſchäfts dieſes wußte. Jedoch gilt bey dieſen das
Geſchäft nicht als unbedingt, ſondern vielmehr als ein
ſolches, deſſen wahre Bedingung in Erfüllung gegangen
iſt (h). Daher aber muß conſequenterweiſe angenommen
werden, daß ein Geſchäft, in welchem Bedingungen ver-
boten ſind, durch eine ſolche Bedingung ungültig werde.
Wenn alſo z. B. ein Vater ſeinen Suus unter einer caſuel-
len Bedingung, die ohne ſein Wiſſen bereits erfüllt iſt,
zum Erben einſetzt, ſo iſt das Teſtament dennoch nichtig (i).
Auch hat Dieſes ſeinen guten Grund darin, daß es der
Urheber als eine wahre Bedingung dachte, alſo dem Ge-
ſchäft eine nach ſeinem Wiſſen unrechtliche Form gab.
Eben daher muß aber auch das Gegentheil gelten, wenn
(h) L. 10 § 1 L. 11 pr. de
cond. (35. 1.). „Si sic legatum
sit: si navis ex Asia venerit,
et ignorante testatore navis ve-
nerit testamenti facti tempore:
dicendum, pro impleta haberi”
..... Der Zuſatz ignorante te-
statore bekommt nur dadurch
Sinn, daß man den Gegenſatz
hinzudenkt: wenn es der Teſta-
tor wußte, ſo war nicht von einer
erfüllten Bedingung, ſondern von
einem unbedingten Legat die Rede.
(i) Dieſes iſt der einzige erheb-
liche Unterſchied des erwähnten
Falles von dem Fall nothwendi-
ger Bedingung. Für den dies
cedens eines Legats iſt gar kein
Unterſchied, denn auch in dem
eben erwähnten Fall iſt dafür der
Todestag anzunehmen, da es hier-
bey überhaupt nur auf den Ein-
tritt des Ereigniſſes ſelbſt an-
kommt, nicht auf das Bewußt-
ſeyn des Legatars.
III. 11
|0174 : 162|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
der Urheber die ſchon eingetretene Erfüllung wußte (Note h),
in welchem Fall die eben beſchriebene Bedingung der noth-
wendigen vollkommen gleich ſteht.
Unmögliche Bedingungen ſollten, nach allgemeiner
Betrachtung, noch weniger Zweifel erregen können, als
die nothwendigen. Es ſcheint nämlich, daß ſchon durch
ihren Inhalt das ganze Rechtsgeſchäft völlig entkräftet
ſeyn müßte, wodurch dann zugleich alle mögliche Neben-
fragen erledigt ſeyn würden. Allein unſer poſitives Recht
hat es großentheils anders gewollt.
Zwar bey den Verträgen iſt jene natürliche Behand-
lung allerdings anerkannt worden. Eine unmögliche Be-
dingung alſo ſoll ſie völlig wirkungslos machen, und zwar
ohne Unterſchied, ob es Stipulationen oder Conſenſual-
contracte ſind (k).
Aber ein Anderes iſt vorgeſchrieben für die teſtamen-
tariſchen Verfügungen. Bey dieſen wollten nur die Pro-
culejaner jene natürliche Anſicht gelten laſſen, die Sabi-
nianer dagegen ſahen die Bedingung ſelbſt als nicht ge-
ſchrieben an, wodurch ſich die Verfügung des Teſtators
in eine unbedingte verwandelte (l). Und dieſe Meynung
der Sabinianer iſt denn auch in das Juſtinianiſche Recht
aufgenommen worden (m); wahrſcheinlich nachdem ſie ſchon
(k) Gajus III. § 98, § 11 J.
de inut. stip. (3. 19.), L. 7 L. 137
§ 6 de verb. oblig. (45. 1.), L. 1
§ 11 L. 31 de oblig. et act.
(44. 7.), L. 9 § 6 de reb. cred.
(12. 1.), L. 29 de fidejuss. (46. 1.).
(l) Gajus III. § 98.
(m) § 10 J. de her inst. (2.
14.), L. 3 L. 6 § 1 de cond. (35.
1.), L. 1 L. 6 L. 20 pr. de cond.
inst. (28. 7.), L. 16 de injusto
(28. 3.) (am Ende der Stelle),
|0175 : 163|
§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche
lange zuvor in der Praxis entſchiedenes Übergewicht er-
halten hatte (n). — Ehe ich von dem Grund dieſer etwas
auffallenden Beſtimmung rede, will ich die Conſequenzen
derſelben bemerklich machen.
Iſt die an ſich moͤgliche Bedingung ſchon vor Abfaſ-
ſung des Teſtaments vereitelt worden, ſo gilt ſie, auch
wenn der Teſtator dieſes nicht wußte, der unmöglichen
gleich, folglich als nicht geſchrieben (o); woraus denn von
ſelbſt folgt, daß ihre Aufnahme in eine Verfügung, die
keine Bedingungen enthalten darf, dennoch der Gültigkeit
nicht ſchadet. Allerdings liegt darin eine Abweichung von
dem Princip, welches oben bey den bereits früher erfüll-
ten angewendet wurde (Note h); allein dieſe Verſchieden-
heit iſt eine conſequente Folge der eigenthümlichen und
ganz poſitiven Behandlung, welcher die unmoͤglichen Be-
dingungen unterworfen worden ſind.
Ganz anders verhält es ſich mit der Bedingung, welche
der Teſtator ſelbſt als in der Vergangenheit oder Gegen-
L. 104 § 1 de leg. 1 (30. un.),
L. 5 § 4 quando dies (36. 2.).
— Nur bey den perplexen Be-
dingungen gilt ein anderes Recht.
Hier wird die Bedingung als un-
zertrennlich verbunden mit der
Verfügung ſelbſt angeſehen, und
darum iſt nun dieſe letzte nichtig.
Vergl. die in der Note f ange-
führte Stellen.
(n) Paulus III. 4 B. § 1, L. 3
de cond. (35. 1.). „Obtinuit,
impossibiles conditiones testa-
mento adscriptas pro nullis ha-
bendas.” Dieſe Stelle des Ul-
pian trägt keine Spur einer In-
terpolation an ſich, ſcheint viel-
mehr für die entſchiedene Praxis
zur Zeit ihres Verfaſſers Zeug-
niß zu geben.
(o) L. 6 § 1 de cond. (35. 1.),
woraus zugleich erhellt, daß auch
dieſe einzelne Anwendung erſt
nach und nach, und nicht ohne
Widerſpruch, geltend wurde.
11*
|0176 : 164|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
wart liegend ausgedrückt hat (§ 116). Zeigt ſich eine
ſolche hinterher als vereitelt, wenngleich der Teſtator dar-
über wirklich in Ungewißheit war, ſo iſt die daran ge-
knüpfte Verfügung entkräftet (p). Auf dieſen Fall iſt alſo
die Regel, nach welcher die unmögliche Bedingung als
nicht geſchrieben gelten ſoll, gar nicht anzuwenden, und
der Grund der Unanwendbarkeit liegt darin, daß eine ſolche
Beſtimmung überhaupt gar nicht Bedingung iſt, ſondern
nur den äußeren Schein einer Bedingung an ſich trägt.
Iſt die Bedingung theilweiſe möglich, theilweiſe un-
möglich, ſo gilt der unmögliche Theil als nicht geſchrieben,
der mögliche beſteht als gültige Bedingung (q).
Die aufgeſtellte Regel gilt ferner nicht nur bey ſolchen
Ereigniſſen, die nach Naturgeſetzen an ſich nicht vorkom-
men können (abſolut unmoͤgliche), ſondern auch bey denen,
deren Erfüllung durch zufällige Umſtände ausgeſchloſſen
wird, anſtatt daß ſie unter anderen Umſtänden möglich
ſeyn würden (relativ unmögliche). So z. B. Zahlung an
eine individuell bezeichnete Perſon, oder Freylaſſung be-
ſtimmter Sklaven, wenn dieſe entweder nie gelebt haben,
oder zur Zeit des Rechtsgeſchäfts ſchon geſtorben waren;
Tilgung einer Schuld, wenn dieſe gar nicht vorhanden
iſt (r). — Ja auch diejenigen Ereigniſſe ſind als unmög-
(p) L. 16 de injusto (28. 3.),
deren größter Theil von dieſem
Fall handelt, und worin nur am
Schluß auf die entgegengeſetzte
Behandlung der wirklichen, aber
unmöglichen, Bedingungen über-
gegangen wird.
(q) L. 45 de her. inst. (28.
5.), L. 6 § 1 de cond. (35. 1.).
(r) L. 72 § 7, L. 6 § 1 de
cond. (35. 1.), L. 45 de her. inst.
(28. 5.), L. 26 § 1 de statulib.
|0177 : 165|
§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche.
liche zu betrachten, deren Bewirkung, nach allen gewöhn-
lichen Verhältniſſen zwiſchen Mittel und Erfolg, für un-
erreichbar gelten muß; man könnte ſie unerſchwingliche
Bedingungen nennen. Der Grund dieſer Unerreichbarkeit
muß daher in allgemeinen Verhältniſſen liegen, nicht in
den beſonderen einer einzelnen Perſon, indem eine ſolche
ſubjective Unmöglichkeit gar nicht beachtet wird (s). Übri-
gens kann die Gränze zwiſchen dieſer Unerreichbarkeit und
der bloßen Schwierigkeit, welche von der Erfüllung keines-
weges befreyt, freylich nicht durch allgemeine Regeln, ſon-
dern nur in jedem einzelnen Fall durch richterliches Er-
meſſen beſtimmt werden. Daß aber in der That dieſer
Fall dem Fall der wahren Unmöglichkeit gleich ſteht, wird
in folgenden Anwendungen anerkannt. Die Bedingung,
dem Teſtator binnen drey Tagen nach ſeinem Tode ein
Denkmal zu errichten, gilt als eine unmögliche; und doch
war die Erfüllung nicht völlig undenkbar, wenn etwa der
ſo eingeſetzte Erbe die Bedingung vor dem Tode erfuhr,
alle Baumaterialien zubereiten und beyfahren ließ, auch
eine große Zahl von Arbeitern voraus beſtellte. An ein
ſo höchſt ungewöhnliches Zuſammentreffen von Umſtänden
wird hier, wie billig, nicht gedacht. Eben ſo gilt es als
unmöglich, wenn die Freylaſſung eines Sklaven an die
(40. 7.). — In der erſten dieſer
Stellen wird eine ſolche Bedin-
gung falsa conditio genannt,
ſehr paſſend, da die Unmöglich-
keit nur auf falſchen factiſchen
Vorausſetzungen beruht.
(s) So z. B. wenn Einer 100
zahlen ſoll, und dieſe aus Armuth
nicht aufbringen kann. Vgl. L. 137
§ 4 de verb. oblig. (45. 1.).
|0178 : 166|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Bedingung geknüpft wird, dem Erben Fünf Millionen
Thaler unſres Geldes zu zahlen; dennoch wäre es nicht
undenkbar, daß irgend ein Reicher dieſe ungeheure Summe
für die Freyheit des Sklaven aufopfern wollte (t).
Nur diejenige Unmoͤglichkeit aber kann als ſolche gel-
ten, welche eine bleibende Natur hat, alſo nicht von dem
Wechſel der Zeit und der Umſtände abhängt. Iſt daher
ein Ereigniß zur Zeit des Rechtsgeſchäfts möglich, ſo wird
es bey ſpäter eintretender Unmöglichkeit keinesweges in
eine unmögliche Bedingung verwandelt (welche neben einer
teſtamentariſchen Verfügung als nicht geſchrieben gelten
würde), ſondern vielmehr in eine vereitelte, ſo daß dadurch
die Erbeinſetzung oder das Legat ſelbſt entkräftet werden (u).
Eben ſo wird auch im umgekehrten Fall die zur Zeit des
(t) L. 6 de cond. inst. (26. 7.),
L. 4 § 1 de statulib. (40. 7.).
„… aut si tam difficilem, im-
mo pene impossibilem conditio-
nem adjecerit, ut aliunde ea
libertas obtingere non possit,
veluti si heredi millies dedis-
set” .... Die Vulgata lieſt mille
(könnte heißen 50 Thaler, oder
auch 50000, je nachdem man kleine
oder große Seſterze hinzudenkt),
was in dieſem Zuſammenhang
keinen befriedigenden Sinn giebt.
Die Florentiniſche Leſeart miles
führt auf die ſehr nahe liegende
Emendation milies für millies.
Dieſes aber heißt tauſendmal
100,000 Seſterze, oder Fünf Mil-
lionen Thaler, welches offenbar
das Richtige iſt. — Übrigens iſt
hier nur von der Gleichſtellung
der unerſchwinglich hohen Summe
mit der Unmöglichkeit die Rede;
die in dieſer Stelle enthaltene Ent-
ſcheidung des Falles ſelbſt wird wei-
ter unten erklärt werden (§ 124. h).
(u) L. 94 pr. de cond. (35.
1.), L. 19 L. 20 § 3 de statulib.
(40. 7.), L. 23 § 2 ad L. Aquil.
(9. 2). — So z. B. wenn ein Le-
gat an die Bedingung geknüpft
wird, daß der Legatar dem Ti-
tius Hundert gebe; ſtirbt Titius
nach gemachtem Teſtament, ſo iſt
die Bedingung vereitelt, und das
Legat iſt ungültig. Anders bey
der Freylaſſung unter gleicher Be-
dingung, weil dieſe hierin eine
beſondere Begünſtigung genießt.
Vgl. § 119. m und Sell S. 55.
|0179 : 167|
§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche
Rechtsgeſchäfts unmögliche Bedingung, wenn die Unmoͤg-
lichkeit eine veränderliche Natur hat, als wahre und gül-
tige Bedingung behandelt, bey deren Hinzufügung der Ur-
heber gerade an die vielleicht ſpäter eintretende Möglichkeit
gedacht haben wird. So z. B. iſt gültig das einer Skla-
vin unter der Bedingung ihrer künftigen Ehe hinterlaſſene
Legat, obgleich ſie zur Zeit des Teſtaments als Sklavin
einer Ehe unfähig iſt; man muß nämlich abwarten, ob ſie
künftig freygelaſſen werde, und dann eine Ehe ſchließe (v).
Nur muß freylich die Veränderung, wodurch die Möglich-
keit herbeygeführt werden kann, von der Art ſeyn, daß
man ſie als ein gewöhnliches und nicht unwahrſcheinliches
Ereigniß wohl erwarten kann (wie z. B. die Freylaſſung
eines Sklaven); außerdem wäre die Rückſicht auf ſie nicht
natürlich, nach Umſtänden ſogar tadelnswerth, und die
Bedingung müßte als eine ſchlechthin unmögliche behandelt
werden. Dahin gehören z. B. die Bedingungen, wenn ein
freyer Menſch Sklave werden, oder wenn eine res sacra
zur profana gemacht werden ſollte (w). — Aber ganz daſ-
ſelbe muß auch bey Verträgen gelten. Wenn alſo Einer
(v) L. 58 de cond. (35. 1.).
(w) L. 83 § 5 de verb. oblig.
(45. 1.). „… ut ne haec qui-
dem stipulatio de homine li-
bero probanda sit: illum cum
servus erit dare spondes? item:
eum locum, cum ex sacro re-
ligiosove profanus esse coepe-
rit, dari? quia .. ea duntaxat,
quae natura sui possibilia sunt,
deducuntur in obligationem …
et casum adversamque fortu-
nam spectari hominis liberi,
neque civile, neque naturale
est.” … L. 34 § 1 de contr. emt.
(18. 1.) „nec enim fas est, ejus-
modi casus exspectare.” Vgl.
§ 2 J. de inut. stip. (3. 20.). —
Eben ſo gilt es als etwas Na-
türliches und Gewöhnliches, daß
|0180 : 168|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
dem Andern fuͤr die künftige Ehe der unmündigen Tochter
deſſelben eine Brautgabe verſpricht, ſo iſt dieſes Verſpechen
gewiß gültig, obgleich zur Zeit des Vertrags die Tochter
eben ſo unfähig zur Ehe iſt, wie jene Sklavin zur Zeit
des gemachten Teſtaments. Denn gerade die Beachtung
veränderlicher Umſtände iſt ja der Natur der auf eine
unbeſtimmte Zukunft gerichteten Bedingungen im höchſten
Grade angemeſſen. Eben darum verhält es ſich anders,
wenn die vertragsweiſe unbedingt verſprochene Handlung
ſelbſt eine verbotene Natur hat; hier iſt der Vertrag un-
gültig, ſelbſt wenn die Handlung ſpäter durch veränderte
Umſtände einen erlaubten Character annehmen könnte (x).
Denn die aus dem Vertrag entſpringende Obligation iſt
nicht, wie eine Bedingung, auf unbeſtimmte Zukunft be-
rechnet, ſondern auf die Gegenwart, und wenn ſie in dieſer
einen unerlaubten Character hat, ſo iſt der Vertrag ſchlecht-
hin ungültig (y). Endlich iſt auch bey den Bedingungen
nur diejenige Veränderlichkeit zu beachten, die aus den
faktiſchen Zuſtänden hervorgeht, nicht die welche eine Ver-
änderung geſetzlicher Vorſchriften vorausſetzt. Wenn alſo
Etwas verſprochen wird unter der Bedingung, daß eine
ein Deportirter, aber nicht daß
ein servus poenae, begnadigt
werde und die Civität wieder er-
lange. L. 59 § 1. 2 de cond.
(35. 1.).
(x) So z. B. wenn eine Ehe
zwiſchen Adoptivgeſchwiſtern durch
Vertrag verabredet wird, obgleich
dieſe Ehe durch ſpätere Emanci-
pation des einen Theils zuläſſig
werden kann. L. 35 § 1 de verb.
oblig. (45. 1.).
(y) Darauf alſo, und nicht auf
die Beurtheilung der Bedingun-
gen, iſt zu beziehen L. 144 § 1
de R. J. (50. 17.). „In stipula-
tionibus id tempus spectatur,
quo contrahimus.”
|0181 : 169|
§. 122. Bedingung. Unſittliche.
res sacra oder religiosa veräußert werde, ſo iſt der Ver-
trag ſchlechthin ungültig, obgleich es denkbar wäre, daß
durch ein neues Geſetz auch dieſe Sachen dem freyen Ver-
kehr überlaſſen würden (z); denn auf die Veränderlichkeit
der factiſchen Zuſtände zu rechnen, liegt in der Natur der
Bedingungen, aber nicht auf die Veränderlichkeit der Rechts-
regeln.
§. 122.
III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unſittliche.
Nach der Lehre neuerer Schriftſteller giebt es eine drey-
fache Unmöglichkeit der Bedingungen: phyſiſche, juriſtiſche,
moraliſche, je nachdem in den Geſetzen der Natur, des
Rechts, oder der Sittlichkeit, der Grund der Unmöglichkeit
(z) L. 137 § 6 de verb. oblig.
(45. 1.). „… nec ad rem per-
tinet, quod jus mutari potest,
et id quod nunc impossibile
est, postea possibile fieri: non
enim secundum futuri tempo-
ris jus, sed secundum praesen-
tis, aestimari debet stipulatio.”
(Allerdings könnte man die Stelle
auch beziehen auf die in der Note w
erwähnten Veränderungen, doch
ſcheint mir die hier angenommene
Erklärung natürlicher. Gleich
wahr ſind ohnehin beide denkbare
Bedeutungen, denn auch eine Ver-
änderung der geſetzlichen Regel
gehört nicht zu den gewöhnlichen
Ereigniſſen, auf deren Erwartung
man Rechtsgeſchäfte einzurichten
pflegt). Ganz daſſelbe muß aber
in dieſer Hinſicht auch von Erb-
einſetzungen und Legaten gelten.
— Sell S. 47. 51 überſieht die
weſentliche Verſchiedenheit des In-
halts der in den vorhergehenden
Noten benutzten Stellen, und be-
hauptet deshalb mit Unrecht, ei-
nen Unterſchied zwiſchen Verträ-
gen und Teſtamenten; der Ver-
trag ſoll nämlich ungültig ſeyn
und bleiben, wenn die Bedin-
gung zur Zeit des Abſchluſſes eine
unmögliche war, mag ſie auch
durch ſpätere Veränderung der
Umſtände möglich werden.
|0182 : 170|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
enthalten iſt (a). Die Auffaſſung iſt darum zu verwerfen,
weil ſie die verſchiedenſten Begriffe als gleichartig behan-
delt, da doch höchſtens von einer Gleichſtellung in der
Wirkung die Rede ſeyn kann; und weil ſie eben deshalb
genöthigt iſt, in der Wirkung vollkommene Gleichheit an-
zunehmen, anſtatt daß nur eine beſchränkte behauptet wer-
den darf (b).
Das Weſen der unmöglichen Bedingungen beſteht darin,
daß ihnen der Grundcharacter wahrer Bedingungen, die
Ungewißheit des Erfolgs, gänzlich fehlt, daß alſo bey ih-
nen weder der menſchlichen Freyheit, noch dem Zufall,
irgend ein Spielraum übrig bleibt. Mit dieſen nun wer-
den in jener Lehre als gleichartig zuſammengeſtellt die-
jenigen Handlungen, welche entweder durch Rechtsregeln
oder durch Regeln der Sittlichkeit misbilligt werden. Dieſe
ſind aber völlig frey, bey ihnen iſt es ganz ungewiß, ob
ſie geſchehen oder nicht geſchehen werden, und ſie ſind da-
her dem Grundcharacter der Bedingungen, welchem die
unmöglichen widerſprechen, ganz angemeſſen. Die größte
Verwirrung der Begriffe aber entſteht in jener Lehre da-
durch, daß durch den Namen der juriſtiſchen Unmöglichkeit
zwey völlig verſchiedene Fälle zuſammen geworfen werden:
(a) Sehr vollſtändig iſt dieſe
herrſchende Anſicht dargeſtellt von
Sell S. 19 fg. — Conſequenter-
weiſe mußte man nun auch von
einer dreyfachen Nothwendigkeit
ſprechen; daß dieſes gewöhnlich
nicht geſchah, erklärt ſich wohl
aus der geringeren Erheblichkeit,
die überhaupt die Betrachtung der
nothwendigen Bedingungen hat.
(b) Sehr treffend iſt dieſes be-
reits bemerkt von Arndts
S. 172 fg. S. 182. 183.
|0183 : 171|
§. 122. Bedingung. Unſittliche.
das Teſtament oder die Ehe eines Unmündigen iſt juriſtiſch
unmöglich, der Diebſtahl dagegen iſt durchaus möglich;
aber durch Rechtsregeln unterſagt; von jenen Handlungen
alſo wiſſen wir gewiß, daß ſie nicht eintreten werden, bey
dem Diebſtahl bleibt dieſes ungewiß.
Wir haben alſo hier vielmehr diejenigen Bedingungen
zu betrachten, die entweder widerrechtlich (c), oder nur
unſittlich ſind; da jedoch das Widerrechtliche ſtets zugleich
unſittlich iſt, ſo iſt es völlig genügend, wenn wir den ein-
fachen Ausdruck unſittlicher Bedingungen gebrauchen, und
darunter diejenigen verſtehen, deren Inhalt eine unſittliche
Handlung oder Unterlaſſung iſt.
Dieſe unſittlichen Bedingungen nun werden in der Wir-
kung den unmoͤglichen gleichgeſtellt. Zwar wörtlich findet
ſich dieſe Gleichſtellung in der dafür gewöhnlich angeführ-
ten Hauptſtelle nur beyläufig und indirect, indem nur aus-
geſprochen wird, daß die unſittliche Bedingung als eine
nichtpoteſtative anzuſehen ſey, ſo daß man Keinem
vorhalten dürfe, es ſtehe in ſeiner Macht eine Handlung
vorzunehmen, ſobald dieſe Handlung ſittlich verwerflich
ſey (d). Allein der Sache nach läßt ſich jene Gleichſtel-
(c) Alſo gegen Leges, Sena-
tusconsulta, Kaiſerconſtitutionen,
das Edict u. ſ. w. L. 14. 15 de
cond. inst. (28. 7.). Wo dieſes
zweifelhaft war, konnte vom Kai-
ſer eine Aufhebung der Bedin-
gung erbeten werden, L. 2 § 44
ad Sc. Tert. (38. 17.). — Das
in fraudem legis ſteht hier, wie
überall, dem contra legem gleich.
L. 64 § 1, L. 79 § 4 de cond.
(35. 1.), L. 7 de cond. inst. (28.
7.). — Auch was der publica uti-
litas entgegen iſt, gehört dahin.
L. 13 § 1 de pollic. (50. 12.).
(d) L. 15 de cond. inst. (28.
7.). „Filius qui fuit in pote-
state, sub conditione scriptus
|0184 : 172|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
lung nicht bezweifeln, da ſich hier derſelbe charakteriſtiſche
Unterſchied zwiſchen Verträgen und teſtamentariſchen Ver-
fügungen findet, wie bey den unmöglichen Bedingungen:
Verträge werden durch ſie entkräftet, Erbeinſetzungen und
Legate werden in unbedingte verwandelt.
Das Wichtigſte jedoch beſteht darin, daß jene Gleich-
ſtellung keinesweges allgemein gilt, ſondern nur inſofern
ſie zur Aufrechthaltung der Sittlichkeit unentbehrlich iſt,
das heißt nur
inſofern durch die Wirkſamkeit einer ſolchen Bedingung
das Schlechte befördert werden würde.
Dieſe Beziehung allein iſt es, woraus wir mit Sicher-
heit beurtheilen können, in welchen Fällen eine anomaliſche
Behandlung ſolcher Bedingungen eintreten oder nicht ein-
treten müſſe; die Fiction, daß dem Menſchen, vermöge
ſeiner ſittlichen Natur, das Schlechte unmöglich ſey, iſt
zu dieſer ſicheren Beurtheilung keinesweges ausreichend,
ſie dient nur dazu, den allgemeinen Zuſammenhang der
Gedanken anzugeben, unter welchen dieſe Bedingungen ge-
bracht werden.
Der Hauptfall, in welchem jener Grundſatz zur An-
heres quam Senatus aut Prin-
ceps improbant, testamentum
infirmat patris, ac si conditio
non esset in ejus potestate:
nam quae facta laedunt pieta-
tem, existimationem, verecun-
diam nostram, et ut generali-
ter dixerim, contra bonos mo-
res fiunt: nec facere nos posse
credendum est.” Die Stelle iſt
von Papinian, aus deſſen Munde
dieſe Worte beſonders wohl klin-
gen, da er ihnen durch ſeinen Tod
treu geblieben iſt. — Unmittelba-
rer iſt die Gleichſtellung anerkannt
in L. 137 § 6 de verb. oblig.
(45. 1.), ſ. die folgende Note.
|0185 : 173|
§. 122. Bedingung. Unſittliche.
wendung kommt, iſt der, wenn die Bedingung ſelbſt eine
ſchlechte Handlung Desjenigen, der ein Recht erwerben
ſoll, enthält, ſo daß eben dieſe Handlung, durch die Aus-
ſicht auf den daran geknüpften Gewinn, bewirkt werden
ſoll. Geſchieht dieſes in einem Vertrag, ſo iſt der ganze
Vertrag ungültig (e): geſchieht es in einem Teſtament, ſo
gilt die Bedingung als nicht geſchrieben, und die Erbein-
ſetzung oder das Legat werden unbedingt (f); beides völlig
ſo, wie wenn die in der Bedingung ausgedrückte Handlung
unmöglich geweſen wäre.
Außerdem gilt jene Gleichſtellung auch noch in folgen-
dem Fall, aber mit umgekehrter Wirkung. Wenn ein
Vater ſeinen Suus unter einer unſittlichen Bedingung zum
Erben einſetzt, ſo konnte der ſittliche Zweck dadurch erreicht
werden, daß die Bedingung als nicht geſchrieben, folglich
die Erbeinſetzung als unbedingt, und daher als gültig be-
(e) L. 123 de verb. oblig. (45.
1.). „Si flagitii faciendi vel
facti causa concepta sit stipu-
latio, ab initio non valet.” Fla-
gitii faciendi causa, das iſt eben
der Fall einer unwürdigen Hand-
lung, unter deren Bedingung ein
Lohn verſprochen wird, die alſo
durch dieſes Verſprechen bewirkt
werden ſoll. — L. 137 § 6 eod.
„Cum quis sub hac conditione
stipulatus sit … ubi .. id fa-
cere ei non liceat: nullius mo-
menti fore stipulationem, proin-
de ac si ea conditio, quae na-
tura impossibilis est, inserta
esset” … Der größte Theil der
Stelle geht auf ſolche Bedingun-
gen, die wirklich unmöglich ſind,
aber aus juriſtiſchen Gründen
(§ 121).
(f) L. 9 de cond. inst. (28.
7.) „remittendae sunt,” L. 14
eod. „… pro non scriptis ha-
bentur, et perinde ac si con-
ditio hereditati sive legato ad-
jecta non esset, capitur here-
ditas, legatumve.” L. 27 pr.
eod., L. 5 C. de institut. (6. 25.),
Paulus III. 4 B. § 2 „nullius
sunt momenti.”
|0186 : 174|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
handelt würde. Hier ſoll es aber vielmehr bey jener
Gleichſtellung bleiben: die Handlung gilt als unmöglich,
die Bedingung iſt daher nichtpoteſtativ, folglich fehlt es
an einer Erbeinſetzung des Suus in geſetzlicher Form, das
ganze Teſtament iſt nichtig, und der Sohn wird Inteſtat-
erbe (Note d). Hier wird alſo der ſittliche Zweck durch
Vernichtung der ganzen Verfügung erreicht, immer aber
indem die Gleichſtellung des Unſittlichen mit dem Unmög-
lichen feſtgehalten wird.
Dagegen kann von jener Gleichſtellung nicht die Rede
ſeyn, überall wo der ſittliche Zweck ſie nicht nöthig macht,
oder ſogar durch ſie gefährdet werden würde. Hier wird
ſtets Dasjenige angenommen, was zu jenem Zwecke führt,
und es findet ſich keine ähnliche Fiction, wie die bisher
betrachtete, wodurch ein gleichförmiger Geſichtspunkt ge-
wonnen werden könnte. Dieſes wird in folgenden Fällen
anſchaulich werden.
Wenn Einer eine Conventionalſtrafe verſpricht, unter
der Bedingung, daß er eine unſittliche Handlung begehen
werde, ſo iſt dieſer Vertrag völlig gültig, da durch den-
ſelben dem Schlechten geradezu entgegen gearbeitet wird (g).
(g) L. 1. 2 C. si mancipium
(4. 56.), L. 121 § 1 de verb. oblig.
(45. 1.). Die letzte Stelle ſagt:
wenn ein Mann ſeiner Frau eine
Conventionalſtrafe verſpricht für
den Fall, daß er künftig wieder
mit einer früheren Concubine le-
ben werde, ſo iſt dieſe Stipula-
tion „quae ex bonis moribus
concepta fuerat” gültig. — Zwei-
fel könnte erregen L 19 de verb.
oblig. (45. 1.): wenn ein Ehe-
gatte für die durch ſeine Schuld
bewirkte Eheſcheidung eine Geld-
ſtrafe verſpricht, ſo iſt das un-
gültig „quia contenti esse de-
bemus poenis legum compre-
hensis.” Man könnte nämlich
|0187 : 175|
§. 122. Bedingung. Unſittliche.
Wollte man hier das Unſittliche als unmöglich anſehen,
ſo wäre das Verſprechen ungültig (§ 121. k.). — Eben
ſo, wenn der Teſtator ſeinem Erben ein Legat auflegt,
für den Fall, daß der Erbe eine ſchlechte Handlung be-
gienge; das Legat muß bezahlt werden, ſobald die Hand-
lung geſchieht, außerdem nicht (h). Stände dieſe Bedin-
gung einer unmöglichen gleich, ſo müßte ſie als nicht ge-
ſchrieben behandelt werden (§ 121. m.). — Eben ſo end-
lich iſt in Verträgen und Teſtamenten die auf die ſchlechte
Handlung eines Dritten geſtellte Bedingung in der Regel
erlaubt und wirkſam. Ergiebt es ſich aus den beſonderen
Umſtänden, daß dieſe Bedingung das Schlechte zu befoͤr-
dern dient, ſo müßte ſie allerdings die Natur einer unſitt-
lichen Bedingung annehmen. Allein die abſolute Gleich-
ſtellung würde auch hier mit Unrecht dahin führen, ſelbſt
da wo dieſer beſondere Umſtand nicht vorhanden wäre,
dieſe Worte als ein allgemeines
Verbot jeder vertragsmäßigen
Strafanſtalt, neben der in den
Strafgeſetzen des Staats enthal-
tenen, anſehen. So ſind ſie aber
nicht zu verſtehen, ſie gehen blos
auf den Fall der Ehe, und ent-
halten den auch ſonſt unzweifel-
haften Rechtsſatz, daß die Frey-
heit der Eingehung und Fort-
ſetzung einer Ehe nicht durch Pri-
vatwillkühr, alſo auch nicht durch
Conventionalſtrafen, eingeſchränkt
werden dürfe. L. 134 pr. de verb.
oblig. (45. 1.), L. 2 C. de inut.
stip. (8. 39.). Vgl. § 123. e.
(h) Das ältere Recht verbot
alle legata poenae nomine, der
Teſtator mochte dadurch gleich-
gültige oder pflichtmäßige Hand-
lungen oder Unterlaſſungen des
Erben erzwingen wollen; Juſti-
nian läßt ſie im Allgemeinen zu,
alſo auch für den Fall, daß der
Erbe genöthigt werden ſollte, ein
Verbrechen zu unterlaſſen, oder
eine Pflicht zu erfüllen (§ 117
Note l. m. n). Der einzige Fall,
worin ſie unzuläſſig ſind, wird
in der folgenden Note angegeben.
|0188 : 176|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
eine ſolche Bedingung ſchlechthin als eine unmögliche zu
behandeln.
Wenn Jemand eine Conventionalſtrafe verſpricht, für
den Fall, daß er ein Verbrechen unterlaſſen, oder eine
Pflicht erfüllen werde, ſo iſt die Ungültigkeit des Vertrags
nicht zu bezweifeln, wenn auch keine Stelle in unſren Rechts-
quellen dieſen Fall namentlich erwähnen ſollte. Wollte man
die Gleichſtellung des ſittlichen Gebots mit dem Naturgeſetz
auch hier anwenden, ſo müßte man die Bedingung als
eine nothwendige, folglich den Vertrag als unbedingt gül-
tig behandeln (§ 121. g.). — Ganz eben ſo verhält es
ſich, wenn der Teſtator ſeinem Erben ein Legat als Straf-
drohung für den Fall auflegt, wenn derſelbe ein Verbre-
chen unterlaſſen, oder eine Pflicht erfüllen würde. Jene
Gleichſtellung würde auch hier darauf führen, die Bedin-
gung als nothwendig und das Legat als unbedingt an-
zuſehen; hier aber hat Juſtinian ausdrücklich die Ungültig-
keit des Legats verordnet, die auch gewiß dem ſittlichen
Zweck am meiſten entſpricht (i).
Wenn ſich Jemand Geld verſprechen läßt, unter der
Bedingung ein Verbrechen zu unterlaſſen, oder eine Pflicht
zu erfüllen, ſo würde wiederum jene Gleichſtellung darauf
führen, die Bedingung als nothwendig, folglich den Ver-
trag als unbedingt und gültig zu betrachten; dennoch iſt
(i) § 36 J. de legatis (2. 20.),
L. un. C. de his quae poenae
(6. 41.), am Ende beider Stel-
len. Es iſt dieſes der einzige
Fall, worin das alte Verbot der
legata poenae nomine noch jetzt
fortdauert (Note h).
|0189 : 177|
§. 122. Bedingung. Unſittliche.
dieſer Vertrag ſchlechthin ungültig (k), ſo daß alſo dabey
jene Gleichſtellung ganz ohne Anwendung bleibt. Dieſe
Vorſchrift iſt deswegen räthſelhaft, weil ja durch den er-
wähnten Vertrag der ſittliche Zweck vielmehr gefördert
erſcheint. Man könnte den Grund darin ſuchen, daß durch
den verſprochnen Lohn die Reinheit der ſittlichen Trieb-
feder gefährdet würde, indem nun aus Eigennutz unter-
bliebe, was aus Pflichtgefühl unterbleiben ſollte; allein
dieſe, für den Rechtsverkehr allzu feine, Rückſicht kann
nicht gelten, denn ſonſt dürfte auch nicht eine Conventio-
nalſtrafe für den Fall einer Unſittlichkeit verſprochen wer-
den, die jedoch zuläſſig iſt (l). Der wahre Grund liegt
vielmehr darin, daß ein ſolcher Vertrag leicht zur unwür-
digſten Speculation misbraucht werden kann, indem ein
gedrohtes Verbrechen, oder eine verweigerte Schuldigkeit,
den Andern, dem der Weg gerichtlicher Klage zu beſchwer-
lich oder unſicher ſcheint, bewegen kann, den böſen Willen
(k) L. 7 § 3 de pactis (2. 14.).
„Si ob maleficium, ne fiat, pro-
missum sit, nulla est obligatio
ex hac conventione;” das heißt,
wenn ich einem Andern Geld ver-
ſpreche unter der Bedingung, daß
er ein Verbrechen unterlaſſen
werde. — Den Worten nach könnte
die Stelle auch bezogen werden
auf eine Conventionalſtrafe unter
der Bedingung, daß der promis-
sor ein Verbrechen begehe; dann
würde ſie aber mit den in der
Note g angeführten Stellen in
geradem Widerſpruch ſtehen.
(l) S. o. Note g. — Manche
ſuchen das turpe darin, daß es
überhaupt der Ehre zuwider ſey,
für eine Pflichtübung einen Geld-
vortheil anzunehmen. Man kommt
leicht dahin, ſich in ſolche mora-
liſche Übertreibungen hinein zu
reden. Niemand hält es für an-
ſtößig, wenn einem Beamten für
angeſtrengte Dienſtleiſtung eine
Gratification bewilligt, oder wenn
Dem, der mit eigner Gefahr ei-
nem Andern das Leben rettet, ein
Ehrengeſchenk gereicht wird.
III. 12
|0190 : 178|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
durch verſprochnen Lohn zu überwinden. Dieſe Gefahr
iſt nicht vorhanden bey der Conventionalſtrafe für den
Fall eines Verbrechens, die daher ganz zuläſſig iſt (Note g.).
Sie iſt auch nicht vorhanden, wenn ein Teſtator die Erb-
einſetzung oder das Legat an die Bedingung knüpft, daß
der Erbe oder Legatar das Schlechte unterlaſſe, oder eine
Pflicht erfülle; hier iſt von einem ſolchen Verbot der Be-
dingung in unſren Rechtsquellen gar nicht die Rede, wel-
ches aus dem angeführten Grunde des Unterſchieds nicht
als eine zufällige Auslaſſung angeſehen werden darf. —
Es iſt aber noch beſonders zu bemerken, daß die ange-
führte Rechtsregel in folgendem größeren Zuſammenhang
aufgefaßt werden muß, durch welchen jeder Zweifel über
den hier entwickelten Grund verſchwindet. Wenn nämlich
für die Unterlaſſung eines Verbrechens oder die Erfüllung
einer Pflicht Geld nicht blos verſprochen, ſondern baar
bezahlt wird, ſo kann dieſes gezahlte Geld mit der con-
dictio ob turpem causam zurückgefordert werden (m). Dar-
aus aber folgt von ſelbſt das geringere Recht, ein bloßes
Verſprechen der Zahlung als ungültig zu behandeln (n).
(m) L. 2 pr. § 1. 2, L. 4 § 2,
L. 9 pr. § 1. 2 de cond. ob tur-
pem (12. 5.), L. 6. 7 C. eod.
(4. 7.).
(n) L. 1 C. de cond. ob tur-
pem (4. 7.). — Nämlich aus dem
Recht auf die condictio, folgt
überall das auf die exceptio,
aber nicht umgekehrt. Wenn z. B.
einem Richter Geld verſprochen
wird unter der Bedingung eines
ungerechten Urtheils, ſo iſt das
Verſprechen, wegen der unſittli-
chen Bedingung nicht bindend;
iſt das Geld aber ſchon gezahlt,
ſo kann es der Geber nicht zu-
rückfordern, weil auch ihn der
ſittliche Tadel trifft. L. 3 de cond.
ob turp. (12. 5.).
|0191 : 179|
§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)
Allein es folgt zugleich aus dieſer Zuſammenſtellung,
daß überall die Ungültigkeit nur inſoweit behauptet wer-
den kann, als dabey Derjenige, welcher gab oder verſprach,
durch Furcht oder Hoffnung beſtimmt ſeyn konnte. Auch
beziehen ſich alle angeführte Stellen (Note k. m. n.) auf
ſolche Fälle, worin ein eigenes Intereſſe des Gebers ent-
weder augenſcheinlich iſt, oder als vorausgeſetzt leicht hin-
zugedacht werden kann. Wenn dagegen Jemand einem
Trunkenbold, um deſſen Beſſerung zu befördern, eine Geld-
ſumme verſpricht unter der Bedingung, daß derſelbe ein
ganzes Jahr lang die Trunkenheit vermeide, ſo iſt das
Verſprechen gültig, weil der Verſprechende kein perſön-
liches Intereſſe bey Erfüllung der Bedingung hat, alſo
auch nicht zu befürchten iſt, daß der Andere durch die
Drohung, das Laſter fortzuſetzen, in unzuläſſiger Weiſe
auf den Willen des Verſprechenden einwirken werde.
§. 123.
III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unſittliche.
(Fortſetzung.)
Bisher war von ſolchen Bedingungen die Rede, deren
Gegenſtand eine an ſich ſelbſt unſittliche Handlung iſt.
Es giebt aber auch mehrere Fälle, in welchen die an ſich
tadelloſe Handlung nur dadurch einen unſittlichen Cha-
racter annimmt, daß ſie eben zur Bedingung eines Rechts-
12*
|0192 : 180|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
geſchäfts gemacht wird. Bey einigen derſelben finden ſich
bedeutende Abweichungen von den über die unſittlichen Be-
dingungen im Allgemeinen (§ 122) aufgeſtellten Regeln.
I. In Beziehung auf Ehe ſind folgende Bedingungen
unterſagt.
A. Die Bedingung der gänzlichen Eheloſigkeit, und
zwar dieſe durch eine ausdrückliche Beſtimmung der Lex
Julia (a). Dieſe Beſtimmung war ſehr natürlich in einem
Geſetz, welches durch eine Reihe von Belohnungen und
Strafen die Ehe auf alle Weiſe zu befördern ſuchte.
B. Die Eheſcheidung, wenn ſie eben ſo, wie dort die
Eheloſigkeit, zur Bedingung eines Vermögensvortheils ge-
macht wird (b). Denn auch die Römer ſahen die Schei-
dung ſtets als ein Übel an, wozu der Entſchluß nur durch
ſittliche Nothwendigkeit gerechtfertigt werden könne; die
Einladung dazu durch Gründe des Eigennutzes mußte da-
her als unſittlich erſcheinen.
C. Unterwerfung unter fremdes Gutdünken bey der
(a) L. 22, L. 63 § 1, L. 72
§ 5, L. 74, L. 77 § 2, L. 100 de
cond. (35. 1.), L. 65 § 1 ad Sc.
Treb. (36. 1.), Paulus III. 4 B.
§ 2. — Auch indirect, wenn un-
ter dieſer Bedingung dem Vater
oder dem Sohn Desjenigen, der
ehelos bleiben ſoll, ein Legat zu-
gewendet wird. L. 79 § 4 de
cond. (35. 1.). Auch das Verbot
der Ehe mit einer beſtimmten
Perſon, wenn dieſe in einer Lage
iſt, dann keine Ehe zu finden,
alſo ehelos bleiben zu müſſen.
L. 64 § 1 de cond. (35. 1.). —
Ganz eigene Schickſale hat die
Bedingung des Wittwenſtandes
gehabt, d. h. der Eheloſigkeit nach
einer früheren, durch den Tod
aufgelöſten Ehe; dieſe Bedingung
hat zuletzt Juſtinian als wirkſam
zugelaſſen. Vgl. Sell S. 178.
(b) L. 8 § 1 de usu (7. 8.),
L. 5. C. de inst. (6. 25.).
|0193 : 181|
§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)
Wahl eines Ehegatten, als Bedingung eines Vermoͤgens-
vortheils (c).
D. Conventionalſtrafe, wodurch auf irgend eine Weiſe
der freye Wille in Eheſachen gefährdet wird. Alſo Strafe
für den Fall der Unterlaſſung einer beſtimmten Ehe (d),
eben ſo aber auch Strafe für den Fall der Scheidung (e).
Nach dem Ausdruck mancher der hier angeführten
Stellen könnte man glauben, es wäre jede Bedingung
unſittlich, wodurch irgend ein Einfluß des Eigennutzes auf
ſolche Entſchlüſſe herbeygeführt werden koͤnnte; ſo iſt es
jedoch nicht. Vielmehr werden folgende Bedingungen aus-
drücklich als gültig und wirkſam anerkannt. Am unbe-
denklichſten gültig iſt die Erbeinſetzung oder das Legat un-
ter der Bedingung, wenn der Honorirte überhaupt heu-
rathe (f). Aber es gilt auch die Bedingung, eine be-
(c) L. 28 pr., L. 72 § 4 de
cond. (35. 1.), und zwar, nach
dieſer letzten Stelle, hauptſächlich
deswegen, weil dieſes zu gänzli-
cher Eheloſigkeit führen konnte:
„eamque legis sententiam vi-
deri, ne quod omnino nuptiis
impedimentum inferatur.” Vgl.
oben § 119. t.
(d) L. 71 § 1 de cond. (35.
1.), L. 134 pr. de verb. oblig.
(45. 1.). „… quia inhonestum
visum est, vinculo poenae ma-
trimonia obstringi, sive futu-
ra, sive jam contracta.” In dem
Fall der letzten Stelle ſollte nicht
einmal von der Frau ſelbſt, die
nicht heurathen wollte, ſondern
von den Erben ihres Vaters, der
den Vertrag geſchloſſen hatte, die
Strafe bezahlt werden; ſelbſt dieſe
Beſtimmung des Vertrags wird
für ungültig erklärt.
(e) L. 2 C. de inut. stip. (8.
39.) (der Grund iſt: „Libera ma-
trimonia esse antiquitus pla-
cuit”). L. 134 pr. de verb. oblig.
(45. 1.) verb. „sive jam con-
tracta” (Note d). L. 19 eod.
(ſ. § 122. g).
(f) Sell S. 162. Die Zu-
läſſigkeit folgt ohnehin ſchon aus
der folgenden Bedingung, worin
auch dieſe mit enthalten iſt, nur
mit weit größerer Beſchränkung
der Freyheit.
|0194 : 182|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſtimmte Perſon zu heurathen (g), oder nicht zu heura-
then (h), welches letzte beſonders zweifelhaft ſcheinen konnte.
Ja ſogar iſt es an ſich gültig, und nur nach individuellen
Umſtänden ungültig, wenn ein Mann einer Frau (oder
umgekehrt) Geld verſpricht, unter der Bedingung, daß ſie
ihn heurathe (i). Denkt man nämlich dieſen Fall ſo, daß
der Entſchluß bezahlt, der Widerwille abgekauft werde,
ſo iſt gewiß der Vertrag unwürdig und ungültig; aber er
kann auch einen ganz andern und tadelloſen Sinn haben.
(g) L. 63 § 1, L. 71 pr. § 1
de cond. (35. 1.), L. 2 C. de inst.
(6. 25.). — Iſt freylich die Ehe
mit jener Perſon unanſtändig, ſo
iſt die Bedingung ungültig, nicht
blos weil überhaupt dem Hono-
rirten etwas Unanſtändiges zuge-
muthet wird, ſondern auch weil
darin die indirecte Bedingung
liegt, nun überhaupt gar nicht zu
heurathen. L. 63 § 1 cit. —
Schlägt die bezeichnete Perſon die
Ehe aus, ſo gilt die Bedingung
als erfüllt (§ 119. c). — Eine be-
ſondere Geſtalt dieſes erlaubten
Falles liegt in dem Legat an zwey
Perſonen, unter der Bedingung,
daß dieſe unter ſich eine Ehe ein-
gehen. L. 31 de cond. (35 1.).
(h) L. 63 pr. L. 64 pr. de
cond. (35. 1.), mit Ausnahme des
in der Note a berührten Falles
aus L. 64 § 1 eod.
(i) L. 97 § 2 de verb. oblig.
(45. 1.). „Si tibi nupsero, decem
dare spondes? causa cognita
actionem denegandam puto:
nec raro probabilis causa ejus-
modi stipulationis est. Item si
vir a muliere eo modo non in
dotem stipulatus est.” Sell
S. 175 hat dieſe Stelle mehrfach
misverſtanden. Zuerſt indem er
die negative Kraft überſieht, die
das causa cognita (hier wie in
vielen anderen Stellen) hat; es
heißt: nonnisi causa cognita,
nur unter beſonderen, aus der Un-
terſuchung hervorgehenden, Um-
ſtänden. Dann indem er die ver-
botene Schenkung unter Ehegat-
ten mit hereinzieht, von der die-
ſer Fall gar nicht berührt wird,
da es ein datum ob causam iſt.
Bey dem Mann ſoll es ſich eben
ſo verhalten wie bey der Frau
(item), alſo auch causa cognita
und nec raro. Das non in do-
tem geht darauf, daß die dotis
stipulatio ein höchſt gewöhnlicher,
ja auf alle Weiſe gepflegter und
begünſtigter Vertrag war, bey
dem es widerſinnig geweſen wäre,
die Gültigkeit auch nur zu be-
zweifeln, oder von einer causae
cognitio abhängig zu machen.
|0195 : 183|
§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)
Wenn die Frau bisher ihre armen Eltern durch Arbeit er-
nährte, und nun durch die verſprochene Summe verſorgen
will, wenn ſie das Geld dem Mann als Dos zurückge-
ben will, um für den Fall des Wittwenſtandes ihren Un-
terhalt zu ſichern, ſo iſt gegen die Abſicht eines ſolchen
Vertrags Nichts einzuwenden.
Vergleicht man dieſe erlaubten Fälle mit den uner-
laubten, ſo ergiebt ſich Folgendes. Conventionalſtrafen
ſind ungültig, wenn ſie auf irgend eine Weiſe die Ent-
ſchlüſſe in Eheſachen zu leiten beſtimmt ſind. Vermögens-
vortheile können in der Regel auch an ſolche Entſchlüſſe,
als gültige Bedingungen, geknüpft werden. Schlechthin
verboten, als ſolche Bedingungen, ſind: Eheloſigkeit, Ehe-
ſcheidung, Unterwerfung des Entſchluſſes unter fremde
Willkühr. In anderen Fällen kann nur durch die beſon-
deren Umſtände die Bedingung als eine unſittliche erſchei-
nen. — Im Ganzen alſo hat hier die Anſicht eingewirkt,
daß Strafen meiſt gefährlicher für die Willensfreyheit
ſeyen, als angebotene Vortheile. Dieſe Anſicht aber fin-
det ihre Rechtfertigung nicht nur in der Natur der menſch-
lichen Empfindung überhaupt, ſondern auch noch in fol-
gendem Umſtand. Vermögensvortheile ſind gar nicht im-
mer (ſo wie Conventionalſtrafen) dazu beſtimmt, als ei-
gennützige Reizmittel auf den Willen einzuwirken, ſondern
ſie können auch dazu dienen, dem ohnehin vorhandenen
tadelloſen Willen die Ausführung möglich zu machen.
Wenn z. B. die Tochter eines armen oder geizigen Vaters
|0196 : 184|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
einen armen Mann zu heurathen, oder einen ihr wider-
wärtigen Reichen auszuſchlagen geneigt iſt, ſo kann ihr
ein wohldenkender Teſtator zu Hülfe kommen, indem er
ihr ein anſehnliches Legat ausſetzt, unter der Bedingung
jenen Armen zu heurathen, oder dieſem Reichen die Ehe
zu verſagen.
II. Wegen übertriebener Beſchränkung der natürlichen
Freyheit iſt für unerlaubt erklärt die Bedingung, daß ein
Legatar ſeinen Aufenthalt nicht nach freyer Wahl be-
ſtimme, ſondern entweder ſtets an einem beſtimmten Ort
wohne, oder ſeinen Wohnſitz von dem eines Andern ab-
hängig mache (k). Ausnahmsweiſe jedoch konnte der Pa-
tron ſeinen Freygelaſſenen eine ſo beſchränkende Bedingung
gültig auferlegen (l).
III. Eben ſo gilt als unſittlich die Conventionalſtrafe,
die Einer unter der Bedingung zu zahlen verſpricht, wenn
er nicht den Andern zum Erben einſetzen werde (m). Es
wird nämlich für durchaus nothwendig erachtet, daß Je-
der bis zu ſeinem Tode ein völlig freyes Urtheil über das
den Umſtänden jeder Zeit angemeſſene Schickſal ſeines Ver-
mögens behalte.
IV. Unſittlich iſt ferner, nach der von Vielen aufge-
ſtellten, mit guten Gründen unterſtützten, Behauptung, die
auf Änderung oder Nichtänderung des Religionsbekennt-
(k) L. 71 § 2 de cond. (35.
1.). Vgl. Sell S. 189.
(l) L. 71 § 2, L. 13 § 1 de
cond. (35. 1.), L. 44 de manum.
test. (40. 4.), L. 18 § 1. 2 de
alim. (34. 1.), ferner die in § 119
Note s angeführte Stellen.
(m) L. 61 de verb. oblig. (45.1.).
|0197 : 185|
§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)
niſſes gerichtete Bedingung (n). Jeder dieſer Entſchlüſſe
nämlich iſt an ſich ſelbſt bloße Gewiſſensſache, und von
dem Standpunkt des Rechts aus tadellos. Allein der
Einfluß von Gewinn und Verluſt auf dieſe innerſte An-
gelegenheit des Menſchen iſt gewiß in hohem Grade be-
denklich, und wir verfahren daher ganz im Sinn der vom
Roͤmiſchen Recht für andere Fälle aufgeſtellten Grundſätze,
wenn wir dieſe Bedingung als unſittlich behandeln, ſo
daß durch die Aufnahme derſelben der Vertrag ſelbſt un-
gültig, die teſtamentariſche Verfügung dagegen unbe-
dingt wird.
Die bisher dargeſtellten Fälle hatten die gewöhnliche
Wirkung unſittlicher Bedingungen überhaupt (§ 122). Die
folgenden weichen davon in verſchiedener Weiſe ab; dieſe
beziehen ſich insgeſammt nur auf teſtamentariſche Verfü-
gungen, nicht auf Verträge.
V. Conditio jurisjurandi, das heißt die Bedingung,
daß der ernannte Erbe oder Legatar irgend eine künftige
Leiſtung (Geben oder Thun) zuvor eidlich verſpreche. Be-
trachten wir zuerſt, was geſchehen würde, wenn dieſe Be-
dingung nicht unterſagt worden wäre. Der Eid müßte
geſchworen werden, dann wäre die Bedingung vollkom-
men erfüllt, und von einer weiteren juriſtiſchen Folge
(n) Sell S. 142, wo dieſe
Frage ſehr befriedigend behandelt
iſt. Später hat ſich Vangerow
Pandekten I. 110 für die unbe-
ſchränkte Zuläſſigkeit dieſer Be-
dingung erklärt.
|0198 : 186|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
wäre nicht die Rede. Die Vollziehung der angelobten
Handlung ſelbſt bliebe dem Gewiſſen überlaſſen, ein Rechts-
ſchutz beſtände dafür nicht, weil ſich der Teſtator blos an
das Gewiſſen wenden wollte, anſtatt daß es bey ihm ge-
ſtanden hätte, nicht den Eid auf die Handlung, ſondern
die Handlung ſelbſt, als Bedingung auszudrücken (o). —
Daß nun dieſes ſo geſchehe, hat das Prätoriſche Edict
unterſagt, und zwar aus folgender Erwägung. Leichtſin-
nige Menſchen würden den Eid ſchwören, und dann un-
erfüllt laſſen; damit wäre die Religion verhöhnt, die Er-
wartung des Teſtators getäuſcht, und die unwürdigſte Ge-
ſinnung führte zu einem unverdienten Gewinn. Andere
würden aus übertriebener Angſtlichkeit lieber Alles aus-
ſchlagen, um nur nicht ſchwören zu müſſen (p), und auch
(o) So ſagt es wörtlich Ulpian
in L. 8 pr. de cond. inst. (28.
7.), am Schluß dieſer Stelle. Es
iſt alſo ganz irrig, wenn Manche
annehmen, nach dem Inhalt des
Teſtaments beſtehe eine doppelte,
rechtlich geſchützte Verpflichtung,
erſtlich zu ſchwören, und zwey-
tens die Handlung ſelbſt zu ver-
richten. Thibaut Pandekten
§ 954 Num. III. Sell S. 235.
— Die zweyte Verpflichtung iſt
nach dem Teſtament gar nicht vor-
handen, und entſteht erſt durch
die künſtliche Verwandlung, wo-
von ſogleich die Rede ſeyn wird.
(p) So erklärt es Ulpian in
L. 8 pr. de cond. inst. (28. 7.),
und dieſe Äußerung wird von
Walch opusc. I. 188 aus dem un-
begreiflichen Misverſtändniß be-
ſtritten, als ob Ulpian läugnen
wollte, daß es auch noch eine dritte
Klaſſe gebe, nämlich Menſchen von
verſtändiger Religioſität, die un-
bedenklich ſchwören, dann aber
auch den Eid gewiſſenhaft erfül-
len werden. Die Meynung iſt
aber die: wären alle Menſchen
verſtändig und religiös, ſo wäre
die conditio jurisjurandi unbe-
denklich, da aber auch jene beiden
Klaſſen exiſtiren, und der Hono-
rirte eben ſo wohl zu dieſen, als
zu den verſtändig Gewiſſenhaften
gehören kann, ſo iſt die Bedin-
gung nicht zuzulaſſen.
|0199 : 187|
§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)
dadurch würde die Erwartung des Teſtators getäuſcht
werden. Dieſe mögliche Verleitung zur Unſittlichkeit, ver-
bunden mit dem höchſt unvollkommnen Schutz für den Wil-
len des Verſtorbenen, hat das Verbot veranlaßt (q). Die
erſte Maasregel des Prätors beſteht nun darin, daß er
die Bedingung misbilligt und als nicht geſchrieben betrach-
tet (remittit Praetor conditionem) (r). Bliebe er dabey
ſtehen, ſo wäre der Wille des Verſtorbenen, der ja doch
nicht etwas an ſich Schlechtes verlangte, eigenmächtig
verändert. Man hätte nun die zu beſchwörende Hand-
lung ſelbſt unmittelbar als Bedingung behandeln können
(und das nehmen wirklich Manche an); damit aber wäre
man über den Willen weit hinaus gegangen, denn die
(q) Irrige Erklärungsgründe
ſind folgende. Nach Walch opusc.
I. 191 die Lehre der Stoiker, daß
der Eid zu heilig ſey, um wegen
irdiſcher Vortheile gebraucht zu
werden. Allein wie paßt dazu das
von den Römern ſo hoch gehal-
tene und ſo häufig angewendete
jusjurandum delatum, welches ja
auch ſtets des Vermögens wegen
gebraucht wird? — Sell S. 235
meynt, es ſey ſchimpflich für den
Honorirten geweſen, daß man ſich
nicht mit ſeiner ohnehin vorhan-
denen Obligation zu der Hand-
lung begnügen wollte, ſondern
noch daneben, aus Mistrauen,
einen Eid forderte. Allein eben
jene andere Obligation iſt gar
nicht vorhanden (Note o), und
wäre ſie da, ſo würde eine Be-
ſtärkung derſelben durch Eid eben
ſo wenig kränkend ſeyn, als eine
Beſtärkung durch Caution es iſt,
die doch gewiß der Teſtator nach
Belieben auflegen kann. Sell
iſt getäuſcht worden durch die
Ausdrücke turpis und turpiter
(L. 8 pr. de cond. inst., L. 20
de cond.); dieſe aber bedeuten
nicht nothwendig eine Beſchim-
pfung, ſondern auch Alles, wo-
durch ſittliche Intereſſen verletzt
oder gefährdet werden.
(r) L. 26 pr. L. 20 de cond.
(35. 1.), L. 8 pr. § 1—5 de cond.
inst. (28. 7.), L. 29 § 2 de test.
mil. (29. 1.), L. 14 § 1 de leg. 3
(31. un.). — Mit Unrecht wird
wohl darauf bezogen L. 112 § 4
de leg. 1 (30. un.), welche Stelle
eher auf einen von dem Teſtator
ſelbſt niedergeſchriebenen Eid zu
deuten iſt.
|0200 : 188|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Handlung hätte nun jedesmal vor dem Erwerb geſchehen
müſſen, was der Teſtator gar nicht verlangt hatte, und
dadurch wäre bey Legaten die neue Gefahr entſtanden,
das ganze Recht (wegen des ſpäteren dies cedens) zu
verlieren. Das geſchieht alſo nicht, vielmehr wird die
ganze Verfügung durchaus eine unbedingte (s). Allein
man zwingt nun hinterher den Erben oder Legatar, die
Handlung, die er hätte beſchwören ſollen, wirklich zu voll-
ziehen, oder mit anderen Worten, man verwandelt die
Bedingung in einen Modus (t). Dadurch iſt der Wille
des Teſtators viel mehr, als durch den Eid, geſichert,
und die oben erwähnte ſittliche Gefahr iſt gänzlich abge-
wendet.
(s) Dieſer Satz, den Manche
verkennen (Sell S. 253), iſt der
wichtigſte. Er liegt vor Allem
ſchon in der oft erwähnten re-
missa conditio; dann iſt er an-
erkannt in L. 26 pr. de cond.
(35. 1.), und in L. 8 § 7 de cond.
inst. (28. 7.) (vgl. § 119. u), am
deutlichſten aber in L. 8 § 8 eod.
Zwey Umſtände haben den Irr-
thum veranlaßt; erſtlich der in
§ 7 gebrauchte Ausdruck conditio,
der ſich daraus erklärt, daß das
Ganze urſprünglich als con-
ditio gefaßt war: zweytens L. 8
§ 6 eod., nach welchem der Erbe
in dieſem Fall die Klagen aus
der Erbſchaft nicht eher haben
ſoll, als bis er zuvor die Hand-
lung vollzogen hat. Allein dieſes
iſt bey einem Univerſalerben ge-
rade das eigentliche Mittel, einen
Modus zu erzwingen; auch un-
terſcheidet ſich die Einwirkung die-
ſer Zwangsmittel weſentlich von
der Einwirkung einer auf die-
ſelbe Handlung gerichteten Be-
dingung. Denn dem Erben wird
hier doch nur die Ausübung
gewiſſer erbſchaftlicher Rechte ent-
zogen; das Erbrecht ſelbſt iſt ihm
ſchon völlig erworben, und wird
bey ſeinem Tod auf ſeine Erben
übertragen. Iſt es dagegen Be-
dingung, und ſtirbt er vor deren
Erfüllung, ſo geht Nichts auf
ſeine Erben über.
(t) Vgl. die drey in der Note s
zuerſt angeführte Stellen. —
Hierin liegt nun eben die wich-
tige praktiſche Verſchiedenheit die-
ſes Falles von den eigentlich un-
ſittlichen Bedingungen, indem
dieſe ſpurlos vernichtet werden.
|0201 : 189|
§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)
Jedoch iſt dieſes Alles nur als ein Recht des bedingt
Honorirten zu betrachten (remittit conditionem). Verbo-
ten iſt der Eid nicht, und leiſtet ihn der eingeſetzte Erbe
freywillig, ſo thut er damit nichts Unerlaubtes, vielmehr
liegt darin eine gültige pro herede gestio (u). Aber frey-
lich die Verwandlung in einen Modus bleibt daneben doch
beſtehen, ſonſt wäre die ganze Maasregel ohne Zweck
und Erfolg.
Die Bedingung des Eides aber iſt ausnahmsweiſe (v)
in folgenden Fällen gültig. Zuerſt wenn einer Stadtge-
meine unter der Bedingung eines Eides Etwas hinterlaſſen
iſt, ſo müſſen ihre Verwaltungsbeamte ſchwören (w). Der
Grund der Ausnahme liegt wohl darin, daß eine Stadt
weder leichtſinnig, noch abergläubiſch ſeyn kann, die Ge-
ſinnung der Beamten aber ungefährlich iſt, weil dieſe kein
eigenes Intereſſe haben. — Zweytens wenn ein Sklave
unter der Bedingung irgend eines eidlichen Verſprechens
freygelaſſen wurde (x). Der Grund liegt darin, daß die
meiſten Handlungen, die man einem Freyen als Bedin-
gung auflegen kann, von einem Sklaven wegen ſeiner
Rechtloſigkeit nicht vollzogen werden können. Nun war
(u) L. 62 pr. de adquir. her.
(29. 2.). Hier heißt es: si ju-
raverit, heres esto. Das ha-
ben Manche ſo verſtanden, als
wäre ein Eid ohne Inhalt vor-
geſchrieben geweſen. Offenbar hat
der Juriſt nur den (hier gleich-
gültigen) Inhalt weggelaſſen.
(v) L. 20 de cond. (35. 1.).
„Non dubitamus, quin turpes
conditiones remittendae sint:
quo in numero plerumque sunt
etiam jurisjurandi.” Das ple-
rumque deutet auf Ausnahmen.
(w) L. 97 de cond. (35. 1.),
ſ. o. § 92. n.
(x) L. 12 pr. § 1 de manum.
test. (40. 4.).
|0202 : 190|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
allerdings auch der vom Sklaven geleiſtete Eid nicht ju-
riſtiſch verpflichtend, ſondern nur der nach der Freylaſ-
ſung geleiſtete (y). Allein man rechnete darauf, der Sklave
werde, wenn er durch den erſten Eid frey geworden wäre,
aus Religioſität zu einer Wiederholung deſſelben ſich ent-
ſchließen, wodurch er dann klagbar verpflichtet wurde (z).
— Ohne Zweifel iſt von dieſem Fall die ganze Sitte aus-
gegangen, in Teſtamenten einen Eid als Bedingung vor-
zuſchreiben; manche Teſtatoren haben ſpäter dieſe Bedin-
gung auch Freyen auferlegt, und dadurch iſt das Verbot
im Edict veranlaßt worden.
Dieſe Unzuläſſigkeit der conditio jurisjurandi galt je-
doch nur in Teſtamenten, nicht in Verträgen (aa); ohne
Zweifel, weil ſich hier Jeder leicht die Überzeugung ver-
ſchaffen kann, daß ſein Gegner diejenige Geſinnung wirk-
lich habe, wodurch eine ſolche Bedingung unbedenklich wird.
VI. Ungültig iſt diejenige Bedingung, wodurch die te-
ſtamentariſche Verfügung zu einer captatoriſchen wird.
(y) L. 36 de man. test. (40.
4.), L. 7 pr. § 1. 2 de op. lib.
(38. 1.). Es war gleichgültig, ob
der durch Teſtament Freygelaſ-
ſene früher oder ſpäter den Eid
leiſtete (L. 7 § 2 cit.); bey der
manumissio vindicta mußte es
incontinenti geſchehen, wenn es
verpflichten ſollte. L. 44 pr. de
lib. causa (40. 12.).
(z) Dieſe Vorſicht wurde näm-
lich angewendet bey der manu-
missio vindicta, wobey man auch
ſchon zuvor den Sklaven ſchwö-
ren ließ. L. 44 pr. de lib. causa
(40. 12.). Dieſelbe Berechnung
aber lag augenſcheinlich auch der
eonditio jurisjurandi in Teſta-
menten zum Grunde.
(aa) L. 19 § 6 de don. (39. 5.).
Die Gültigkeit der Bedingung
wird vorausgeſetzt, indem blos
bemerkt wird, es ſey keine Schen-
kung, ſondern ein datum ob cau-
sam. Sell S. 245.
|0203 : 191|
§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)
Hier ſoll aber nicht die Bedingung wegfallen, ſondern die
ganze Verfügung iſt ungültig (bb).
VII. Endlich gehörten dahin früher auch die poenae
causa getroffenen Verfügungen in einem Teſtament, und
auch hier war die Verfügung ſelbſt ungültig, nicht die
Bedingung. Juſtinian hat dieſes aufgehoben (§ 117 Note
l. m. n).
§. 124.
III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unmögliche
und unſittliche. (Fortſetzung.)
Es bleiben jetzt noch einige Fragen zu erörtern übrig,
die ſich auf die unmöglichen und unſittlichen Bedingungen
gemeinſchaftlich beziehen.
Die erſte Frage betrifft das Verhältniß dieſer Hinder-
niſſe zu dem Bewußtſeyn des Urhebers des Rechtsge-
ſchäfts. Gewöhnlich denkt man an den Fall, da der Ur-
heber das Hinderniß kennt, und ſich dadurch nicht abhal-
ten läßt, die Bedingung hinzu zu fügen. Wie aber wenn
er es nicht kennt, alſo über die beſondere Beſchaffenheit
der Bedingung im Irrthum iſt? Ein ſolcher Irrthum
wird bey abſolut unmöglichen, ſo wie bey unſittlichen Be-
dingungen, kaum vorkommen können; bey relativ unmög-
lichen iſt er allerdings denkbar, indem z. B. der Teſtator
einen Erben einſetzen kann unter der Bedingung Geld an
(bb) Sell S. 295. — Die ge-
nauere Ausführung iſt nur im
Zuſammenhang des Erbrechts
möglich.
|0204 : 192|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
eine beſtimmte Perſon zu zahlen, die zur Zeit der Abfaſ-
ſung des Teſtaments, ohne Wiſſen des Teſtators, bereits
verſtorben iſt. Die aufgeworfene Frage iſt beſtritten, wir
müſſen aber ſchon deshalb annehmen, daß im Fall des
Irrthums baſſelbe gelte, wie im Fall des richtigen Be-
wußtſeyns, weil die in unſren Rechtsquellen aufgeſtellten
Regeln von unmöglichen Bedingungen allgemein reden,
ohne jenen denkbaren Unterſchied auch nur zu berühren.
Dazu kommt, als wichtige Unterſtützung, die Analogie des
Falles, da nicht die Bedingung, ſondern die in einem
Vertrag verſprochene Handlung ſelbſt, relativ unmöglich
iſt; durch dieſen Umſtand wird der Vertrag völlig ungül-
tig, auch wenn die Contrahenten die Unmöglichkeit nicht
kannten (a). Endlich aber wird noch in dem gegenwärti-
gen § gezeigt werden, daß wahrſcheinlich die Regeln über
die unmöglichen Bedingungen gerade von dem Fall des
Irrthums ihren Ausgang genommen haben.
Die bisher angeſtellte Betrachtung der unmoͤglichen und
unſittlichen Bedingungen bezog ſich nur auf Suspenſivbe-
dingungen; es iſt nun noch die Anwendung dieſer Regeln
auf die reſolutiven zu erwähnen. Jedoch nur mit weni-
gen Worten, da ſchon das Schweigen unſrer Rechtsquellen
beweiſt, wie wenig erheblich dieſer Gegenſtand iſt. Auch
kann dieſe Frage nur in Beziehung auf Verträge aufge-
worfen werden (§ 120). — Halten wir uns nun an die
Auffaſſung der Reſolutivbedingung als einer ſuspenſiven
(a) Sell S. 77 fg.
|0205 : 193|
§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)
für die Vernichtung des Hauptgeſchäfts (§ 120. l), ſo iſt
durch die Unmöglichkeit derſelben die daran geknüpfte Ver-
nichtung entkräftet. Es iſt alſo ſo gut, als ob der Ver-
trag ganz ohne Reſolutivbedingung geſchloſſen wäre. So
einleuchtend nun im Allgemeinen dieſe Beſtimmung iſt, ſo
wird doch auch folgende Einſchränkung ſchwerlich einen
Widerſpruch finden. Iſt nämlich von einer unſittlichen
Bedingung die Rede, ſo können dieſer die Parteyen die
Form einer reſolutiven geben, lediglich um die Anwen-
dung der oben aufgeſtellten Regeln zu umgehen; dann
muß in jedem einzelnen Fall Dasjenige geſchehen, was
zur Aufrechthaltung des ſittlichen Zwecks nothwendig iſt.
Verſpricht alſo Einer dem Andern Hundert unter der Sus-
penſivbedingung, daß der Andere einen Dritten mishandle,
ſo iſt der Vertrag nichtig. Nun koͤnnte man dem Vertrag
die Wendung geben, daß eine Schenkung von Hundert
verſprochen würde, mit der Reſolutivbedingung, wenn die
Mishandlung unterbliebe. Nach dem Buchſtaben der eben
aufgeſtellten Regel würde blos die Reſolutivbedingung
wegfallen, und die Hundert müßten bezahlt werden; nach
der Abſicht der Parteyen aber iſt es ſo gut, wie wenn
jene Form der Suspenſivbedingung gewählt wäre, die
unſittliche Abſicht darf nicht durch Schenkung einen Lohn
erhalten, und es muß vielmehr das ganze Geſchäft als
ungültig behandelt werden.
Die wichtigſte Frage endlich bleibt noch für die un-
möglichen und unſittlichen Bedingungen gemeinſchaftlich zu
III. 13
|0206 : 194|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
beantworten übrig: was iſt der Grund der aufgeſtellten
Regeln, und insbeſondere der auffallenden Regel, nach
welcher in Teſtamenten die in ſolcher Weiſe bedingte Ver-
fügung als unbedingt aufrecht erhalten wird? was iſt alſo
zugleich der Grund, die Teſtamente hierin anders zu be-
handeln, als die Verträge?
Die ſcheinbare Genealogie der Gedanken iſt dieſe: Un-
mögliche Bedingungen gelten als nicht geſchrieben, und
weil die unſittlichen für den beſſeren Menſchen zugleich
unmögliche ſind, ſo müſſen ſie juriſtiſch eben ſo behandelt
werden, wie es ſich bey den unmoͤglichen ohnehin von ſelbſt
verſteht. Der Typus alſo, von welchem in dieſen zuſam-
menhängenden Regeln ausgegangen werden müßte, wäre
etwa die in den Rechtsquellen erwähnte Bedingung: si di-
gito coelum tetigerit, heres esto.
Allein nach dieſer Auffaſſung bleibt die Sache von
allen Seiten unerklärlich. Erwägen wir zuerſt das logi-
ſche Weſen der Bedingung, ſo führt dieſes gerade auf
das entgegengeſetzte Reſultat. Denn das Seyn oder Nicht-
ſeyn der bedingenden Thatſache ſoll das Seyn oder Nicht-
ſeyn des Rechtsverhältniſſes zur Folge haben, darin be-
ſteht das Weſen der Bedingung. Nun iſt aber das Nicht-
ſeyn der Thatſache im Fall der Unmöglichkeit eben ſo un-
zweifelhaft, als im Fall der zufälligen Vereitlung. Dieſe
Identität wird bey den Verträgen ausdrücklich anerkannt,
warum nicht bey den Teſtamenten? Die Unterſcheidung
derſelben von den Verträgen fand ſchon Gajus anſtoͤßig,
|0207 : 195|
§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)
obgleich er, ſeiner Secte getreu, die Regel ſelbſt darum
nicht minder annahm (b).
Betrachtet man aber die Sache weniger von der ſtreng
logiſchen, als von der praktiſchen Seite, nämlich nach dem
wahrſcheinlichen Gedankengange des Teſtators, ſo liegt in
der That die Annahme ſehr nahe, es ſey demſelben mit
einer ſolchen Verfügung überhaupt nicht Ernſt geweſen,
ſondern er habe nur mit Worten ein Spiel getrieben.
Dieſe natürliche Annahme iſt nun bey Verträgen wirklich
anerkannt (c), liegt aber bey Teſtamenten nicht minder
nahe; ja auch hier findet ſie ſich einmal geradezu ausge-
ſprochen (d). Aus dieſen Gründen wollten nun in der
That die Proculejaner Teſtamente und Verträge gleich
behandelt wiſſen (Note b). Daß aber dennoch die Sabi-
nianer das Gegentheil annahmen, und daß Juſtinian ihrer
Meynung den Vorzug gab, erklärt man gewöhnlich aus
(b) Gajus III. § 98 „.. diver-
sae scholae auctores non mi-
nus legatum inutile existimant,
quam stipulationem. Et sane
vix idonea diversitatis ratio
reddi potest.” (Die Leſeart vix
iſt nach den von Blume angege-
benen Schriftzügen und nach dem
inneren Zuſammenhang nicht zu
bezweifeln.)
(c) L. 31 de oblig. et act.
(44. 7) „.. quorum procul du-
bio in hujusmodi actu talis co-
gitatio est, ut nihil agi existi-
ment adposita ea conditione
quam sciant esse impossibilem.
(d) L. 4 § 1 de statulib. (40.
7.). Hier wird geſagt, eine te-
ſtamentariſche Freylaſſung ſey nich-
tig in folgenden drey Fällen:
1) wenn ſie gegeben ſey nach ei-
ner ſolchen Zahl von Jahren, daß
der Sklave dieſelbe nicht erleben
könne, 2) unter der Bedingung,
millies zu zahlen (§ 121. t),
3) zur Zeit ſeines Todes. Nun
lautet der Schluß ſo: „sic enim
libertas inutiliter datur, et ita
Julianus scribit, quia nec ani-
mus dandae libertatis est.”
Vgl. unten Note i.
13*
|0208 : 196|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
einer geſetzlichen Begünſtigung des letzten Willens (e). In
welchem Sinn dieſe hier gewiſſermaßen zugegeben werden
könnte, wird ſich weiter unten zeigen; nach dem einfachen
Wortſinn, wie man ſie gewöhnlich auffaßt, kann ſie nicht
gelten, denn ſo dürfte ſie doch nur gebraucht werden, um
den wahren Willen des Verſtorbenen gegen das Hinderniß
geſetzlicher Formen in Schutz zu nehmen; hier aber ſcheint
Etwas gegen jenen Willen durchgeſetzt zu werden.
Eine befriedigende Erklärung iſt nur möglich, wenn
wir die oben dargeſtellte Genealogie der Gedanken gera-
dezu umkehren, indem wir annehmen, es war urſprünglich
die Rede von den unſittlichen Bedingungen, und nachdem
man dieſe als nicht geſchrieben anerkannt hatte, iſt die-
ſelbe Behandlung auf die unmöglichen übertragen worden,
mit denen man, eben zu dieſem Zweck, die unſittlichen
identificirte. Gelingt es, dieſe Herleitung zu rechtfertigen,
ſo wird dadurch zugleich ein anderer Anſtoß beſeitigt. Es
läßt ſich ſchwerlich annehmen, daß in Römiſchen Teſta-
menten die abſolut unmöglichen Bedingungen oft genug
vorgekommen ſeyn ſollten, um dieſer Frage irgend eine
Erheblichkeit zu geben; die alten Juriſten ſtellten vielmehr
Beyſpiele derſelben auf, nur um den Begriff in aller
Schärfe zur Anſchauung zu bringen. Dagegen mögen die
Fälle unſittlicher Bedingungen, die ja in ſo vielen Geſtal-
(e) So z. B. Sell S. 38 fg.,
der nach vielen künſtlichen Wen-
dungen endlich doch wieder auf
dieſen favor testamentorum zu-
rück kommt.
|0209 : 197|
§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)
ten erſcheinen, häufig genug vorgekommen ſeyn; hier war
es von praktiſchem Intereſſe, Rechtsregeln auszubilden,
und deren vollſtändige Behandlung führte dann weiter zu-
rück auf die unmöglichen.
Betrachten wir alſo nun den Fall der unſittlichen Be-
dingungen an ſich, noch ganz abſehend von der Fiction
der Unmoͤglichkeit unſittlicher Handlungen. Das erſte und
unzweifelhafteſte bey ihnen iſt Dieſes, daß der Bedingung
keine Folge gegeben werden darf, weil ſonſt das Schlechte
gefördert werden würde. Dieſen erſten Zweck nun kön-
nen wir auf zwey entgegengeſetzten Wegen erreichen, ent-
weder indem wir das ganze Rechtsgeſchäft vernichten, oder
indem wir die Bedingung als nicht vorhanden anſehen,
und das Geſchäft als unbedingt behandeln. Das Juſti-
nianiſche Recht (übereinſtimmend mit den Sabinianern)
entſcheidet für den erſten Weg bey Verträgen, für den
zweyten bey Teſtamenten, und wir haben die Gründe die-
ſer Verſchiedenheit aufzuſuchen.
Bey Verträgen liegt der Grund darin, daß eine Tren-
nung der Bedingung von dem Verſprechen in den meiſten
Fällen augenſcheinlich gegen die Abſicht der Parteyen ſeyn
würde. Verſpricht Einer Hundert für die Begehung eines
Verbrechens, und wollten wir aus dem Vertrag nur dieſe
Bedingung hinwegnehmen, ſo würden wir den ganzen Ver-
trag voͤllig willkührlich und gegen die unzweifelhafte Ab-
ſicht in eine reine Schenkung verwandeln. Dieſe Behand-
lung wäre aber nicht nur dem Willen der Parteyen wi-
|0210 : 198|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
derſprechend, ſondern auch an ſich ſelbſt anſtößig, da ſie
Demjenigen, der doch an der ſchlechten Abſicht ſo viel als
der Andere Theil genommen hat, einen bleibenden Vor-
theil zuwenden würde. Und ſelbſt in den ſeltneren und
verwickelteren Fällen, worin die Parteyen den Vertrag
auch bey Entfernung der Bedingung vielleicht eben ſo ge-
ſchloſſen haben würden, iſt für ſie Nichts verloren, indem
ſie dieſen unbedingten Vertrag noch immer ſchließen, alſo
das Verſäumte nachholen können.
Bey Teſtamenten finden wir von dieſem Allen das Ge-
gentheil. Wer ein Teſtament macht, hat die unzweifel-
hafte Abſicht, über ſein Vermögen zu verfügen, und jede
Erbeinſetzung, jedes Legat, fällt in dieſe allgemeine Ab-
ſicht freygebiger Austheilung des Vermögens. Finden wir
alſo eine ſolche Verfügung unter einer unſittlichen Bedin-
gung, ſo hat die Annahme viele Wahrſcheinlichkeit, daß
er zwar das Schlechte bey dieſer Gelegenheit durchſetzen
wollte, aber auch davon abgeſehen, denſelben Erben oder
Legatar ernannt haben würde, indem er ohnehin damit be-
ſchäftigt war, Erben oder Legatare zu ernennen, anſtatt
daß bey dem Vertrage kein anderer Beweggrund zu irgend
einem Verſprechen vorlag, als eben die Beförderung der
unſittlichen Handlung (f). Allerdings iſt es zweifelhaft,
(f) Es wird alſo derſelbe Ge-
danke des Teſtators vorausge-
ſetzt, der in L. 2 § 7 de don.
(39. 5.) bey dem Fall einer Schen-
kung ſo ausgedrückt iſt: „si vero
alias quoque donaturus Titio
decem, quia interim Stichum
emere proposuerat, dixerim in
hoc me dare, ut Stichum eme-
ret, causa magis donationis,
quam conditio dandae pecu-
niae, existimari debebit.”
|0211 : 199|
§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)
ob der Teſtator dieſen Gedanken hatte, oder ob er viel-
mehr, wenn die ſchlechte Abſicht nicht zu erreichen war,
lieber dieſes ganze Legat fallen laſſen wollte; allein gerade
für ſolche zweifelhafte Fälle beſteht die Regel, daß für
die Aufrechthaltung des letzten Willens geſprochen werden
ſoll (g), und in dieſem beſchränkten Sinn koͤnnte man etwa
noch die einwirkende Begünſtigung der Teſtamente zuge-
ben; in der That aber liegt auch darin keine Begünſti-
gung, da für Verträge genau dieſelbe allgemeine Ausle-
gungsregel gilt (h). Allein ſelbſt wenn wir in einzelnen
Fällen durch jene Annahme irren, ſo bekommt wenigſtens
nicht, wie bey Verträgen, ein Unwürdiger den Vortheil,
da der Erbe oder der Legatar bey der aufgeſtellten unſitt-
lichen Bedingung unſchuldig iſt; der Verſtorbene aber hat
es durch ſeine ſchlechte Abſicht ſelbſt verſchuldet, wenn in
dieſem Stück ſein Wille theilweiſe misverſtanden wird.
Irren wir jedoch nicht bey jener Annahme, ſo liegt zu-
gleich in dieſer Behandlung das einzig mögliche Mittel,
den wahren Willen aufrecht zu halten, indem hier der
Verſtorbene nicht mehr im Stande iſt, das Verſäumte
nachzuholen, ſo wie Dieſes bey Verträgen noch immer
geſchehen konnte.
(g) L. 24 de rebus dub. (34.
5.). „Cum in testamento am-
bigue, aut etiam perperam,
scriptum est: benigne interpre-
tari, et secundum id quod cre-
dibile est cogitatum, creden-
dum est.” Dieſe Vorſchrift paßt
ganz auf den vorliegenden Fall.
(h) L. 80 de verb. oblig. (45.
1.). „Quotiens in stipulationi-
bus ambigua oratio est, com-
modissimum est id accipi, quo
res, qua de agitur, in tuto sit.”
|0212 : 200|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
War nun auf dieſe Weiſe die Sache entſchieden für
die unſittlichen Bedingungen, ſo gieng man weiter zurück
auf die unmöglichen, die in der That eine entfernte Ver-
wandtſchaft mit jenen haben. Die aufgeſtellten Betrach-
tungen paßten allerdings nicht auf die abſolut unmögli-
chen oder unerſchwinglichen Bedingungen, aber dieſe ſind
ja überhaupt, wie oben bemerkt, ſo ſelten und unerheb-
lich, daß ſie auf eine beſondere Vorſorge durch Rechtsre-
geln keinen Anſpruch haben können. Anders verhält es
ſich mit den relativ unmöglichen. Kennt hier der Teſta-
tor die Unmöglichkeit, ſo ſind ſie freylich in gleicher Lage
mit den abſolut unmöglichen, denn es gehört immer eine
beſondere Laune dazu, daß ein Teſtator in dieſem ernſten
Geſchäft ſo mit leeren Worten ſpiele. Dieſes gilt aber
nicht von dem Fall, wenn er es nicht weiß, ſo z. B. von
dieſer Bedingung: ich ſetze den Gajus zum Erben ein,
wenn er zuvor dem Sejus eine Wohnung gebaut haben
wird; (vorausgeſetzt, daß, zur Zeit der Abfaſſung des
Teſtaments, Sejus ohne Wiſſen des Teſtators bereits ge-
ſtorben war). Hier nun ſind die meiſten der bey den un-
ſittlichen Bedingungen aufgeſtellten Gründe gleichfalls an-
wendbar, theilweiſe ſogar in noch höherem Grade. Denn
offenbar kann man hier mit großer Wahrſcheinlichkeit an-
nehmen, der Teſtator wollte zwey, an ſich von einander
unabhängige, Zwecke erreichen: Gajus ſollte Erbe ſeyn,
Sejus ſollte auf Koſten des Gajus eine Wohnung erhal-
ten. Dieſen letzten Zweck konnte er in verſchiedenen For-
|0213 : 201|
§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)
men erreichen, am einfachſten in der Form eines Legats.
Er wählte die Form einer Bedingung, die allerdings am
ſchnellſten und kräftigſten wirken konnte; daraus folgt aber
nicht einmal mit Wahrſcheinlichkeit, daß, wenn die Er-
reichung des zweyten Zwecks unmöglich wurde, deshalb
auch der erſte aufgegeben werden ſollte.
War man nun durch dieſe Erwägungen dahin gekom-
men, die relativ unmöglichen und die unſittlichen Bedin-
gungen in Teſtamenten nach einer gleichen Regel, und
zwar ganz anders als in Verträgen, zu behandeln, ſo lag
es dann ſehr nahe, in dieſe Regel auch die (praktiſch un-
bedeutenden) abſolut unmoͤglichen und unerſchwinglichen
Bedingungen mit aufzunehmen. Man gewann dadurch
den Vortheil einer einfacheren Formel, die ganze Lehre
erhielt gleichſam eine breitere Baſis, und das Schickſal
einiger ſelten vorkommenden wunderlichen Einfälle man-
cher Teſtatoren konnte dabey kein ſonderliches Bedenken
erregen.
Die hier verſuchte Erklärung der Römiſchen Behand-
lung unmöglicher Bedingungen in Teſtamenten läßt ſich
noch durch folgende Betrachtungen unterſtützen.
1) Iſt eine auf die vergangene oder gegenwärtige Zeit
ſchon durch den Ausdruck geſtellte Bedingung vereitelt, ſo
wird ſie nicht, gleich der unmöglichen, als nicht geſchrie-
ben angeſehen, ſondern die ganze Verfügung iſt ungültig
(§ 121. p). Dennoch kommt dieſer Fall mit dem der un-
möglichen in der gegenwärtigen Entſchiedenheit völlig über-
|0214 : 202|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ein, ſo daß alſo hierin der Grund der beſonderen Behand-
lung überhaupt nicht liegen kann. Es fehlt hier aber die
oben nachgewieſene innere Verwandtſchaft der unmöglichen
und unſittlichen Bedingungen, und hierin allein kann da-
her der Grund jener eigenthümlichen Behandlung geſucht
werden.
2) Das legatum poenae nomine iſt von Juſtinian in
der Regel erlaubt, und nur ausnahmsweiſe für unwirk-
ſam erklärt, wenn durch deſſen Androhung der Erbe zu
einer unmöglichen oder unſittlichen Handlung gezwungen
werden ſoll (§ 122. h. i). Eigentlich iſt nun die Unterlaſ-
ſung der geforderten unmöglichen Handlung etwas ſchlecht-
hin Nothwendiges, und man konnte daher erwarten, daß
das Legat vielmehr unbedingt gelten würde (§ 121. g).
Weil aber hier der ſittliche Zweck bey der geforderten un-
ſittlichen Handlung eine entgegengeſetzte Behandlung nöthig
machte (§ 122), ſo hat dieſe wiederum ein gleiches Ver-
fahren auch bey der geforderten unmöglichen Handlung
nach ſich gezogen.
3) Außer den unmöglichen Bedingungen kommen auch
unmögliche Zeitbeſtimmungen (dies impossibilis) vor. In
der Entſchiedenheit des Nichtſeyns kommen dieſe mit jenen
ganz überein, ſo daß man erwarten möchte, auch eine
ſolche Zeitbeſtimmung werde als nicht geſchrieben behan-
delt, und ſo die Verfügung ſelbſt aufrecht erhalten wer-
den. Hier findet ſich aber gerade das Gegentheil; die un-
mögliche Zeit wird als ein Zeichen betrachtet, daß die
|0215 : 203|
§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)
ganze Verfügung nicht ernſtlich gemeynt war, und dieſe
iſt dadurch vernichtet (i). Dieſe ſcheinbare Inconſequenz
erklärt ſich daraus, daß zwiſchen der unmöglichen Zeit
und der unſittlichen Bedingung gar kein Zuſammenhang
ſtatt findet, ſo daß hier kein Grund vorhanden iſt, von
der natürlichſten und einfachſten Behandlung abzuweichen.
Wäre die bloße Begünſtigung des letzten Willens der
Grund, warum die unmögliche Bedingung als nicht ge-
ſchrieben behandelt wird, ſo müßte dieſelbe ja ganz eben
ſo auch den unmöglichen dies als nicht geſchrieben hin-
weg räumen.
Zum Schluß ſoll noch angegeben werden, welche Grund-
ſätze über die den Teſtamenten beygefügten unmöglichen
und unſittlichen Bedingungen in neueren Geſetzgebungen
aufgeſtellt worden ſind.
Das Franzöſiſche Geſetzbuch ſchließt ſich ganz an das
Römiſche Recht an. Unmögliche und unſittliche Bedingun-
gen gelten als nicht geſchrieben; ja es wird dieſes ſelbſt
(i) Vgl. unten § 126. i. k. l,
und daraus beſonders L. 4 § 1
de statulib. (40. 7.), deren In-
halt oben in Note d angegeben
iſt. Übrigens erklärt ſich hieraus
auch, wie von der in der Mitte
der Stelle erwähnten Bedingung
si heredi millies dedisset ge-
ſagt werden konnte, ſie entkräfte
die ganze Freylaſſung (§ 121. t).
Dieſe Entſcheidung paßt offenbar
nur zu der Meinung der Pro-
culejaner, und hat ſich in die
Juſtinianiſche Geſetzgebung blos
verirrt. Dieſes wurde dadurch
überſehen, daß ſie in der Mitte
zwiſchen zwey, auch im Juſtinia-
niſchen Recht unbedenklichen, Ent-
ſcheidungen über den dies impos-
sibilis ſteht.
|0216 : 204|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
auf Schenkungen ausgedehnt, die überhaupt in dieſem Ge-
ſetzbuch den Teſtamenten ſo ſehr angenähert ſind (k).
Das Preußiſche Recht ſchlägt einen Mittelweg ein.
Die unmoͤgliche Bedingung macht die teſtamentariſche Ver-
fügung ſelbſt ungültig (l); die unſittliche dagegen gilt als
nicht geſchrieben (m).
Das Öſterreichiſche Geſetzbuch endlich iſt ganz zu Pro-
culejaniſchen Geſinnungen zurückgekehrt. Erbeinſetzungen
und Legate werden durch unmögliche und durch unſittliche
Bedingungen ganz ungültig (n).
§. 125.
III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung.
Eine zweyte Art der Selbſtbeſchränkung, welche in ei-
ner Willenserklärung vorkommen kann (§ 114), beſteht in
der hinzugefügten Zeitbeſtimmung (dies), das heißt in
dem Ausdruck einer zeitlichen Begränzung der Wirkſamkeit
des Rechtsverhältniſſes.
Dieſe Zeitbegränzung kann, ähnlich der Bedingung,
entweder an den Anfang oder an das Ende des Rechts-
verhältniſſes gelegt werden. Im erſten Fall heißt dieſes
(k) Code civil art. 900. —
Anders natürlich bey Verträgen
die nicht Schenkungen ſind. art.
1172. Dieſe Behandlung der
Schenkungen wird von den Fran-
zöſiſchen Juriſten als inconſequent
getadelt; Manche tadeln den
Rechtsſatz auch bey den Teſta-
menten. Maleville zu art. 900.
Toullier droit civil T. 5 § 247.
(l) A. L. R., Th. 1. Tit. 4
§ 129—132 Tit. 12 § 504.
(m) A. L. R., Th. 1. Tit. 12
§ 63 (vergl. mit Tit. 5 § 227.).
(n) Oeſterreich. Geſetzbuch § 698
(vergl. mit § 897).
|0217 : 205|
§. 125. Zeitbeſtimmung.
Verhältniß in diem oder ex die gegeben (a), im zweyten
ad diem (b). Wir können jene den Anfangstermin,
dieſe den Endtermin eines Rechtsverhältniſſes nennen.
— Zunächſt ſoll hier von dem Anfangstermin gehandelt
werden.
Alle Zeitbeſtimmung nun kann ſich lediglich auf die
Zukunft beziehen, da wir nur auf dieſe für unſre Hand-
lungen Vorkehrung treffen können. Die künftige Zeit ſelbſt
aber kann beſtimmt werden entweder durch Beziehung auf
einen einzelnen Punkt in der allgemeinen, unabänderlich
feſtſtehenden Zeitreihe (Kalendertag) (c), oder auf relative
Weiſe durch Beziehung auf ein künftiges Ereigniß, welches
ja nothwendig auch in einen beſtimmten Punkt jener Reihe
fallen muß. — Nun knüpft ſich auch die Bedingung ſtets
an ein künftiges Ereigniß (§ 116), und eben ſo läßt ſich
(a) Ex die. L. 56 de cond.
indeb. (12. 6.), L. 34 de her.
inst. (28. 5.), L. 44 § 1 de O.
et A. (44. 7.). In diem. § 2 J.
de verb. obl. (3. 15.), L. 3. 15.
46. pr. de V. O. (45. 1.), L. 213
pr. de V. S. (50. 16.), L. 16 pr.
de her. pet. (5. 3.), L. 43 de
j. dot. (23. 3.), L. 22 de cond.
inst. (28. 7.), L. 27 qui et a
quib. man. (40. 9.), L. 22 de O.
et A. (44. 7.).
(b) L. 34 de her. inst. (28. 5.),
L. 44 § 1 de O. et A. (44. 7.).
In dieſer letzten Stelle heißt es
daneben auch einmal in diem,
jedoch nur in einer Conſtruction:
„nam vel ex die incipit obli-
gatio, aut confertur in diem.”
Das letzte heißt nachher: „Ad
diem autem.”
(c) Auch dieſes iſt wieder auf
zweyerley Weiſe möglich: unmit-
telbar (z. B. am 1. März 1840),
oder mittelbar, z. B. „in Einem
Jahr,“ vorausgeſetzt daß der Ver-
trag am 1. März 1839 geſchloſſen
wird, indem nämlich das Heute,
worauf ſich dieſe Beſtimmung be-
zieht, ſelbſt gewiß und bekannt
iſt. Eben ſo: „drey Jahre nach
meinem Tode,“ weil zu der Zeit,
worin das Teſtament wirkſam
wird, der Todestag völlig gewiß
und bekannt ſeyn muß.
|0218 : 206|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
umgekehrt der Kalendertag auffaſſen als ein Ereigniß,
naͤmlich als der Eintritt eben dieſes beſtimmten Tages,
ſo daß alſo beide Arten einſchränkender Nebenbeſtimmung
oft in einander zu fließen ſcheinen. Da jedoch für Zeit
und Bedingung ganz verſchiedene Regeln aufgeſtellt ſind,
ſo iſt es vor Allem nöthig, eine ſcharfe Gränze zwiſchen
beiden zu ziehen. Auf die in den Rechtsgeſchäften ge-
brauchten Ausdrücke können wir gar nicht bauen, denn
obgleich jede unter jenen Nebenbeſtimmungen ihre eigen-
thümlichen Ausdrücke hat, ſo herrſcht doch darin oft eine
regelloſe Abwechslung (d). Die wahre Gränze aber iſt
dahin zu beſtimmen: die Bedingung knüpft ſich an ein
ungewiſſes Ereigniß (§ 116), die Zeitbeſtimmung an ein
gewiſſes. Jeder künftige Kalendertag nämlich iſt ohne-
hin gewiß; manche Ereigniſſe aber ſind es nicht minder,
vorzüglich für jeden Menſchen der Tod. Wird alſo der
Anfang eines Rechtsverhältniſſes auf die Todeszeit des
Berechtigten, oder des Verpflichteten, oder eines Dritten
geſtellt (cum morietur), ſo iſt dieſes im Allgemeinen we-
gen der Gewißheit dieſes Todes, nicht als Bedingung,
ſondern als dies anzuſehen; und zwar beſteht die beſondere
Regel, daß darunter ſtets der letzte Augenblick des Lebens,
oder die Zeit unmittelbar vor dem Tode zu verſtehen iſt (e).
(d) Bey den Römern werden
hier verſchiedene Partikeln ge-
braucht: si für die Bedingung,
cum für den dies. Aber die
alten Juriſten erkennen ſelbſt die
gänzliche Unzuverläſſigkeit dieſer
Ausdrücke. L. 45 § 3 de V. O.
(45. 1.).
(e) Denn Sterben iſt eine Thä-
tigkeit, weshalb nur der noch Le-
bende ſterben kann, nicht der
Todte. L. 18 § 1 L. 61 de man.
|0219 : 207|
§. 125. Zeitbeſtimmung.
Dieſe relative Art der Zeitbeſtimmung hat jedoch auch noch
ein ungewiſſes Element, das Verhältniß des Ereigniſſes zu
der feſten, allgemeinen Zeitreihe, welches neuere Schrift-
ſteller die quaestio quando nennen. Doch iſt ſie darum
nicht minder, ihrem Begriffe nach, den Bedingungen ſcharf
entgegengeſetzt.
Dagegen iſt jedes ungewiſſe Ereigniß, ſchon ſeinem
Begriffe nach, eine wahre, eigentliche Bedingung, ſelbſt
wenn es durch die dabey gebrauchten Ausdrücke den täu-
ſchenden Schein einer Zeitbeſtimmung an ſich tragen ſollte.
Wer z. B. Etwas „an ſeinem Hochzeitstage“ zu
geben verſpricht, der verſpricht eigentlich unter der Be-
dingung, wenn er in die Ehe treten ſollte, und dieſe erhält
nur durch die woͤrtliche Faſſung den Schein eines dies.
Es kann dabey jedoch noch der beſondere Fall eintreten,
daß mit der Bedingung auch ein Kalendertag verbunden
wird. Geſetzt, es iſt Einer am 1. März 1825 geboren,
und es wird ihm Etwas verſprochen: „am Tage ſeiner
Volljährigkeit,“ ſo heißt das ſo viel als: Am 1. März
1850, vorausgeſetzt daß alsdann Jener noch lebt (f).
test. (40. 4.), L. 107 § 1 de
leg. 1 (30. un.), Gajus II. § 232,
III. § 100. Die Erheblichkeit die-
ſer Regel wird ſich ſogleich in
mehreren Anwendungen zeigen.
(f) L. 22 pr. quando dies
(36. 2.) „quoniam non solum
diem, sed et conditionem hoc
legatum in se continet.” Alſo
ſind hier beide Arten der Be-
ſchränkung wirklich vorhanden und
vereinigt. — Unter die als dies
ausgedrückte Bedingung gehörte
auch der, bey den Römern ſo
wichtige, Fall, wenn ein Latinus
Junianus, oder ein Eheloſer, auf
die Zeit ſeiner Capacität (d. h.
alſo unter der Bedingung der-
ſelben) eingeſetzt wurde. L. 62
pr. de her. inst. (28. 5.). L. 51
|0220 : 208|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Es ergeben ſich hieraus für die als Zeitbeſtimmung
ausgedrückte Zuſätze der Rechtsgeſchäfte Vier mögliche
Combinationen, die von neueren Schriftſtellern auf folgende
Weiſe ausgedrückt zu werden pflegen:
Dies certus für die quaestio an, certus für quando.
Dies certus für die quaestio an, incertus für quando.
Dies incertus für die quaestio an, certus für quando.
Dies incertus für die quaestio an, incertus für quando.
Für den erſten und vierten Fall iſt die Bezeichnung un-
zweifelhaft; der zweyte und dritte dagegen könnten, wegen
ihrer gemiſchten Natur, bald als certus, bald als incertus
dies, bezeichnet werden, es ſcheint indeſſen daß die alten
Juriſten hier vorzugsweiſe dieſen letzten Ausdruck gebraucht,
und unter certus dies meiſt den Kalendertag verſtanden
haben (Note h, und § 126. c. e. h.).
Der dritte und vierte Fall nun gehören, wie ſchon be-
merkt, wegen der Ungewißheit des Ereigniſſes, gar nicht
unter die Zeitbeſtimmungen; ſie ſind wahre Bedingungen,
welchen hoͤchſtens der falſche Schein eines dies durch den
ungenauen Ausdruck gegeben worden iſt. Bey dem vierten
Fall insbeſondere iſt dieſes ohne Ausnahme anerkannt (g).
de leg. 2. (31. un.). Ohne dieſe
wohlthätige Vorſorge war ihm
die Erbſchaft oder das Legat ver-
loren, wenn er nicht ſpäteſtens
100 Tage nach des Erblaſſers Tod
die Capacität erlangt hatte (Ul-
pian XVII. § 1). Jetzt konnte
dieſes auch nach vielen Jahren
geſchehen, weil ihm, wegen der
Bedingung, die Erbſchaft nicht
früher deferirt war.
(g) So z. B. „zur Zeit, in
welcher Jemand eine Ehe ſchlie-
ßen, oder ein Amt erlangen wird.“
L. 21 pr. quando dies (36. 2.),
L. 56 de cond. ind. (12. 6.),
L. 8 C. de test. manum. (7. 2.).
|0221 : 209|
§. 125. Zeitbeſtimmung.
Bey dem dritten Fall gilt zwar allerdings auch dieſelbe
Regel, ſo daß alſo z. B. ein auf die Pubertät oder die
Volljährigkeit eines Dritten geſtelltes Legat völlig als ein
bedingtes zu beurtheilen iſt (h). Jedoch giebt es von dieſer
Regel natürliche Ausnahmen, wenn nämlich aus den Um-
ſtänden ſicher hervorgeht, daß der Urheber dieſe Neben-
beſtimmung lediglich aus Vorſorge für den Berechtigten,
alſo zu deſſen Vortheil, und nicht zur Beſchränkung der
Rechte deſſelben, gegeben hat; dann gilt das Rechtsver-
hältniß als ein unbedingtes, das heißt es wird jene Ne-
benbeſtimmung als Kalendertag behandelt, der nur indirect
bezeichnet iſt, nämlich durch Beziehung auf ein Ereigniß,
welches freylich ſeiner Natur nach auch wohl ganz aus-
fallen kann (i). Hier wirkt alſo ausnahmsweiſe das in
jenem dritten Fall enthaltene Element der Gewißheit, und
zwar nicht als ob dann die regelmäßige Natur dieſes
Falles verkannt oder unrichtig behandelt würde, ſondern
wegen der durch die Umſtände gerechtfertigten Interpre-
tation des wahren Willens, die ja überall vorwalten ſoll
(§ 118. a). Nur in Einem Fall gilt dieſelbe Ausnahme
(h) L. 21 pr. L. 22 pr. quando
dies (36. 2.), L. 36 § 1 de cond.
(35. 1.), L. 49 § 2. 3 de leg. 1
(30. un.). — In der erſten der
angeführten Stellen wird ein ſol-
cher Tag dies incerta genannt.
(i) L. 46 ad Sc. Treb. (36. 1.),
L 5 C. quando dies (6. 53.).
Vgl. auch L. 18 § 2 de alim.
leg. (34. 1.) (§ 119. 5.), und
Averanius Interpr. II. 16 Num.
12. sq. — Es iſt natürlich, daß
eine ſolche günſtige Interpretation
vorzugsweiſe angenommen wird,
wenn ein Teſtator ſeinen Kindern
Etwas zuwendet; ferner vorzugs-
weiſe bey den, beſonders im äl-
teren Recht, ohnehin freyer be-
handelten Fideicommiſſen.
III. 14
|0222 : 210|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
auch ohne ſolche individuelle Gründe einer abweichenden
Interpretation, nämlich bey der teſtamentariſchen Freylaſ-
ſung (§ 119. q); hier gründet ſich die Ausnahme auf eine
der vielen ganz poſitiven Begünſtigungen der Freyheit.
Nachdem dieſe Fälle beſeitigt ſind, in welchen nur der
Schein eines dies, das Weſen einer Bedingung enthalten
iſt, bleibt nun noch die nähere Betrachtung der zwey Fälle
des wahren dies übrig; die zeitliche Beſchränkung des
Rechtsverhältniſſes vermittelſt eines Kalendertags, und die
vermittelſt eines gewiſſen, das heißt nothwendig irgend
einmal eintretenden Ereigniſſes.
§. 126.
III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung).
I. Die Beſchränkung des Rechtsverhältniſſes durch ei-
nen Kalendertag, von welchem es erſt anfangen ſoll,
hat den Sinn, daß das Recht ſelbſt ſogleich erworben,
die Ausübung deſſelben aber bis zu jenem Tage aufge-
ſchoben werde. — Betrachten wir das Verhältniß einer
ſolchen Beſtimmung zu dem Bewußtſeyn des Berechtigten,
ſo finden wir darin gar nichts Unklares. Er kennt nicht
nur das Daſeyn des Rechts, ſondern auch ganz genau
deſſen Umfang und Werth. Es läßt ſich ſogar durch eine
Discontorechnung der gegenwärtige Werth ausmitteln, ja
ſelbſt der augenblickliche Genuß durch Verkauf um dieſen
ſicheren Werth bewirken. Daher wird die in dieſer Be-
|0223 : 211|
§. 126. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)
ſtimmung liegende Gewißheit nicht einmal durch einen ſo
entfernten Zeitpunkt ausgeſchloſſen, welchen der Berechtigte
ſelbſt unmöglich erleben kann (a); denn dieſer Umſtand
hindert ihn nicht, ein ſolches Recht in alle ſeine Berech-
nungen und Verfügungen über die Zukunft mit aufzunehmen.
Es bleibt nur noch übrig, dieſen Grundſatz auf die
wichtigſten einzelnen Rechtsverhältniſſe, worin ein Kalen-
dertag vorkommen kann, anzuwenden.
A. Bey der Erbeinſetzung kann eine ſolche Beſchränkung
deswegen nicht zur Ausführung kommen, weil nach dem
Tode weder eine Zeit ohne Vertretung des Verſtorbenen,
noch eine Abwechslung geſetzlicher und teſtamentariſcher
Erbfolge, zuläſſig iſt. Daher gilt eine ſolche Beſchränkung
hier als nicht geſchrieben, und das Erbrecht gilt vom Tode
an (b). Dieſes ſcheint ſonderbar, da doch die weit unge-
wiſſere Bedingung als eine wirkſame Beſchränkung zuge-
laſſen wird. Dabey aber gleicht ſich Alles dadurch aus,
daß die erfüllte Bedingung auf die Todeszeit zurückgeführt
wird (§ 120); wollten wir nun dieſe Zurückführung auch
hier vornehmen, ſo würde das genau auf denſelben Erfolg
führen, der jetzt wirklich dadurch eintritt, daß der dies als
nicht geſchrieben gilt.
B. Bey Legaten kommt der Kalendertag unbedenklich
zur Ausführung, ſo daß das Recht auf das Legat vom
(a) So z. B. der Vertrag über
eine Zahlung nach Hundert Jah-
ren. L. 46 pr. de V. O. (45. 1.).
— Ein Legat, Hundert Jahre
nach des Teſtators Tod zahlbar.
L. 21 pr. quando dies (36. 2.).
(b) § 9 J. de her. inst. (2. 14.),
L. 34 de her. inst. (28. 5.).
14*
|0224 : 212|
Buch. II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Tode an erworben wird (dies cedit), und nur der Genuß
(das dies venit) aufgeſchoben bleibt. Die ſtreng perſönliche
Natur aller durch einen Todesfall bedingten Succeſſionen
(§ 118) hindert dieſes nicht, da der Legatar das Legat,
auch wenn er ſelbſt den Genuß nicht erlebt, dennoch in
ſeine Verfügungen mit Sicherheit aufnehmen kann.
C. Noch weniger zweifelhaft iſt die völlige Wirkſamkeit
des Kalendertags bey Verträgen.
II. Die Beſchränkung auf den Zeitpunkt eines gewiſ-
ſen Ereigniſſes, das heißt eines ſolchen, welches ir-
gend einmal nothwendig eintreten muß, hat ein anderes
Verhältniß zum Bewußtſeyn des Berechtigten, indem dieſem
der gegenwärtige Werth und Umfang des Rechts völlig
unklar iſt, ſo daß er es nicht mit Sicherheit in ſeine Ver-
fügungen über die Zukunft aufnehmen kann. Dieſes un-
gewiſſe Element der Nebenbeſtimmung wird bei Teſtamen-
ten, wegen der ganz perſönlichen Natur der Succeſſionen
(§ 118), als überwiegend betrachtet, und verwandelt den
dies in eine Bedingung, nämlich in die Bedingung des
Erlebens eines ſolchen Tages (c); bei Verträgen, in wel-
chen jene perſönliche Natur des Rechts nicht angenommen
(c) L. 75 de cond. (35. 1.)
„Dies incertus conditionem in
testamento facit.” Das in te-
stamento deutet auf eine entge-
gengeſetzte Behandlung der Ver-
träge, die in dieſem Fall auch
wirklich eintritt. Dadurch aber
wird es zugleich nothwendig, die
Stelle nur auf dieſen Fall zu
beziehen, und nicht auf die wahr-
haft ungewiſſen Ereigniſſe, die
auch in Verträgen als Bedin-
gungen gelten. Daraus folgt
aber ferner, daß in dieſer Stelle
dies incertus zur Bezeichnung
eines gewiſſen (nur bald frü-
her, bald ſpäter eintretenden)
Ereigniſſes gebraucht wird.
|0225 : 213|
§. 126. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)
wird, bleibt das gewiſſe Element überwiegend, die Neben-
beſtimmung kommt als dies (was ſie ihrem Begriff nach
in der That iſt) rein zur Ausführung, und der Vertrag
iſt unbedingt.
A. Bey der Erbeinſetzung alſo wird eine Zeitbeſtimmung
ſolcher Art verwandelt in die Bedingung, „wenn der ein-
geſetzte Erbe den Eintritt des Ereigniſſes erleben ſollte“ (d).
B. Ganz eben ſo wird in der Regel auch ein dergeſtalt
gegebenes Legat behandelt. Es iſt alſo bedingt dadurch,
daß der Legatar das Ereigniß erlebe, und ſtirbt er früher,
ſo geht davon auf ſeine Erben Nichts über (e). — Nur
in einem Fall iſt es anders, wenn das Ereigniß von der
Art iſt, daß es der Legatar nothwendig erleben muß. Die-
ſes gilt von dem Legat auf die Todeszeit des Legatars
(cum ipse morietur); denn dieſes iſt gemeynt von der
Zeit unmittelbar vor dem Tode (§ 125), welche jeder
Menſch gewiß erlebt. Daher iſt ein ſolches Legat purum,
und das Recht darauf wird unwiderruflich erworben mit
(d) L. 9 C. de her. inst. (6. 24.).
(e) So z. B. heres cum mo-
rietur dato. L. 1 § 2, L. 79 § 1
de cond. (35. 1.), L. 12 § 1 de
leg. 2 (31. un.), L. 4 pr. L. 13
in f. quando dies (36. 2.). In
der erſten und dritten der hier
angeführten Stellen heißt wieder
ein ſolcher Tag incertus. — Eben
ſo iſt es unzweifelhaft, wenn das
Legat auf den Tod eines Dritten
geſtellt wird. — Anders wenn
der Teſtator ſagt: cum ipse mo-
riar. Ein ſolches Legat iſt ganz
ungültig, weil Niemand durch
Teſtament Etwas bewirken kann,
das vor ſeinem Tod geſchehen
müßte, ſondern nur post mor-
tem; nur die Freylaſſung wurde
in einem ſolchen Fall durch be-
ſondere Begünſtigung aufrecht er-
halten. L. 18 § 1 de man. test.
(40. 4.). Im Sinn des Juſti-
nianiſchen Rechts iſt es aber un-
ſtreitig, auch bey dem Legat den
ungeſchickten Ausdruck zu beſeiti-
gen, und es ſo anzuſehen, als ob
es hieße post mortem meam.
|0226 : 214|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
dem Tode des Teſtators (f). Selbſt wenn man es als
Bedingung anſehen wollte, ſo würde der Erfolg derſelbe
ſeyn, da die Bedingung eine nothwendige wäre, neben
welcher das Legat unbedingt bleibt (§ 121. g). Auch iſt
dieſes keine bloße Spitzfindigkeit, ſondern es hat einen
guten praktiſchen Sinn, indem der Legatar, wenngleich er
ein ſolches Legat gewiß nicht ſelbſt genießt, es doch unter
die, Jedem beſonders wichtigen, Verfügungen für ſeine
Erben ſicher aufnehmen kann.
C. Der Vertrag iſt, ungeachtet einer ſolchen Nebenbe-
ſtimmung, ein unbedingter, und die Beſchränkung gilt ganz
als dies. Die Ungewißheit des gegenwärtigen Werthes
der Leiſtung ſteht hier nicht im Wege, da dieſe eben ſo
bey jedem gewagten Geſchäfte vorkommt, welches darum
gar nicht nothwendig ein bedingtes zu ſeyn braucht. —
Der praktiſche Einfluß jener Regel zeigt ſich bey der con-
dictio indebiti. Hier gilt im Allgemeinen der Grundſatz,
daß die auf einen Kalendertag geſtellte Schuld, wenn ſie
vor dieſem Tage bezahlt wurde, nicht zurückgefordert wer-
den kann, wohl aber die bedingte, vor erfüllter Bedingung
gezahlte Schuld (g). Die Schuld nun, welche auf ein
gewiſſes Ereigniß geſtellt iſt, hat ganz die Natur einer
Schuld auf den Kalendertag, nicht die einer bedingten:
(f) L. 79 pr. de cond. (35. 1.),
L. 4 § 1 quando dies (36. 2.).
(g) L. 10 L. 16 pr. L. 56 de
cond. ind. (12. 6). Es verſteht
ſich von ſelbſt, daß auch bey der
bedingten Schuld die Condictio
indebiti wegfällt, wenn nur vor
ihrer Anſtellung die Bedingung
erfüllt wird. L. 16 pr. cit.
(Note h).
|0227 : 215|
§. 126. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)
ſie kann alſo nicht zurückgefordert werden, auch wenn die
Zahlung vor dem eingetretenen Ereigniß erfolgte (h).
Iſt die Beobachtung des Anfangstermins unmöglich,
ſo wird ein ſolcher Fall auf die natürlichſte Weiſe, ohne
poſitive Modification, behandelt. Das Rechtsverhältniß
bleibt ohne Anfang, das heißt es entſteht gar nicht, und
zwar gilt dieſes nicht nur bey Verträgen, ſondern auch
bey Teſtamenten. Hierin unterſcheidet ſich alſo die Zeit-
beſtimmung von der Bedingung, und der Grund dieſes
(h) Die entſcheidende Stelle
ſteht in folgendem Zuſammen-
hang: L. 16 pr. de cond. ind.
(12. 6.) „Sub conditione debi-
tum, per errorem solutum, pen-
dente quidem conditione repe-
titur: conditione autem exis-
tente repeti non potest. — § 1.
Quod autem (Hal. etiam) sub
incerto die debetur, die exsi-
stente non repetitur. — L. 17:
Nam si cum moriar dare pro-
misero, et antea solvam, repe-
tere me non posse Celsus ait:
quae sententia vera est.” Un-
ter dieſen drey Sätzen iſt der
erſte und dritte unzweifelhaft: der
erſte betrifft die Bedingung, der
dritte ein gewiſſes Ereigniß, und
indem dabey die Condiction auch
für die Zeit vor dem eintretenden
Tag verworfen wird, (denn mir
wird ja die Condiction verweigert,
alſo muß ich wohl noch nicht ein
Sterbender ſeyn, ſonſt könnte ich
nicht klagen wollen), ſo iſt damit
der im Text aufgeſtellte Satz be-
wieſen. Zweifelhaft iſt der zweyte
Satz (§ 1), wegen der Zweydeu-
tigkeit des incertus dies. Cu-
jacius obs. XIII. 20 läßt ſich
durch das autem verleiten, dieſen
Satz mit dem dritten (L. 17)
für identiſch zu halten, und will
daher im § 1 emendiren pendente
oder non existente, welches ganz
verwerflich iſt. Haloanders etiam
entfernt jenen Grund, und das
Nam in L. 17 braucht nicht als
Beſtätigung des § 1 gedacht zu
werden, ſondern kann auch eine
adverſative Bedeutung haben.
Dann iſt der ganze Zuſammen-
hang folgender: L. 16 § 1. „Eben
ſo, wie mit der Bedingung, iſt
es auch mit einem (ganz) unge-
wiſſen Tage (z. B. si nupsero),
ſo daß auch hier die Condiction
nur erſt nach eingetretenem
Tage wegfällt.“ L. 17 „Denn
nur bei einem gewiſſen Tage,
wie cum moriar, kann man ſa-
gen, daß die Condiction durchaus
nicht gilt, auch wenn ſie vor jenem
Tage angeſtellt werden ſollte.“
|0228 : 216|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Unterſchieds iſt ſchon oben (§ 124) angegeben worden. —
Die Unmoͤglichkeit kann nun gegründet ſeyn in der Natur
der Handlung, worauf das Rechtsverhältniß gerichtet iſt,
ſo z. B. wenn Einer verſpricht, unmittelbar vor ſeinem
Tode (cum morietur) nach Alexandrien zu kommen (i).
Sie kann aber ferner gegründet ſeyn in der Beſchaffenheit
des Rechtsverhältniſſes ſelbſt, und dahin gehören folgende
Fälle. Wenn der Niesbrauch gegeben wird für die Zeit
unmittelbar vor dem Tode des Fructuars, ſo iſt er un-
möglich, weil er gleich in dem folgenden Augenblick wieder
aufhören muß, alſo niemals genoſſen werden kann (k).
Eben ſo war es, wenn einem Sklaven im Teſtament die
Freyheit gegeben wurde für die Zeit ſeines Todes, oder
für eine ſo entfernte Zeit, daß er ſie gar nicht erleben
konnte (l); denn die Freyheit hat nur Werth, inſofern ſie
(i) L. 46 § 1 de V. O. (45. 1.).
Man möchte einwenden, der Ster-
bende ſey eben ſo wenig fähig
Geld zu zahlen. Allein dieſe Hand-
lung, als etwas Momentanes, iſt
von Seiten des Sterbenden we-
nigſtens nicht undenkbar, und
kann in jedem Fall von dem Er-
ben nachgeholt werden, ohne ihren
Werth und Character zu verän-
dern, jene verſprochene Reiſe war
etwas ganz Perſönliches. Iſt die
für die Todeszeit verſprochene
Handlung zwar auch zeitraubend,
aber nicht perſönlich, wie z. B.
ein Hausbau, ſo war die Stipu-
lation auch ungültig, da nur der
Erbe ſie erfüllen konnte: Juſti-
nian geſtattete ſie, ſo wie die
post mortem. L. 15 C. de contr.
et comm. stip. (8. 38.).
(k) L. 51 de usufructu (7. 1.),
L. 5 de usu et usufr. leg. (33. 2.).
— Außerdem konnte ein Nies-
brauch gegeben werden ex die,
wenigſtens gewiß durch Legat;
bey den andern Entſtehungsarten
war die Möglichkeit wegen der
beſondern Form derſelben ſtreitig
(Fragm. Vat. § 49. 50), für das
neueſte Recht iſt es gewiß möglich.
(l) L. 4 § 1 de statulib. (40.7.),
L. 17 pr. L. 61 pr. de man. test.
(40. 4.), L. 107 § 1 de leg. 1
(30. un.) — Über L. 4 § 1 cit.
vgl. oben § 124. d. i., und § 121. t.
|0229 : 217|
§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)
von dem Sklaven ſelbſt genoſſen wird, anſtatt daß Geld
oder Geldeswerth auch den Erben zu gut kommt, und daher
unter jenen Zeitbeſtimmungen allerdings gültig gegeben wer-
den kann. Endlich iſt hierauf zu beziehen das alte Verbot,
Stipulationen zu ſchließen auf die Zeit post mortem des
Gläubigers oder Schuldners (m), desgleichen Legate zu
geben post mortem des Erben (n), welche Einſchränkungen
Juſtinian aufgehoben hat (o).
Eine unſittliche Zeitbeſtimmung kann nicht vorkommen,
da alle Unſittlichkeit freye Handlungen vorausſetzt, welche
bevor ſie geſchehen ſtets ungewiß ſind, anſtatt daß die
wahre Zeitbeſtimmung nur auf gewiſſe Ereigniſſe gegründet
ſeyn kann.
§. 127.
III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)
Es bleibt nun noch übrig, von dem Endtermin (ad
diem) zu ſprechen; mit dieſem aber iſt die Reſolutivbedin-
(m) Gajus III. § 100. — Die
Stipulation cum moriar, oder
cum morieris ſcheint immer gül-
tig geweſen zu ſeyn. § 15 J. de
inut. stip. (3. 19.), Fr. Vat.
§ 98, L. 20 L. 76 de j. dot.
(23. 3.), L. 67 § 6 de leg. 2,
L. 32 pr. ad. L. Falc. (35. 2.),
L. 45 § 1. 3 L. 121 § 2 de V.
O. (45. 1.), L. 4 C. de contr.
et comm. stip. (8. 38.). Der
einzige Widerſpruch, Gajus III.
§ 100, dürfte wohl auf einer fal-
ſchen Leſeart beruhen. Huſchke
Studien I. 279.
(n) Post mortem verboten,
cum heres morietur erlaubt.
Gajus II. § 232, Ulpian. XXIV.
§ 16. Bei Fideicommiſſen auch
post mortem erlaubt. Gajus II,
§ 277, Ulpian. XXV. §. 8.
(o) § 13 J. de inut. stip. (3.
19.), L. 11 C. de contr. et comm.
stip. (8. 38.). — § 35 J. de le-
gatis (2. 20.), L. 11. C. cit.
|0230 : 218|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
gung nahe verwandt, und nur indem hier beide Rechtsin-
ſtitute zuſammengefaßt werden, iſt es möglich, für die
Reſolutivbedingung Dasjenige, was oben (§ 120) ausge-
ſetzt bleiben mußte, auf befriedigende Weiſe nachzuholen.
Beide ſollen nunmehr in Anwendung auf die wichtigſten
Rechtsverhältniſſe betrachtet werden.
A. Die Erbeinſetzung kann weder durch Reſolutivbe-
dingung, noch durch Endtermin, begränzt werden, das
heißt jede Nebenbeſtimmung dieſer Art wird als nicht ge-
ſchrieben betrachtet (§ 126. b). Der Grund liegt darin,
daß das einmal erworbene Erbrecht überhaupt nicht wie-
der aufhören kann (a). Die praktiſche Wichtigkeit dieſes
Satzes iſt jedoch durch die Einführung der Fideicommiſſe
ſehr vermindert worden, indem nun der Teſtator ſeinen
Zweck dadurch großentheils erreichen kann, daß er den
eingeſetzten Erben verpflichtet, die Erbſchaft unter einer
(a) L. 88 de her inst. (28. 5.)
„.. cum autem semel heres
exstiterit servus, non potest
adjectus efficere, ut qui semel
heres exstitit, desinat heres
esse.” — L. 3 § 2 de liberis
(28. 2.) „.. hujusmodi exhere-
datio vitiosa est, quoniam post
aditam hereditatem voluit eum
summotum, quod est impossi-
bile.” — L. 3 § 10 de minor.
(4. 4.) „… sine dubio heres
manebit, qui semel exstitit.”
Endlich auch L. 15 § 4 de test.
mil. (29. 1.), wo das Entgegen-
geſetzte als ein beſonderes Vor-
recht der Soldaten angegeben
wird. — Die Neueren drücken
das ſo aus: Semel heres, sem-
per heres. — Über die Unan-
wendbarkeit der Reſolutivbedin-
gung iſt auch eigentlich kein Streit,
nur iſt neuerlich von Mehreren
behauptet worden, eine ſolche müſſe
dadurch künſtlich aufrecht erhalten
werden, daß man ſie in die um-
gekehrte Suspenſivbedingung ver-
wandle, und ſo den Willen auf-
recht erhalte. Allein auch dieſe
Behauptung iſt unhaltbar. Vgl.
Sell S. 254 und die von ihm
angeführten Schriftſteller.
|0231 : 219|
§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)
Suspenſivbedingung, oder nach einer beſtimmten Zeit, an
den Inteſtaterben zu reſtituiren.
B. Bey Legaten war es nach dem älteren Recht gleich-
falls unmöglich, das Ende des Rechts durch Reſolutivbe-
dingung oder durch Zeitbeſtimmung herbeyzuführen, und
dieſer Satz konnte auf zweyerley Weiſe zur Anwendung
kommen:
1) Wenn innerhalb der beſtimmten Zeit der Legatar
(auf ein damnationis legatum) nicht geklagt hatte, ſo ſollte
dennoch die Verpflichtung des Erben nicht (wie durch eine
Art von Verjährung) erloſchen ſeyn (b). Schon zur Zeit
der klaſſiſchen Juriſten aber wurde ohne Zweifel der Klage
eine doli exceptio entgegengeſtellt, eben ſo wie es bey der
Stipulation ausdrücklich bezeugt wird (Note f).
2) War das damnationis legatum bereits erfüllt, oder
war es ein vindicationis legatum, ſo ſollte nicht etwa das
Legat, durch den Eintritt der Bedingung oder des Tages,
an den Erben zurück fallen. Dieſer Satz beruhte nicht
blos auf einer vom Teſtator verfehlten Form, denn es
konnte gar nicht der Legatar mit der Entrichtung eines
neuen Legats (welches in dieſer Rückgabe enthalten gewe-
ſen wäre) onerirt werden (c). Durch die Einführung der
Fideicommiſſe fiel dieſe letzte Beſchränkung hinweg (d), und
(b) L. 55 de leg. 1 (30. un.)
„.. nec tempore .. aut condi-
tione finiri obligatio heredis
legatorum nomine potest.” —
L. 44 § 1 de O. et A. (44. 7.)
„.. Placet enim ad tempus obli-
gationem constitui non posse:
non magis quam legatum.”
(c) Ulpian. XXIV. § 20, Ga-
jus II. § 271.
(d) Gajus II. § 271.
|0232 : 220|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
nun war es blos ein Fehler in der Form, wenn jener
Rückfall an den Erben nicht ſtatt fand, da ihn der Teſta-
tor durch die für Fideicommiſſe eingeführten Ausdrücke un-
bedenklich bewirken konnte. Daher war es ganz conſe-
quent, daß Juſtinian verordnete, ein ſolcher Formfehler
ſolle niemals ſchaden, indem ein ſolches Legat immer ſo
ausgelegt werden ſollte, als wäre, für den Fall der Be-
dingung oder für den beſtimmten Tag, die Rückgabe an
den Erben als Fideicommiß auferlegt (e).
C. Auch Verträge ſollten nicht ſo eingerichtet werden,
daß die Obligation durch Bedingung oder Zeit zu wirken
aufhörte, und auch dieſe Regel war in denſelben zwey
Bedeutungen anzuwenden, welche ſchon bey den Legaten
erklärt worden ſind.
1) Verſprach alſo Jemand eine Zahlung dergeſtalt,
daß die Klage zwar zunächſt wirkſam ſeyn, mit dem Ein-
tritt einer Bedingung oder eines beſtimmten Tages aber
(wie durch eine Art von Verjährung) wegfallen ſollte, ſo
war dennoch die Klage auch nach jenem Zeitpunkt gültig;
dieſe buchſtäbliche, die Abſicht verletzende, Strenge wurde
jedoch ſpäterhin gemildert durch Zulaſſung einer doli oder
pacti exceptio (f).
(e) L. 26 C. de leg atis (6. 37.),
welche gewiß eben ſowohl auf Re-
ſolutivbedingung, als auf dies,
geht. Vgl. Sell S. 258. —
Hier alſo, wie auch anderwärts,
iſt Juſtinian, in der Beſeitigung
formeller Schwierigkeiten des äl-
teren Rechts, bey Legaten weiter
gegangen als bey der Erbein-
ſetzung; und nicht ohne Grund.
(f) Für die obligatio ad diem
ſagt dieſes § 3 J. de V. O. (3. 15.),
L. 56 § 4 de V. O. (45. 1.),
L. 44 § 1 de O. et A. (44. 7.),
|0233 : 221|
§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)
2) War der Vertrag bereits erfüllt, ſo daß die ein-
tretende Zeit oder Bedingung den Rückfall des Gegebenen
hätte herbeyführen müſſen, ſo ſollte auch dieſer Rückfall
nicht eintreten. Gegen dieſe Folge aber half ohne Zwei-
fel die condictio ob causam datorum (hier zuſammen fal-
lend mit der actio praescriptis verbis), deren Princip auf
einen Fall dieſer Art vollkommen anwendbar iſt.
Bey den Verträgen nun iſt es einleuchtend, daß dieſe
ſtrenge Ausſchließung von Zeit und Bedingung nicht (wie
früher bey den Legaten) in einer durch das Rechtsverhält-
niß ſelbſt herbeygeführten Unmöglichkeit, ſondern lediglich
in einem Formfehler, gegründet war. Denn unbedenklich
konnte auch ſchon in alter Zeit der Zweck erreicht werden,
wenn nur das Aufhören der Obligation, oder der Rück-
fall des Gegebenen, in einer hinzugefügten zweyten, unter
Suspenſivbedingung oder ex die geſchloſſenen, Stipulation
verſprochen wurde, oder auch (bey dem dies) durch bloße
Hinzufügung der Suspenſivbedingung „si intra quinquen-
nium petiero.” Die Ungültigkeit lag alſo blos an einem
Mangel der Form, und dagegen eben ſollte die doli oder
pacti exceptio ſchützen. Aber eben deshalb konnte die Un-
gültigkeit niemals behauptet werden, und es bedurfte gar
für die Reſolutivbedingung L. 44
§. 2 eod. (vgl. über dieſen §.
Göschen obsf. j. Rom. p. 66).
Der Grund dieſer Einſchränkung
wird in L. 44 § 1 cit. ſo ausge-
drückt: „Nam quod alicui de-
beri coepit, certis modis desi-
nit debere;” das heißt: der dies
gehört nicht zu den unabänderlich
beſtimmten Tilgungsarten der
Obligationen, und kann nicht
durch Privatwillkühr dieſen Cha-
racter mitgetheilt bekommen.
|0234 : 222|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
nicht der nachhelfenden Exception, bey denjenigen Verträ-
gen, welche gar keiner beſchränkenden Form unterworfen
waren, ſondern nur nach der wahren Abſicht der Parteyen
beurtheilt wurden, alſo vorzüglich bey den Conſenſualcon-
tracten. In der That ſpricht die Stelle, worin von der
alten Strenge berichtet wird (Note f), lediglich von der
Stipulation. Dagegen war von jeher eine höchſt gewöhn-
liche und ganz unzweifelhafte Form des Miethcontracts
die auf beſtimmte Jahre gerichtete, mit deren Ablauf doch
gewiß die Verpflichtung des Vermiethers aufhört. Eben
ſo wird bey dem Kauf und bey der (ohne Stipulation
möglichen) Schenkung die völlige Wirkſamkeit der Reſolu-
tivbedingung auf eine Weiſe anerkannt, die keinem Ge-
danken an ſpäteres Recht, und an künſtliche Nachhülfe,
Raum läßt (§ 120. l. m). Dieſes alſo ſind die Fälle,
worauf ſich auch ſchon nach dem früheren Recht das in
ſeinen einzelnen Folgen völlig ausgebildete Inſtitut der
Reſolutivbedingungen bezog; namentlich die im Fall der
erfüllten Reſolutivbedingung ipso jure eintretende Rück-
kehr des Eigenthums zu dem früheren Eigenthuͤmer, mit
Vernichtung aller in der Zwiſchenzeit vorgenommen, bis
dahin gültigen, Veräußerungen (g).
(g) Einen Zweifel könnten er-
regen Juſtinians Worte in L. 26
C. de legatis (6. 37.) „Cum
enim jam constitutum sit, fieri
posse temporales donationes et
contractus,” welche allerdings
auf neueres Recht hindeuten. Al-
iein dieſe Worte gehen auf ſolche
Schenkungen und andere Con-
tracte, die durch Stipulation
geſchloſſen werden, und auf die
dabey zugelaſſene doli excep-
tio; ſie ſind alſo nur eine kurze
Verweiſung auf den ausführlichen
|0235 : 223|
§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)
Nachdem hier die eigentliche Bedeutung der nach frü-
herem Recht bey Legaten und Obligationen unzuläſſigen
Reſolutivbedingungen und Endtermine angegeben worden
iſt, muß noch eine ſehr eigenthümliche Anwendung derſel-
ben dargeſtellt werden. Verſpricht Jemand eine jährliche
Rente von Hundert, ſo wird dieſes betrachtet als eine ein-
fache, nur auf mehrere Zahlungen gerichtete, Stipulation,
die auf ewige Zeiten fortwirken ſoll (h). Wird dieſe Obli-
gation nun auf Fünf Jahre, oder auch auf Lebenszeit,
beſchränkt, ſo widerſpricht das der oben angegebenen Re-
gel, die Rente wird eine immerwährende, und gegen dieſe
Härte half man nur erſt ſpäter durch eine Exception (i).
Allerdings hätten die Contrahenten leicht und ſicher durch
eine andere Form des Vertrags die wahre Abſicht erreichen
können; man brauchte nur, anſtatt der fünfjährigen Rente,
überhaupt Fünfhundert verſprechen, und zwar in Fünf
Portionen ex die: oder, anſtatt der lebenslänglichen Rente,
viele einzelne Summen, und zwar jede ex die und zugleich
unter der ſuspenſiven Bedingung des Erlebens; dieſes Alles
war ja von jeher erlaubt. Allein bei den Stipulationen
ſollte nicht auf die Abſicht, ſondern auf die Worte, geſe-
Inhalt der L. 44 § 1. 2 de O.
et A. (44. 7.) und der anderen
in Note f. angeführten Stellen.
— Ein beſonderer Zweifel, in
Beziehung auf die Schenkung
allein, entſteht aus der Verglei-
chung der L. 2 C. de don. q. s.
modo (8. 55.) mit ihrer ſehr
abweichenden früheren Geſtalt in
Fr. Vat. § 283; das Verhältniß
dieſer beiden Texte zu einander
dürfte ſchwerlich ganz in’s Reine
zu bringen ſeyn.
(h) L 16 § 1 de V. O. (45. 1.),
L. 35 § 7 de m. c. don. (39. 6.).
(i) § 3 J. de V. O. (3. 15.).
|0236 : 224|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
hen werden, und ſo mußten der Schuldner und ſeine Er-
ben den Formfehler ſo lange büßen, bis die ſchützende
Exception erfunden war. Daß man nicht von jeher gegen
ſolchen Unſinn Schutz ſuchte, erklärt ſich ſehr natürlich
aus der Seltenheit ſolcher Stipulationen.
Anders verhielt es ſich mit Legaten von ähnlichem In-
halt, die in der That häufig vorkamen, und daher ein
praktiſches Bedürfniß der Abhülfe mit ſich führten. Die
Möglichkeit derſelben war durch den allgemeinen Grundſatz
gegeben, Legate überhaupt mehr nach der Abſicht als nach
dem Buchſtaben auszulegen (§ 118. a). Wußte man nun,
daß, wie gewöhnlich, die Abſicht dahin gieng, durch die
legirte Rente dem Legatar ſeinen perſönlichen Unterhalt
ganz oder theilweiſe zu verſchaffen, ſo wurde durch fol-
gende Interpretation für Alles geſorgt. Das Legat ſoll
gelten, als wären es mehrere: die erſte Jahresrente iſt
pure legirt, und wird mit des Teſtators Tod erworben;
jede folgende iſt an die Suspenſivbedingung gebunden,
wenn der Legatar den Tag, wo ſie fällig wird, erlebt (k).
Dadurch erreichte man einen doppelten Vortheil. Erſtlich
(k) L. 4 L. 8 de ann. leg.
(33. 1), L. 10 quando dies (36.
2.), ferner die Stellen in Note h.
— Bey einer Rente auf be-
ſtimmte Jahre iſt es eine factiſche
Frage, ob der Teſtator ſie als
eine alimentenartige Unterſtützung
(ſo wie die lebenslängliche) dachte,
oder vielmehr als eine gewöhn-
liche Zahlung, die nur zur Er-
leichterung in Termine zertheilt
iſt. Im erſten Fall wird ſie eben
ſo behandelt, wie die lebensläng-
liche, im zweyten Fall iſt es ein
einfaches Legat, welches ſogleich
ganz erworben wird, ſo daß auch die
nach des Legatars Tod fällig wer-
denden Termine an ſeinen Erben
zu zahlen ſind. L. 20 quando dies
(36. 2)., L. 3 pr. de annuis (33. 1.).
|0237 : 225|
§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)
verhinderte man die immerwährende Dauer der Rente, die
ja auch nicht in des Teſtators Abſicht lag; zweytens ent-
gieng man dem Verbot der zeitlichen Beſchränkung der
Legate, indem man nun nicht mehr mit einem einzelnen
Legat ad diem zu thun hatte, welches ungültig geweſen
wäre, ſondern mit vielen bedingten Legaten, welche gültig
waren.
D. Bey einigen dinglichen Rechten finden ſich folgende
ausdrückliche Beſtimmungen.
Prädialſervituten konnten durch Bedingung oder Zeit
nicht beendigt werden, ohne Zweifel weil die Natur ſolcher
Rechte auf immerwährende Dauer berechnet iſt; pacti und
doli exceptio ſchützt auch gegen dieſe buchſtäbliche Strenge (l).
Der Niesbrauch dagegen, als ein ohnehin vergängliches
Recht, konnte auch ſchon nach älterem Recht einer ſolchen
willkührlichen Beendigung unterworfen werden (m). Und
eben ſo auch das Pfandrecht, welches vermöge ſeiner neu-
eren Entſtehung, ohnehin weniger an die förmliche Strenge
des alten Rechts gebunden iſt (n).
Faſſen wir alle bisher dargeſtellten Anwendungen zu-
(l) L. 4 pr. de serv. (8. 1.),
L. 56 § 4 de V. O. (45. 1.).
Durch die Natur der in jure
cessio war dergleichen ohnehin
ausgeſchloſſen; es muß alſo dabey
entweder ein Legat vorausgeſetzt
werden, oder ein neben der in
jure cessio (vor oder nachher)
geſchloſſener beſonderer Vertrag.
(m) Fragm, Vat. § 48. 52,
L. 6 de usu et usufr. leg. (33. 2.),
L. 16 § 2 fam. herc. (10. 2.),
L. 12 pr. C. de usufr. (3. 33).
In dieſer letzten Stelle kommt
eine ähnliche Interpretation vor,
wie die in § 125. i. erwähnte;
hier aber mit umgekehrtem Er-
folg.
(n) L. 6 pr. quib. modis pign.
(20. 6.).
III. 15
|0238 : 226|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſammen, ſo ergiebt es ſich, daß Reſolutivbedingungen und
Endtermine faſt überall wirkſam ſeyn können, und daß die
früheren Beſchränkungen derſelben, mit Ausnahme der Erb-
einſetzung, für das heutige Recht faſt ſpurlos verſchwun-
den ſind.
Auch ein Endtermin läßt ſich ſo denken, daß die An-
wendung deſſelben unmoͤglich wird. Dann wird derſelbe
als nicht geſchrieben betrachtet, und das Rechtsverhältniß
bleibt von dieſer Seite her unbeſchränkt (o).
§. 128.
III. Willenserklärungen. — Modus (a).
Rechtsgeſchäfte, welche auf die Übertragung von Ver-
moͤgensrechten, alſo auf ein Geben, gerichtet ſind, können
zugleich Beſtimmungen über das fernere Schickſal des Em-
pfangenen, vermittelſt einer Verpflichtung des Empfängers,
in ſich aufnehmen. Die meiſten Beſtimmungen dieſer Art
gehören zum eigenthümlichen Inhalt der einzelnen Geſchäfte
ſelbſt, und es entſteht für ſie weder das Bedürfniß, noch
die Möglichkeit, ſie unter einen gemeinſamen Geſichtspunkt,
den Bedingungen und Zeitbeſtimmungen ähnlich, zu brin-
(o) So z. B. wenn ein Nies-
brauch auf Hundert Jahre legirt
wird, da der Legatar dieſe Zeit
gewiß nicht erlebt.
(a) Unter den oben (§ 116) im
Allgemeinen angeführten Rechts-
quellen gehören hierher beſonders:
Dig. XXXV. 1, Cod. VI. 45,
VIII. 55.
|0239 : 227|
§. 128. Modus.
gen. So z. B. wenn bey dem Darlehen die Rückgabe des
Geldes, oder vom Käufer bey Empfang der Sache die
Zahlung des Kaufpreiſes, verſprochen wird, ſo ſind das
weſentliche Theile dieſer Verträge: verſpricht der Käufer,
das erkaufte Haus, ſo lange der Verkäufer lebt, nicht zu
veräußern, oder dem Verkäufer darin drey Jahre lang
freye Wohnung zu geben, ſo liegen darin zufällige Neben-
verträge; in beiden Fällen dient die Contractsklage dazu,
dieſe Verpflichtungen zur Ausführung zu bringen. Indeſ-
ſen können manche Beſtimmungen dieſer letzten Art auch
in die Form von Bedingungen eingekleidet werden, und
wirken dann in anderer Weiſe (b).
Nur bey einigen Rechtsgeſchäften reichte dieſe Behand-
lungsweiſe nicht aus, und ſo iſt für dieſe eine beſondere
Art von Nebenbeſtimmungen, der Modus, ausgebildet wor-
den. Es ſind dieſes die teſtamentariſchen Verfügungen,
und die Schenkung; bey denſelben iſt zuvor das beſondere
Bedürfniß im Einzelnen nachzuweiſen, weil nur dadurch
ein feſter Standpunkt für das erwähnte Rechtsinſtitut ge-
wonnen werden kann.
1. Erbeinſetzung. Beſteht die Verpflichtung des Erben
darin, daß er einem Dritten Etwas gebe, ſo iſt ein ſolches
Bedürfniß nicht vorhanden, da die Legate, und ſpäterhin
auch noch die Fideicommiſſe, für jenen Zweck vollkommen
(b) L. 41 pr. de contr. emt.
(18. 1.). Hier iſt nur geſagt,
die Übereinkunft könne, je nach
der Abſicht der Parteyen, als
pactum adjectum, oder als con-
ditio, gemeynt ſeyn: von einem
dritten möglichen Fall (dem mo-
dus) iſt nicht die Rede.
15*
|0240 : 228|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ausreichen. Aber der Erblaſſer kann auch ganz andere
Dinge dem Erben auflegen: z. B. ein Denkmal zu errich-
ten, öffentliche Spiele oder Gaſtmähler zu veranſtalten,
das Grab des Verſtorbenen auf beſtimmte Weiſe zu beſu-
chen und zu ſchmücken u. ſ. w. Manches dieſer Art kann
unter der Form einer Bedingung bewirkt werden; für An-
deres iſt dieſe unpaſſend, und überall kann der Erblaſſer
die Form einer neuen, fortwirkenden Verpflichtung vorzie-
hen. Dazu dient dann der Modus.
2. Legat. Auch hier kommen Verpflichtungen der eben
beſchriebenen Art vor, wozu der Modus angewendet wer-
den kann (c). Aber bey ihnen war er lange Zeit auch
wichtig und unentbehrlich, wenn der Legatar einem Dritten
Etwas geben ſollte, da der Legatar mit einem neuen Le-
gat nicht belaſtet werden kann. Durch die Einführung der
Fideicommiſſe freylich, die dem zuletzt erwähnten Zweck
völlig genügen, fiel dieſes Bedürfniß des Modus hinweg
(§ 127. c. d.).
3. Fideicommiſſe. Der Modus kommt hier auf gleiche
Weiſe vor, wie bey den Legaten.
4. Eben ſo auch bey der teſtamentariſchen Freylaſſung,
neben welcher dem Sklaven jede Leiſtung, ſey es als Be-
dingung, ſey es als Modus, nach Gutfinden des Teſtators
auferlegt werden konnte. Hier war das Bedürfniß zu al-
len Zeiten ſo ausgedehnt, wie in früherer Zeit bey den
Legaten. Denn auch mit einem Fideicommiß kann nur
(c) L. 17 § 4 de cond. (35. 1.).
|0241 : 229|
§. 128. Modus.
Derjenige belaſtet werden, der von dem Verſtorbenen ein
Vermögensrecht bekommen hat (d); da nun die Freyheit
ein ſolches nicht iſt, ſo war es conſequent, die Belaſtung
der Freygelaſſenen mit Fideicommiſſen, wenn ſie blos die
Freyheit erhielten, auszuſchließen (e).
5. Bey Schenkungen waren lange Zeit die gewöhnli-
chen Rechtsmittel (actio praescriptis verbis und condictio)
für ſolche Verpflichtungen des Beſchenkten ausreichend.
Späterhin fand man es gut, eine ähnliche Behandlung wie
bey Legaten eintreten zu laſſen, und nun war auch hier
das Bedürfniß vorhanden, den Modus als eigenes Rechts-
inſtitut anzuwenden.
Als Name dieſes Rechtsinſtituts iſt modus techniſch (f),
obgleich freylich derſelbe Name oft in anderer, ſehr allge-
meiner Bedeutung gebraucht wird, z. B. für die Begrän-
zung oder die Ausübungsart eines Rechts, alſo für deſſen
nähere Beſtimmung. Im Deutſchen hat man dafür Zweck
und Zweckbeſtimmung vorgeſchlagen, jedoch nicht paſſend;
denn wenn Jemand einen Freund oder Verwandten zum
Erben einſetzt, und ihm die Errichtung eines Denkmals
zur Pflicht macht, ſo hat er zum Zweck bey der Erbein-
ſetzung, ſein Vermögen in die Hände einer würdigen und
geliebten Perſon zu bringen, nicht ein Denkmal zu veran-
(d) L. 1 § 6 de leg. 3 (32. un.),
L. 9 C. de fideic. (6. 42.).
(e) L. 94 § 2 L. 95 de leg. 1
(30. un.).
(f) Der Ausdruck ſteht in die-
ſer beſtimmten Bedeutung in der
Überſchrift der drey in der Note
a. angeführten Titel; eben ſo in
L. 17 § 4 de cond. (35. 1.).
|0242 : 230|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
laſſen. Zutreffender iſt der Ausdruck Verwendung, da
in den allermeiſten Fällen das Empfangene, oder ein Theil
deſſelben, zur Ausführung des Modus verwendet werden
ſoll. Jedoch auch dieſer Ausdruck hat eine zu abſtracte
Geſtalt, um den Gedanken an das ſehr eigenthümliche
Rechtsinſtitut hervorzurufen, und ſo iſt es beſſer den la-
teiniſchen Kunſtausdruck beyzubehalten, der ſchon durch
ſeine fremde Herkunft zu einer individuellen Bezeichnung
geſchickter iſt.
Es bedarf aber einer Rechtfertigung, daß hier der
Modus mit der Bedingung und Zeitbeſtimmung auf gleiche
Linie geſtellt, alſo unter die Selbſtbeſchränkungen des Wil-
lens aufgenommen wird (§ 114), da er vielmehr eine Er-
weiterung des Willens auf einen neuen Gegenſtand zu
enthalten ſcheint. Jene Auffaſſung rechtfertigt ſich durch
die quantitative Betrachtung jedes Vermögens oder Ver-
mögensſtücks als einer bloßen Geldſumme. Da dieſe Be-
trachtung eben ſowohl auf das urſprünglich Gegebene
(z. B. die Erbſchaft oder das Legat), als auf den Modus,
anwendbar iſt, ſo erſcheint der Modus als eine Vermin-
derung des Werths der urſprünglichen Gabe, und inſofern
kann man ſagen, daß der auf das Geben gerichtete Wille,
durch Aufnahme eines Modus, ſich ſelbſt beſchränke. Darin
iſt alſo auch die Gleichartigkeit des Modus mit Bedingung
und Zeit begründet.
Für die Anwendung iſt es nöthig, den Begriff des
Modus, nach zwey Seiten hin, ſcharf zu begränzen: er
|0243 : 231|
§. 128. Modus.
darf nämlich auf der einen Seite nicht verwechſelt werden
mit der Bedingung, auf der andern nicht mit dem bloßen
Wunſch oder Rath.
Für die Gränze zwiſchen Bedingung und Modus iſt zu
bemerken, daß in den meiſten Fällen die bezweckte Hand-
lung auf beiden Wegen gleich ſicher bewirkt werden kann,
nur vermittelſt ganz verſchiedener Rechtsverhältniſſe. Die
Bedingung nämlich ſuspendirt, zwingt aber nicht, der
Modus zwingt, ſuspendirt aber nicht. Der Modus
iſt daher weit vortheilhafter für den, welcher handeln
ſoll, denn erſtlich wird durch ihn der Rechtserwerb ſelbſt
(das dies cedit) nicht hinausgeſchoben, und dadurch in die
Gefahr des gänzlichen Verluſts gebracht; zweytens kann
der Genuß des Rechts erlangt werden durch bloße Cau-
tion, ohne Vollziehung der Handlung ſelbſt; drittens iſt
hier die eintretende Unmöglichkeit der Handlung unſchäd-
lich (g). Die Unterſcheidung beider Rechtsformen iſt daher
für jeden einzelnen Fall praktiſch wichtig. Auch hier ſind
die gebrauchten Worte unſichere Führer (h), und es muß
(g) Zweifel könnte erregen
L. 1 C. de his quae sub modo
(6. 45.) „In legatis quidem et
fideicommissis etiam modus ad-
scriptus pro conditione obser-
ratur.” … Das heißt aber nur,
der Modus wird eben ſowohl als
die Bedingung beachtet, aufrecht
erhalten, namentlich durch For-
derung einer Caution: völlige
Gleichheit ſollte damit nicht aus-
geſprochen werden. Das ergiebt
ſich deutlich aus dem nachfolgen-
den Hauptſatz, zu welchem jene
Worte blos als Eingang dienen
ſollten.
(h) Eigentlich bezeichnet si die
Bedingung, cum die Zeit, ut den
Modus (L. 80 de cond. 35. 1),
aber dieſer Unterſchied wird nicht
ſtreng beobachtet, ſ. o. § 125. d.
— Auch der Ausdruck conditio
wird oft gebraucht, wo entſchieden
ein Modus gemeynt iſt. Vgl.
|0244 : 232|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
vielmehr aus den Umſtänden die wahre Abſicht ermittelt
werden (i). Bleibt die Abſicht völlig zweifelhaft, ſo iſt der
Modus, als die geringere Beſchränkung, vorzugsweiſe vor
der Bedingung, anzunehmen (k). In Einem Fall wahrer,
aber unzuläſſiger, Bedingung, bey der conditio jurisjurandi,
wird die Abſicht des Teſtators durch Verwandlung in ei-
nen Modus aufrecht erhalten (§ 123. s. t.).
Auf der andern Seite darf der Modus nicht mit ſol-
chen Erklärungen verwechſelt werden, die gar nicht die
Abſicht einer rechtlichen Verpflichtung in ſich ſchließen.
Wird alſo ein Legat oder eine Schenkung gegeben mit
der Erklärung, daß der Empfänger davon ein Haus zu
bauen, oder ein Landgut zu kaufen habe, ſo gilt dieſes
gewoͤhnlich als bloßer Ausdruck eines Rathes oder Wun-
ſches, auch wohl blos um die Veranlaſſung der Gabe zu
bezeichnen; eine Verpflichtung iſt dann nur unter ſolchen
Umſtänden anzunehmen, welche die darauf gerichtete Ab-
ſicht beſonders wahrſcheinlich machen (l).
L. 71 § 1 de cond. (35. 1.), L. 2
§ 7 de don. (39. 5.), L. 44 de
man. test. (40. 4.).
(i) L. 44 de man. test. (40. 4.),
L. 80 de cond. (35. 1.). Die
Schwierigkeit dieſer letzten Stelle
iſt doch wohl am ſicherſten durch
Wegſtreichen des non zu beſeiti-
gen, welches nach dem Zeugniß
der Gloſſe auch ſchon in alten
Handſchriften fehlte. Die Erklä-
rung von Rücker interpr. II. 3
iſt nicht haltbar.
(k) L. 9 de R. J. (50. 17.).
(l) L. 13 § 2 de don. int. vir.
(24. 1.), L. 71 pr. de cond.
(35. 1.), L. 2 § 7 de don. (39. 5.).
|0245 : 233|
§. 129. Modus. (Fortſetzung.)
§. 129.
III. Willenserklärungen. — Modus. (Fortſetzung.)
Es iſt nunmehr anzugeben, durch welche Mittel der in
dem Modus enthaltene Wille eines Gebers zur Ausführung
gebracht wird.
1) Iſt ein einziger Erbe eingeſetzt, und dieſem der
Modus auferlegt, ſo kann von einer Obligation nicht die
Rede ſeyn, weil ihm kein Creditor gegenüber ſteht. Hier
übernimmt die Obrigkeit den Zwang gegen den Erben,
theils durch außerordentliche Zwangsmittel, theils indem
dem Erben, wenn er Klagen aus der Erbſchaft anſtellen
will, dieſelben einſtweilen verweigert werden. Sind meh-
rere Erben eingeſetzt, ſo kann Jeder den Andern durch die
actio familiae herciscundae zur Erfüllung des Modus an-
halten (a).
2) Iſt der Modus einem Legatar oder Fideicommiſſar
vorgeſchrieben, ſo nimmt die Verpflichtung die Geſtalt ei-
ner Obligation an, indem nun der Erbe die Stelle des
Verſtorbenen vertritt, und für die Ausführung des Willens
zu ſorgen hat. Dieſes geſchieht regelmäßig dadurch, daß
die Entrichtung des Legats ſo lange, vermittelſt einer doli
exceptio, verweigert wird, bis der Legatar für die Erfül-
lung des Modus Caution geſtellt hat (b). Iſt der Legatar
(a) L. 7 de ann. leg. (33. 1.)
„interventu judicis,” L. 50 § 1
de her. pet. (5. 3.) „principali
aut pontificali auctoritate,” L. 8
§ 6 de cond. inst. (28. 7.) (ſ. o.
§. 123. s. t.), L. 1 § 3 ubi pup.
(27. 2.).
(b) L. 40 § 5, L. 71 pr. § 1. 2,
|0246 : 234|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
durch Zufall bereits in den Beſitz des Legats gekommen,
ſo kann es der Erbe zurück fordern, um dann jene Cau-
tion zu erzwingen (c). Ein eigenes Intereſſe an der Er-
füllung braucht der Erbe nicht nachzuweiſen, der Wille
des Erblaſſers iſt als ſein wohlbegründetes Intereſſe zu
betrachten (d).
Außerdem kann aber auch dem Legatar gegenüber ein
obrigkeitlicher Zwang eintreten, unabhängig von dem er-
wähnten Rechte des Erben (e).
3) Bey der teſtamentariſchen Freylaſſung erfolgt die
Freyheit von ſelbſt, ſo daß alſo hier ein Zwang durch
verweigerte Klage nicht möglich iſt. Daher wurde hier
die Erfüllung des Modus durch die Obrigkeit unmittelbar
erzwungen (f).
4) Bezieht ſich der Modus auf eine Schenkung, ſo iſt
der Zwang zur Erfüllung ſo eigenthümlicher Art, daß er
nur im Zuſammenhang mit dem ganzen Recht der Schen-
kung dargeſtellt werden kann (§ 175).
Ferner kann auch in allen oben genannten Fällen der
L. 80 de cond. (35. 1.), L. 48
de fid. lib. (40. 5.). — Der bey
dem Erben, wie bey dem Lega-
tar, öfter vorkommende Ausdruck
denegantur actiones geht ſowohl
auf die officielle Verweigerung
von Seiten des Richters (bey
dem Erben), als auf die durch
des Gegners Widerſpruch veran-
laßte (bey dem Legatar).
(c) L 21 § 3 de ann. leg.
(33. 1.), L. 17 de usu leg. (33.
2.), L. 25 C. de leg. (6. 37.).
(d) L. 19 de leg 3 (32 un.).
(e) L. 92 de cond. (35. 1.)
„ex auctoritate D. Severi eman-
cipare eos compulsus est.” Vgl.
über den in dieſer Stelle vorkom-
menden Fall auch L. 15 C. de
fideic. (6. 42.).
(f) L. 44 de man. test. (40. 4.),
„officio judicis,” L. 17 § 2 eod.
|0247 : 235|
§. 129. Modus. (Fortſetzung.)
Teſtator ſelbſt den Modus dadurch mehr ſichern, daß er
dem Verpflichteten, der ihn nicht erfüllt, eine Strafe an
eine öffentliche Kaſſe androht (g).
Überall aber iſt der Modus ähnlichen Beſchränkungen
unterworfen, wie die Bedingung. Geht er alſo auf etwas
Unſittliches oder Thörichtes, ſo wird die Erfüllung deſſel-
ben nicht verlangt (h).
Iſt die Erfüllung des Modus auf irgend eine Weiſe
unmöglich, ſo fällt die Verpflichtung zu demſelben hinweg,
ohne daß die Erbſchaft oder das Legat ſelbſt, woran er
geknüpft war, darunter leidet (i); darin beſonders liegt
eine wichtige Verſchiedenheit von der Bedingung. — Iſt
die Erfüllung des Modus nicht ganz, ſondern nur theil-
weiſe, unmoͤglich oder durch ſittliche Gründe verhindert,
ſo wird der mögliche Theil dennoch aufrecht erhalten (k).
(g) L. 6 pr. L. 27 de cond.
(35. 1.). Die Strafe wird von
der dieſer Kaſſe vorgeſetzten öf-
fentlichen Behörde eingetrieben;
bey uns alſo von der Armenver-
waltung, wenn etwa die Strafe
an die Armenkaſſe im Teſtament
gewieſen iſt. Dieſer Fall iſt we-
ſentlich verſchieden von dem le-
gatum poenae nomine, und das
Verbot dieſes letzten bezog ſich
auf jenen Fall niemals.
(h) L 7 de ann. leg. (33. 1.),
L. 113 § 5 de leg. 1 (30. un.).
— Die amtliche Einwirkung hö-
herer Gewalten, z. B. des Kaiſers
oder der pontifices (Note a. e)
bezog ſich nicht auf den Schutz
des Modus überhaupt, der dazu
nicht wichtig genug war, ſondern
auf den beſonderen Inhalt deſ-
ſelben, wenn er etwa auf die
Errichtung eines Grabmals gieng,
oder auf die Emancipation von
Kindern; von dieſen Fällen iſt
in den angeführten Stellen die
Rede.
(i) L. 8 § 7 de cond. inst.
(28. 7.), L 1 C. de his quae sub
modo (6. 45.). Dadurch ſind die
bey Bedingungen vorkommende
Fälle fingirter Erfüllung (§ 119)
von ſelbſt abſorbirt.
(k) L. 6 pr. L. 27, L. 37 de
cond. (35. 1.), L. 16 de usu et
usufr. (33. 2.).
|0248 : 236|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Beſonders merkwürdig iſt derjenige Modus, welcher in
einer Leiſtung des Erben oder des Legatars an eine dritte
Perſon beſteht (l) Dieſen konnte der Teſtator, beſonders
ſeit Einfuͤhrung der Fideicommiſſe, dadurch unmittelbar
ſichern, wenn er dem Dritten, durch die Form eines Legats
oder Fideicommiſſes, ein Klagerecht auf Erfüllung verſchafft
hätte. Dennoch behandelte man es lange Zeit nicht alſo,
ſondern ließ nur die oben erwähnten indirecten Zwangs-
mittel eintreten, anſtatt dem Dritten, was das Einfachſte
war, ein Klagerecht zu geſtatten. Der Grund davon lag
ohne Zweifel blos in der von dem Teſtator gerade ge-
brauchten Formel, und es war gewiß faſt immer nicht die
Abſicht des Teſtators, ſondern ein Formfehler, weshalb
der Wille nur unvollkommnen und minder ſicheren Schutz
erhielt (m). Dieſe Schwierigkeit überwand zuerſt K. Se-
verus zum Vortheil der Freyheit, indem er den auf Ma-
numiſſion gerichteten Modus als eine fideicommiſſariſche
(l) Ein ſolcher kommt mitten
unter anderen Arten des Modus,
als ihnen völlig gleichartig vor
in L. 17 § 4 de cond. (35. 1.).
(m) Nämlich das Legat hätte
ſo lauten müſſen: do lego, oder
damnas esto, das Fideicommiß:
fidei committo, rogo, peto, volo
(Gajus II. 249). War keine die-
ſer Formeln gebraucht, ſondern
die auferlegte Leiſtung blos mit
ut eingeleitet, ſo war es ein blo-
ßer Modus, und der Dritte hatte
keine Klage. Dieſe Anſicht iſt
deutlich ausgeſprochen in L. 92
de cond. (35. 1.), L. 3 § 5. 6
de leg. praest. (37. 5.), L. 8
§ 5 de transact. (2. 15.). —
Die Sache iſt ſehr merkwürdig;
die Fideicommiſſe waren einge-
führt als Befreyung von der
förmlichen Strenge des alten Ci-
vilrechts. Die Römer waren aber
ſo an den Formalismus gewöhnt,
daß ihnen auch die Fideicommiſſe
wieder zu einer einengenden Form
wurden, zu deren Beſeitigung
eine neue Anſtrengung nöthig
war.
|0249 : 237|
§ 130. Erklärung des Willens. Förmliche.
Freylaſſung behandelte, und alſo durch die Fideicommiß-
klage des Sklaven ſchützte. K. Gordian that den letzten
Schritt, indem er daſſelbe Recht auf den in einem Geben
beſtehenden Modus anwandte (n). Seitdem kann nun von
einem Modus, der in einer Leiſtung an dritte Perſonen
beſteht, gar nicht mehr die Rede ſeyn. Denn ein ſolcher
iſt nun, ohne Rückſicht auf die gewählten Ausdrücke, als
wahres Legat oder Fideicommiß zu behandeln, und bedarf
eines indirecten Schutzes nicht mehr, da der Dritte ſtets
eine Klage auf die Entrichtung hat.
§. 130.
III. Willenserklärungen. — Erklärung. Förmliche.
Die Grundlage jeder Willenserklärung iſt das Daſeyn
des Wollens, welches bisher betrachtet worden iſt; unſere
Betrachtung muß nun weiter fortſchreiten zu der Offenba-
rung deſſelben, wodurch das innere Ereigniß des Wollens
in die ſichtbare Welt als Erſcheinung eintritt; das heißt,
wir haben die Erklärung des Willens zu betrachten
(§ 104. 114). Dieſe nun ſchließt folgende wichtige Gegen-
ſätze in ſich. Sie kann förmlich oder formlos ſeyn; aus-
drücklich oder ſtillſchweigend; wirklich vorhanden, oder fin-
(n) L. 2 C. de his q. sub mado
(6. 45). — Aus dieſer Entwicklung
des Rechts erklärt es ſich zugleich,
warum die L. 48 de fid. lib.
(40. 5.), die blos vom Fall eines
Modus handelt, in dieſen Dige-
ſtentitel geſetzt worden iſt. Vgl.
Cujacii obs. XIV. 25, und opp.
IX. 857.
|0250 : 238|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
girt, das heißt vermöge einer Rechtsregel als vorhanden
anzuſehen.
Förmliche Willenserklärungen ſind diejenigen, deren
Wirkſamkeit durch die Beobachtung einer poſitiv vorge-
ſchriebenen Handlungsweiſe bedingt iſt, die allein als Aus-
druck dieſes Willens gelten ſoll; wir nennen ſie vorzugs-
weiſe förmlich, weil in ihnen die Form durch poſitive
Rechtsregeln als nothwendig beſtimmt iſt, anſtatt daß ſie
bey den formloſen der freyen Willkühr der Handelnden über-
laſſen bleibt. Dieſe förmlichen Willenserklärungen nehmen
vorzüglich im älteren Römiſchen Recht eine wichtige Stelle
ein, und zwar in der beſondern Geſtalt feyerlicher Hand-
lungen, wodurch der eigenthümliche Sinn eines jeden Rechts-
verhältniſſes ſymboliſch dargeſtellt, und ſo auf ſinnliche Weiſe
für die Betheiligten und für Andere zur Anſchauung ge-
bracht wird. In dieſer Art die Rechtsgeſchäfte zu behan-
deln zeigt ſich zunächſt ein im Recht thätiger Kunſtſinn (a);
allein neben dieſer äſthetiſchen Seite der ſymboliſchen Hand-
lungen darf auch die praktiſche nicht überſehen werden.
Nichts iſt geeigneter, als eine ſolche ſymboliſche Form, um
in dem Handelnden den Zuſtand geſammelter Beſonnenheit
zu wecken, der für alle ernſten Geſchäfte ſo wünſchenswerth
iſt. Ferner kommt ein Entſchluß über wichtige Dinge ſel-
ten mit einemmal zur Reife; es pflegt ihm ein Zuſtand
der Unentſchiedenheit vorherzugehen, worin die Übergänge
(a) J. Grimm von der Poe-
ſie im Recht, Zeitſchrift für ge-
ſchichtliche Rechtswiſſenſchaft B. 2
Num. II.
|0251 : 239|
§. 130. Erklärung des Willens. Förmliche.
allmälig und unmerklich ſind, und deſſen Unterſcheidung
von dem vollendeten Wollen eben ſo ſchwierig ſeyn kann,
als ſie für den ſpäter urtheilenden Richter unentbehrlich
iſt. Jene ſymboliſche Form nun dient als untrügliches
Kennzeichen des reifen Entſchluſſes. Dazu kommen, als
untergeordnete Vortheile, die Sicherung des Beweiſes für
den Fall eines künftigen Rechtsſtreites, ſo wie die Öffent-
lichkeit, die das neue Rechtsverhältniß durch die ſymboliſche
Form erhält, und die in vielen Fällen wünſchenswerth
und wichtig ſeyn kann. Nicht als ob Römiſche Geſetzge-
ber (wie etwa der Alles ordnende Romulus) durch die
Erwägung dieſer Vortheile bewogen worden wären, die
ſymboliſchen Handlungen willkührlich zu erfinden und vor-
zuſchreiben. Wollte ein Geſetzgeber dieſes verſuchen, ſo
würde er doch nur die ungeſchickte Darſtellung eines Schau-
ſpiels erzwingen, und jene Vortheile würden ihm unter
den Händen meiſt verſchwinden, da ſie gerade davon ab-
hängen, daß der Handelnde ſelbſt von dem Werth und
der Bedeutung der Handlung durchdrungen iſt. Vielmehr
entſtehen ſolche Formen durch den einer Nation inwohnen-
den bewußtloſen Bildungstrieb, in welchem aber das Be-
dürfniß der oben beſchriebenen heilſamen Folgen wirkſam iſt.
Auch würde es ein großer Irrthum ſeyn, wenn man
das Daſeyn ſolcher ſymboliſchen Handlungen ausſchließend
im Römiſchen Recht anerkennen wollte. Dieſelben zeigen
ſich vielmehr bey den verſchiedenſten Völkerſtämmen, und
beſonders im alten germaniſchen Recht nehmen ſie eine
|0252 : 240|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſehr wichtige Stelle ein (b). Den Römern eigen iſt der
beſondere Beruf, das Recht überhaupt, vorzugsweiſe vor
anderen Nationen, zu einem hohen Grad der Vollendung
zu bringen. Wie ſich dieſes in der ſpäteren wiſſenſchaft-
lichen Ausbildung unverkennbar zeigt, ſo auch in den, ei-
nem früheren Zeitalter angehörenden, ſymboliſchen Hand-
lungen; ſie erſcheinen bey ihnen ausgebildeter und feſter,
als bey anderen Völkern, und ſie erhalten ſich weit länger
in gleichförmig fortdauernder Geſtalt.
Die Entſtehung der ſymboliſchen Rechtsformen fällt
überall in diejenige Entwicklungsſtufe, in welcher die Phan-
taſie vor anderen Geiſteskräften mächtig iſt. In demſelben
Maaße, als der reflectirende Verſtand ſeine Oberherrſchaft
ausbreitet, müſſen jene Formen erſt läſtig erſcheinen, dann
verkümmern und abſterben. So war es auch im Römi-
ſchen Recht, und in deſſen neueſter Geſtalt ſind nur noch
geringe Überreſte vorhanden, von welchen wiederum nur
Weniges, faſt nur als Erinnerung an längſt verſchwundene
Zeitalter, in das heutige Europa herüber gekommen iſt.
— Wo aber dieſe wichtige Veränderung in dem Recht
vorgeht, da werden meiſt andere Formen, durch willkühr-
liche Vorſchrift der Geſetzgeber, an die Stelle treten. Da-
hin gehört die ſchriftliche Abfaſſung der Rechtsgeſchäfte,
und, in höherer Stufe, die Abfaſſung vor Gericht, vor
Notarien, vor Hypothekenbehörden. Die wichtigſte und
häufigſte unter dieſen neueren Formen war bey den Rö-
(b) J. Grimm in der angeführten Abhandlung.
|0253 : 241|
§. 130. Erklärung des Willens. Förmliche.
mern die gerichtliche Inſinuation. Sie beſtand darin, daß
ein Rechtsgeſchäft vor einer ſtädtiſchen Curie, oder auch
vor der Kanzley (officium) des Statthalters einer Provinz
abgeſchloſſen, und in das Gerichtsprotokoll (Acta, Gesta)
wörtlich eingetragen wurde, wovon man dann den Be-
theiligten, ſo oft es nöthig war, beglaubigte Abſchriften
mittheilte. Es geſchah oft ganz willkührlich, blos um einer
Handlung mehr Feyerlichkeit oder ſicherern Beweis zu ge-
ben. Dann wurde es auch bey einigen Handlungen als
beſondere Form erfordert, namentlich bey Schenkungen,
bey der Abfaſſung von Teſtamenten, ſo wie bey der Er-
öffnung derſelben (c).
Solche willkührlich eingeführte Formen gewähren gleich-
falls die oben dargeſtellten praktiſchen Vortheile, nur mit
dem Unterſchied, daß die untergeordneten Folgen der ſym-
boliſchen Handlungen (die Sicherung des Beweiſes und
die Publicität) hier mehr in den Vordergrund treten, wäh-
rend die inneren und weſentlichen Vortheile, die bey den
ſymboliſchen Handlungen mit ihrer lebendigen Anſchaulich-
keit zuſammenhängen, hier weniger erreicht werden können,
wo die Form nur als ein äußeres Gebot erſcheint, dem
man ſich unvermeidlich fügen muß. In dieſer Zuſammen-
ſtellung übrigens ſoll nur eine Anerkennung des eigenthüm-
lichen Characters verſchiedener Zeitalter liegen, der ſich in
dem Recht wie in anderen Seiten des Völkerlebens offen-
bart. Das eine auf Koſten des andern erheben zu wollen,
(c) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 1 § 27—29.
III. 16
|0254 : 242|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
wäre ein nichtiges Bemühen; jedes hat ſein Gutes zu ge-
nießen, ſeine Mängel aber zu tragen, oder, wenn es ver-
mag, minder fühlbar zu machen. Am wenigſten kann es
die Abſicht ſeyn, die Geſetzgeber zu tadeln, welche durch
Einführung neuer Formen dem praktiſchen Bedürfniß da
entgegen kommen, wo die Sinnesart verſchwunden iſt, in
welcher allein die ſymboliſchen Handlungen entſtehen, und
ein lebendiges Daſeyn fortführen koͤnnen.
§. 131.
III. Willenserklärungen. — Erklärung. Ausdrückliche
oder ſtillſchweigende.
Die Erklärung kann ferner entweder eine ausdrück-
liche, oder eine ſtillſchweigende ſeyn. Der Wille ſelbſt
nämlich, als eine innere Thatſache, kann nur mittelbar,
durch eine ſinnlich wahrnehmbare Thatſache, erkannt wer-
den. Dieſes Mittel der Erkenntniß kann nun von zweyer-
ley Art ſeyn. Gewöhnlich hat es nur allein die Beſtim-
mung, als Kennzeichen des Willens zu dienen; nicht ſelten
aber hat es zunächſt eine andere, ſelbſtſtändige Beſtimmung,
jedoch ſo daß es daneben auch den Ausdruck des Willens
in ſich ſchließt. Im erſten Fall heißt die Willenserklärung
ausdrücklich, im zweyten ſtillſchweigend (a).
(a) Neuerlich hat man die
Benennungen unmittelbarer
und mittelbarer Willenser-
klärungen vorgeſchlagen; ich ziehe
die im Text gebrauchten vor,
theils als anſchaulicher, theils als
üblicher und daher bekannter.
Genauer wäre es allerdings, die-
jenige die wir ſtillſchweigend zu
nennen pflegen, als Einwilli-
gung durch Handlungen zu
bezeichnen, weil der Ausdruck
|0255 : 243|
§. 131. Erklärung des Willens. Ausdrückliche, ſtillſchweigende.
Das Mittel der ausdrücklichen Erklärung kann beſtehen
in mündlicher Rede, in ſchriftlicher Rede (b), oder auch
in bloßen Geberden; ſo z. B. wenn derjenige, welchem ein
beſtimmter Vertrag angeboten wird, durch bloßes Zunicken
ſeine Einwilligung ausdrückt (c): oder wenn der Gegen-
ſtand des Vertrags durch Hindeuten mit der Hand be-
zeichnet wird (d). Nur wird nicht leicht ein ganzes Rechts-
geſchäft durch bloße Geberden zu Stande kommen, viel-
mehr wird dann die Erklärung meiſt aus Worten und
Geberden gemiſcht ſeyn (e). — Die ſchriftliche Willenser-
ſtillſchweigend zu einer Ver-
wechslung dieſes Falles mit dem
des bloßen Schweigens (§ 132)
verleiten kann; die Bezeichnung
wäre aber wörtlich unbehülflicher,
und jene Verwechslung wird durch
das Herkömmliche des hier bey-
behaltenen Sprachgebrauchs ab-
gewendet. — Für ungenau halte
ich es, den Unterſchied beider
Arten davon abhängig zu machen,
ob der Wille aus einer äußeren
Thatſache mit oder ohne Schluß-
folgerungen erkannt werden könne
(Göſchen Vorleſungen I. S.
274). Wenn eine undeutlich ge-
faßte Vertragsurkunde nur durch
künſtliche Auslegung, wozu gewiß
auch Schlüſſe nöthig ſind, ver-
ſtanden werden kann, ſo iſt ſie
darum nicht weniger eine aus-
drückliche Willenserklärung. Auch
darin kann, ſtreng genommen,
der Unterſchied nicht geſetzt wer-
den, daß bey der einen Art durch
Worte, bey der anderen ohne
Worte, der Wille erklärt werde;
denn es kann auch eine ſtillſchwei-
gende Erklärung in bloßen Wor-
ten enthalten ſeyn, wenn dieſe
Worte zunächſt einen andern Zweck
haben, als zum Ausdruck gerade
dieſes Willens zu dienen; davon
werden ſogleich Beyſpiele unter
den ſtillſchweigenden Erklärungen
vorkommen. Vgl. die Stellen in
den Noten q. r. t.
(b) Beide ſtehen einander ganz
gleich, natürlich mit Ausnahme
der förmlichen Rechtsgeſchäfte.
L. 38 de O. et A. (44. 7.) „..
placuit non minus valere, quod
scriptura, quam quod vocibus
lingua figuratis significaretur.”
(c) L. 21 pr. de leg. 3 (32.
un.), L. 1 § 3 de adsign. lib.
(38. 4.), L. 52 § 10 de O. et A.
(44. 7.), L. 17 de nov. (46. 2.).
(d) L. 6 de reb. cred. (12. 1.),
L. 58 pr. de her. inst. (28. 5.).
(e) Vgl. die Stellen in Note d.
16*
|0256 : 244|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
klärung wird ſeit dem Mittelalter hauptſächlich durch die
eigenhändige Unterſchrift des eigenen Namens unter irgend
eine, von dem Unterſchreibenden oder einem Anderen her-
rührende Schrift bewirkt, wodurch er den Inhalt dieſer
Schrift für ſeinen Gedanken und Willen erklärt. Wir
ſind an dieſe Form, in Briefen, wie in Urkunden über
Rechtsgeſchäfte, ſo gewöhnt, daß gewiß Viele glauben, ſie
verſtehe ſich von ſelbſt, und es könne darin gar nicht an-
ders ſeyn; den Römern aber war dieſe Form fremd, und
ſie iſt bey ihnen erſt ſpät und in ſehr beſchränkten Anwen-
dungen eingeführt worden.
Die in Worten enthaltene ausdrückliche Willenserklä-
rung iſt, eben ſo wie die Geſetzgebung, einer Auslegung
empfänglich, und oft bedürftig (f). Die allgemeinſten Prin-
cipien der Geſetzauslegung (§ 32—37) kommen auch hier
inſofern zur Anwendung, als in beiden Fällen der Zweck
nur darauf gerichtet ſeyn kann, den in dem todten Buch-
ſtaben niedergelegten lebendigen Gedanken vor unſrer Be-
trachtung wieder entſtehen zu laſſen. Auch darin kommen
beide Fälle überein, daß die Römiſchen Juriſten für die
Behandlung derſelben zwar eine Fülle belehrender Bey-
(f) Ein Unterſchied zwiſchen
beiden liegt allerdings darin, daß
das Geſetz als einzelnes Element
des in dem poſitiven Recht ent-
haltenen großen Ganzen weit all-
gemeiner Gegenſtand einer kunſt-
mäßigen Behandlung ſeyn kann
und muß, als das völlig verein-
zelt ſtehende Rechtsgeſchäft. Von
dieſem kann man daher mit mehr
Wahrheit ſagen, als von dem
Geſetz, daß es nur unter Vor-
ausſetzung der Dunkelheit, alſo
eines zufälligen und mangelhaften
Zuſtandes, der Auslegung bedarf
(vgl. § 50).
|0257 : 245|
§. 131. Erklärung des Willens. Ausdrückliche, ſtillſchweigende.
ſpiele, daneben aber ſehr unzureichende und nur mit Vor-
ſicht anzuwendende allgemeine Regeln aufgeſtellt haben.
Hier in das Einzelne dieſer Regeln einzugehen, würde
nicht räthlich ſeyn, da ſie mit der Eigenthümlichkeit der
Verträge und der Teſtamente dergeſtalt in Verbindung
ſtehen, daß ſie nur im Zuſammenhang des Obligationen-
rechts und des Erbrechts zweckmäßig dargeſtellt werden
können.
Die ſtillſchweigende Erklärung des Willens beſteht in
ſolchen Handlungen, die zwar ſelbſtſtändige Zwecke haben,
zugleich aber als Mittel für die Erkenntniß des Willens
dienen. Sollen ſie dafür gelten, ſo muß ein ſicherer Schluß
möglich ſeyn von der vorgenommenen Handlung auf das
Daſeyn des Willens (g). Die Annahme einer ſtillſchwei-
genden Erklärung beruht alſo ſtets auf einer wirklichen
Beurtheilung der einzelnen Handlung, mit Rückſicht auf
alle Umſtände, von welchen ſie begleitet iſt, und dieſe Be-
urtheilung nimmt hier dieſelbe Stelle ein, wie bey der
ausdrücklichen die Auslegung der gebrauchten Worte. Nicht
ſelten wird die Handlung für ſich allein gar nicht als
Willenserklärung gelten können, ſondern es wird dazu der
poſitiven Mitwirkung äußerer Umſtände bedürfen; aber
auch wo aus ihr allein ein Schluß auf den Willen in
der Regel wohlbegründet ſeyn mag, kann derſelbe dennoch
durch entgegenwirkende Umſtände entkräftet werden. Dieſe
(g) Die Neueren drücken das ſo aus: es müſſen facta conclu-
dentia ſeyn.
|0258 : 246|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
werden oft ganz individueller Natur ſeyn, alſo lediglich
in dem beſondern Hergang eben dieſer einzelnen Handlung
liegen; ſie können aber auch einen allgemeineren Charakter
an ſich tragen, ſo daß ſie ſich auf gemeinſame Regeln zu-
rückführen laſſen. So wird die Wirkſamkeit einer Hand-
lung als ſtillſchweigender Willenserklärung vor Allem ent-
kräftet durch eine ausdrückliche Gegenerklärung, welche
Proteſtation oder Reſervation genannt wird (h).
Ferner wenn die Handlung eine erzwungene iſt, weil nun
der Handelnde nicht die Abſicht gehabt hat, ſeinen Willen
auszudrücken, ſondern ſich nur dem gedrohten Übel entzie-
hen wollte. Endlich auch wenn die Handlung auf einem
ſolchen Irrthum beruht, daß ſie um ſeinetwillen nicht als
Ausdruck jenes Willens gelten kann (i).
Alle dieſe Regeln werden durch folgende in unſren Rechts-
quellen vorkommende Anwendungen anſchaulich werden.
Wenn der Gläubiger ſeinem Schuldner den Schuld-
ſchein einhändigt (k), ſo kann dieſe Handlung nach Um-
ſtänden ganz verſchiedene Bedeutungen haben. Sie kann
(h) Proteſtation iſt der all-
gemeinere Ausdruck; Reſerva-
tion wird von dem beſonderen
Fall gebraucht, worin wir uns
gegen die Annahme der ſtillſchwei-
genden Verzichtung auf ein Recht
durch ausdrückliche Gegenerklä-
rung verwahren.
(i) Vgl. Beylage VIII. Num.
XII., worin dieſes Hinderniß
ſtillſchweigender Willenserklärung
ausführlich dargeſtellt, und zu-
gleich in gehörige Gränzen ein-
geſchloſſen iſt.
(k) Iſt der Schuldner auf an-
dere Weiſe, als durch des Gläu-
bigers Willen, in Beſitz des
Schuldſcheins gekommen, ſo ent-
ſteht dadurch gar keine dem Gläu-
biger nachtheilige Vermuthung.
L. 15 C. de sol. (8. 43.).
|0259 : 247|
§. 131. Erklärung des Willens. Ausdrückliche, ſtillſchweigende.
gelten als ſtillſchweigender Erlaß der Schuld (l), beſonders
wenn etwa der Schuldner vorher um Erlaß gebeten hatte;
ſie kann die Zahlung der Schuld wahrſcheinlich machen,
wenn auch nicht vollſtändig beweiſen (m); ſie kann aber
auch zu ganz anderen Zwecken geſchehen ſeyn; z. B. weil
der Schuldner Abſchrift davon zu nehmen wünſchte. —
Auf ähnliche Weiſe wird das Durchſtreichen des Schuld-
ſcheins, nach Umſtänden, bald als Beweis der Zahlung (n),
bald als ſtillſchweigender Erlaß gelten können. — Wenn
derjenige, dem eine Erbſchaft angefallen iſt, Geſchäfte, die
zu derſelben gehoͤren beſorgt, ſo liegt in dieſer pro herede
gestio in der Regel eine ſtillſchweigende Antretung der
Erbſchaft (o). Es kann aber dieſe Deutung einer ſolchen
Handlung ausgeſchloſſen werden, theils durch eine aus-
drückliche Gegenerklärung, theils durch Irrthum, theils
durch erweisliche andere Abſichten (p). — Die freywillige
Einlaſſung vor einem incompetenten Richter gilt als ſtill-
ſchweigende Prorogation; jedoch wird durch Irrthum über
die Gerichtsbarkeit dieſe Wirkung der Einlaſſung ausge-
ſchloſſen (q). — Wer den Prozeß, den ein Anderer ohne
Auftrag für ihn führte, ſelbſt fortführt, genehmigt dadurch
(l) L. 2 § 1 de pactis (2. 14.),
L. 7 C. de remiss. pign. (8. 26.).
(m) L. 14 C. de sol. (8. 43.)
In dieſem Fall liegt in der Rück-
gabe des Scheins ein Anerkennt-
niß der empfangenen Zahlung,
oder eine ſtillſchweigende Quit-
tung.
(n) L. 24 de prob, (22. 3.).
(o) § 7 J. de her. qual. (2.
19.), L. 20 pr. § 1 de adqu. her.
(29. 2.), Gajus II. § 166. 167,
Ulpian. XXII. § 25. 26.
(p) L. 20 pr. § 1 de adqu.
her. (29. 2.), L. 14 § 7. 8 de
relig. (11. 7.).
(q) L. 1 L. 2 pr. de jud. (5.
1.), L. 15 de jurisd. (2. 1.).
|0260 : 248|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
die von dem Andern bisher vorgenommenen Prozeßhand-
lungen (r). — Wenn ein Gläubiger für einen künftigen
Zeitraum Zinſen annimmt, ſo liegt darin das ſtillſchwei-
gende Verſprechen, bis zum Ablauf dieſes Zeitraums das
Kapital nicht einzufordern (s). — Wenn Jemand eine
fremde Sache verpfändet, der Eigenthümer aber die Pfand-
urkunde unterſchreibt, ſo liegt darin eine ſtillſchweigende
Einwilligung in die Verpfändung (t). — Wenn ein Mit-
erbe alle Grundſtücke der Erbſchaft verkauft, die übrigen
Miterben aber nicht nur gegenwärtig ſind ohne zu wider-
ſprechen, ſondern auch ihren Theil am Kaufgeld in Em-
pfang nehmen, ſo ſind ſie als ſtillſchweigende Verkäufer
ihres Antheils zu betrachten (u).
§. 132.
III. Willenserklärungen. — Erklärung. Durch bloßes
Schweigen.
Das bloße Stillſchweigen zu den Handlungen, oder auf
die Frage eines Anderen, kann in der Regel nicht als Ein-
willigung oder Zugeſtändniß betrachtet werden (a). Trägt
(r) L. 5 ratam rem. (46. 8.).
(s) L. 57 pr. de pactis (2. 14.).
(t) L. 26 § 1 de pign. (20. 1.).
(u) L. 12 de evict. (21. 2.).
(a) L. 142 de R. J. (50. 17.)
„Qui tacet, non utique fatetur,
sed tamen verum est, eum non
negare.” — Wenn alſo C. 43
de R. J. in VI. ſagt: Qui tacet,
consentire videtur, ſo kann das
nicht als Regel gelten, ſondern
darf vielmehr nur auf die hier
nachfolgenden Ausnahmen bezo-
gen werden. An eine Abänderung
des R. R. durch das canoniſche
iſt bey einer ſo abſtracten Regel
ohnehin nicht zu denken; zum
Überfluß aber iſt die angeführte
Stelle des R. R. als C. 44 de
R. J. in VI. unmittelbar hinter
|0261 : 249|
§. 132. Erklärung des Willens. Durch bloßes Schweigen.
mir alſo ein Anderer einen Vertrag an, und erklärt, daß
er mein Schweigen als Einwilligung betrachten werde, ſo
bindet mich dieſes dennoch nicht, da Jener kein Recht hat,
mich, wenn ich nicht einwillige, zu einem poſitiven Wider-
ſpruch zu nöthigen. — Von dieſem Standpunkt aus ſind
denn auch die wichtigen Ausnahmen jener Regel zu be-
trachten, welche nunmehr zuſammengeſtellt werden ſollen.
Sie gründen ſich ſtets auf eine vorausgeſetzte Pflicht, ſich
zu erklären, mag nun dieſe in der beſonderen Wichtigkeit
des Rechtsverhältniſſes ihren Grund haben (beſonders bey
Familienverhältniſſen), oder in dem natürlichen Anſpruch
des Anderen auf Ehrfurcht, oder in dem Zuſammenhang
des gegenwärtigen Schweigens mit früheren Willenserklä-
rungen. Alle dieſe Ausnahmen haben eine ganz poſitive
Natur, und es iſt unzuläſſig, ſie durch Aufnahme anderer,
ähnlicher Fälle vermehren zu wollen. In einigen derſelben
wird die Auslegung des Schweigens als einer Einwilligung
ſogar auf den Fall des unmöglichen Wollens ausgedehnt;
dieſe Ausdehnung aber trägt vielmehr die Natur einer
fingirten Einwilligung an ſich.
Wenn der Vater ſeine Tochter verlobt, ſo gilt das
bloße Schweigen der Tochter als Einwilligung. Eben ſo,
wenn die Tochter ſich ſelbſt verlobt, das Schweigen des
Vaters (b). — Die Adoption im engern Sinne wird
gültig ſchon durch das bloße Schweigen des Adoptir-
jene bedenklich lautende Stelle
geſetzt worden.
(b) L. 12 pr. de sponsal. (23.
1.). — L. 7 § 1 eod.
|0262 : 250|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ten (c). Eben ſo verhält es ſich auch mit der Emancipa-
tion (d). — Wenn ein Vormund eine anweſende Perſon
als Bürgen benennt, und dieſer ohne zu widerſprechen die
Eintragung in das Gerichtsprotokoll geſchehen läßt, ſo iſt
er dadurch wirklich Bürge geworden (e). — Die Ehe ei-
nes in väterlicher Gewalt ſtehenden Kindes wird nur durch
des Vaters Einwilligung gültig; als Einwilligung aber
gilt das bloße Stillſchweigen des Vaters, wenn dieſem
die Ehe bekannt iſt (f). — Der Vater, welcher die Ernen-
nung ſeines Sohnes zum Decurio einer Stadt weiß, und
dazu ſchweigt, wird als einwilligend betrachtet (g). —
Wenn eine geſchiedene Frau dem Manne ihre Schwan-
gerſchaft anzeigt, ſo gilt deſſen Schweigen als Anerkennung
(c) L. 5 de adopt. (1. 7.).
Darum iſt die Adoption eines
Kindes (Infans) möglich, welches
zwar nicht widerſpricht, aber auch
unfähig iſt zum Wollen wie zum
Widerſprechen; hier iſt alſo die
Einwilligung fingirt.
(d) Daß hier daſſelbe gilt, wie
in dem vorhergehenden Fall, er-
giebt ſich aus L. 5 in f. C. de
emanc. (8. 49), verglichen mit
Paulus II. 25 § 5.
(e) L. 4 § 3 de fidej. et no-
min. (27. 7.).
(f) Urſprünglich war bey dem
Sohn ein ausdrücklicher, und
zwar vorhergehender, Conſens des
Vaters nöthig. pr. J. de nupt.
(1. 10); bey der Tochter ließ
man auch ſchon früher das bloße
Stillſchweigen des Vaters zu.
L. 25 C. de nupt. (5. 4.). Aber
auch bey dem Sohn wurde in
einzelnen Fällen durch kaiſerliche
Reſcripte das Schweigen für ge-
nügend erklärt. L. 5 C. de nupt.
(5. 4.). Durch die Aufnahme ei-
nes ſolchen Reſcripts in den Co-
dex iſt nun dieſer, ohnehin der
neueren Begünſtigung der Ehe
angemeſſene, Satz zur allgemei-
nen Regel erhoben. Die oben
aus den Inſtitutionen angeführte
Vorſchrift des vorhergehenden
Conſenſes iſt daher Ausdruck der
ſtrengen älteren Regel, und nur
aus Verſehen aus dem Werk ei-
nes alten Juriſten in die Com-
pilation aufgenommen.
(g) L. 2 pr. ad munic. (50. 1.),
L. 1 C. de filiisfam. (10. 60.).
|0263 : 251|
§. 132. Erklärung des Willens. Durch bloßes Schweigen.
des Kindes (h). — Wird die Ehe einer filiafamilias aufgelöſt,
ſo kann der Vater nur mit Einwilligung der Tochter auf
Rückgabe der Dos klagen; jedoch gilt ihr Stillſchweigen als
Einwilligung (i). — Wenn der Erbe, der durch Teſtament
zur Reſtitution der Erbſchaft verpflichtet iſt, die einſeitige Be-
ſitzergreifung des Fideicommiſſars weiß und dazu ſchweigt,
ſo gilt dieſes als Reſtitution (k). — Das Schweigen des
Vaters zu einem Gelddarlehen, welches ſein Sohn auf-
nimmt, gilt als Einwilligung (l). — Eben ſo das Schwei-
gen des Vaters oder Herrn, wenn der Sohn oder Sklave
mit dem Peculium Handelsgeſchäfte treibt; hier hat die
Einwilligung die Folge, daß ſich der Vater die für ihn
ungünſtigere tributoria actio gefallen laſſen muß (m). —
Der Vermiether, der den Miether nach geendigter Mieth-
zeit den Gebrauch der Sache ſtillſchweigend fortſetzen läßt,
hat damit den Miethcontract verlängert (n). — Wenn
ohne Auftrag des Schuldners Bürgſchaft geleiſtet wird,
der Schuldner aber dazu wiſſentlich ſchweigt, ſo gilt die-
ſes als Mandat (o). — Das Urtheil eines Schiedsrichters
(h) L. 1 § 4 de agnosc. (25. 3.).
(i) L. 2 § 2 sol. matr. (24. 3.).
Dieſes nun wird dahin ausge-
dehnt, daß der Vater ohne Ein-
willigung klagen kann, wenn die
Tochter wahnſinnig, alſo zum
Widerſpruch unfähig iſt; hier iſt
der Conſens wiederum ein fin-
girter.
(k) L. 37 pr. ad Sc. Treb.
(36. 1.).
(l) L. 12. 16 ad Sc. Maced.
(14. 6.).
(m) L. 1 § 3 de tribut. act.
(14. 4.).
(n) L. 13 § 11 locati (19. 2.).
Von Seiten des Miethers ge-
ſchieht dieſes nicht durch bloßes
Schweigen, da die Fortſetzung
des Gebrauchs eine poſitive Hand-
lung iſt.
(o) L. 6 § 2 mandati (17. 1.),
L. 60 de R. J. (50. 17.).
|0264 : 252|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
verpflichtet die Parteyen zur Erfüllung des Inhalts nur
wenn ſie einwilligen; wenn ſie jedoch zehen Tage lang
nicht widerſprechen, ſo gilt ihr Schweigen als Einwilli-
gung (p). — Wenn eine Anlage auf einem Grundſtück dem
Nachbar die Gefahr einer Beſchädigung durch Regenwaſſer
zuzieht, dieſer aber dazu wiſſentlich ſchweigt, ſo willigt er
ein durch dieſes bloße Schweigen (q).
In dieſen ausgenommenen Fällen wird das bloße Still-
ſchweigen als Kennzeichen des wirklich vorhandenen Wil-
lens angeſehen, gerade ſo wie bey der gewöhnlichen ſtill-
ſchweigenden Willenserklärung (§ 131) die poſitive Hand-
lung. Daher muß auch, aus ähnlichen Gründen wie bey
dieſer, eine ſolche Wirkung des Schweigens oft ausge-
ſchloſſen werden. Dieſes iſt zu behaupten, wenn aus den
beſonderen Umſtänden des einzelnen Falles andere Beweg-
gründe des Schweigens hervorgehen; ferner wenn der
Schweigende durch Zwang oder durch Irrthum zum Schwei-
gen beſtimmt worden iſt. Dagegen würde eine Proteſtation
in dieſen Fällen gar nicht denkbar ſeyn, indem dieſe ſtets
in einer ausdrücklichen Erklärung beſteht, durch eine ſolche
aber der Fall des bloßen Stillſchweigens gänzlich ausge-
ſchloſſen wird.
(p) L. 5 pr. C. de receptis
arb. (2. 56.).
(q) L. 19 de aqua pluvia
(39. 3.).
|0265 : 253|
§. 133. Erklärung des Willens. Fingirte.
§. 133.
III. Willenserklärungen. — Erklärung. Fingirte.
Alle bisher dargeſtellten Fälle der Willenserklärung
kommen darin überein, daß wir den durch ſie offenbarten
Willen als eine wirklich vorhandene Thatſache annehmen,
wie verſchieden auch unſere Beweggründe zu dieſer An-
nahme ſeyn mögen. Daneben aber giebt es auch wichtige
Fälle, welchen eine poſitive Rechtsregel die Kraft einer
Willenserklärung beylegt, ohne daß deshalb der Wille als
Thatſache behauptet werden kann; ich bezeichne dieſe als
fingirte Erklärung. Allerdings liegt bey mehreren Fäl-
len dieſer Art eine allgemeine Wahrſcheinlichkeit des Wil-
lens zum Grunde, den man daher einen vermutheten oder
präſumtiven nennen könnte; allein in anderen Fällen läßt
ſich auch dieſe Wahrſcheinlichkeit nicht behaupten, die
Gränze zwiſchen jenen und dieſen iſt ſchwankend, und in
jedem Fall die Unterſcheidung derſelben unfruchtbar (a).
Die gänzliche Verſchiedenheit von der ſtillſchweigenden
Willenserklärung, die ſtets eine wirkliche iſt, zeigt ſich
(a) Es wäre den Worten nicht
unangemeſſen, dieſen Unterſchied
durch die Ausdrücke praesumtus
und fictus zu bezeichnen. Vgl.
Hofacker I. § 183 — 185; die
Gründe, warum ich dieſen Sprach-
gebrauch verwerfe, ſind im Text
angegeben. — Andere brauchen
dieſelben Ausdrücke, um die Zu-
läſſigkeit oder Unzuläſſigkeit des
Gegenbeweiſes auszudrücken. So
Mühlenbruch I. § 98. — Die
von mir angewendete Bezeichnung
wird, als die einfachſte, am we-
nigſten Misverſtändniſſe veran-
laſſen. Der ſchwankende Ausdruck
praesumtus consensus, der an
ſich auch für die ſtillſchweigende
Erklärung gebraucht werden könn-
te, wird dann ganz beſeitigt.
|0266 : 254|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
darin, daß manche hierher gehörende Fälle gar nicht auf
einer einzelnen Handlung beruhen, die etwa als Zeichen
des Willens interpretirt werden könnte, ſondern auf einem
allgemeinen, bleibenden perſönlichen Verhältniß: ferner daß
dieſe Fiction in mehreren Fällen zur Anwendung kommt,
worin der wirkliche Wille nicht einmal möglich iſt.
Eine fingirte Willenserklärung kommt in folgenden Fäl-
len vor. Iſt für einen Abweſenden ein Rechtsſtreit zu
führen, ſo dürfen für ihn ſeine Kinder, Eltern, Brüder,
Schwäger, Freygelaſſene als fingirte Procuratoren auf-
treten; desgleichen der Mann für ſeine Frau (b). — Eben
dahin gehören ſämmtliche Fälle des ſogenannten ſtillſchwei-
genden Pfandrechts. Es würde ganz unrichtig ſeyn anzu-
nehmen, in jedem Rechtsgeſchäft, woran ein ſolches ge-
knüpft iſt, ſey der Wille des Schuldners, gewiſſe Sachen
zu verpfänden, auch wirklich enthalten. Wenn z. B. Je-
mand eine Wohnung miethet, oder ein Landgut pachtet,
ſo wird er, wenn er nicht zufällig Rechtsgelehrter iſt,
ſchwerlich daran denken, daß ſeine Mobilien oder ſeine
Feldfrüchte mit einem Pfandrechte behaftet werden; es ge-
ſchieht kraft einer Rechtsregel, welche dieſes Pfandrecht
als natürlich, billig und zweckmäßig vorausſetzt (c). —
(b) L. 35 pr. de proc. (3. 3.),
L. 21 C. eod. (2. 13.).
(c) Zweifel könnte hieran er-
regen der Ausdruck pignus tacite
contrahitur, den man als Aner-
kenntniß einer ſtillſchweigenden
Willenserklärung anſehen könnte.
Allein ein ſolcher Ausdruck würde
in keinem Fall entſcheidend ſeyn;
am wenigſten iſt er es hier, da
L. 4 pr. in quib. causis pign.
(20. 2.) ſagt: „quasi id tacite
convenerit,” und L. 6 pr. eod.
„tacite intelliguntur pignori
|0267 : 255|
§. 133. Erklärung des Willens. Fingirte.
Ferner gehört dahin die Einwilligung des Pfandgläubigers
in die Veräußerung oder neue Verpfändung der Sache,
welche ſtets ſo ausgelegt wird, als wäre darin die frey-
willige Aufhebung des eigenen Pfandrechts, oder wenig-
ſtens die Einräumung des Vorzugs an den neuen Gläu-
biger enthalten (d). — Endlich auch diejenigen Fälle des
als Einwilligung geltenden bloßen Stillſchweigens, worin
in der That weder Einwilligung noch Widerſpruch möglich
iſt; ſo bey der Adoption oder Emancipation Desjenigen,
der noch in dem Kindesalter ſteht, ferner bey der wahn-
ſinnigen Tochter, deren Vater ihre Dos nach aufgelöſter
Ehe zurückfordern will (§ 132. c. d. i.).
Da in dieſen Fällen der Wille gar nicht als Thatſache
angenommen wird, ſo daß wir dabey kein der Auslegung
ähnliches Verfahren anzuwenden haben, ſo kann es auch
nicht auf individuelle Umſtände ankommen, wodurch bey
der ſtillſchweigenden Willenserklärung die Wahrſcheinlich-
keit erhöht oder vermindert werden kann (§ 131). Eben
ſo wird hier der Zwang oder Irrthum nicht auf ähnliche
Weiſe, wie bey der ſtillſchweigenden Willenserklärung hin-
esse,” welches gerade die eigent-
lichſten Bezeichnungen einer Fic-
tion ſind.
(d) L. 4 § 1 L 7 pr. quibus
modis pign. (20. 6.). — L. 12
§ 4 qui potiores (20. 4.). —
Hier könnte man noch zweifeln,
ob nicht vielmehr eine ſtillſchwei-
gende Willenserklärung in jenen
Einwilligungen angenommen wer-
de. Dagegen iſt aber zu bedenken,
daß dieſe Regeln als ſchlechthin
geltend aufgeſtellt werden, obgleich
man in vielen Fällen nicht wird
behaupten können, daß ſich der
Gläubiger gerade dieſen Erfolg
ſeiner Einwilligung beſtimmt ge-
dacht habe.
|0268 : 256|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
dernd einwirken (e). Nur die ausdrückliche Gegenerklärung,
das heißt die Proteſtation, ſoll in der Regel die Fiction
ausſchließen. Dieſes iſt ausdrücklich anerkannt bey der
Prozeßführung durch nahe Verwandte u. ſ. w., wenn der
entgegengeſetzte Wille des Abweſenden dargethan werden
kann (f). — Eben ſo auch bey der Einwilligung des Pfand-
gläubigers in den Verkauf der verpfändeten Sache (g). —
Es hat ferner durchaus keinen Zweifel in den meiſten Fäl-
len des ſtillſchweigenden Pfandrechts. Wenn alſo Jemand
ein Haus miethet oder ein Landgut pachtet, wenn der
Fiscus einen Vertrag ſchließt, wenn einem Ehemann eine
Dos verſprochen wird, ſo kann zuverläſſig durch einen
Nebenvertrag die Entſtehung des ſtillſchweigenden Pfand-
rechts ausgeſchloſſen werden.
Dagegen giebt es allerdings einige ausgenommene Fälle,
in welchen eine ſolche Proteſtation entweder undenkbar, oder
nach poſitiven Rechtsregeln unzuläſſig iſt. Undenkbar iſt
ſie bey der Adoption oder Emancipation im Kindesalter,
ſo wie bey der Klage auf die Dos der wahnſinnigen Toch-
ter, weil nämlich Kinder und Wahnſinnige überhaupt nicht
wollen können. — Unzuläſſig iſt ſie bey dem ſtillſchwei-
(e) Wenn der Miether durch
Drohungen zu dem Contract ge-
zwungen wird, ſo iſt dieſer in
jeder Beziehung unwirkſam, alſo
auch in Beziehung auf das Pfand-
recht; es läßt ſich aber nicht be-
haupten, daß die Drohung den
ſtillſchweigend erklärten Willen
der Verpfändung ausſchließe, denn
ein ſolcher Wille iſt überhaupt nicht
vorhanden.
(f) L. 40 § 4 de proc. (3. 3.)
„.. non exigimus, ut habeant
voluntatem vel mandatum, sed
ne contraria voluntas probe-
tur” …
(g) L. 4 § 1 quibus modis
pign. (20. 6.).
|0269 : 257|
§. 134. Erklärung ohne Willen. Abſichtliche.
genden Pfandrecht, welches die Frau am Vermögen des
Mannes wegen Rückgabe der Dos hat. Denn wollte die
Frau dieſem Pfandrecht entſagen, ſo würde ſie dadurch
ihre rechtliche Lage in Beziehung auf die Dos ungünſtiger
ſtellen, welches, wenn es nicht mit Ruͤckſicht auf Kinder
dieſer Ehe geſchieht, überhaupt unwirkſam iſt (h). — Eben
ſo iſt die Proteſtation unzuläſſig bey dem ſtillſchweigenden
Pfandrecht, welches der Unmündige und der Minderjährige
am Vermoͤgen des Vormundes hat. Denn die Übernahme
der Vormundſchaft, welche den Grund jenes Pfandrechts
enthält, geſchieht weder durch Vertrag, noch überhaupt
durch die Willkühr des Vormunds. Er ſelbſt kann alſo
durch ſeinen Willen weder dieſe Übernahme verhindern,
noch die durch Rechtsregeln daran geknüpften Folgen ver-
ändern; eben ſo aber ſteht auch ihm gegenüber Niemand,
der durch ſeinen Willen dieſes zu bewirken fähig wäre.
§. 134.
III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.
Abſichtliche.
Bisher iſt die Willenserklärung nach ihren beiden Be-
ſtandtheilen betrachtet worden, dem Willen an ſich (§ 114
— 129), und der Erklärung deſſelben (§ 130—133); es
bleibt noch übrig, von der Übereinſtimmung beider Stücke,
(h) L. 1 § 1 de dote praeleg. (33. 4.), L. 17 de pactis dotal.
(23. 4.).
III. 17
|0270 : 258|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
oder von ihrer Verbindung zu einem Ganzen zu reden.
Jedoch iſt dieſes nicht ſo zu verſtehen, als ob beide ihrer
Natur nach von einander unabhängig wären, etwa wie
der Wille Eines Menſchen von dem eines Anderen, deren
Übereinſtimmung in der That ganz zufällig iſt; vielmehr
ſind ſie ſchon ihrem Weſen nach als verbunden zu denken.
Denn eigentlich muß der Wille an ſich als das einzig
Wichtige und Wirkſame gedacht werden, und nur weil er
ein inneres, unſichtbares Ereigniß iſt, bedürfen wir eines
Zeichens, woran er von Anderen erkannt werden könne,
und dieſes Zeichen, wodurch ſich der Wille offenbart, iſt
eben die Erklärung. Daraus folgt aber, daß die Über-
einſtimmung des Willens mit der Erklärung nicht etwas
Zufälliges, ſondern ihr naturgemäßes Verhältniß iſt.
Allein es läßt ſich eine Störung dieſes natürlichen Ver-
hältniſſes denken. Dann entſteht ein Widerſpruch zwiſchen
dem Willen und der Erklärung, aus dieſer geht der fal-
ſche Schein des Willens hervor, und das iſt es, was
ich die Erklärung ohne Willen nenne.
Nun beruht aber alle Rechtsordnung gerade auf der
Zuverläſſigkeit jener Zeichen, wodurch allein Menſchen mit
Menſchen in eine lebendige Wechſelwirkung treten können.
Daher darf die erwähnte Störung nicht angenommen wer-
den in dem einfachſten dafür denkbaren Fall, wenn näm-
lich Derjenige, welcher Etwas als ſeinen Willen erklärt,
heimlich den entgegengeſetzten Willen hat, mag er ſich
auch darüber anderwärts (etwa ſchriftlich, oder vor Zeu-
|0271 : 259|
§. 134. Erklärung ohne Willen. Abſichtliche.
gen) deutlich ausgeſprochen haben (a). Demnach darf ein
Widerſpruch zwiſchen dem Willen und der Erklärung
nur angenommen werden, inſofern er für den, welcher
mit dem Handelnden in unmittelbare Berührung kommt,
erkennbar iſt oder wird, alſo unabhängig bleibt von dem
bloßen Gedanken des Handelnden. Dieſes kann geſchehen
auf zweyerley Weiſe. Erſtlich mit dem Bewußtſeyn des
Handelnden, indem Dasjenige, was ſonſt als Zeichen des
Willens dient, in dieſem einzelnen Fall erweislich einen
anderen Zweck hat. Zweytens ohne deſſen Bewußtſeyn,
indem derſelbe in einem ſolchen Irrthum befangen iſt, wo-
durch der Wille ſelbſt ausgeſchloſſen, und der bloße Schein
des Willens hervorgebracht wird. Ich nenne jenes die
abſichtliche, dieſes die unabſichtliche Erklärung ohne
Willen.
Die abſichtliche Erklärung ohne Willen macht für
die allgemeine Betrachtung wenig Schwierigkeit, und nur
die Anwendung kann zuweilen durch zweifelhafte Thatſa-
chen ſchwierig werden. Die wichtigſten Fälle derſelben
möchten folgende ſeyn.
Worte, die an ſich auch den vollendeten Willen aus-
zudrücken fähig ſind, können gebraucht ſeyn als Ausdruck
des unentſchiedenen Zuſtandes (§ 130), der nur erſt auf
(a) Eine ſolche reservatio men-
talis, verbunden mit einem an-
genommenen falſchen Namen,
wird vorausgeſetzt in C. 26 X.
de spons. (4. 1.); in dem beſon-
deren Fall dieſer Stelle wird ihr
ſogar ſeltſamerweiſe Wirkung zu-
geſchrieben, woraus aber gewiß
Niemand geneigt ſeyn wird ein
Rechtsprincip zu bilden. Vergl.
Böhmer Jus eccl. Prot. Lib. 4
Tit. 1 § 142.
17*
|0272 : 260|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
dem Wege war, künftig in einen wahren Willen über-
zugehen (b).
Dieſelben Worte, welche gewöhnlich bey einem Rechts-
geſchäft angewendet werden, können zum Scherz gebraucht
ſeyn, oder als Übung bey dem Unterricht in einer Sprache
oder im Recht (c), oder bey einer dramatiſchen Darſtellung.
Sie können ferner gebraucht ſeyn bey einem wirklichen
Rechtsgeſchäft, aber in einer blos ſymboliſchen Bedeu-
tung, ſo daß der unmittelbare Wortſinn ganz unwirkſam
bleibt. So erhielt bey dem Römiſchen Teſtament der fa-
miliae emtor keine Rechte (d). Die Worte eines Kauf-
contracts wurden bey der Mancipation, und in manchen
anderen Fällen (e), blos ſymboliſch gebraucht, und bey ei-
ner älteren Form der Vindication wurde eine sponsio prae-
judicialis von Fünf und Zwanzig Seſterzen geſchloſſen, die
(b) L. 24 de test. mil. (29. 1.).
Soldaten können bekanntlich ohne
alle Form teſtiren. Darüber heißt
es hier: „Id privilegium sic in-
telligi debet … ut utique prius
constare debeat, testamentum
factum esse … Ceterum si, ut
plerumque sermonibus fieri so-
let, dixit alicui, Ego te here-
dem facio: aut, Tibi bona mea
relinquo: non oportet hoc pro
testamento observari … et per
hoc judicia vera subvertuntur.”
Hier, wie in den übrigen Fällen
dieſer Art, kommt es theils auf
die Auslegung der Worte an
(§ 131), theils auf den Zuſam-
menhang derſelben mit allen um-
gebenden Ereigniſſen.
(c) L. 3 § 2 de V. O. (45. 1.).
„Verborum quoque obligatio
constat, si inter contrahentes
id agatur: nec enim, si per jo-
cum puta, vel demonstrandi in-
tellectus causa, ego tibi dixero:
Spondes? et tu responderis,
Spondeo: nascetur obligatio.
War es ſo bey der Stipulation,
wie viel mehr bey anderen Con-
tracten, in welchen der Buch-
ſtabe weit mehr der Abſicht un-
tergeordnet blieb.
(d) Gajus II. § 103.
(e) Gajus II. § 252, L. 66 de
j. dot. (23. 3.).
|0273 : 261|
§. 134. Erklärung ohne Willen. Abſichtliche.
blos den Prozeß reguliren ſollte, und niemals eingeklagt
wurde (f).
Wird ein Rechtsgeſchäft durch Drohungen herbeyge-
führt, ſo iſt daſſelbe darum nicht minder vorhanden und
an ſich wirkſam, aber der Bedrohte wird gegen die nach-
theiligen Folgen deſſelben durch mancherley Anſtalten des
poſitiven Rechts geſchützt (§ 114). Ganz anders wenn
die Drohung angewendet wird, nicht um den Willen ſelbſt,
ſondern um das bloße Zeichen des Willens hervorzubrin-
gen, z. B. wenn Einer durch Drohungen beſtimmt wird,
ſeinen Namen unter eine Urkunde, die er nicht einmal ge-
leſen hat, zu ſchreiben (§ 131). Hier iſt es einleuchtend,
daß kein Wille vorhanden ſeyn konnte, da er den Inhalt
der Urkunde nicht kannte: es war alſo das bloße Zeichen
des Willens vorhanden, welches nicht den Zweck hatte,
den Willen zu erklären, ſondern nur das gedrohte Ubel
abzuwenden (g).
Endlich gehört dahin auch der, oft allein erwähnte,
Fall der Simulation. Darunter wird eine gemein-
(f) Gajus IV. § 93. 94.
(g) Die Unterſcheidung beider
Fälle im allgemeinen Begriff iſt
unzweifelhaft, in der Anwendung
kann es ungewiß ſeyn, wohin der
einzelne Fall zu rechnen iſt, da
die Gränzen in einander laufen.
Erheblich wird der Zweifel nicht
ſeyn, da die praktiſche Behand-
lung des gar nicht vorhandenen
und die des erzwungnen Ver-
trags nicht ſehr verſchieden aus-
fallen kann. — Gar nicht dahin
gehört der Fall, wenn Einem mit
abſoluter Gewalt die Hand zur
Unterſchrift geführt wird. Hier
handelt er gar nicht, eben ſo wie
wenn ein Anderer ſeine Schrift-
züge nachmacht; es iſt alſo über-
haupt keine von ihm ausgehende
Erklärung vorhanden, deren Wi-
derſpruch mit ſeinem Willen be-
merkt werden könnte.
|0274 : 262|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſchaftliche Willenserklärung Mehrerer verſtanden, die dar-
über einverſtanden ſind, ihren Erklärungen eine andere
als die gewöhnliche Bedeutung zu geben (h). Der allge-
meine Grundſatz geht nun dahin, daß die wahre Mey-
nung gelten ſoll, nicht die aus den Worten hervorgehende
ſcheinbare (i). Es kommt dieſes vor in folgenden verſchie-
denen Anwendungen:
1) Wenn überhaupt gar kein Rechtsgeſchäft gewollt
wird, obgleich die Worte auf ein ſolches lauten (k).
2) Wenn ein anderes, als das wörtlich ausgeſpro-
chene, Rechtsgeſchäft gewollt wird (l).
3) Wenn andere Perſonen Träger des Rechtsverhält-
niſſes ſeyn ſollen, als worauf die Worte der Willenser-
klärung lauten (m).
Wie verſchieden auch die hier zuſammen geſtellten Fälle
(h) Hierauf bezieht ſich der
Titel des Codex: Plus valere
quod agitur, quam quod simu-
late concipitur (IV. 22.). — In
den meiſten Fällen dieſer Art wird
eine ſchlechte, unredliche Abſicht
zum Grunde liegen, keinesweges
in allen Fällen.
(i) L. 1 C. tit. cit.
(k) L. 54 de O. et A. (44. 7.),
L. 55 de contr. emt. (18. 1.),
L. 4 § 5 de in diem addict. (18.
2.), L. 30 de ritu nupt. (23. 2.),
L. 1 C. de don. ante nupt. (5.
3.), L. 20 C. de don. int. vir.
(5. 16.), L. 3 C. de repud. (5. 17.).
(l) L. 36. 38 de contr. emt.
(18. 1.), L. 14 pr. de in diem
addict. (18. 2.), L. 46 loc. (19.
2.), L. 5 § 5 L. 7 § 6 de don.
int. vir. (24. 1.), L. 3 C. tit. cit.,
L. 3 C. de contr. emt. (4. 38.).
— In einigen dieſer Stellen bleibt
es zweifelhaft, ob von einer Si-
mulation, oder von der irrigen
Benennung eines Rechtsgeſchäfts
die Rede iſt; eben ſo wird dieſes
in einzelnen Fällen der Anwen-
dung zweifelhaft ſeyn können. Da
indeſſen unter beiden Voraus-
ſetzungen gleiche Wirkung eintritt,
ſo kommt es hierauf nicht an.
(m) L. 2. 4 C. tit. cit., L. 5.
6 C. si quis alteri vel sibi (4.
50.), L. 16 C. de don. int. vir.
(5. 16.).
|0275 : 263|
§. 135. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche.
ſeyn mögen, ſo bewährt ſich doch in allen der oben be-
merkte gemeinſchaftliche Character, daß der Widerſpruch
zwiſchen dem Willen und der Erklärung nicht in dem blo-
ßen Gedanken des Handelnden eingeſchloſſen iſt, ſondern
von Denen, welche mit ihm in unmittelbare Berührung
kommen, erkannt werden kann.
§. 135.
III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.
Unabſichtliche (a)
Die unabſichtliche Erklärung ohne Willen beruht
darauf, daß der Handelnde ein gültiges Rechtsgeſchäft
einzugehen glaubt, in der That aber Dasjenige, was zu
einem ſolchen nöthig wäre, nicht will. Sie iſt alſo ſtets
von einem Irrthum begleitet, aber dieſer iſt nicht der po-
ſitive Grund des Schutzes, welcher dem Irrenden gegen
Nachtheil gewährt wird, ſondern dieſer Grund iſt ganz
negativ, die bloße Abweſenheit des Willens, wodurch allein
dieſer Nachtheil begründet werden könnte (b). Der Irr-
(a) Von dieſem Fall im All-
gemeinen handelt H. Richel-
mann, der Einfluß des Irr-
thums auf Verträge. Hanno-
ver 1837.
(b) Bey der condictio inde-
biti iſt der Irrthum der poſitive
Grund für das Recht der Rück-
forderung, denn die Zahlung iſt
eine an ſich gültige, wirkſame
Handlung, die nur ausnahms-
weiſe, und zwar nur des Irr-
thums wegen, hinterher entkräf-
tet werden kann. — Wenn da-
gegen bey dem Kauf eines Hau-
ſes ein error in corpore zum
Grund liegt, ſo gründet ſich Der-
jenige, der ſich der Contractsklage
des Andern entzieht, darauf daß
es an einem übereinſtimmenden
Willen, alſo an dem Weſen des
Vertrags, gänzlich fehlt. Dieſer
Mangel der Übereinſtimmung
würde eben ſo, ja noch unzwei-
|0276 : 264|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
thum iſt alſo hier Das, was ich anderwärts den unächten
Irrthum genannt habe (c), und dieſe Unterſcheidung hat
keinesweges blos das theoretiſche Intereſſe klarer und ſcharf
beſtimmter Begriffe, ſondern es knüpfen ſich daran auch
praktiſch wichtige Folgen. Es folgt daraus, daß hier der
Irrende frey von jeder Verbindlichkeit bleibt, ohne Unter-
ſchied ob er dieſen Irrthum leicht vermeiden konnte oder
nicht (d). Es iſt jedoch dieſer Irrthum nicht etwa hier
für minder wichtig zu halten, als in anderen Fällen der
ächte Irrthum, er iſt es nur auf andere Weiſe; er iſt
wichtig, inſoferne wir aus ihm erkennen, daß der Wille,
welcher nach der Erklärung angenommen werden müßte,
in der That nicht vorhanden iſt (§ 134), weshalb auch
die rechtlichen Folgen deſſelben nicht eintreten können.
Die Schwierigkeit des hier darzuſtellenden Falles liegt
hauptſächlich darin, daß er in ſehr mannichfaltigen Ge-
ſtalten vorkommt, und ich will es daher verſuchen, vor
Allem dieſe Verſchiedenheiten überſichtlich anzugeben. Sie
felhafter, die Entſtehung einer
Obligation verhindern, wenn
beide Perſonen das Bewußtſeyn
dieſes Mangels hätten; jetzt, da
ſie ſich hierüber einige Zeit ge-
täuſcht haben, ſoll dieſer Irr-
thum nur Nichts ändern. Der
Irrthum iſt alſo augenſcheinlich
nicht der Grund, weshalb die
Obligation nicht entſteht, da die-
ſelbe ohne ihn eben ſo wenig ent-
ſtanden wäre.
(c) Beyl. VIII. Num. XXXIV.
(d) In dem oben (Note b)
angeführten Fall hatte vielleicht
der Verkäufer deutlich geſagt,
welches Haus er verkaufen wolle,
und der Käufer hatte ihn blos
aus Unbedachtſamkeit hierüber
misverſtanden. Mag er nun auch
deshalb zu tadeln ſeyn, ſo hat er
doch nicht daran gedacht, das von
dem Andern angebotene Haus zu
kaufen, ohne dieſen Willen aber
iſt kein Vertrag über dieſes Haus,
und ohne Vertrag keine Verbind-
lichkeit vorhanden.
|0277 : 265|
§. 135. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche.
beziehen ſich ſowohl auf das irrende Subject, als auf den
Gegenſtand des Irrthums.
Was das irrende Subject betrifft, ſo ſind zwey Haupt-
fälle möglich:
A. Der Wille eines Einzelnen ſteht im Widerſpruch
mit der Erklärung deſſelben Einzelnen.
Dieſes kann ferner vorkommen bey einer einſeitigen
Willenserklärung; wenn z. B. der Teſtator, durch Ver-
wechslung von Perſonen, einen Erben oder Legatar ernennt,
den er nicht will, oder, durch Verwechslung von Sachen,
eine Sache legirt, anſtatt daß er eine andere Sache legi-
ren wollte.
Eben ſo aber auch bey einer gegenſeitigen Willenser-
klärung; entweder ſo, daß der Eine allein irrt (e), oder
auch ſo daß Jeder derſelben irrt (f).
B. Der Wille jedes Einzelnen ſtimmt mit deſſen Erklä-
rung überein, ſo daß alſo Jeder für ſich etwas Beſtimm-
tes und Wahres denkt und erklärt, aber etwas von dem
Gedanken des Andern Verſchiedenes. Hier irrt alſo jeder
Einzelne blos über den Willen und die Erklärung des
Andern, und nur wenn wir Beide als ein gemeinſchaftlich
wollendes Subject künſtlich zuſammenfaſſen, können wir
(e) So z. B. es kauft Jemand
ein vergoldetes Gefäß, das er für
ein goldnes hält, während der
Verkäufer weiß, daß es nur ver-
goldet iſt. Hier iſt ferner mög-
lich, daß der Verkäufer den Irr-
thum des Käufers kennt, oder
daß er ihn nicht kennt.
(f) So z. B. wenn der Käu-
fer und Verkäufer zugleich das
vergoldete Gefäß für ein goldnes
halten.
|0278 : 266|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
auch hier einen Irrthum annehmen, wodurch dieſer Fall
mit den vorhin angegebenen Fällen gleichartig wird (g).
Wäre nun für jeden dieſer Fälle eine beſondere Regel
aufzuſuchen, und zugleich für jede Stelle des Römiſchen
Rechts genau anzugeben, welcher unter jenen Fällen dem
alten Juriſten vorgeſchwebt habe, ſo wäre unſre Aufgabe
mißlich genug. Glücklicherweiſe aber verhält ſich die Sache
anders. Alle dieſe Fälle kommen darin überein, daß das
Daſeyn einer wirkſamen Willenserklärung dadurch völlig
ausgeſchloſſen iſt, ſo daß in keinem derſelben ein wahres
Rechtsgeſchäft vorhanden iſt. Auch habe ich jene verſchie-
dene Fälle nur deshalb zuſammengeſtellt, um die mannich-
faltige Anwendung der aufgeſtellten gemeinſamen Rechts-
regel zur Anſchauung zu bringen (h).
(g) Je nachdem wir den einen
oder den anderen Standpunkt der
Betrachtung wählen, können wir
dieſen Fall als dissensus in cor-
pore oder als error in corpore
bezeichnen. Beide Ausdrücke ſind
alſo an ſich richtig, und bezeich-
nen nur den Begriff von ver-
ſchiedenen Seiten; beide ſind aber
auch quellenmäßig, und werden
von den alten Juriſten abwechs-
lend gebraucht. Vergl. L. 9 pr.
§ 2 de contr. emt. (18. 1.), L. 57
de O. et A. (44. 7.), L. 4 pr. de
leg. 1 (30. un.). — Der Grund
des Misverſtändniſſes wird hier
meiſt darin liegen, daß die Er-
klärung von jeder Seite durch Un-
beſtimmtheit zweydeutig war.
(h) Unſere Schriftſteller pfle-
gen hierbey die Kunſtausdrücke
des einſeitigen und zweyſeitigen
Irrthums anzuwenden, die ſie bald
ſo bald anders beſtimmen, je nach-
dem ſie die angegebenen Fälle mehr
oder weniger vollſtändig in’s Auge
faſſen. Vgl. Thibaut Pandek-
ten § 449. 450, Verſuche II. S. 120.
Richelmann S. 9. Über die-
ſen Sprachgebrauch zu ſtreiten, iſt
unfruchtbar; beſſer enthalten wir
uns deſſelben gänzlich. — Wenn
ich übrigens ſage, daß alle dieſe
Fälle auf gleicher Linie ſtehen, ſo
iſt das nur inſofern wahr, als in
allen gleichmäßig ein gültiges
Rechtsgeſchäft nicht vorhanden iſt.
Daneben aber kann allerdings der
Dolus des einen Theils auch noch
eigenthümliche Wirkungen hervor-
|0279 : 267|
§. 135. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche.
Was nun ferner den Gegenſtand des Irrthums betrifft,
ſo ſind folgende mögliche Fälle zu bemerken:
I. Der Irrthum kann ſich beziehen auf den Inhalt des
Willens im Ganzen. So wenn Jemand eine Urkunde
unterſchreibt (§ 131), die ihm anſtatt einer anderen, rich-
tigen, untergeſchoben, oder die ihm unrichtig vorgeleſen
worden iſt; oder, wenn Er im Vertrauen auf einen Be-
vollmächtigten, ein leeres Blatt unterſchreibt, der Bevoll-
mächtigte aber dieſes eigenmächtig, und gegen den ertheil-
ten Auftrag, ausfüllt.
Dieſer Fall kann am wenigſten Zweifel erregen, und
macht auch keine näheren Beſtimmungen noͤthig.
II. Der Irrthum kann ſich aber auch beziehen auf ein-
zelne Theile des Willens, und zwar:
1) auf die Natur des Rechtsverhältniſſes;
2) auf die in dem Rechtsverhältniß uns gegenüber ſte-
hende Perſon;
3) auf die Sache, die den Gegenſtand des Rechtsver-
hältniſſes bildet.
Die drey zuletzt bezeichneten Fälle, die allein einer be-
ſonderen Erwägung bedürfen, ſollen nunmehr einzeln dar-
geſtellt werden; zuvor aber iſt es nöthig ihre gemeinſame
Natur näher zu betrachten. In jedem derſelben finden
wir einen das Rechtsgeſchäft begleitenden Irrthum, aus
welchem wir die Abweſenheit des wahren Willens, alſo
bringen, die hier, wo wir von der
Wirkſamkeit der Willenserklärung
an ſich reden, außer unſrer Auf-
gabe liegen.
|0280 : 268|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
auch des gültigen Rechtsgeſchäfts, erkennen. Allein nicht
jeder begleitende Irrthum iſt ein Grund, dieſe Abweſenheit
zu behaupten, und es iſt daher von großer Wichtigkeit,
die Gränzen genau zu beſtimmen, innerhalb welcher dem
Irrthum jener Einfluß allein zuzuſchreiben iſt. Unſere
Schriftſteller haben dieſen Unterſchied durch die ganz paſ-
ſenden Ausdrücke des weſentlichen und unweſentli-
chen Irrthums bezeichnet. Wir haben alſo zunächſt, mit
Rückſicht auf die ſchon angegebenen Gegenſtände, die Fälle
des weſentlichen Irrthums genau zu beſtimmen, dann aber
einige Fälle des unweſentlichen Irrthums hinzuzufügen,
lediglich um gegen den möglichen Einfluß zu warnen, den
man auch dieſen irrigerweiſe zuſchreiben möchte.
Des Gegenſatzes wegen muß hier an einige andere,
ſchon oben dargeſtellte, Umſtände erinnert werden, wo-
durch der Wille mehr oder weniger unwirkſam werden
kann: Zwang und Betrug (§ 114. 115). Bey dieſen war
der Wille wirklich vorhanden, es wurde ihm aber durch
poſitive Anſtalten entgegen gewirkt. Ganz anders hier,
wo wir das Daſeyn des Willens ſchlechthin verneinen
müſſen, und wo daher auch kein Rechtsverhältniß, als
Folge des Willens, denkbar iſt. Um hierauf einen Rö-
miſchen Sprachgebrauch anzuwenden, müſſen wir den Un-
terſchied ſo angeben: bey Zwang und Betrug iſt eine Un-
gültigkeit per exceptionem denkbar, ja dem Zweck ange-
meſſen; in den Fällen des weſentlichen Irrthums kann
das Rechtsverhältniß nur ipso jure nichtig ſeyn.
|0281 : 269|
§. 136. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. (Fortſetzung)
§. 136.
III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.
Unabſichtliche. (Fortſetzung.)
Unter den Fällen des weſentlichen, alſo den Willen
ausſchließenden Irrthums iſt der erſte und unzweifelhaf-
teſte der, welcher die Natur des Rechtsverhältniſſes be-
trifft. Wenn alſo Einer eine Sache zu leihen verſpricht,
der Andere nimmt das Verſprechen an, welches er von
einer Schenkung verſteht, ſo entſteht keine Verbindlichkeit;
eben ſo, wenn Einer Geld ſchenken will, der Andere nimmt
es als Darlehen an, entſteht nicht die dem Darlehen ei-
genthümliche Verbindlichkeit (a).
Ein zweyter Fall des Irrthums, welcher eben ſo all-
gemein für weſentlich gehalten werden muß, iſt der wel-
cher die in dem Rechtsverhältniß uns gegenüber ſtehende
Perſon betrifft. In manchen Anwendungen iſt dieſes nie-
mals bezweifelt worden. So wenn ein Teſtator einen
Erben ſchriftlich ernennt, während er erweislich eine an-
dere Perſon in Gedanken hat, die er mit jenem ernann-
ten Erben verwechſelt; hier iſt die Erbeinſetzung für Kei-
nen von Beiden gültig (b). Noch leichter läßt ſich dieſes
(a) L. 3 § 1 de O. et A. (44.
7.). „.. non obligabor ei, quia
non hoc inter nos actum est.”
L. 9 pr. de contr. emt. (18. 1.).
„.. sive in ipsa emtione dis-
sentient .. emtio imperfecta
est” .. — Die beſondere Anwen-
dung dieſes Satzes auf die Schen-
kung wird unten dargeſtellt wer-
den (§ 161).
(b) L. 9 pr. de her. inst. (28.
5.). „Quotiens volens alium
heredem scribere, alium scrip-
serit, in corpore hominis er-
rans” …
|0282 : 270|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
denken, wenn der Teſtator mündlich teſtirt, und den Er-
ben oder Legatar mit der Hand bezeichnet, dabey aber
durch die Schwäche des Geſichts oder die Dunkelheit des
Krankenzimmers Perſonen verwechſelt. — Eben ſo un-
zweifelhaft iſt in dieſem Fall die Ehe ungültig, ſelbſt wenn
im Fall einer ſolchen Perſonenverwechslung der kirchliche
Segen über das vermeintliche Ehepaar ausgeſprochen ſeyn
ſollte (c). — Auf dieſelbe Weiſe muß die Ungültigkeit ei-
nes obligatoriſchen Vertrages behauptet werden, wenn
Ein Contrahent durch Verwechslung an einen anderen
Contrahenten denkt, als den welcher ihm wirklich gegen-
über ſteht. In manchen Fällen iſt dieſes ſo augenſchein-
lich, daß es nie bezweifelt werden konnte, z. B. wenn ich
eine beſtimmte Perſon, die ich nie geſehen habe, beſchen-
ken will, und wir dafür eine andere Perſon untergeſcho-
ben wird; eben ſo wenn ich bey einem beſtimmten Künſt-
ler eine Arbeit beſtellen will, ein Anderer aber ſich für
dieſen ausgiebt, und mit mir contrahirt. Allein mit Un-
recht haben Manche die Ungültigkeit auf dieſe Fälle be-
ſchränken wollen, da ſie vielmehr allgemein angenommen
werden muß (d). Folgende Entſcheidungen des Römiſchen
Rechts laſſen hieran keinen Zweifel. Wenn ich ein Dar-
lehen von Gajus zu empfangen glaube, das in der That
Sejus giebt, ſo entſteht aus dem angegebenen Grund keine
(c) Eichhorn II. S. 352.
(d) Thibaut Pandekten § 449,
Verſuche II. S. 114, Mühlen-
bruch § 338, und beſonders Ri-
chelmann S. 24—32, der dieſe
Frage gründlich behandelt.
|0283 : 271|
§. 136. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. (Fortſetzung.)
Darlehensobligation (e); eine Klage ſoll aber Sejus den-
noch gegen mich haben, und zwar iſt dieſe Klage nicht
etwa eine beſonders für dieſen Fall erfundene (f), ſondern
die gewöhnliche condictio ob causam datorum: denn Se-
jus gab mir das Geld in der Erwartung, daß ich da-
durch ſein Darlehensſchuldner werden würde, und dieſe
Erwartung iſt ihm durch meine Verwechslung der Perſo-
nen vereitelt worden (g). — Wenn ich dem Titius, einem
wohlhabenden Mann, den ich aber nicht perſönlich kenne,
ein Darlehen geben will, ein Anderer aber wird mir für
ihn untergeſchoben, ſo entſteht keine Darlehensobligation,
und das Eigenthum des Geldes geht ſo wenig auf den
Empfänger über, daß dieſer ſogar, wenn er ſelbſt an dem
Betrug Antheil nahm, als Dieb behandelt werden muß (h).
— Die irrige Meynung vieler Rechtslehrer über dieſen
Punkt erklärt ſich daraus, daß in vielen Fällen der Ir-
rende gar kein Intereſſe bey der Verwechslung der Per-
ſonen haben wird, weshalb die Ungültigkeit des Vertrags,
(e) L. 32 de reb. cred. (12.
1.). „.. non quia pecuniam tibi
credidi, hoc enim nisi inter con-
sentientes fieri non potest” …
(f) Man hat ſie unter andern
Juventiana condictio nennen wol-
len, von Juventius Celſus, dem
Verfaſſer der angeführten Pan-
dektenſtelle. Vergl. Glück XII.
S. 25. XIII. S. 200.
(g) Der Fall iſt ganz ähnlich,
wie wenn Jemand Geld als Dos
giebt, die Ehe aber nicht zu Stan-
de kommt; auch hier war die er-
wartete Entſtehung einer dotis
obligatio vereitelt worden. L. 6
L. 7 § 1 L. 8 de cond. ob cau-
sam datorum (12. 4.). Auch folgt
es aus der allgemeinen Natur je-
ner Condiction, welche überhaupt
auf das aus einer irrigen causa
futura Gegebene gerichtet werden
kann, ſo wie die cond. sine causa
und indebiti auf causa prae-
sens und praeterita.
(h) L. 52 § 21 L. 66 § 4 de
furtis (47. 2.).
|0284 : 272|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
die hier überall behauptet werden kann, oft unbemerkt
bleiben, auch wohl durch ſpätere Genehmigung, nachdem
die Verwechslung entdeckt worden, förmlich beſeitigt wer-
den wird (i).
Es bleibt nun noch übrig die Betrachtung des Irr-
thums über die Sache, oder den Gegenſtand des Rechts-
verhältniſſes. Dieſer aber nimmt mannichfaltigere Geſtal-
ten an als die übrigen, und bietet eben deshalb auch grö-
ßere Schwierigkeiten dar.
Die einfachſte und unzweifelhafteſte Geſtalt dieſer Art
des Irrthums iſt folgende. Das Rechtsverhältniß hat
eine individuell beſtimmte Sache zum Gegenſtand, und da-
bey wird ein Individuum mit dem andern verwechſelt:
error oder dissensus in corpore (§ 135. g). Daß hier
niemals ein Rechtsgeſchäft vorhanden iſt, kann nicht be-
zweifelt werden. Einzelne Anwendungen ſind folgende.
Der Teſtator bezeichnet eine beſtimmte Sache als legirt,
während er in der That an eine andere denkt, die er mit
(i) Wenn ich eine Sache kaufe
oder verkaufe, ſo wird es mir oft
ganz gleichgültig ſeyn, wer der
Verkäufer oder Käufer iſt; doch
kann auch dieſes anders ſeyn we-
gen der Evictionspflicht des Ver-
käufers, und wegen der mögli-
chen Zahlungsunfähigkeit des Käu-
fers. Bey dem Darlehen wird
mir meiſt die Perſon meines
Schuldners von Wichtigkeit ſeyn,
die des Glaubigers weniger. Ver-
miethe ich mein Haus, ſo kann
die Perſönlichkeit des Miethers
an ſich für wichtig gehalten wer-
den; doch wird dieſes Intereſſe
dadurch gemindert, daß das R.
R. die sublocatio zuläßt, wo-
durch Daſſelbe bewirkt werden
kann, wie durch einen unterge-
ſchobenen Miether. — Der Grund-
ſatz muß allgemein gelten, daß
Jeder, der es gut findet, dieſe
Ungültigkeit des Vertrags behaup-
ten kann. — Von einer Modifi-
cation der aufgeſtellten Regeln in
Anwendung auf die Schenkung
wird im § 161 die Rede ſeyn.
|0285 : 273|
§. 136. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. (Fortſetzung.)
jener verwechſelt; hier gilt das Legat für keine von beiden
Sachen (k). — Wenn bey einem Kaufgeſchäft Käufer und
Verkäufer einander misverſtehen, und an verſchiedene in-
dividuelle Sachen denken, ſo iſt kein Contract geſchloſſen;
eben ſo auch bey dem Miethcontract und der Societät (l);
desgleichen bey der Stipulation (m) und bey der Schen-
kung, die mit oder ohne Stipulation verabredet ſeyn
konnte (n). — Auch die Tradition erfordert übereinſtim-
menden Willen, und auch ſie wird daher durch ein Mis-
verſtändniß über den Gegenſtand verhindert (o). Durch
eine ſolche blos vermeintliche Tradition kann alſo weder
unmittelbar Eigenthum, noch die Fähigkeit zur Uſucapion
erworben werden (p). — Nur in Einem Fall ſoll ein ſol-
ches Misverſtändniß über individuelle Sachen die Gültig-
keit juriſtiſcher Handlungen nicht hindern: im Prozeß.
Behauptet alſo der Beklagte am Ende des Rechtsſtreits,
er habe an eine andere Sache gedacht, als der Kläger,
ſo wird er damit nicht gehört, weil außerdem durch die-
(k) L. 9 § 1 de her. inst. (28.
5.), L. 4 pr. de leg. 1 (30. un.).
(l) L. 9 pr. de contr. emt.
(18. 1.), L. 57 de O. et A. (44. 7.).
(m) § 23 J. de inut. stip. (3.
19.), L. 83 § 1, L. 137 § 1 de
V. O. (45. 1.). Der Unterſchied
der einſeitigen und gegenſeitigen
Verträge, ſo wie der b. f. und
str. j. contractus, kommt alſo
hierbey nicht in Betracht. —
Wahrſcheinlich bezieht ſich auf den
Fall des error in corpore bey
Verträgen die ſehr unbeſtimmte
L. 116 § 2 de R. J. (50. 17.).
„Non videntur qui errant con-
sentire.” Vergl. Beylage VIII.
Num. VII. und Num. XXXIV. g.
(n) L. 10 C. de donat. (8. 54.).
(o) L. 34 pr. de adqu. poss.
(41. 2.).
(p) L. 2 § 6 pro emt. (41. 4.)
III. 18
|0286 : 274|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſes Vorgeben die gerichtliche Verhandlung leicht vereitelt
werden könnte (q).
Der Gegenſtand des Rechtsverhältniſſes, auf welchen
ſich der Irrthum bezieht, kann ferner eine nur nach Gat-
tung und Quantität beſtimmte Sache ſeyn. Betrifft hier
der Irrthum die Gattung ſelbſt, ſo iſt der Fall dem error
in corpore völlig gleich, z. B. wenn bey einem generi-
ſchen Kaufcontract der Verkäufer an Roggen, der Käufer
an Weizen denkt. Wenn über die bloße Quantität ein
Misverſtändniß unter zwey Perſonen herrſcht (r), ſo kann
dieſe Quantität entweder der einzige Gegenſtand des Ver-
trags ſeyn, oder auf eine Gegenleiſtung ſich beziehen. Im
erſten Fall gilt als wahrer Gegenſtand des Vertrags die
(q) L. 83 § 1 de V. O. (45.
1.) „… actori potius creden-
dum est, alioquin semper ne-
gabit reus se consensisse.” Es
verſteht ſich von ſelbſt, daß nicht
der Kläger durch fehlerhafte Be-
zeichnung der Sache das Mis-
verſtändniß ſelbſt herbeygeführt
haben muß. Aber auch ohne die-
ſes wird der Beklagte, der das
behauptete Misverſtändniß, und
zugleich ſein Intereſſe, wahrſchein-
lich machen kann, leicht Reſtitu-
tion erhalten. — Im älteſten Pro-
zeß der Römer waren die ma-
nus consertae, als Einleitung
jeder Vindication, recht eigentlich
darauf berechnet, das Misver-
ſtändniß über den Gegenſtand un-
möglich zu machen. Bewegliche
Sachen wurden dabey vor den
Prätor gebracht, in das Grund-
ſtück mußten ſich die Parteyen ge-
meinſchaftlich hinbegeben.
(r) Man denkt dabey gewöhn-
lich nur an Geldſummen, aber
es kann auch bey der Waare ein
Misverſtändniß über die Quan-
tität vorkommen, z. B. wenn der
Verkäufer 500 Scheffel Roggen
anbietet, und der Käufer glaubt,
es ſeyen 300 Scheffel angeboten;
daneben kann der Preis nach ein-
zelnen Scheffeln, oder auch zu ei-
ner feſten Summe im Ganzen
beſtimmt ſeyn, ohne daß bey deſ-
ſen Bezeichnung ein Misverſtänd-
niß über die Quantität ſtatt fin-
det. — Am leichteſten können ſol-
che Irrthümer über die Quanti-
tät vorkommen, wenn Unterhand-
lungen durch Correſpondenz ge-
führt, und die Zahlen undeutlich
geſchrieben werden.
|0287 : 275|
§. 136. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. (Fortſetzung.)
geringſte unter den beiden Quantitäten, woran die Par-
teyen dachten, weil über dieſe Quantität Übereinſtimmung
des Willens wirklich vorhanden iſt (s). Im zweyten Fall
muß unterſchieden werden, ob Derjenige, welcher die zwei-
felhafte Quantität leiſten ſoll, mehr oder weniger als der
Gegner in Gedanken hat; denkt er an mehr, ſo gilt wie-
der der Vertrag auf die geringere Quantität; denkt er an
weniger, ſo iſt gar kein Vertrag vorhanden (t). — Mit
dieſen Fällen wirklicher Misverſtändniſſe über Quantitäten
darf folgender Fall nicht verwechſelt werden. Wenn Je-
mand ein Legat ſo angiebt: „Zehen Thaler, die in mei-
ner Kaſſe vorräthig ſeyn werden zur Zeit meines Todes,“
ſo erhält der Legatar nie mehr als Zehen, vielleicht aber
weniger oder auch gar Nichts, wenn ſich keine Zehen in
der Kaſſe finden. Daſſelbe ſoll auch gelten bey Stipula-
(s) L. 1 § 4 de V. O. (45. 1.).
Nämlich wer Zwanzig anbietet,
hat eigentlich Zehen und Zehen
angeboten; nimmt alſo der Geg-
ner Zehen an, weil er nur dieſe
für angeboten hält, ſo iſt für Ze-
hen ein wahrer Conſens, alſo Ver-
trag, vorhanden, für die anderen
Zehen iſt kein Vertrag geſchloſſen.
Eben ſo im umgekehrten Fall.
(t) L. 52 locati (19. 2.). „Si
decem tibi locem fundum, tu
autem existimes quinque te
conducere, nihil agitur. Sed
et si ego minoris me locare
sensero, tu pluris te conduce-
re, utique non pluris erit con-
ductio, quam quanti ego pu-
tavi.” Denn wer Zehen als Mieth-
geld anbietet, hat darin auch Fünf
angeboten, für welche daher Con-
ſens vorhanden iſt; wer aber um
Zehen vermiethen will, iſt darum
keinesweges geneigt, ſich auch mit
Fünf zu begnügen. — Damit man
nicht in dieſem Beyſpiel an der
geringen Pachtſumme für einen
ganzen Fundus Anſtoß nehme, iſt
zu bemerken, daß die alten Juri-
ſten, wenn ſie Cardinalzahlen als
Beyſpiele anführen, damit ge-
wöhnlich ſo viele Tauſend Se-
ſterze ausdrücken wollen. Decem
iſt alſo ein jährliches Pachtgeld
von 10000 Seſterzen, oder unge-
fähr 500 Thalern.
18*
|0288 : 276|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
tionen, wobey alſo angenommen wird, der Schuldner habe
den Beſtand ſeiner Kaſſe als ungewiß gedacht (u). Dieſe
Beſtimmung beruht auf folgender Auslegung der erwähn-
ten Rechtsgeſchäfte: es iſt dem Andern angewieſen dasje-
nige Geld, was gerade in der Kaſſe ſich findet, kein An-
deres, aber auch Jenes nur bis zu einem Maximum von
Zehen. Es gehört alſo dieſe Beſtimmung zu den Anwei-
ſungen für die Auslegung der Rechtsgeſchäfte; dieſe Aus-
legung aber vorausgeſetzt, iſt dabey von einem Wider-
ſpruch zwiſchen der Erklärung und dem Willen, alſo von
einem Irrthum, gar nicht die Rede.
§. 137.
III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.
Unabſichtliche. Error in substantia.
Die bisher dargeſtellten Fälle des weſentlichen Irr-
thums koͤnnten an ſich für erſchöpfend gehalten werden.
Insbeſondere dürfte dann derjenige Irrthum über den Ge-
genſtand nicht für weſentlich gelten, welcher, bey einer
individuell beſtimmten Sache, blos eine Eigenſchaft der-
ſelben beträfe. Dennoch kommen auch ſolche Fälle vor,
denen die Kraft eines weſentlichen Irrthums beygelegt
wird. Freylich werden wir, noch ehe die Natur derſel-
(u) L. 108 § 10 de leg. 1 (30. un.), L. 1 § 7 de dote praeleg.
(33. 4.).
|0289 : 277|
§. 137. Error in substantia.
ben unterſucht iſt, anerkennen müſſen, daß ſie nur als
ſcharf begränzte Ausnahmen denkbar ſind; denn wollten
wir als Regel annehmen, daß jeder Irrthum über irgend
eine dem Gegenſtand des Rechtsverhältniſſes zukommende
Eigenſchaft den Willen ausſchließe, ſo würde damit die
Sicherheit des Rechtsverkehrs völlig vernichtet ſeyn.
Unſere Schriftſteller bezeichnen die dahin gehörenden
Fälle mit dem Kunſtausdruck Error in substantia, und
dieſer Ausdruck, wie ſo manche andere, hat nicht wenig
dazu beygetragen, die Sache ſelbſt zu verwirren. Die
Gewöhnung an dieſen vermeintlichen Kunſtausdruck führte
unvermerkt zu der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, an der
Spitze dieſer Lehre ſtehe etwa folgender Grundſatz: Quo-
tiens in substantia erratur, nullus est contractus. Die
Unterſuchung ſelbſt wird aber zeigen, wie wenig ein ſo
gefaßter Grundſatz der Wahrheit entſpricht (§ 138. a.).
Unſere Aufgabe beſteht alſo darin, die einzelnen Fälle
aufzuſuchen, in welchen der Irrthum über Eigenſchaften
einer Sache dem Error in corpore gleich wirkt, und dieſe
Fälle wo möglich auf eine gemeinſame Regel zurückzufüh-
ren. Bey dieſem Unternehmen werden wir uns weniger
an abſtracte Begriffe halten dürfen, als an die im wirk-
lichen Verkehr herrſchenden Anſichten und Gewohnheiten,
wodurch denn die ganze Unterſuchung eine nicht ſtreng ju-
riſtiſche Richtung erhält. Die Römiſchen Juriſten geben
uns Vier einzelne Fälle dieſer Art an:
|0290 : 278|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
1) Es kauft Jemand Hausgeräthe (a) von Bronze (b),
welches er für Gold hält;
2) Oder Hausgeräthe von Bley oder anderem geringen
Metall, oder auch von Holz, welches er für Silber hält (c);
3) Oder Eſſig, den er für Wein hält (d);
4) Oder endlich eine Sklavin, die er für einen männ-
lichen Sklaven hält (e). In allen dieſen Fällen ſoll kein
Conſens des Käufers angenommen werden.
In den drey erſten Fällen betrifft der Irrthum den
Stoff, und dieſer wird einmal als substantia bezeich-
(a) Allerdings iſt in den hier
einſchlagenden Stellen meiſtens
die Rede von aurum, aes, ar-
gentum, plumbum, ſo daß man
auch an unverarbeitetes Metall
denken könnte; daß aber in der
That metallene Geräthe gemeynt
ſind, zeigt deutlich das Beyſpiel
in L. 14 de contr. emt. (18. 1.),
wo daſſelbe, was zuerſt aurum
und aes hieß, nachher genauer
als viriola aurea und aenea be-
zeichnet wird; eben ſo in L. 45
eod. vas aurichalcum. Dazu
kommt, daß als Beyſpiele aus
dem täglichen Verkehr die Con-
tracte über Metallgeräthe ſo ſehr
viel näher liegen, als die über
rohes Metall, die doch nur bey
Handelsleuten und Handwerkern
oder Fabrikanten vorzukommen
pflegen, bey welchen wiederum
ein Irrthum über den Gegen-
ſtand ihres Gewerbes ſehr ſelten
ſeyn wird.
(b) Aes, das bey den Römern
von ſo ausgebreitetem Gebrauch
war, und das wir noch in ſo
vielen Tauſenden von antiken
Hausgeräthen und Bildwerken
übrig haben, iſt nicht Kupfer,
ſondern Bronze, eine Miſchung,
deren Grundlage freylich das
Kupfer iſt.
(c) Dieſe beiden erſten Fälle
kommen vor in L. 9 § 2 L. 10
L. 14 L. 41 § 1 de contr. emt.
(18. 1.). In der letzten Stelle
kann die mensa argento coo-
perta ſowohl verſilbertes Holz
als Metall ſeyn.
(d) L 9 § 2 de contr. emt.
(18. 1.). Es wird dabey aus-
drücklich bemerkt, daß nur von
eigentlichem Eſſig, der als ſolcher
bereitet oder angeſetzt iſt, nicht
von ſauer gewordenem Wein die
Rede ſeyn dürfe. Damit iſt zu
vergleichen L. 9 § 1. 2 de tritico
(33. 6.).
(e) L. 11 § 1 de contr. emt.
(18. 1.).
|0291 : 279|
§. 137. Error in substantia.
net (f), aber abwechslend mit dieſem Namen, und ungleich
häufiger, kommt als ganz gleichbedeutend der Ausdruck
materia vor (g). Schon dadurch wird es bedenklich, den
Ausdruck Error in substantia an die Spitze der ganzen Un-
terſuchung zu ſtellen; noch weit mehr aber dadurch, daß gar
nicht geſagt iſt, jeder Irrthum über den Stoff, und kein
anderer als dieſer, ſolle die Kraft eines Error in cor-
pore haben. Wir wollen alſo den abſtracten Begriff des
Stoffs einſtweilen bey Seite ſetzen, und die einzelnen Fälle
genauer in’s Auge faſſen.
Bey den Metallarbeiten fällt zuerſt auf, daß die Waare,
die der Käufer zu erhalten glaubt, von der die er wirklich
erhält, ſo ſehr im Werth verſchieden iſt. Dennoch können
wir hierin das Weſen der Sache nicht ſetzen, theils weil
es an aller ſcharfen Gränze fehlen würde, wenn wir die-
ſen Gegenſatz auf andere Gegenſtände anwenden wollten,
theils weil der Irrthum über gutes und ſchlechtes Gold
kein weſentlicher Irrthum ſeyn ſoll (h), obgleich auch da-
von der Geldwerth ſehr abhängt, beſonders da in dieſer
(f) L. 9 § 2 de contr. emt.
(18. 1.).
(g) L. 9 § 2 L. 11 pr. L. 14
de contr. emt. (18. 1.). Eben
ſo bey der Frage, ob durch Ver-
arbeitung eines Stoffs Eigenthum
an demſelben erworben werde, wo-
bey materia als Gegenſatz von
species vorkommt. § 25 J. de
rer. div. (2. 1.), L. 7 § 7 L. 24
de adqu. rer. dom. (41. 1.).
(h) L. 10. 14 de contr. emt.
(18. 1.). In der letzten Stelle
heißt: si inauratum aliquid sit
nicht: wenn das Gefäß vergoldet
iſt, ſondern: wenn deſſen Stoff
eine Miſchung von Gold und an-
derem Metall iſt. Dieſes folgt
unwiderſprechlich theils aus den
vorhergehenden, nach dem Zuſam-
menhang gleichbedeutenden, Wor-
ten, theils aus dem Zuſatz ali-
quid, der bey bloßer Vergoldung
keinen Sinn haben würde.
|0292 : 280|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Vorſchrift gar keine Gränze für die mögliche Legirung des
Goldes geſetzt wird. Sehen wir aber auf die im Verkehr
auch bey uns allgemein herrſchende Anſicht, ſo finden wir,
daß goldne und ſilberne Geräthe, in Vergleichung mit an-
deren Metallarbeiten, als Waaren von ganz eigenthümlicher
Art betrachtet werden. Der durchgreifende Unterſchied liegt
darin, daß bey den edlen Metallen, auch nach zerſtörter
oder veralteter Form des Geräthes, ſtets ein bedeutender
Werth im Stoff zurück bleibt, anſtatt daß im gleichen Fall
bey anderen Metallarbeiten meiſt ein ſehr geringer, oft
völlig unmerklicher, Werth übrig iſt. Es zeigt ſich dieſes
unter andern auch darin, daß die Fabrikation der edlen
Metalle, und der Handel mit ſolchen Fabrikaten ein ganz
eigenes, abgeſchloſſenes Gewerbe zu ſeyn pflegt. Halten
wir nun dieſen natürlichen, durch tägliche Erfahrung be-
währten Geſichtspunkt feſt, ſo ergeben ſich folgende Be-
dingungen und Gränzen der aufgeſtellten Regel. Sie kann
nur gelten bey Arbeiten, die durch Fabrik oder Handwerk
hervorgebracht werden, nicht bey eigentlichen Kunſtwerken,
wobey der Stoff ganz in den Hintergrund tritt (i). Sie
(i) Bey einem Bildwerk von
Benvenuto Cellini wird Niemand
das Hauptgewicht darauf legen,
ob es von Silber oder überſilbert
iſt. Dagegen werden Geräthſchaf-
ten von Silber oder Gold in der
Regel nach dem Gewicht verkauft,
wenngleich die Façon auch berück-
ſichtigt wird, jedoch nur ſo daß
ſie den Preis des Lothes, der
Mark u. ſ. w. um Etwas höher
oder niedriger ſtellt. — Zweifel
kann entſtehen bey Taſchenuhren;
denn Das, was wir eine goldne
Uhr nennen, iſt doch eigentlich
nur eine Uhr mit goldnem Ge-
häuſe. Man würde wohl anneh-
mendürfen, daß bey gewöhnlichen
Fabrikuhren der Irrthum über
das Gehäuſe (ob golden oder
|0293 : 281|
§. 137. Error in substantia.
gilt ferner auch bey vergoldeten, verſilberten oder plattir-
ten Arbeiten (k), denn obgleich zu dieſen wirklich edles
Metall verbraucht wird, ſo läßt ſich doch daſſelbe, nach
Zerſtörung der Form, nicht mehr abgeſondert herſtellen.
Sie gilt endlich auch, wenn das vergoldete ſilberne Gefäß
für ein goldnes gehalten wird, da der Unterſchied zwiſchen
Gold und Silber, nach der im Verkehr allgemein geltenden
Werthſchätzung, ein eben ſo durchgreifender iſt, als der
zwiſchen dem edlen und unedlen Metall. Sie gilt aber
nicht bey Geräthſchaften von unedlem Metall, wenn nur
über die Gattung dieſes Metalls ein Irrthum obwaltet;
denn obgleich auch dabey die Verſchiedenheit des Stoffs
Einfluß auf den Geldwerth zu haben pflegt, ſo iſt doch
in den meiſten Fällen das Geräthe von dieſer beſonderen
Form und Beſtimmung die Hauptſache, die Art des Me-
talls aber eben ſo das Untergeordnete, wie bey dem gold-
nen Gefäß die Feinheit des Goldes. Aus allen dieſen
Anwendungen alſo folgt ganz klar, daß ſelbſt dieſen Re-
geln über die Metallarbeiten etwas Anderes zum Grunde
liegt, als der bloße abſtracte Begriff des Stoffes.
Bey dem Wein und Eſſig iſt allerdings eine Verſchie-
denheit des Stoffes unverkennbar; dagegen kann man nicht
allgemein ſagen, daß der höhere oder geringere Werth ent-
ſcheidend ſey. Denn feiner, künſtlich bereiteter Eſſig kann
vergoldet) ein weſentlicher ſey,
bey einem beſonders ſorgfältig
gearbeiteten Werk aber nicht; bey
einem Chronometer z. B. iſt ja
der Werth des Gehäuſes ein ganz
unbedeutender Gegenſtand.
(k) L. 41 § 1 de contr. emt.
(18. 1.), vgl. Note c.
|0294 : 282|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
weit koſtbarer ſeyn, als geringer Wein, und ſelbſt der
umgeſchlagene, alſo gewiß ſehr ſchlechte Wein ſoll kein
Gegenſtand eines weſentlichen Irrthums ſeyn. Auch hier
alſo, wie bey den Metallarbeiten, iſt nicht ſowohl die
Preisverſchiedenheit, als die völlige Ungleichartigkeit der
Waare Das, was den weſentlichen Irrthum beſtimmt.
Endlich bey dem Sklaven und der Sklavin liegt der
Unterſchied gewiß nicht in dem allgemein verſchiedenen
Geldwerth, da ohne Zweifel Sklavinnen oft weit theurer
bezahlt wurden, als männliche Sklaven. Noch ſeltſamer
würde es ſeyn, hier an verſchiedenen Stoff denken zu
wollen, auch hat kein Römiſcher Juriſt von einer verſchie-
denen substantia oder materia der beiden Geſchlechter ge-
ſprochen. Allein die regelmäßige Benutzung der Sklaven
beſtand in Dienſt und Arbeit, und da die männlichen Skla-
ven auch außer dem Hauſe zur Feldarbeit, in Fabriken,
und als Handwerker regelmaͤßig benutzt zu werden pfleg-
ten, die Sklavinnen vorzugsweiſe im Hausdienſte und zu
weiblichen Arbeiten, ſo galten beide Geſchlechter für Waa-
ren verſchiedener Art, und daher war ein Irrthum über
das Geſchlecht ein weſentlicher Irrthum. Auch hier nun
würde es wieder ganz irrig ſeyn, bey dem abſtracten Be-
griff des Geſchlechts ſtehen zu bleiben, und dieſen überall
anzuwenden, auch bey einem Kauf von Thieren. Denn
bey Pferden z. B. iſt die regelmäßige Benutzung unab-
hängig von dem Geſchlecht, und es darf daher der Irr-
thum hierüber nicht für einen weſentlichen gehalten werden.
|0295 : 283|
§. 137. Error in substantia.
Faſſen wir alle dieſe Anwendungen zuſammen, ſo läßt
ſich daraus folgender allgemeine Begriff bilden. Der Irr-
thum über eine Eigenſchaft der Sache iſt ein weſentlicher,
wenn durch die irrig vorausgeſetzte Eigenſchaft, nach den
im wirklichen Verkehr herrſchenden Begriffen, die Sache
zu einer anderen Art von Sachen gerechnet werden müßte,
als wozu ſie wirklich gehört. Die Verſchiedenheit des
Stoffs iſt dazu weder nothwendig, noch ſtets hinreichend,
und der Ausdruck Error in substantia iſt daher keine an-
gemeſſene Bezeichnung (l).
Ich will nun dieſen Begriff zur Beurtheilung einiger,
in den Rechtsquellen nicht erwähnter, Fälle anwenden.
Der Irrthum iſt weſentlich, wenn unächte Edelſteine oder
Perlen für ächte gekauft werden (m). — Eben ſo wenn
(l) Wer Wein kauft, will nicht
eine in dieſem Faß enthaltene
Flüſſigkeit überhaupt, welche es
ſey, erwerben, ſondern ſein Ge-
danke iſt zunächſt und hauptſäch-
lich auf Wein gerichtet; eben ſo,
wer ein goldnes Gefäß kauft,
denkt nicht an ein Gefäß über-
haupt, ſondern weſentlich an das
Gold als Stoff des Gefäßes. Rö-
miſch läßt ſich das ſo ausdrücken:
es iſt eine species gekauft, aber
unter der ſtillſchweigenden Bedin-
gung, daß ſie zu einem beſtimmten
genus gehöre. Iſt alſo unter der
Hülle des Faſſes Eſſig anſtatt
Wein verborgen, ſo wird der
Fall eben ſo behandelt, wie wenn
bey dem Kauf eines Sklaven un-
ter der Hülle eines Gewandes,
oder unter der Hülle des gemein-
ſamen Namens Stichus, ein an-
deres Individuum verborgen wäre,
als dasjenige woran der Käufer
denkt.
(m) Bey ungefaßten Steinen
und Perlen muß dieſes unbedingt
gelten. Eben ſo auch bey gefaß-
ten, wenn die Faſſung nur dazu
dient, den Stein zu zeigen und
zu tragen, wie bey Brillantringen
und bey dem Frauenſchmuck; an-
ders wenn der Stein zur Verzie-
rung eines Gefäßes oder andern
Geräthes gebraucht iſt, wobey der
Stein als Nebenſache gilt, ſelbſt
wenn er von größerem Geldwerth
ſeyn mag, als das Gefäß ſelbſt.
Vgl. L. 19 § 13—16 § 20 de
auro (34. 2.).
|0296 : 284|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
von verſchiedenen Thierarten die Rede iſt, weil Niemand
ein Thier überhaupt, ſeinem abſtracten Begriff nach, kauft,
ſondern jede Thierart zugleich eine Waare anderer Art
iſt, ohne Rückſicht auf die Größe der Preisverſchiedenheit.
— Eben ſo bey rohen Metallen verſchiedener Art, weil
jede derſelben eine andere Waare iſt. — Ferner bey ver-
ſchiedenen Getreidearten; desgleichen bey verſchiedenen flüſ-
ſigen Stoffen, auch außer Wein und Eſſig (n). — Endlich
könnte dahin auch noch folgender Fall gerechnet werden.
Wenn ich ein Grundſtück kaufe, auf welchem ein Haus
oder ein Wald ſtand, ohne zu wiſſen, daß unmittelbar
vorher das Haus oder der Wald abgebrannt iſt, ſo iſt
der Gegenſtand des Vertrags, das Grundſtück, eigentlich
noch vorhanden (o), aber es iſt für den Verkehr ein Ge-
genſtand anderer Art geworden, denn eine Brandſtätte und
ein Haus wird im Verkehr Jeder für ungleichartig halten.
Auch iſt nun der Vertrag in der That ungültig (p), aber
dieſe Ungültigkeit wird hier unter einen andern Geſichts-
(n) Die Identität oder Ver-
ſchiedenheit wird hier nicht ſelten
ſchwankend ſeyn, auch wohl von
perſönlichen Gewohnheiten abhän-
gen können. Vgl. L. 9 de tri-
tico (33. 6.). — In allen dieſen
Fällen wird übrigens ein Vertrag
über beſtimmte Säcke, Haufen,
Fäſſer mit Waaren (alſo über
eine species) vorausgeſetzt; von
dem ganz anderen Fall, da über
ein genus contrahirt iſt, war ſchon
im § 136 die Rede.
(o) L. 98 § 8 de solut. (46. 3.)
„.. Non est his similis area,
in qua aedificium positum est:
non enim desiit in rerum na-
tura esse, imo et peti potest
area, et aestimatio ejus solvi
debebit: pars enim insulae area
est, et quidem maxima, cui
etiam superficies cedit” …
(p) L. 57. 58 de contr. emt.
(18. 1.).
|0297 : 285|
§. 137. Error in substantia.
punkt gebracht. Es gilt nämlich der Gegenſtand des Ver-
trags ſelbſt als vernichtet, welches in manchen einzelnen
Folgen von unſrem Fall verſchieden iſt (q). Dennoch kann
die Analogie dieſes Falles auch für unſre Frage benutzt
werden.
Dagegen wird in folgenden Fällen der Irrthum nicht
als ein weſentlicher, den Willen ausſchließender, betrachtet
werden dürfen. Bey gutem und ſchlechtem Gold (Note h);
bey gutem und ſchlechtem Wein (Note d); bey dem Stoff
von Geräthen aus unedlem Metall; bey einer Sklavin,
die irrig für eine Jungfrau gehalten wird (r); bey alten
und neuen Kleidern (s). Endlich auch noch in einem Fall,
(q) Nämlich die Stipulation
ſoll in einem ſolchen Fall ungül-
tig ſeyn (L. 1 § 9 de O. et A.
44. 7), die doch im Fall eines
weſentlichen Irrthums, z. B. zwi-
ſchen Gold und Bronze, gültig
ſeyn würde. L. 22 de V. O. (45. 1.).
(r) L. 11 § 1 de contr. emt.
(18. 1.). Der Kauf iſt alſo hier
wirklich geſchloſſen, und an ſich
gültig; ja ſelbſt eine Klage auf
Entſchädigung oder auf Auflöſung
des Vertrags hat der Käufer nur
dann, wenn ihn der Verkäufer
betrog. L. 11 § 5 de act. emti
(19. 1.).
(s) L. 45 de contr. emt. (18. 1.)
„.. si vestimenta interpola quis
pro novis emerit.” Mit dieſen
Worten iſt eben ſo gut die An-
nahme vereinbar, daß der Ver-
käufer die Kleider für neu aus-
gab (wiſſentlich oder unwiſſentlich),
als daß blos der Käufer ſich die-
ſes einbildete. Der Sache nach
muß aber nothwendig das erſte
angenommen werden. Denn ein
weſentlicher Irrthum iſt gewiß
nicht vorhanden, da hier der Ver-
trag als wirkſam vorausgeſetzt
wird, und da alte und neue Klei-
der gewiß nicht verſchiedener ſind,
als guter und verdorbener Wein,
oder als feines und ſchlechtes Gold.
Dann aber kann ſich eine Entſchä-
digungsverbindlichkeit nur grün-
den entweder auf den Dolus, oder
auf die Zuſage der Eigenſchaft
neuer Kleider; da nun der Juriſt
auch außer dem Fall des Dolus
eine Verbindlichkeit annimmt,
(„si quidem ignorabat vendi-
tor”) ſo iſt nur die Zuſage denk-
bar. Eine Beſtätigung liegt auch
in dem als gleichartig dargeſtellten
Fall von dem meſſingnen Gefäß,
|0298 : 286|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
der eine genauere Betrachtung bedarf: bey hölzernen Haus-
geräthen, wenn über die Holzart geirrt wird. Daß auch
dieſe auf den Preis Einfluß haben kann, wird Niemand
läugnen, aber zu einer andern Art von Waare werden
dadurch die Möbeln nicht, beſonders wenn das feinere
Holz ſo täuſchend durch Politur nachgeahmt iſt, daß eine
Verwechslung möglich wird. Der Unterſchied von edlen
Metallen iſt augenſcheinlich, da die Bearbeitung des gerin-
geren und des edleren Holzes von demſelben Gewerbe be-
ſorgt wird, und da nach zerſtörter Form die übrig blei-
benden Holzſtücke bey feinem und geringerem Holz gleich
werthlos zu ſeyn pflegen. So ſteht es nach allgemeiner
Betrachtung, wovon die meiſten Schriftſteller das Gegen-
theil annehmen, theils durch die ſcheinbare Ähnlichkeit der
edlen Metalle, theils durch den abſtracten Begriff der
Stoffsverſchiedenheit irre geführt. Alles aber kommt auf
die Erklärung folgender Stelle an. L. 21 § 2 de act.
worin es ausdrücklich heißt: au-
rum quod vendidit. Er muß es
alſo für Gold ausgegeben haben.
(Vgl. unten § 138). — Vestimenta
interpola ſind getragene, aufge-
putzte, ausgebeſſerte Kleider, die
dabey noch gut ausſehen können,
ja wohl müſſen, wenn ihre Ver-
wechslung mit neuen möglich ſeyn
ſoll. Ganz unrichtig behauptet
Richelmann S. 160, die Eigen-
ſchaft alter Kleider ſey wie vitium
und morbus, und gebe daher An-
laß zu den ädiliciſchen Klagen.
Ihn täuſchen die Worte in L. 37
de aedil. ed. „idcirco interpo-
lant veteratores et pro novi-
ciis vendunt.” Dieſes heißt aber,
die Verkäufer betrügen dadurch,
daß ſie den veterator unter no-
vicii unterſtecken, wodurch er
ſelbſt als novicius angeſehen wird.
Der Verkauf des veterator ohne
Anzeige war von den Ädilen na-
mentlich verboten; mit der Aus-
dehnung des Edicts auf nicht na-
mentlich erwähnte Fälle verfuhr
man vorſichtig, ſtets nach der
Analogie von vitium und mor-
bus, wie L. 49 eod. zeigt.
|0299 : 287|
§. 137. Error in substantia.
emti (19. 1.) „Quamvis supra diximus, cum in corpore
consentiamus, de qualitate autem dissentiamus, emtionem
esse, tamen venditor teneri debet, quanti interest (emto-
ris se) non esse deceptum, etsi venditor quoque nesciat:
veluti si mensas quasi citreas emat, quae non sunt.”
Wir wollen das am Ende erwähnte Beyſpiel an die Spitze
ſtellen. Es hatte Jemand Tiſche gekauft, als ob ſie von
Citronenholz wären, die es nicht waren (t); das quasi
citreas iſt an ſich zweydeutig, indem es ſowohl auf die
bloße Einbildung des Käufers, als auf die Verſicherung
des Verkäufers gehen kann: daß das letzte der wahre Sinn
iſt, wird ſogleich gezeigt werden. Die Hauptfrage iſt nun
die, ob geleſen werden ſoll emtionem esse (wie in der
Florentina), oder emtionem non esse (wie in anderen Hſſ.,
vielleicht allen anderen). Die herrſchende Meynung iſt für
non, theils weil man von der vorgefaßten Meynung aus-
gieng, jeder Irrthum über den Stoff, alſo auch bey Holz-
möbeln, ſey ein weſentlicher, theils weil man ſeltſamerweiſe
annahm, die Worte supra diximus ſeyen von Tribonian,
und giengen auf L. 9. 11. 14 de contr. emt. (18. 1.);
dadurch war man genöthigt, qualitas gleichbedeutend mit
substantia oder materia zu nehmen. Aber eben dieſes letzte
iſt gegen allen klar erweislichen Sprachgebrauch, da in
(t) Von dem unglaublichen Lu-
xus der Römer mit Citronenholz,
welches in großen Stücken, wie
ſie zu Möbeln brauchbar waren,
aus Afrika gebracht werden mußte,
giebt genaue Nachricht Plinius
hist. nat. XIII. 15. Er erzählt
von einem Tiſch, der mit 1400,000
Seſterzen, oder 70,000 Thalern,
bezahlt wurde.
|0300 : 288|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
allen ſicheren Stellen qualitas nur auf die mehr oder we-
niger gute Beſchaffenheit geht, von welcher nie ein weſent-
licher Irrthum abhängt (u). Das logiſche Verhältniß des
quamivs und tamen beweißt für keine von beiden denkba-
ren Erklärungen. Denn nach unſrer Erklärung kann es
heißen: „Obgleich der Vertrag gültig iſt, ſo folgt daraus
doch nicht, daß ſich der Käufer mit den bloßen Tiſchen,
ohne Geldentſchädigung, begnügen müſſe“ (v). Nach der
entgegengeſetzten aber würde es, logiſch eben ſo befriedi-
gend, heißen: „Obgleich der Vertrag als ſolcher nicht gilt
und wirkt, ſo iſt doch der Verkäufer (aus anderen Grün-
den, alſo neben dem Vertrag) verpflichtet.“ Deceptum
heißt hier, wie in vielen Stellen, nicht betrogen, ſondern
irrend, getäuſcht durch ſich ſelbſt, oder durch des Gegners
Verſicherung, nicht gerade durch deſſen Betrug. — Nun
iſt der Hauptſatz dieſer: der Vertrag iſt zwar gültig, den-
noch iſt der Verkäufer durch die in der Tradition liegende
ſcheinbare Erfüllung nicht frey; vielmehr muß er Entſchä-
(u) L. 14 de contr. emt. (18. 1.)
„Quid tamen dicemus, si in
materia et qualitate ambo er-
rarent?” Man hat hier in dem
zweyten Ausdruck eine müßige
Wiederholung des erſten finden,
alſo die gleiche Bedeutung beider
Worte daraus beweiſen wollen;
allein es folgen nun in der That
zwey Beyſpiele, in dem einen
wird über den Stoff geirrt (ma-
teria), in dem andern blos über
die Güte (qualitas), und beide
Fälle werden auf entgegengeſetzte
Weiſe entſchieden.
(v) Cujacius findet es lächer-
lich, daß der Juriſt ſagen ſollte:
„Obgleich der Vertrag gültig iſt,
kann dennoch der Käufer klagen.“
(Comm. ad L. 22 de V. O.,
opp. T. 1). Allein wenn man
den Nachſatz nicht auf das Da-
ſeyn eines Klagrechts überhaupt,
ſondern auf deſſen Gegenſtand
und Umfang bezieht, ſo verſchwin-
det die ſcheinbare Lächerlichkeit.
|0301 : 289|
§. 137. Error in substantia.
digung leiſten, ſelbſt wenn er nicht betrog, ſondern
gleichfalls irrte. Aus dieſer letzten, klaren Entſchei-
dung iſt es denn gewiß, daß der Juriſt vorausſetzt, der
Verkäufer habe im Contract ausgeſprochen, die Tiſche ſeyen
von Citronenholz; denn zur Entſchädigung konnte er nur
verpflichtet ſeyn entweder durch eine ſolche Zuſage (w),
oder durch ſeinen Dolus: ein dritter Grund iſt dafür nicht
denkbar. — So iſt alſo durch dieſe Stelle anerkannt, daß
bey Holzgeräthen der Irrthum über den Stoff kein we-
ſentlicher, der Vertrag alſo dennoch gültig iſt, indem er
die actio emti erzeugt; die Verbindlichkeit des Verkäufers
zur Entſchädigung, wenn er entweder betrog, oder die
beſſere Qualität im Vertrag ausſprach, folgt aus allge-
meinen Grundſätzen. — Es iſt merkwürdig zu ſehen, wie
weit manche Interpreten gehen, um ihre vorgefaßte Mey-
nung gegen die in den Worten etsi venditor quoque nes-
(w) Die Zuſage einer beſtimm-
ten Eigenſchaft bey dem Verkauf
einer Sache, verpflichtet ſtets den
Verkäufer wenn dieſe Eigenſchaft
fehlt: und zwar hat der Käufer
in dieſem Fall ſowohl die ädili-
eiſchen Klagen (L. 18 pr. L. 52
de aed. act. 21. 1), als die
actio emti auf das Intereſſe
(L. 13 § 3 de act. emti 19. 1,
L. 19 § 2 de aed. act. 21. 1).
In L. 13 cit. heißt es: Videamus
an ex emto teneatur? et putem
teneri. Natürlich auf das In-
tereſſe, wie immer bey dieſer
Klage. Gerade ſo heißt es aber
auch in unſrer Stelle: teneri
debet quanti interest. Über den
Umfang und die Berechnung die-
ſes Intereſſe iſt in beiden Stel-
len Nichts geſagt, aus dem ein-
fachen Grunde weil nicht jede
Stelle alle bey einem Rechtsfall
denkbare Fragen erſchöpfen kann;
es iſt alſo unbegreiflich, wie Ri-
chelmann S. 65 wegen der Art
des hier vorgeſchriebenen Intereſſe
behaupten kann, die Worte etsi
. . nesciat dürften nicht auf te-
neri quanti interest bezogen wer-
den. — Die Annahme einer aus-
drücklichen Zuſage hat alſo hier
denſelben Grund wie in L. 45 de
contr. emt., ſ. v. Note s.
III. 19
|0302 : 290|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ciat enthaltene Widerlegung zu retten. Noodt, deſſen
Interpretation überhaupt nicht ſehr ſchüchtern iſt, läßt dem
Leſer die Wahl, ob er jene Worte wegſtreichen, oder ob
er ſie auf den Vorderſatz (quamvis ....emtionem [non]
esse) beziehen wolle, welches letzte jedoch ganz außer der
Möglichkeit einer Conſtruction liegt (x). Bynkershoek
hat die Stelle richtig aufgefaßt, aber freylich die Haupt-
ſchwierigkeit, die ſcheinbare Analogie der edlen Metalle,
gar nicht berührt (y): weshalb auch ſeine Erklärung keinen
Eingang gefunden hat (z).
(x) Noodt Comm. ad Pand.
XVIII. 5. Die zuletzt vorgeſchla-
gene Conſtruction nimmt auch
Richelmann S. 66 an, ohne
ſich durch ihre Unmöglichkeit ſtö-
ren zu laſſen.
(y) Bynkershoek Observ. Lib.
8 C. 20.
(z) Ich habe in dieſem ganzen
§. zu zeigen geſucht, daß der Stoff
an und für ſich nicht das Ent-
ſcheidende iſt bey der Feſtſtellung
des weſentlichen Irrthums. Die-
ſes würde wahr ſeyn, ſelbſt wenn
die Gleichartigkeit des Stoffs wirk-
lich ſo an ſich ſelbſt gewiß, und
von individuellen Anſichten unab-
hängig wäre, wie man gewöhnlich
vorausſetzt. Allein auch daran
fehlt viel. Bey Metallarbeiten
z. B. kann man, je nach ſubjecti-
ven Anſichten, entweder den all-
gemeinen Begriff des Metalls zum
Grunde legen, oder den beſonde-
ren Begriff des Goldes, Silbers
u. ſ. w. Desgleichen bey Holz-
arbeiten entweder den allgemeinen
Begriff des Holzes (im Gegenſatz
von Metall oder Pappe), oder
den der einzelnen Holzart. Allein
auch mit dieſer letzten Annahme
iſt bey weitem nicht Alles abgethan,
da die Arten wieder viele Unter-
arten haben. Um bey dem Fall
der L. 21 cit. ſtehen zu bleiben,
vorausgeſetzt daß wirklich die Holz-
art einen weſentlichen Irrthum
begründete; ſoll es dann gerade
auf die species der Citrone an-
kommen, oder auf das genus der
Agrumi, das bekanntlich eine große
Zahl von species hat.
|0303 : 291|
§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)
§. 138.
III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.
Unabſichtliche. Error in substantia. (Fortſetzung.).
Im vorigen §. ſind die Bedingungen feſtgeſtellt wor-
den, unter welchen ein Irrthum über die Eigenſchaften
einer Sache als weſentlich zu betrachten iſt; die prakti-
ſchen Rechtsregeln für dieſen Fall, welche einſtweilen nur
vorausgeſetzt worden ſind, ſollen nunmehr genauer ange-
geben werden.
Fand man es überhaupt billig, dem Irrenden in die-
ſem Fall zu Hülfe zu kommen, ſo konnte dieſer allgemeine
Zweck auf zweyerley Weiſe erreicht werden. Man konnte
das Rechtsgeſchäft als an ſich gültig anſehen, dem Irren-
den aber ausnahmsweiſe die Anfechtung wegen eines irri-
gen Beweggrundes geſtatten, ſo wie dieſes bey den ädili-
ciſchen Klagen und bey der condictio indebiti geſchieht;
man konnte aber auch den Willen ſelbſt durch jene Art
des Irrthums als ausgeſchloſſen betrachten, woraus ſich
dann die Nichtigkeit des Rechtsgeſchäfts von ſelbſt als
Folge ergab. Das Roͤmiſche Recht hat dieſe zweyte Be-
handlung gewählt, welches ſowohl aus der Zuſammenſtel-
lung mit dem Error in corpore, als auch aus einzelnen
Ausſprüchen, unwiderſprechlich hervorgeht (a). — Der Irr-
(a) L. 9 § 2 de contr. emt.
(18. 1.). „.. in ceteris autem
nullam esse venditionem puto,
quotiens in materia erratur.”
Dieſes ſieht dem oben für un-
richtig erklärten allgemeinen Prin-
cip ähnlich: quotiens in substan-
tia (materia) erratur, nullus
est contractus (§ 137), iſt aber
davon weſentlich verſchieden, da
es ſchon nach den Worten blos
auf die vorhergehenden zwey Fälle
19*
|0304 : 292|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
thum iſt hier, wie bey dem Error in corpore, ein unäch-
ter, ſo daß es alſo gleichgültig iſt, ob den Irrenden ein
Tadel der Nachläſſigkeit trifft oder nicht (§ 135). — Der
Irrthum an ſich iſt der Grund, der uns beſtimmt, den
Willen als nicht vorhanden anzuſehen. Nun können aber
mit demſelben noch andere Thatſachen zuſammentreffen,
die vielleicht auch für ſich wieder beſondere juriſtiſche Fol-
gen haben. So z. B. kann über die irrig angenommene
Eigenſchaft der Sache ein ausdrückliches Verſprechen ge-
geben ſeyn; es kann ſich darauf ein Dolus des Gegners
beziehen. Alle dieſe möglicherweiſe concurrirende Thatſa-
chen liegen außer dem Kreiſe unſrer gegenwärtigen Be-
trachtung, indem ſich dieſe auf die Ausſchließung des Wil-
lens durch weſentlichen Irrthum über eine Eigenſchaft der
Sache beſchränkt. Es ergiebt ſich daraus, daß die juri-
ſtiſche Beurtheilung von Fällen dieſer Art eine ſehr zu-
ſammengeſetzte Natur haben kann. — Endlich iſt hier, wie
bey dem Irrthum über die Perſon (§ 136) zu bemerken,
daß zuweilen dieſe Folge des Irrthums unmerklich ver-
ſchwinden wird, weil in manchen Fällen die Verſchieden-
heit der wahren Beſchaffenheit von der irrig vorausge-
ſetzten, dem Irrenden gleichgültig, vielleicht ſogar vor-
theilhaft ſeyn wird.
von Gold und Silber geht, alſo
durchaus kein allgemeines Prin-
cip für den abſtracten Fall des
Error in substantia überhaupt
vorſtellen will. — Eben ſo wird
in L. 11 pr. eod. das Daſeyn des
consensus negirt. — Welche An-
ſicht bey dieſer Behandlung zum
Grund liegt, iſt ſchon oben an-
gegeben worden (§ 137, beſon-
ders Note l). Vergl. auch Bey-
lage VIII. Num. XXXIV. Note n
|0305 : 293|
§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)
Es darf jedoch nicht verkannt werden, daß dieſe Be-
handlung des erwähnten Falles, ſo natürlich und billig
ſie uns oft erſcheinen mag, eine künſtlichere Natur hat,
als die gleiche Behandlung des Error in corpore, bey
welchem die Annahme eines wirklichen Willens ganz un-
möglich ſeyn würde. Daher wird ſie überhaupt nur da
angewendet, wo ein (ſicheres oder denkbares) Rechtsin-
tereſſe des Irrenden dadurch zu ſchützen iſt. Daher iſt es
ferner denkbar, daß jene Behandlung nicht zu allen Zei-
ten, auch wohl nicht ſchlechthin für alle Fälle, ſtatt gefun-
den hat. Die nun folgende Aufſtellung der Rechtsregeln
im Einzelnen wird daher zugleich auf die Ermittlung und
Angabe ſolcher hiſtoriſchen und praktiſchen Gränzen ge-
richtet ſeyn müſſen.
Die einzelnen Stellen, die einen ſolchen Irrthum für
weſentlich, und deshalb den Vertrag für nichtig erklären,
betreffen insgeſammt den Fall, da ein Käufer über die
Gattung der gekauften Waare zu ſeinem Nachtheil irrt;
er kauft nämlich ein Gefäß von Bronze oder Bley für
Gold oder Silber, Eſſig für Wein, eine Sklavin für ei-
nen Sklaven. Hier iſt überall der Kauf nichtig, der Käu-
fer braucht daher nicht zu zahlen, und kann das gezahlte
Geld zurückfordern (b). Dieſes ſoll gelten, ohne Unter-
ſchied ob der Verkäufer es beſſer wußte, oder gleichfalls
im Irrthum war (c). Offenbar iſt hier an das zunächſt
(b) L. 9 § 2 L. 11 pr. § 1
L. 14 L. 41 § 1 de contr. emt.
(18. 1.).
(c) Die erſten unter den an-
geführten Stellen ſprechen von
dem Irrthum des Käufers, ohne
|0306 : 294|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
liegende Intereſſe des Käufers gedacht, nicht einen hohen
Preis für eine geringe Waare zahlen zu müſſen, und die-
ſer Zweck iſt durch die aufgeſtellte Regel vollſtändig er-
reicht. Es hat dieſelbe aber auch noch andere Folgen.
War z. B. im Vertrag ausgeſprochen, daß das Gefäß
von Gold ſey, und der Preis war für ein goldnes Gefäß
nur mäßig, ſo würde der Käufer wünſchen, den Vertrag
als gültig zu behandeln und die Differenz des Werths zu
verlangen (§ 137. w); dieſes kann er nun nicht, weil gar
kein Vertrag geſchloſſen iſt, ſelbſt wenn der Verkäufer in
dolo war. Allein dieſer Betrug wird freylich ſelbſtſtän-
dige Folgen haben können, unabhängig von dem Vertrag;
der unredliche Verkäufer alſo muß den Käufer entſchädi-
gen, wenn dieſer durch das, nunmehr als nichtig erkannte,
Geſchäft irgend einen Verluſt erlitten hat (d).
ſich über das Bewußtſeyn des
Verkäufers zu äußern; aber L. 14
cit. ſagt: „Quid tamen dicemus,
si in materia et qualitate ambo
errarent?” Daraus folgt un-
widerſprechlich, daß in den vor-
hergehenden Stellen ein wiſſen-
der Verkäufer vorausgeſetzt wird.
Dieſes Wiſſen nun läßt ſich noch
auf zweyerley Weiſe denken, red-
lich und unredlich, indem der Ver-
käufer ein gleiches Wiſſen bey
dem Käufer vorausgeſetzt haben
könnte. Allein in den Stellen
ſelbſt iſt wohl die Unredlichkeit des
Verkäufers vorausgeſetzt, theils
weil der ohne Zweifel weit höhere
Preis das Wiſſen des Käufers
unwahrſcheinlich machen mußte,
theils weil es in L. 9 § 2 cit.
heißt: „si acetum pro vino ve-
neat, aes pro auro.” Veneat
iſt ſo viel als venditum sit, das
Wort bezeichnet alſo die Hand-
lung des Verkäufers, welcher
Eſſig anſtatt Wein feil geboten
und verkauft, alſo für Wein aus-
gegeben hat, welches Verfahren
bey ſeinem beſſeren Wiſſen noth-
wendig einen Betrug in ſich ſchließt.
(d) Wegen des Betrugs muß
der Verkäufer den Käufer in die
Lage ſetzen, wie wenn von die-
ſem Geſchäft nie die Rede gewe-
ſen wäre. Hat alſo der Käufer
durch das Geſchäft Koſten gehabt,
|0307 : 295|
§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)
Dieſe Nichtigkeit des Kaufs war jedoch nicht zu allen
Zeiten anerkannt, ihre völlige Anerkennung muß daher der
ausgebildeteren Rechtswiſſenſchaft zugeſchrieben werden.
Zwar hatte ſie ſchon Julian behauptet (e), Marcellus aber
verwarf ſie (f), und erſt durch Ulpian und Paulus (g)
mag dieſe Lehre die unbeſtrittene Herrſchaft erlangt ha-
ben. Aus der älteren Zeit hat ſich denn auch noch ein
Zeugniß für die Meynung erhalten, nach welcher der
Kauf eines meſſingnen Gefaͤßes für ein goldnes den Ver-
trag eben ſo wenig ungültig machen ſoll, wie der Kauf
getragener Kleider, die man für neue hält. Die Stelle
iſt die theilweiſe ſchon oben erklärte L. 45 de contr. emt.
(18. 1.) (§ 137. s), die unter den neueren Schriftſtellern
beſonders viele Misverſtändniſſe erzeugt hat. Marcian
ſagt zuerſt, Labeo führe (beſtätigend) die Meynung des
Trebatius an, wenn ein Verkäufer getragene Kleider für
hat er an das vermeintlich goldne
Gefäß Arbeitslohn gewendet, oder
deshalb einen andern vortheilhaf-
ten Kauf verſäumt, ſo kann er
Erſatz fordern. Allein für den
Gewinn, den er, bey einem wirk-
lich goldnen Gefäß, durch den
gültigen Vertrag gemacht hätte,
kann er keinen Erſatz fordern.
Ganz unrichtig nehmen Manche
an, der irrende Verkäufer ſey
wegen Culpa verantwortlich. Cul-
pa iſt gar nicht allgemein eine
causa obligationis, wie es der
Betrug allerdings iſt. Nur wo
ein wirklicher Vertrag vorhanden
iſt (der hier fehlt), da iſt dieſer
eine causa obligationis, und die
daraus entſpringende Obligation
kann durch Culpa, wie durch Be-
trug, modificirt und erhöht werden.
(e) L. 41 § 1 de contr. emt.
(18. 1.).
(f) L. 9 § 2 de contr. emt.
(18. 1.). „.. Marcellus scripsit
.. emtionem esse et venditio-
nem, quia in corpus consensum
est, etsi in materia erratum.”
Das wird nun ſcheinbar beſchränkt,
in der That völlig widerlegt.
(g) L. 9. 11. 14 de contr. emt.
(18. 1.).
|0308 : 296|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
neue ausgebe, ſo könne der Käufer doch nur in dem Fall,
wenn er ſie wirklich für neu hielt, Entſchädigung fordern.
Hierauf folgt die aus Pomponius und Julian entlehnte
Beſtätigung und weitere Ausführung dieſer Behauptung.
Daran ſchließt ſich endlich die Fortſetzung des von Labeo
aufgeſtellten Satzes (h), indem derſelbe nun auch auf me-
tallene Gefäße in folgenden Worten angewendet wird:
„quemadmodum si vas aurichalcum (i) pro auro vendi-
disset ignorans, tenetur ut aurum quod vendidit prae-
stet” (k). Hier iſt es einleuchtend, daß der Kauf der me-
(h) Die Worte: quam sen-
tentiam et Pomponius bis: quod
ex eo contingit bilden eine, blos
auf das vorhergehende zu bezie-
hende, Parentheſe. Dieſes Ver-
hältniß der Sätze wird ſchon
durch die wechslende Conſtruction
angedeutet, denn der Zwiſchenſatz
ſchließt mit: qui ait … teneri,
während der folgende Satz ſo
lautet: quemadmodum .. tene-
tur, welches nicht mehr durch qui
ait regiert werden kann. Noch
ſicherer aber folgt es daraus, daß
der Schlußſatz unmöglich von Ju-
lian herrühren kann, weil dieſer
nach L. 41 § 1 eod. über die
Metallgefäße die entgegengeſetzte
Meynung hatte.
(i) aurichalcum oder orichal-
cum iſt Meſſing, eine Miſchung
aus Kupfer und Galmey, wie es
auch die Alten beſchreiben; nicht,
wie es Manche nach einer täu-
ſchenden Etymologie erklären woll-
ten, Miſchung aus Gold und Ku-
pfer, welches gerade für unſre
Unterſuchung ein entgegengeſetz-
tes Reſultat geben müßte. Hier
wird das Wort, welches außer-
dem nur ſubſtantiviſch vorkommt,
als Adjectivum gebraucht. Die-
ſer (bey einem nicht häufigen
Wort minder erhebliche) Anſtoß
hat in der Vulgata die Leſeart
si vas aurichalci, bey Haloan-
der die wichtigere Emendation si
quis aurichalcum veranlaßt, wel-
che letzte wohl durch keine Hand-
ſchrift unterſtützt wird, und ver-
worfen werden muß.
(k) Scheinbaren Anſtoß erregt
es, daß es erſt heißt auricha I-
cum vendidisset, und nachher
doch aurum quod vendidit. Aber
Beides iſt richtig; er verkaufte
in der That Meſſing, nach ſei-
nen Worten (alſo nach dem In-
halt des Contracts) Gold. Die
Worte ut aurum quod vendidit
praestet ſind ſo zu verſtehen: er
ſoll für das im Vertrag zuge-
|0309 : 297|
§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)
tallenen Gefäße dem Kleiderkauf völlig gleich geſtellt, und
daß bey beiden gleichmäßig die Gültigkeit des Vertrags
entſchieden angenommen wird. Da nun in den anderen
angeführten Stellen bey Metallgefäßen gerade das Gegen-
theil angenommen wird, ſo nahmen hieran mit Recht un-
ſre Schriftſteller Anſtoß. Die Vereinigungsverſuche ſind
insgeſammt gezwungen und unbefriedigend ausgefallen,
theilweiſe widerſprechen ſie geradezu den Worten (l). Das
Einfachſte iſt aber wohl, die Äußerung des Labeo, eben
ſo wie die des Marcellus, zu der älteren, nunmehr ver-
worfenen, Meynung zu zählen. Ob Marcian dieſe Mey-
nung billigte, oder vielleicht in der nicht mit excerpirten
Fortſetzung der Stelle widerlegte, läßt ſich nicht ausma-
chen. Zu tadeln ſind die Compilatoren nur inſofern, als
ſie dieſe Äußerung eines ſehr alten Juriſten in einer ſol-
chen Geſtalt aufgenommen haben, aus welcher nicht un-
mittelbar, und ohne Vergleichung anderer Stellen, ihre
ſpätere Verwerfung erhellt; das Verſehen erklärt ſich aber
daraus, daß dieſer Fall hinter dem andern, ganz unbe-
denklichen, Fall von den alten Kleidern erwähnt war,
durch welche Verbindung den Compilatoren die weſentliche
Verſchiedenheit unbemerkt blieb, wie denn ähnliche Fälle
öfter vorkommen (vgl. § 124. i).
ſagte Gold Entſchädigung leiſten.
Darauf geht nämlich die actio
emti, ſ. o. § 137. w.
(l) So iſt bey Averanius In-
terpr. I. 19 § 9. 10 (der übrigens
die Sache gründlich behandelt)
die Vereinigung höchſt gezwun-
gen; eben ſo bey Richelmann
S. 69. Die Meiſten helfen ſich
damit, daß ſie auf die Schwie-
rigkeit nicht recht eingehen.
|0310 : 298|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Ich will es nun verſuchen, die in den angeführten
Stellen nicht erwähnten, aber verwandten Fälle, nach den
dort angewendeten Grundſätzen zu beurtheilen. Wenn der
Käufer weiß, daß das Gefäß nur vergoldet iſt, welches
der Verkäufer für Gold hält, ſo gilt der Kauf, und der
verſprochene Preis muß gezahlt werden; denn der Käufer
irrt nicht, und in dem irrenden Verkäufer iſt kein denkba-
res Rechtsintereſſe durch Annahme der Ungültigkeit zu
ſchützen (m). — Wenn umgekehrt der Verkäufer das wirk-
lich goldne Gefäß für vergoldet hält, und in dieſem Irr-
thum verkauft, ſo iſt nach derſelben Regel, die in jenen
Stellen zum Schutz des Käufers angewendet wurde, auch
der Verkauf für nicht geſchloſſen zu halten (n); es iſt auch
dabey gleichgültig, ob der Käufer in demſelben Irrthum
war oder nicht.
Die hier über den Kauf und Verkauf aufgeſtellten Re-
geln ſind unbedenklich auch auf den Tauſch anzuwenden,
deſſen innere Verwandtſchaft mit dem Kauf, an ſich ſelbſt
(m) Wer ein Gefäß um Hun-
dert verkaufen will, das er für
ein goldnes hält, kann unmöglich
dieſen Verkauf abweiſen, wenn
er erfährt, daß es nur vergoldet
iſt. Es iſt genau derſelbe Fall
wie in L. 52 loc. (19. 2.), wo
Derjenige, welcher ein Grund-
ſtück um Zehen pachten will, ge-
radezu ſo angeſehen wird, als
hätte er auch um Fünf pachten
wollen, ohne daß er weiter hier-
über gefragt wird. Es iſt in
beiden Fällen von einem reinen
Mehr und Weniger die Rede.
Auch ſpricht dafür die augenſchein-
liche Analogie von L. 57 § 2
L. 58 de contr. emt. (18. 1.).
(n) Man könnte dagegen ein-
wenden, jeder Verkäufer müſſe
die Eigenſchaften ſeiner Sache ken-
nen, und der Irrthum ſey daher
ſeine eigene Schuld (L. 15 C. de
resc. vend. 4. 44.). Allein bey
dem unächten Irrthum, wovon
hier die Rede iſt, kommt auf die
Verſchuldung überhaupt Nichts an.
|0311 : 299|
§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)
unverkennbar, in unſren Rechtsquellen deutlich ausgeſpro-
chen iſt (o).
Bey dem Miethcontract wird ſeltner eine Veranlaſſung
zu dieſen Regeln vorkommen (p). Wo ſie aber vorkäme,
würde es dieſer Regeln nicht einmal bedürfen, da hier der
Vertrag auf Gebrauch gerichtet iſt, welcher an ſich ſchon
eine beſtimmte Form und Gebrauchsart der Sache voraus-
ſetzt. Daher wird hier auch in ähnlichen Fällen dem Mie-
ther ein viel durchgreifenderer Schutz als dem Käufer ge-
währt (q).
Bey der Schenkung (r) ſind folgende Grundſätze anzu-
wenden. Wird ein vergoldetes Gefäß geſchenkt, das der
Beſchenkte für Gold hält, ſo iſt die Schenkung dennoch
gültig, da der Irrende kein mögliches Rechtsintereſſe da-
gegen hat; denn dieſes geringere Gefäß iſt doch mehr
werth, als gar Nichts. Wird umgekehrt ein goldnes ge-
(o) L. 2 de rer. perm. (19. 4.).
(p) Es wäre möglich bey Skla-
ven und Sklavinnen; eben ſo wenn
Jemand ein Silberſervice miethen
wollte, und ein plattirtes erhielte.
(q) Wenn ein Haus nach ge-
ſchloſſenem Kauf abbrennt, ſo
trifft der Schade den Käufer, der
das ganze Kaufgeld bezahlen muß;
brennt es ab nach geſchloſſenem,
ja ſogar nach theilweiſe erfülltem
Miethcontract, ſo wird von der
Zeit des Brandes an kein Mieth-
geld gezahlt. L. 19 § 6 locati
(19. 2.).
(r) Es iſt gleichgültig, ob hier
von einem Schenkungsverſpre-
chen, oder von der Tradition als
Schenkung, die Rede ſeyn mag.
Denn auch die Tradition erhält
ihre Kraft nur durch die dona-
tionis causa, den donandi ani-
mus, und dieſer eben wird durch
den weſentlichen Irrthum ausge-
ſchloſſen. — Ich betrachte übri-
gens hier die Schenkung rein als
ſolche, wobey das Verſprechen
nach L. 35 C. de don. (8. 54.)
die Natur eines b. f. contractus
hat. Inwiefern die hinzutreten-
de Stipulation einen Unterſchied
macht, wird ſogleich unterſucht
werden.
|0312 : 300|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſchenkt, das der Schenkende für vergoldet hält, ſo iſt die
Schenkung, ohne Rückſicht auf das Bewußtſeyn des Be-
ſchenkten, für ungültig zu halten. Dafür ſpricht die Ana-
logie der gleichartigen Regel für den Verkauf, die hier
ſogar noch höheren Anſpruch auf Anerkennung haben muß.
Daſſelbe iſt unbedenklich auch anzunehmen, wenn ein
Teſtator in einem ſo weſentlichen Irrthum über die legirte
Sache iſt.
Bey der Stipulation wird ausdruͤcklich geſagt, das
Verſprechen ſey gültig, auch wenn der Glaubiger das
Bronzegefäß für Gold halte (s). Dieſes könnte nun ſchon
aus der Natur des einſeitigen Vertrags gefolgert werden,
eben ſo wie bey der Schenkung (t), weil Bronze mehr iſt
als Nichts. Allein der Grund, den der alte Juriſt an-
giebt (quoniam in corpore consenserimus), deutet auf
mehr. Da nämlich derſelbe Juriſt (Paulus) bey dem
Kauf den Conſens in corpore für nicht hinreichend hält,
um bey Gold und Bronze den Irrthum über den Stoff
zu beſeitigen (u), ſo will er ohne Zweifel ſagen, die freye
(s) L. 22 de V. O. (45. 1.).
„Si id quod aurum putabam,
cum aes esset, stipulatus de te
fuero, teneberis mihi hujus ae-
ris nomine, quoniam in cor-
pore consenserimus: sed ex
doli mali clausula tecum agam,
si sciens me fefelleris.” Der
dolus geht darauf, wenn mit
Rückſicht auf eine (vergangne oder
künftige) Gegenleiſtung die Sti-
pulation geſchloſſen iſt, welche da-
durch dennoch nicht aufhört, ein
einſeitiger Vertrag zu ſeyn. Fehlt
in der Stipulation die doli clau-
sula, ſo gilt hier freylich nicht die
Stipulationsklage, aber unſtreitig
die doli actio.
(t) Nämlich die Stipulation
kann zugleich eine Schenkung ſeyn,
dann fallen beide Geſichtspunkte
zuſammen; das iſt aber ganz zu-
fällig; vgl. Note s.
(u) L. 10 de contr. emt. (18.
|0313 : 301|
§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)
aequitas, die zu dieſer etwas künſtlichen Behandlung bey
dem Kauf geführt habe, dürfe bey der ſtreng buchſtäbli-
chen Natur der Stipulation nicht gelten. Daraus folgt
denn, daß auch die Stipulation gelten mußte, worin der
Schuldner das verſprochene Gefäß für vergoldet hielt,
welches in der That Gold war. Für unſer heutiges Recht
übrigens kann dieſes gleichgültig ſeyn.
Endlich wird noch dieſe Art des Irrthums erwähnt
bey der Verpfändung. Empfängt der Glaubiger als Pfand
ein vergoldetes Gefäß, das der Verpfänder für Gold aus-
giebt, ſo ſoll das Pfandrecht dennoch begründet ſeyn (v).
Dieſes folgt wieder aus der Natur des einſeitigen Ver-
trags, da das vergoldete Gefäß mehr Sicherheit giebt als
gar Nichts. Es wird aber hinzugeſetzt, gegen den Ver-
pfänder gehe eine pignoraticia contraria actio, und außer-
dem habe er ſich eines Stellionats ſchuldig gemacht (vor-
ausgeſetzt, daß er in dolo war, welches aus der Zuſage
allein nicht nothwendig folgt). Die pignoraticia contra-
ria, die durch die Zuſage unzweifelhaft begründet iſt
(§ 137. w), geht darauf, daß ein Pfand von gleichem
Werth mit dem verſprochnen goldnen Gefäß gegeben
1.), die offenbar dieſelbe Anſicht
vorausſetzt, wie die vorhergehende
L. 9 eod.
(v) L. 1 § 2 de pign. act.
(13. 7.). — Ein ganz verſchiede-
ner, nicht hierher gehörender Fall
iſt es, wenn ein goldnes Gefäß
wirklich verpfändet, dieſem aber
nachher bey der Übergabe ein
vergoldetes untergeſchoben wird.
Hier iſt das Rechtsgeſchäft ohne
Irrthum vollendet, und die Ver-
tauſchung gilt als Diebſtahl. L. 1
§ 1 de pign. act. (13. 7.), L. 20
pr. de furtis (47. 2.).
|0314 : 302|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kay. III. Entſtehung und Untergang.
werde. Aber ich glaube, daß dieſelbe Klage, als b. f.
actio, auch außer dem Fall einer ausdrücklichen Zuſage
gelten muß, wenn nur der wahre Werth der verpfände-
ten Sache nicht im Verhältniß mit dem Betrag der Schuld
ſteht. Denn auch in anderen Fällen gilt dieſe Klage,
wenn der Glaubiger aus Irrthum ein Pfand annimmt,
das ihm keine hinreichende Sicherheit gewährt: namentlich
wenn die verpfändete Sache in fremdem Eigenthum, oder
ſchon an Andere verpfändet, oder wenn der verpfändete
Sklave durch Krankheit von geringerem Werth iſt (w).
§. 139.
III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.
Unabſichtliche. Gränze dieſes Falles.
Es iſt bisher eine Reihe von Fällen angegeben wor-
den, in welchen der Irrthum bey einem Rechtsgeſchäft
als ein weſentlicher, das heißt den Willen ausſchließen-
der, zu betrachten iſt (§ 135—138). Wegen der Wich-
tigkeit dieſes Einfluſſes iſt es nun noch nöthig, die Gränze
dieſes Falles dadurch feſter zu beſtimmen, daß einige ver-
wandte Fälle, denen dieſelbe Natur leicht zugeſchrieben
werden möchte, ausdrücklich davon ausgeſchloſſen werden.
Es darf alſo nicht dahin gerechnet werden der wich-
tige Fall, da die Ausführung eines Rechtsgeſchäfts ſchon
zu der Zeit, worin das Geſchäft geſchloſſen wurde, un-
möglich war, z. B. wenn eine verkaufte Sache dem Ver-
(w) L. 9 pr., L. 16 § 1, L. 32, L. 36 § 1 de pign. act. (13. 7.).
|0315 : 303|
§. 139. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. Gränze.
kehr entzogen, oder zur Zeit des Verkaufs ſchon unterge-
gangen iſt. Zwar wird hier gewöhnlich auch ein Irrthum
über die Eigenthumsfähigkeit oder das Daſeyn der Sache
vorhanden ſeyn: auch iſt in der Regel die Wirkung, eben
ſo wie bey dem weſentlichen Irrthum, Nichtigkeit des Ge-
ſchäfts; dennoch hat dieſer Fall eine ganz andere Natur,
und gehört gar nicht in den gegenwärtigen Kreis der Be-
trachtung. Zwar werden auch hier gewöhnlich die Par-
teyen in Unwiſſenheit über den Untergang der Sache ſeyn,
wodurch man verleitet werden möchte, dieſen Fall mit
dem weſentlichen Irrthum über die Eigenſchaften in Ver-
bindung zu ſetzen. Allein der Irrthum iſt dabey keines-
weges nothwendig, vielmehr wird die Nichtigkeit unbe-
dingt, ohne Rückſicht auf das Bewußtſeyn der handelnden
Perſonen, ausgeſprochen (a), ja ſie wird ausdrücklich für
den Fall anerkannt, da der Käufer jenen Grund der Un-
gültigkeit kannte (b). Demnach iſt hier überhaupt nicht
von einer mangelhaften Willenserklärung die Rede, dieſe
iſt vielmehr in ſich vollendet, und alles Beſondere, was
hier eintritt, liegt in einem ganz anderen Gebiete, dem der
Ausführung des Willens, oder ſeiner Wirkungen. Dieſe
Wirkungen aber können nicht in einer gemeinſamen Be-
trachtung zuſammengefaßt werden, da ſie bey den einzel-
nen Klaſſen der Rechtsverhältniſſe zu verſchiedenartig ſind;
(a) L. 8 L. 15 pr. L. 34 § 1 de
contr. emt. (18. 1.), L. 1 § 9 de
O. et A. (44. 7.).
(b) L. 6 pr. L. 34 § 2 de
contr. emt. (18. 1.).
|0316 : 304|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſie müſſen daher dem beſondern Theile des Syſtems vor-
behalten bleiben (c).
Ferner iſt der Irrthum in den Beweggründen in der
Regel ohne Einfluß auf die Gültigkeit der Rechtsge-
ſchäfte (d). Auch wenn der Beweggrund ausgeſprochen
wird, und ſich ungegründet befindet (falsa causa), ſo iſt
darum das Geſchäft nicht weniger gültig (e). Nur giebt
es bey Teſtamenten mehrere Fälle, in welchen der Irr-
thum die Verfügung entkräftet, wobey es dann wieder
gleichgültig iſt, ob der Beweggrund ausgeſprochen war
oder nicht (f). Auch kann bey allen Rechtsgeſchäften dem
Beweggrund die Geſtalt einer Bedingung oder eines Mo-
dus gegeben werden, in welchem Fall er nach der Natur
dieſer Rechtsverhältniſſe wirkt. Im einzelnen Fall kann
es zweifelhaft ſeyn, ob eine gegebene Erklärung die eine
oder andere dieſer Bedeutungen haben ſoll, da es denn
auf deren Auslegung ankommt (g).
(c) So muß alſo z. B. bey den
Verträgen der Fall beachtet wer-
den, wenn die Ausführung un-
möglich iſt wegen des Untergangs
der Sache oder wegen ihrer Un-
fähigkeit zum Eigenthum. Eben
dahin aber gehört auch der Fall,
da der Inhalt des Vertrags, we-
gen ſeiner Widerrechtlichkeit oder
Unſittlichkeit, nicht zur Ausfüh-
rung kommen darf, in welchem
Fall auch nicht einmal der Schein
einer mangelhaften Willenserklä-
rung vorhanden iſt. Dieſe Fälle,
bezogen auf den Inhalt der Ver-
träge, ſtehen unter einander in
derſelben Verbindung, in welcher
ſie oben in Beziehung auf die
Bedingungen (die eine allgemei-
nere Natur haben) betrachtet wor-
den ſind (§ 121 — 124).
(d) Vgl. § 115, und Beylage
VIII. Num. X. XI. XVII.
(e) Ulpian. XXIV. § 19. § 31
J. de leg. (2. 20.), L. 17 § 2
L. 72 § 6 de cond. (35. 1.), L. 1
§ 8 de dote prael. (33. 4.).
(f) Beylage VIII. Num. XVII.
(g) § 31 J. de leg. (2. 20.),
|0317 : 305|
§. 139. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. Gränze.
Ferner iſt in der Regel unweſentlich der bloße Irr-
thum über Eigenſchaften des Gegenſtands eines Rechts-
verhältniſſes, mag auch die irrige Annahme derſelben zu-
gleich der Beweggrund für den Willen geweſen ſeyn. Die-
ſes ergiebt ſich am unzweifelhafteſten aus dem Gegenſatz
der wenigen, beſchränkten Fälle, in welchen der die Ei-
genſchaften betreffende Irrthum in der That ein weſentli-
cher iſt, und daher den Willen ausſchließt (§. 137. 138).
Unweſentlich iſt eben ſo der Irrthum in der namentli-
chen Bezeichnung perſönlicher oder ſachlicher Individuen
(nomen), vorausgeſetzt daß die Perſon oder Sache richtig
gedacht, und nur der Name verwechſelt iſt (h). — Eben
ſo iſt gleichgültig die unrichtige Benennung eines Rechts-
geſchäfts (z. B. Kauf oder Schenkung), wenn die Parteyen
aus Rechtsunkunde für das von ihnen wirklich gemeynte
Geſchäft einen falſchen Namen gewählt haben (§ 134. l).
— Endlich auch iſt gleichgültig das in einem Teſtament
von dem Teſtator ſelbſt, oder von dem Schreiber dem er
dictirte, falſch geſchriebene Zahlzeichen, wenn nur die Zahl
ſelbſt, an die der Teſtator dachte, außer Zweifel ſteht (i).
L. 17 § 3 de cond. (35. 1.), L. 2
§ 7 L. 3 de don. (39. 5.).
(h) So bey Erbeinſetzungen
und Legaten in Anſehung der Per-
ſonen. § 29 J. de leg. (2. 20.),
L. 16 § 1 de leg. 1 (30. un.),
L. 4 C. de test. (6. 23.); in An-
ſehung der legirten Sachen. L. 4
pr. de leg. 1 (30. un.), L. 28
de reb. dub. (34. 5.), L. 7 § 1
C. de leg. (6. 37.). — Eben ſo
bey Contracten. L. 32 de V. O.
(45. 1.), L. 9 § 1 de contr. emt.
(18. 1.). — Bey der Wahl eines
Richters. L. 80 de jud. (5. 1.).
— Bey der Tradition. L. 34 pr.
de adqu. poss. (41. 2.).
(i) L. 9 § 2. 3. 4 de her. inst.
(28. 5.).
III. 20
|0318 : 306|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
— Dagegen iſt nicht gleichgültig die irrige appellative
Bezeichnung einer Gattung von Sachen; das Gemeynte,
aber nicht Ausgedrückte, ſoll hier nicht gelten (k).
Ferner iſt auch unweſentlich der Irrthum in der be-
ſchreibenden Bezeichnung von Individuen (demonstratio),
das heißt in der Angabe nicht vorhandener Eigenſchaften
oder Verhältniſſe derſelben, wenn nur wiederum der rich-
tige Gedanke dem Erklärenden beygewohnt hat (l). — An-
ders iſt es, wenn die falſche Beſchreibung zuſammenfällt
mit einem falchen Beweggrund, und dieſer zugleich ein
ſolcher iſt, welcher ausnahmsweiſe den Willen entkräf-
tet (m). — Von dem Fall der bloßen Beſchreibung iſt zu
unterſcheiden die Angabe der Eigenſchaft einer Gattung,
wodurch dieſe auf eine beſondere Art beſchränkt wird.
(k) L. 4 pr. de leg. 1 (30.
un.). „.. rerum enim vocabula
immutabilia sunt, hominum
mutabilia.” L. 7 § 2 de sup-
pell. (33. 10.). „.. ex communi
usu nomina exaudiri debere …
non videri quemquam dixisse,
cujus non suo nomine usus
sit” … Das wird dabey frey-
lich anerkannt, daß auch die Gat-
tung nicht gelte, die der Teſta-
tor wörtlich bezeichnet, aber nicht
gemeynt habe. — Indeſſen, auch
mit dieſer natürlichen Beſchrän-
kung, iſt doch der Satz aus der
etwas ängſtlichen Behandlung der
Legate zu erklären, und dürfte
ſich im heutigen Recht ſchwerlich
rechtfertigen laſſen. Wenigſtens
bey Verträgen ſcheint es unbe-
denklich, diejenige Gattung gel-
ten zu laſſen, an welche die Con-
trahenten übereinſtimmend ge-
dacht haben, ſelbſt wenn ſie die-
ſelbe mit einem unrichtigen Aus-
druck bezeichnet haben mögen.
(l) So bey der Perſon des Er-
ben oder Legatars. L. 17 § 1
L. 33 pr. L. 34 pr. L. 40 § 4
de cond. (35. 1.), L. 48 § 3 de
her. inst. (28. 5.), L. 5 C. eod.
(6. 24.); bey der legirten Sache.
Ulpian. XXIV. § 19, § 30 J. de
leg. (2. 20.), L. 17 pr. § 1 L. 72
§ 8 de cond. (35. 1.), L. 35 § 1.
2 L. 102 § 1 de leg. 3 (32. un.),
L. 28 de reb. dub. (34. 5.).
(m) Beylage VIII. Num. XVII.
|0319 : 307|
§. 140. Vertrag.
Dieſe Beſtimmung iſt eben ſo von Einfluß, wie die der
Gattung ſelbſt; iſt ſie nun irrig, indem eine ſolche Ei-
genſchaft bey der ganzen Gattung nicht vorkommt, ſo daß
die Haupt- und Nebenbeſtimmung mit einander im Wider-
ſpruch ſtehen, ſo wird dadurch das ganze Rechtsgeſchäft
entkräftet (n).
§. 140.
IV. Vertrag.
Unſere Betrachtung der juriſtiſchen Thatſachen iſt bis
jetzt ſtets vom Allgemeinen zum Beſonderen fortgeſchritten:
von der Thatſache überhaupt zur freyen Handlung, von
dieſer zur Willenserklärung (§ 104 fg.). Wir gehen auf
dieſem Wege einen Schritt weiter, indem wir das Weſen
des Vertrags zu beſtimmen ſuchen, welcher unter allen
Arten der Willenserklärung die wichtigſte und umfaſſendſte
iſt. Der Begriff deſſelben iſt Allen, auch außer dem Ge-
biet unſrer Wiſſenſchaft, geläufig, den Juriſten aber durch
vielfache Anwendungen ſo bekannt und unentbehrlich, daß
man überall eine gleichförmige und richtige Auffaſſung deſ-
ſelben erwarten möchte; dennoch fehlt hieran ſehr viel.
(n) L. 7 § 1 de trit. (33. 6.).
„Lucio Titio tritici modios cen-
tum, qui singuli pondo centum
pendeant, heres dato. Ofilius,
nihil legatum esse, quod et La-
beo probat: quoniam ejusmodi
triticum in rerum natura non
esset: quod verum puto.” Der
Modius Weizen mochte im Durch-
ſchnitt kaum Fünf und zwanzig
Römiſche Pfunde wiegen (Pli-
nius H. N. XVIII. 7.), Weizen zu
Hundert Pfund ſchwer war alſo
unmöglich zu finden.
20*
|0320 : 308|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
Ich will es verſuchen, durch die Analyſe eines Falles,
an deſſen Vertragsnatur Niemand zweifelt, den Begriff
ſelbſt zur Anſchauung zu bringen. Betrachten wir zu die-
ſem Zweck den Kaufcontract, ſo iſt das Erſte, was wir
dabey wahrnehmen, eine Mehrheit einander gegenüber ſte-
hender Perſonen. In dieſem beſonderen Fall, ſo wie in
den meiſten, ſind es gerade zwey Perſonen; in manchen
Fällen aber, wie bey der Societät, iſt die Anzahl ganz
zufällig, und ſo müſſen wir bey dem allgemeinen, unbe-
ſtimmten Merkmal der Mehrheit ſtehen bleiben. — Dieſe
Mehreren müſſen irgend Etwas, und zwar Beide daſſelbe,
beſtimmt gewollt haben, denn ſo lange noch entweder Un-
entſchiedenheit, oder Mangel an Übereinſtimmung vorhan-
den iſt, wird Niemand einen Vertrag annehmen können.
— Sie müſſen ſich dieſer Übereinſtimmung bewußt gewor-
den ſeyn, das heißt der Wille muß gegenſeitig erklärt wor-
den ſeyn, da der blos gefaßte, aber heimlich gehaltene
Entſchluß nicht als Beſtandtheil eines Vertrags gelten
kann. — Ferner iſt der Gegenſtand des Willens zu beach-
ten. Kommen zwey Menſchen mit einander überein, ſich
gegenſeitig in Tugend, Wiſſenſchaft, Kunſt, durch Rath
und Beyſpiel zu fördern, ſo würde das nur ſehr uneigent-
lich ein Vertrag genannt werden. Der Unterſchied von
dem beyſpielsweiſe angeführten Kaufcontract, der wirklich
ein Vertrag iſt, liegt aber darin, daß in dieſem der Wille
auf ein Rechtsverhältniß als Zweck gerichtet iſt, in jenen
Fällen auf andere Zwecke. — Aber auch die bloße Rich-
|0321 : 309|
§. 140. Vertrag.
tung auf ein Rechtsverhältniß iſt noch nicht hinreichend.
Wenn die Mitglieder eines Gerichtshofs, nach langen De-
batten, über ein Urtheil ſich einigen, ſo finden ſich alle
bisher angegebene Merkmale, auch ein Rechtsverhältniß iſt
Zweck des Beſchluſſes, und dennoch iſt kein Vertrag an-
zunehmen. Der Grund liegt darin, daß das Rechtsver-
hältniß ihnen fremd, nicht wie bey dem Kaufcontract ihr
eigenes iſt.
Die angegebenen Merkmale laſſen ſich in folgenden Be-
griff zuſammenfaſſen. Vertrag iſt die Vereinigung Meh-
rerer zu einer übereinſtimmenden Willenserklärung, wodurch
ihre Rechtsverhältniſſe beſtimmt werden. — Dieſer Begriff
enthält eine einzelne Anwendung des allgemeineren, oben
dargeſtellten Begriffs der Willenserklärung. Er unterſchei-
det ſich als einzelne Art von dieſer ſeiner Gattung durch
das Merkmal der Vereinigung mehrerer Willen zu einem
einzigen, ganzen ungetheilten Willen, anſtatt daß die Wil-
lenserklärung überhaupt auch von einer einzelnen Perſon
ausgehen kann.
Unter den zu dieſem Begriff zuſammengefaßten Merk-
malen iſt nur eines einer näheren Erwägung bedürftig,
da gerade hierin der Sitz mancher Misverſtändniſſe iſt:
das Merkmal des Rechtsverhältniſſes. Es fragt ſich näm-
lich, ob Rechtsverhältniſſe aller Art, oder etwa nur eine
einzelne Art derſelben, Gegenſtand des Vertrages ſeyn
können. Von dieſer Seite nun müſſen wir für den ange-
gebenen Begriff die ausgedehnteſte Anwendbarkeit in An-
|0322 : 310|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſpruch nehmen. Es ſind alſo Verträge möglich im Völ-
kerrecht, im Staatsrecht, im Privatrecht: in dieſem ferner
bey allen Arten der ihm angehörenden Rechtsinſtitute.
Völkerrechtliche Verträge finden ſich in allen Bündniſ-
ſen, Friedensſchlüſſen, wie in der Unterwerfung eines ſou-
veränen Staats unter die Hoheit eines andern, oder umge-
kehrt in der Verwandlung von Beſtandtheilen eines Staats
in einen eigenen, ſelbſtſtändigen Staat (a). Die Römiſchen
Juriſten nennen den völkerrechtlichen Vertrag publica con-
ventio (b); ſie warnen vor der misbräuchlichen Anwendung
der Regeln und Formen des Privatrechts auf denſelben (c).
Staatsrechtliche Verträge ſind namentlich in Deutſch-
land häufig vorgekommen: ſo zwiſchen dem Fürſten und
den Ständen, zwiſchen verſchiedenen Mitgliedern eines re-
gierenden Hauſes. Recht entſchieden tritt dieſe Form ins-
(a) Von Unterwerfungsverträ-
gen in mancherley Abſtufungen
liefert die Römiſche Geſchichte
viele Beyſpiele. Die Verträge,
wodurch ſouveräne Staaten ent-
ſtehen, ſind meiſt die Folge von
Revolution und Krieg: ſo die
Losreißung Hollands von Spa-
nien, der vereinigten Staaten in
Nordamerika von England, Bel-
giens von Holland, der Spani-
ſchen und Portugieſiſchen Colonien
vom Mutterland. Sie kommen
aber auch als friedliche und frey-
willige vor: ſo wenn in Nord-
amerika eine Anzahl von Einwoh-
nern zu einem neuen Staat ver-
einigt werden.
(b) L. 5 de pactis (2. 14.).
(c) Gajus III. § 94. Nachdem
er zuerſt geſagt hatte, nur Rö-
miſche Bürger könnten in der
Formel: Spondes? Spondeo gül-
tig contrahiren, fährt er fort:
„Unde dicitur, uno casu hoc
verbo peregrinum quoque obli-
gari posse, velut si Imperator
noster Principem alicujus pe-
regrini populi de pace ita in-
terroget: Pacem futuram spon-
des? vel ipse eodem modo in-
terrogetur. Quod nimium sub-
tiliter dictum est: quia si quid
adversus pactionem fiat, non
ex stipulatu agitur, sed jure
belli res vindicatur.”
|0323 : 311|
§. 140. Vertrag.
beſondere in der Wahlkapitulation des Kaiſers hervor (d).
— Dagegen iſt in dieſem Gebiet dem Vertrag manche
irrige Anwendung beygelegt worden. So bey der urſprüng-
lichen Entſtehung der Staaten, die häufig auf einen Ver-
einigungs- und Unterwerfungs-Vertrag zurückgeführt wird,
da doch jede Ableitung derſelben aus individueller Will-
kühr verneint werden muß (§ 9). Eben ſo aber auch bey
dem Eintritt des Einzelnen in den Staat. Wie nämlich
der Menſch durch ſeine Geburt Glied einer Familie wird,
und zwar in der Regel einer durch Ehe rechtlich geordne-
ten Familie: eben ſo wird er durch Geburt Glied eines
Volks und zugleich eines Staates, welcher nur die Er-
ſcheinung des Volks in beſtimmter Rechtsform iſt. Durch
jenes, wie durch dieſes Band wird der Einzelne an das
Ganze der Menſchheit angeknüpft, lange ehe er ein Be-
wußtſeyn davon haben kann; daher iſt es für beiderley
Verbindungen gleich unzuläſſig, ſie auf Vertrag, alſo auf
individuelle Willkühr, zurück zu führen. Allein das ur-
ſprünglich vorhandene Familienband kann durch freye Hand-
lungen modificirt oder nachgeahmt werden, namentlich durch
Emancipation und Adoption. Eben ſo iſt es denkbar, daß
der Einzelne durch freyen Entſchluß den angebornen Staat
verlaſſe, und in einen neuen eintrete; auch dieſe Verände-
(d) Am Schluß des Eingangs
heißt es: „daß Wir Uns dem-
nach aus freyem gnädigen Wil-
len mit denſelben .. Kurfürſten,
für ſich und ſämmtliche Fürſten
und Stände des heiligen römiſchen
Reichs geding- und pakts-
weiſe dieſer nachfolgenden
Artikel vereiniget, vergli-
chen, angenommen und zu-
geſagt haben.”
|0324 : 312|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
rung kann, je nach den Einrichtungen eines Staates, die
Form eines wahren Vertrags annehmen.
Die privatrechtlichen Verträge aber ſind unter allen
die mannigfaltigſten und häufigſten, und ſie allein haben
die gegenwärtige Betrachtung veranlaßt. Hier nun kommt
der Vertrag bey allen Arten der Rechtsinſtitute vor, und
überall als eine der wichtigſten Rechtsformen. So zuerſt
bey den Obligationen, und zwar vor Allem zur Begrün-
dung derſelben, welche Verträge man vorzugsweiſe die
obligatoriſchen nennt: eben ſo aber auch zur Auflöſung
der Obligationen. — Ferner im Sachenrecht, und zwar
gleichfalls in der ausgedehnteſten Anwendung. So iſt die
Tradition ein wahrer Vertrag, da alle Merkmale des
Vertragsbegriffs darin wahrgenommen werden: denn ſie
enthält von beiden Seiten die auf gegenwärtige Übertra-
gung des Beſitzes und des Eigenthums gerichtete Willens-
erklärung, und es werden die Rechtsverhältniſſe der Han-
delnden dadurch neu beſtimmt; daß dieſe Willenserklärung
für ſich allein nicht hinreicht zur vollſtändigen Tradition,
ſondern die wirkliche Erwerbung des Beſitzes, als äußere
Handlung, hinzutreten muß, hebt das Weſen des zum
Grund liegenden Vertrags nicht auf. Eben ſo entſtehen
die Servituten regelmäßig durch Vertrag, man mag nun
mit den Meiſten eine Tradition fordern, wie bey dem Ei-
genthum, oder den bloßen Vertrag an ſich für genügend
halten. Eben ſo entſteht durch Vertrag die Emphyteuſe,
die Superficies, das Pfandrecht; bey dieſem letzten iſt
|0325 : 313|
§. 140. Vertrag.
nicht einmal die irrige Behauptung verſucht worden, daß
noch eine Tradition hinzutreten müſſe. — In dieſen häu-
figen und wichtigen Fällen wird die Vertragsnatur der
Handlung meiſt überſehen, weil man ſie nicht gehoͤrig von
dem obligatoriſchen Vertrag unterſcheidet, welcher jene
Handlung gewöhnlich vorbereitet und begleitet. Wird zum
Beyſpiel ein Haus verkauft, ſo denkt man gewöhnlich an
den obligatoriſchen Kauf, und ganz richtig; aber man ver-
gißt darüber, daß die nachfolgende Tradition auch ein
Vertrag iſt, und ein von jenem Kauf ganz verſchiedener,
nur durch ihn nothwendig gewordener. Die Verwechslung
wird recht anſchaulich durch die ſeltneren Fälle der Tra-
dition ohne vorhergehende Obligation, wie bey dem Ge-
ſchenk an einen Bettler, das einen wahren Vertrag enthält
ohne alle Obligation, bloßes Geben und Nehmen in über-
einſtimmender Abſicht; ferner durch die Verpfändung ohne
Beſitz (hypotheca), wobey durch Vertrag blos das ding-
liche Pfandrecht entſteht, gar keine Obligation. Man
könnte, zur ſchärferen Unterſcheidung alle dieſe Fälle als
dingliche Verträge bezeichnen. — Endlich gehören un-
ter die privatrechtlichen Verträge auch diejenigen, wodurch
in der Familie Rechtsverhältniſſe beſtimmt werden, na-
mentlich die Ehe, die Adoption, die Emancipation. Die
Einwürfe gegen die Vertragsnatur der Ehe werden im
folgenden §. geprüft werden; die Vertragsnatur der Adop-
tion und Emancipation iſt bey den durch ihr Alter hand-
lungsfähigen Kindern nicht zu bezweifeln. Für dieſe Art
|0326 : 314|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
der Verträge würde die Benennung der Familienverträge
an ſich paſſend ſeyn; ſie iſt jedoch nicht räthlich, weil ſie
nach dem herrſchenden Sprachgebrauch ſchon für andere
(das Vermoͤgen betreffende) Verträge angewendet zu wer-
den pflegt.
§. 141.
IV. Vertrag. (Fortſetzung.)
Von der hier gegebenen Darſtellung des Begriffs vom
Vertrag weichen unſre Schriftſteller, ältere und neuere,
darin ab, daß ſie eine einzige unter den angegebenen An-
wendungen für den Gattungsbegriff ſelbſt nehmen, indem
ſie den Vertrag im Allgemeinen ſo erklären, und mit dem
Ganzen ihrer Syſteme in ſolche Verbindung ſetzen, als
wäre der obligatoriſche Vertrag der einzige überhaupt (a).
Sie geben dadurch dem Begriff eine zu enge Begränzung,
und ſchließen viele wichtige Fälle von deſſen Anwendung
aus, anſtatt daß im Staatsrecht nicht ſelten eine zu aus-
gedehnte Anwendung jenes Begriffs gemacht wird (§ 140).
Der Grund dieſer unvollſtändigen Auffaſſung liegt darin,
daß der obligatoriſche Vertrag nicht nur der häufigſte un-
ter allen iſt, ſondern auch derjenige, in welchem die Ver-
(a) Donellus Lib. 12 C. 6.
Hofacker T. 3 § 1752. Thi-
baut § 444. Heiſe B. 3 § 69.
Mühlenbruch § 331. Mackel-
dey § 353. — Von Puchta
Lehrbuch der Pandekten 1838
§ 237 wird die allgemeinere Be-
deutung der Verträge ganz aus-
drücklich anerkannt.
|0327 : 315|
§. 141. Vertrag. (Fortſetzung.)
tragsnatur augenſcheinlicher und wirkſamer als in anderen
Anwendungen hervortritt. Dieſes zeigt ſich deutlich in ei-
ner Stelle des Ulpian, welcher den Vertragsbegriff im
Allgemeinen feſtzuſtellen ſucht (b). Er wählt dafür zuerſt
den Ausdruck Pactio, und erklärt dieſen genau in dem
allgemeinen, umfaſſenden Sinn, welchen ich dem Vertrag
zugeſchrieben habe: Pactio est duorum pluriumve in idem
placitum consensus. Darauf wird der Ausdruck Conventio
gebraucht, augenſcheinlich nur als abwechslende Bezeich-
nung, nicht als ob Conventio etwas Anderes, oder Enge-
res, oder Weiteres ausdrücken ſollte. Dieſe Conventio
nun wird Anfangs eben ſo allgemein erklärt, dann aber
verliert ſich unvermerkt der Gattungsbegriff ganz in die
einzelne Art der obligatoriſchen Verträge.
Man könnte jedoch leicht dieſem Gegenſatz der Mey-
nungen eine groͤßere Wichtigkeit beylegen, als ihm in der
That zukommt. Wenn nämlich nun von mir allgemeine
Rechtsregeln über die Verträge aufgeſtellt würden, die ich
auf die Ehe, Tradition u. ſ. w. anwendete, während An-
dere dieſe Anwendung unterließen, ſo würde darin eine
wichtige praktiſche Verſchiedenheit enthalten ſeyn. So iſt
es aber nicht. Denn die für die Verträge geltenden Rechts-
regeln beziehen ſich auf die ihnen zum Grunde liegenden
allgemeineren Begriffe der freyen Handlungen oder der
Willenserklärungen (§ 104. 106. 114); ſo die Lehre von
den Altersſtufen, von Zwang und Irrthum, von den Be-
(b) L. 1 § 2. 3. 4 de pactis (2. 14.).
|0328 : 316|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
dingungen u. ſ. w. Dieſe ſind alſo auf alle Willenserklä-
rungen unzweifelhaft anwendbar, folglich unabhängig von
der hier angeregten Streitfrage. Man kann in dieſer Hin-
ſicht die Verträge beynahe als gleichbedeutend anſehen mit
den Rechtsgeſchäften unter Lebenden überhaupt, und in
dieſem Sinn iſt von ihnen auch ſchon bisher häufig geredet
worden (§ 116. a). Was aber außerdem noch bey den
Verträgen von Wichtigkeit iſt, namentlich die Eintheilungen
derſelben, und vorzüglich der Gegenſatz der contractus
und pacta, bezieht ſich in der That nur auf die obligato-
riſchen Verträge. Und ſo können wir uns an dieſer Stelle
damit begnügen, dem Begriff des Vertrags ſeine wahre
Ausdehnung vindicirt zu haben, ohne bey demſelben in
allgemeiner Betrachtung länger zu verweilen.
Wollte man indeſſen die eingeräumte mindere Wichtig-
keit des hier erhobenen Streites dazu benutzen, um den
Streit ſelbſt für leer und überflüſſig auszugeben, ſo müßte
ich dieſer Anſicht ſehr beſtimmt widerſprechen. Es haben
ſich nämlich an die gerügte unvollſtändige Auffaſſung des
Vertragsbegriffs manche Irrthümer angeknüpft, deren gänz-
liche Beſeitigung nicht unerheblich iſt. Wer den obligato-
riſchen Vertrag für den einzigen überhaupt hält, und alſo
die Vertragsnatur in der Tradition verkennt, kann dieſe
nur ſehr einſeitig auffaſſen. Zwar wird er bey ihr die
nothwendige Handlungsfähigkeit, den Einfluß von Zwang
und Betrug, die Möglichkeit von Bedingungen u. ſ. f., wo
dieſe gerade zur Sprache kommen, nicht völlig verneinen,
|0329 : 317|
§. 141. Vertrag. (Fortſetzung.)
weil dieſes widerſinnig wäre; aber er wird bey ihr dieſe
Momente nicht aus dem wahren Grund und nicht im
rechten Zuſammenhang anerkennen, und dadurch wird un-
vermeidlich die Einſicht in das Weſen eines Rechtsver-
hältniſſes verkümmert. Eben ſo wird er die Ehe entweder
gar nicht als Vertrag anſehen, und daraus wird ihm der-
ſelbe Nachtheil entſtehen, welcher ſo eben bey der Tradi-
tion bemerkt worden iſt; oder er wird genöthigt ſeyn, ſie
unter die obligatoriſchen Verträge aufzunehmen, wie man
ſie denn in der That als einen neuen, von den Römern
ſeltſamerweiſe nicht beachteten, Conſenſualcontract neben
den Kauf und die Societät zu ſtellen verſucht hat (c).
Dadurch aber wird das Weſen der Ehe im höchſten Grad
entſtellt, ja herabgewürdigt. Die hier, im Widerſtreit mit
der herrſchenden Anſicht, aufgeſtellte Behauptung geht alſo
keinesweges blos auf die Berichtigung eines Sprachge-
brauchs; denn daß die Römer die Ausdrücke Pactio, Pac-
tum und Conventio, von anderen als den obligatoriſchen
Verträgen wirklich gebraucht haben, wird von mir gar
nicht behauptet, und der Umfang, in welchem man unſren
Deutſchen Kunſtausdruck gebrauchen will, iſt an ſich nicht
von Erheblichkeit. Wichtig aber iſt es, daß das Gemein-
ſame, wodurch die Ehe, die Tradition u. ſ. w. mit den
obligatoriſchen Verträgen verwandt ſind, beſtimmt aner-
(c) Langsdorf de pactis
et contractibus Romanorum,
Mannhemii 1777. 4. § 73. Er
ſieht freylich die Ehe nicht als
einen beſonderen Conſenſualcon-
tract an, ſondern geradezu als
eine Art der Societät.
|0330 : 318|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
kannt und in einzelnen Anwendungen durchgeführt werde;
will man aber dieſes Gemeinſame anerkennen, ſo iſt zur
Bezeichnung deſſelben unſer deutſcher Kunſtausdruck ſo ge-
ſchickt und bequem, daß es unnatürlich wäre den Vortheil
zu verſäumen, den uns der Beſitz eines paſſenden Ausdrucks
für einen wichtigen Rechtsbegriff darbietet. Und das iſt
es, was ich durch die gegenwärtige Unterſuchung über den
Begriff des Vertrags zur allgemeinen Uberzeugung bringen
möchte.
Die hier an unſren juriſtiſchen Schriftſtellern gerügte
einſeitige Auffaſſung der Verträge iſt auch bey den Natur-
rechtslehrern nicht ohne Einfluß geblieben. Kant (d) be-
ſtimmt ſogar den Begriff noch weit enger, als es unſre
Juriſten zu thun pflegen. Ihm iſt Vertrag nur diejenige
vereinigte Willkühr zweyer Perſonen, wodurch Eigenthum
veräußert (S. 98), oder eigentlich dieſe Veräußerung vor-
bereitet wird, da ihre Vollendung doch erſt in der Tradi-
tion ſtattfindet (S. 103). Eigenthum aber nimmt er in
demſelben Sinn wie die Römer, nämlich für die Herrſchaft
über eine beſtimmte Sache (S. 95. 96). Unter ſeinen Be-
griff fallen alſo nicht einmal alle obligatoriſche Verträge,
z. B. nicht die welche auf Dienſt oder Arbeit gehen, ſon-
dern nur die worin eine Tradition verſprochen wird, wie
Kauf oder Tauſch. Dennoch behandelt er ſogar die Ehe
als Vertrag, und zwar indem er eine Art von Eigenthum
(d) Kant Metaphyſiſche An-
fangsgründe der Rechtslehre Kö-
nigsberg 1797. — Vgl. hierüber
oben § 54.
|0331 : 319|
§. 141. Vertrag. (Fortſetzung.)
jedes Ehegatten an der Perſon des anderen (ein auf ding-
liche Art perſoͤnliches Recht) annimmt, welches dann wie-
der nur durch das Zuſammentreffen des Vertrags mit der
Tradition (copula carnalis) wirklich erworben werden kann
(S. 110. 111). Die Ehe iſt ihm daher recht eigentlich ein
obligatoriſcher Vertrag, und er erklärt ſie ausdrücklich
(S. 107) als „die Verbindung zweyer Perſonen verſchie-
„denen Geſchlechts zum lebenswierigen wechſelſei-
„tigen Beſitz ihrer Geſchlechtseigenſchaften.“ —
Hegel (e) erklärt zwar woͤrtlich gleichfalls den Vertrag,
ſo wie Kant, als gleichbedeutend mit der Veräußerung
(§ 71 — 75); bey ihm aber iſt dieſe enge Begränzung doch
nur ſcheinbar, indem er auch die einzelne Thätigkeit der
Perſon als Sache, das heißt als Gegenſtand des Eigen-
thums und der Veräußerung, behandelt (§ 67. 80). In
der That alſo nennt er Vertrag alles Dasjenige, was
ich oben als den obligatoriſchen Vertrag bezeichnet habe.
Weiter aber geht er auch nicht, vielmehr erklärt er ſich
beſtimmt, und ſelbſt in harten Ausdrücken, gegen die Be-
handlung der Ehe und des Staats als Vertrag (§ 75).
Was den Staat betrifft, ſo iſt im vorigen §. gleichfalls
die Natur deſſelben als eines Vertrags verneint worden,
und zwar deswegen, weil der Staat überhaupt nicht von
individueller Willkühr ausgeht; dieſes alſo iſt von dem
hier erhobenen Streit über den Vertragsbegriff unabhän-
gig. Der harte Tadel gegen die Subſumtion der Ehe
(e) Hegel Grundlinien der Philoſophie des Rechts Berlin 1833.
|0332 : 320|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
unter den Vertragsbegriff, die Hegel als Schändlichkeit
bezeichnet (S. 116), bezieht ſich lediglich auf die oben dar-
geſtellte Lehre von Kant, alſo auf die Auffaſſung der Ehe
als eines obligatoriſchen, und zwar wechſelſeitig auf den
Beyſchlaf gerichteten, Vertrags. Allein was nöthigt uns,
den in der Ehe liegenden Vertrag gerade ſo zu denken?
Wenn der Geiſtliche die Verlobten fragt, ob ſie einander
Liebe und Treue beweiſen wollen bis in den Tod, und ſie
dieſe Frage bejahen, ſo hat ihre Erklärung nicht den Sinn
eines Verſprechens beſtimmter Handlungen, noch der Un-
terwerfung unter den gerichtlichen Zwang, für den Fall
daß dieſe Handlungen nicht geleiſtet würden; wohl aber
hat ſie den Sinn, daß ſie ſich der von dem Chriſtenthum
geforderten Geſtalt der Ehe bewußt ſind, und daß ſie den
übereinſtimmenden Willen haben, in dieſer Weiſe ihr ge-
meinſames Leben zu führen. Weil von dieſer Willenser-
klärung die Anerkennung der Ehe als eines Rechtsverhält-
niſſes abhängt, nennen wir ſie mit gutem Grund einen
Vertrag. Man ſage nicht, dieſe Auffaſſung ſey gezwungen,
oder mit Willkühr hineingetragen. Sie iſt ſo ſehr die na-
türliche, daß Jeder, der ſich darüber unbefangen Rechen-
ſchaft geben will, gerade darauf kommen wird; ſie iſt ins-
beſondere die in allen chriſtlichen Kirchen anerkannte, denn
nur von dieſem Standpunkt aus erklärt es ſich, daß der
Geiſtliche eine Handlung leitet und vermittelt, die zugleich
einen kirchlichen und einen privatrechtlichen Character hat (f).
(f) Das, was ich hier, gegen Hegel ſtreitend, behaupte, iſt, wie
|0333 : 321|
§. 141. Vertrag. (Fortſetzung.)
Der Grund, der uns bey dem Staat beſtimmte, das Da-
ſeyn eines Vertrags zu verneinen, fällt bey der Ehe ganz
hinweg. Bey dem Staat kann die Willkühr als Entſte-
hungsgrund nicht für Wahrheit gelten, nur für eine Fic-
tion; bey der Ehe iſt es unzweifelhaft, daß es von der
freyeſten Willkühr jedes der beiden Gatten abhängt, dieſe
Ehe zu ſchließen oder zu unterlaſſen.
oben gezeigt worden, für das im
Einzelnen durchgeführte Rechts-
ſyſtem nicht gleichgültig; im Zu-
ſammenhang der Lehre von He-
gel iſt es ſehr unerheblich, ob
man dem Ausdruck Vertrag
eine engere oder weitere Bedeu-
tung unterlegt, wie er denn auch
in der angeführten Stelle nur
wenige Worte daran wendet, die
Vertragsnatur der Ehe abzuwei-
ſen. Worauf es ihm ankam, war
der entſchiedene Widerſpruch ge-
gen Kants Anſicht, worin ich ihm
völlig beyſtimme. Mit ſeiner ei-
genen, nicht genug zu lobenden,
Darſtellung der Ehe (§ 161—164)
iſt die hier vertheidigte Auffaſſung
derſelben als eines wahren Ver-
trags völlig vereinbar. Sehr be-
ſtimmt und befriedigend iſt die
Vertragsnatur der Ehe dargeſtellt
von Haſſe, Güterrecht der Ehe-
gatten § 31.
III. 21
|0334 : [322]|
|0335 : [323]|
Beylage.
VIII.
21*
|0336 : [324]|
|0337 : [325]|
Beylage VIII.
Irrthum und Unwiſſenheit.
(Zu § 115.)
Die wichtigſten Quellen dieſer Lehre finden ſich in den
Titeln de juris et facti ignorantia in den Digeſten (XXII. 6)
und im Codex (I. 18).
Folgende Schriftſteller ſind zu bemerken:
Cujacius observ. V. 39.
Cujacius recit. in Dig. XXII. 6, Opp. VII. 886—896.
Cujacius in Papin. quaest. XIX., ad L. 7 de j. et f.
ignor., Opp. IV. 502.
Cujacius in Papin. definit. I. ad L. 8 eod., Opp. IV. 1429.
Donellus I. 18—23.
Glück B. 22 S. 262—374.
C. F. van Maanen de ignorantiae et erroris natura
et effectibus Lugd. Bat. 1793.
Mühlenbruch doctr. Pand. I. §. 95. 96.
Mühlenbruch über juris und facti ignorantia, Archiv
B. 2 S. 361—451.
|0338 : 326|
Beylage VIII.
I.
Der Mangel richtiger Vorſtellung von einem Gegen-
ſtand läßt ſich auf zweyerley Weiſe denken: entweder als
bloße Bewußtloſigkeit in Beziehung auf denſelben, oder als
falſche Vorſtellung welche die Stelle der wahren einge-
nommen hat. Den erſten Zuſtand nennen wir Unwiſ-
ſenheit, den zweyten Irrthum. Die juriſtiſche Beur-
theilung iſt für beide Zuſtände völlig dieſelbe, und darum
iſt es gleichgültig, welchen von beiden Ausdrücken man
gebraucht. Bey unſren Juriſten iſt der zweyte gebräuch-
licher, weil der Irrthum häufiger als die bloße Unwiſſen-
heit bey Rechtsverhältniſſen in Betracht kommt (a).
Das Daſeyn eines ſolchen mangelhaften Zuſtandes
wird ſtets nach dem Bewußtſeyn derjenigen Perſon beur-
theilt, auf welche ſich das Rechtsverhältniß zunächſt und
unmittelbar bezieht, ohne Rückſicht auf die, welche neben
ihr ein Intereſſe, vielleicht ſelbſt ein größeres, an jenem
Verhältniß haben kann (b).
Man unterſcheidet den Rechtsirrthum und den fac-
(a) Über die weſentliche Iden-
tität des Irrthums und der Un-
wiſſenheit vgl. das Syſtem § 115,
und Donellus I. 19 § 5. — Ei-
gentlich beſteht alſo das allgemein-
ſte Weſen des hier vorhandenen
mangelhaften Seelenzuſtandes in
der Unwiſſenheit, oder dem Man-
gel richtiger Erkenntniß, und da-
von iſt der Irrthum nur eine be-
ſondere Modification, deren Eigen-
thümlichkeit aber juriſtiſch gleich-
gültig iſt.
(b) L. 5 h. t., L. 3 quis ordo
(38. 15.). Vgl. Cujacius opp.
VII. 888 und in Africanum Tract.
8 ad L. 51 de aedil. ed. Hei-
neccius ad L. Jul. p. 189. Glück
B. 22 S. 306. Vgl. auch unten
Num. XXI. Note w.
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Irrthum und Unwiſſenheit.
tiſchen Irrthum. Der Rechtsirrthum hat zum Gegen-
ſtand den Inhalt einer Rechtsregel, alſo das objective
Recht (c); der factiſche Irrthum bezieht ſich auf die juri-
ſtiſchen Thatſachen, das heißt auf die thatſächlichen Be-
dingungen der Anwendung einer Rechtsregel. — Von bei-
den läßt ſich noch derjenige Irrthum unterſcheiden, wel-
cher in der unrichtigen Subſumtion der Thatſachen unter
die Rechtsregel enthalten iſt; da jedoch unſre Rechtsquel-
len nur jene beiden Arten des Irrthums anerkennen, ſo
muß beſtimmt werden, welcher derſelben dieſer dritte Fall
hinzu zu rechnen iſt. Sehen wir nun auf deſſen innere
Natur, ſo müſſen wir ihn als factiſchen Irrthum aner-
kennen. Denn die Rechtsregel iſt als das Feſte, unabän-
derlich Gegebene anzuſehen; unſere Aufgabe iſt es, die
einzelnen Elemente der Thatſachen, theils durch Zerglie-
derung, theils durch Verbindung, dergeſtalt zu einem Gan-
zen zu bilden, daß die feſte Rechtsregel auf daſſelbe an-
wendbar erſcheine. Wir mögen nun in der unmittelbaren
Auffaſſung des Geſchehenen ſelbſt irren, oder in dieſer
Ausbildung deſſelben durch unſer Denken, ſo iſt es doch
immer die Erkenntniß der Thatſachen, worüber wir irren,
mithin der Irrthum ſelbſt ein factiſcher. So iſt es alſo
(c) Beyſpiele des Rechtsirr-
thums ſind zuſammengeſtellt in
L. 1 pr. § 1—4 h. t. — Verſchie-
den von dem jus ignorare iſt
das jus suum (oder de jure suo)
ignorare, das heißt der Irrthum
über den eigenen perſönlichen
Rechtszuſtand; denn dieſer wird
gerade gewöhnlich auf factiſchen
Irrthümern beruhen, obgleich er
allerdings auch mit Rechtsirrthum
zuſammenhängen kann. Vergl.
über dieſen Ausdruck L. 3 pr. h.
t. und L. 2 § 7 de j. fisci (49. 14.).
|0340 : 328|
Beylage III.
aus dem inneren Weſen der Subſumtion der Thatſachen
unter die Rechtsregel erwieſen, daß der auf ſie bezügliche
Irrthum als ein factiſcher, nicht als ein Rechtsirrthum,
betrachtet werden muß. Weiter unten wird dieſe Behaup-
tung von der praktiſchen Seite her ihre Beſtätigung fin-
den (Num. V.).
II.
Der juriſtiſche Einfluß des Irrthums ſteht in Verbin-
dung mit den juriſtiſchen Thatſachen, oder den Gründen
der Entſtehung und des Untergangs der Rechtsverhält-
niſſe. Wenn nämlich dieſe Thatſachen in freyen Hand-
lungen oder Unterlaſſungen beſtehen (a), und wenn auf
jene oder dieſe irgend ein Irrthum Einfluß gehabt hat, ſo
fragt es ſich, ob etwa dieſer Irrthum die regelmäßige
Wirkung jener Thatſachen ſtöre, ſo daß nun die Entſte-
hung oder der Untergang des Rechtsverhältniſſes entweder
ganz unterbliebe, oder doch auf andere als die gewöhn-
liche Weiſe einträte. Ja es ließe ſich denken, daß der
Irrthum die Wirkung der Thatſachen nicht blos aus-
ſchlöſſe oder verminderte, ſondern in anderen Fällen ſogar
verſtärkte, indem Dasjenige, was außerdem ein Hinder-
niß des Rechtsverhältniſſes ſeyn würde, um des Irrthums
willen dieſe hindernde Kraft nicht äußern könnte. Alle
dieſe Verſchiedenheiten laſſen ſich unter den gemeinſamen
Geſichtspunkt bringen, daß durch den Irrthum die regel-
(a) Vergl. das Syſtem § 104. Num. I. III.
|0341 : 329|
Irrthum und Unwiſſenheit.
mäßige Wirkſamkeit juriſtiſcher Thatſachen ausnahmsweiſe
modificirt werden kann.
Eine ſolche Einwirkung des Irrthums kommt in der
That vor, und zwar auf zweyerley Weiſe. Nicht ſelten
wird dadurch die Rechtsregel ſelbſt beſtimmt, ſo daß das
Daſeyn eines richtigen Bewußtſeyns unter die Bedingun-
gen der Rechtsänderung unmittelbar aufgenommen wird,
und alſo der Fall des Irrthums von der Anwendung der
Regel ausdrücklich ausgeſchloſſen iſt (b). In anderen Fäl-
len dagegen kommt das richtige Bewußtſeyn als Bedin-
gung der Rechtsänderung nicht vor, es iſt alſo nicht ſchon
unmittelbar Beſtandtheil der Rechtsregel ſelbſt; allein es
iſt anderwärts anerkannt, daß der Irrthum die gewöhn-
liche Anwendung der Regel modificiren, daß er eine Aus-
(b) So z. B. ſagte das Edict:
„Quae dolo malo facta esse di-
centur .. judicium dabo.” L. 1
§ 1 de dolo (4. 3.). Der Begriff
des dolus begreift Bewußtſeyn
und Abſicht in ſich, ſchließt alſo
den Fall des Irrthums von ſelbſt
aus. — Die Formel der Erbein-
ſetzung cum cretione war dieſe:
„cernitoque in centum diebus
„proxumis, quibus scies pote-
„risque.” (Gajus II. § 165).
Sehr wahrſcheinlich ſprach eben
ſo das Edict, indem es für die
agnitio der B. P. eine Zeit von
100 Tagen oder einem Jahr vor-
ſchrieb. (L. 1 § 1 h. t., L. 10
de B. P. 37. 1.). Der Richter
alſo, der den Verluſt der B. P.
ohne Rückſicht auf Unwiſſenheit
ausſprechen wollte, würde ſchon
den bloßen Buchſtaben der Rechts-
regel eben ſo willkührlich ver-
letzen, wie wenn er 80 Tage an-
ſtatt 100 als hinreichend für die-
ſen Verluſt annähme. — Eben
ſo iſt die Infamie Demjenigen
gedroht, der eine Wittwe vor Ab-
lauf des Trauerjahrs wiſſentlich
heurathet („sciens .. uxorem
duxerit” L. 1 de his qui not.
3. 2.). Dadurch iſt alſo der Fall
einer aus Irrthum über jene That-
ſache geſchloſſenen Ehe ſchon wört-
lich ausgeſchloſſen. — Am häufig-
ſten iſt in eigentlichen Strafge-
ſetzen die Formel sciens dolo
malo. Vergl. Rudorff Zeit-
ſchrift für geſchichtl. Rechtswiſ-
ſenſchaft B. 9 S. 396.
|0342 : 330|
Beylage VIII.
nahme herbeyführen, oder als Grund einer Entſchuldi-
gung dienen ſoll. — Für die Theorie und für die Anwen-
dung bedürfen eigentlich nur die Fälle der zweyten Art
einer beſonderen Unterſuchung und Feſtſtellung, indem die
der erſten Art ſchon durch ſich ſelbſt hinreichende Begrün-
dung haben. Der vollſtändigeren Überſicht wegen iſt es
jedoch räthlich, beide Arten von Fällen zuſammen zu faſſen.
Um dieſe Einwirkungen des Irrthums auf die Rechts-
verhältniſſe hervorzubringen, werden, je nach Verſchieden-
heit der Fälle, folgende verſchiedene Rechtsformen ange-
wendet.
1) Oft wirkt der Irrthum geradezu, das heißt ſo daß
nun die ohne denſelben eintretende Rechtsveränderung
ſchlechthin unterbleibt. Dieſes geſchieht in allen Fällen
der oben angegebenen erſten Art, in welchen das richtige
Bewußtſeyn ein ausgeſprochener Beſtandtheil der Rechts-
regel ſelbſt war, welches in den beyſpielsweiſe angegebe-
nen Fällen (Note b) von ſelbſt einleuchtet. — Es geſchieht
aber zuweilen auch in Fällen der zweyten Axt, obgleich
es hier die ſeltnere Rechtsform iſt (c).
2) In anderen Fällen wirkt der Irrthum nicht ſchon
(c) Wer einem filiusfamilias,
den er aus guten Gründen für
unabhängig hält, ein Gelddarle-
hen giebt, iſt ganz frey von der
exceptio Sc. Maced., obgleich
das wiſſentliche Geben im Se-
natusconſult ſelbſt nicht erwähnt
wird. L. 3 pr. ad Sc. Maced.
(14. 6.), verglichen mit L. 1 pr.
eod. — Eben ſo gilt als nicht ge-
ſchehen der Antritt oder die Aus-
ſchlagung der Erbſchaft, wenn der
Erbe über Daſeyn oder Art der
Delation im Irrthum iſt. L. 15.
16. 19. 22. 23. 32. 33. 34 de adqu.
vel om. her. (29. 2.).
|0343 : 331|
Irrthum und Unwiſſenheit.
an ſich ſelbſt oder unmittelbar, wohl aber vermittelſt ei-
nes beſondern, und zwar ordentlichen, Rechtsmittels. Da-
hin gehören mehrere Condictionen, und eben ſo die Kla-
gen aus dem Edict der Ädilen. Auch wird die doli ex-
ceptio zu dieſem Zweck angewendet (d).
3) Endlich giebt es auch noch andere Fälle, in wel-
chen der Irrthum weder unmittelbar, noch in Kraft eines
ordentlichen Rechtsmittels auf das Rechtsverhältniß ein-
wirkt, ſondern nur vermittelſt einer außerordentlicherweiſe
durchgreifenden richterlichen Verfügung, das heißt einer
Reſtitution. Das Daſeyn einer ſolchen, auf Irrthum ge-
gründeten, Reſtitution hat im Allgemeinen keinen Zwei-
fel (e), aber die Gränzen der Anwendung ſind ſehr be-
ſtritten. Manche haben dieſer Reſtitution, und dadurch
der Wirkſamkeit des Irrthums überhaupt, eine ungebühr-
liche Ausdehnung gegeben; Andere haben ſie allzuſehr ein-
geſchränkt. Das Genauere darüber kann erſt im Einzel-
nen feſtgeſtellt werden; an dieſer Stelle mag eine vorläu-
fige Überſicht genügen. Die häufigſte Anwendung hat dieſe
Reſtitution bey unvorſichtigen Handlungen und Unterlaſ-
ſungen im Prozeß; außerdem kommt ſie vor zum Schutz
Desjenigen, der ſich mit einem falsus tutor eingelaſſen
hat (f): in manchen Fällen der Klagverjährung: gegen
(d) So z. B. wenn ein Legat
aus einem irrigen Beweggrund
gegeben wird. L. 72 § 6 de cond.
(35. 1.).
(e) Paulus L 7 § 2. „Integri
restitutionem Praetor tribuit ex
his causis, quae per … justum
errorem .. gesta esse dicun-
tur.” L. 2 de in int. rest. (4. 1.).
„Sive per status mutationem,
aut justum errorem.”
(f) L. 1 § 6 quod falso (26.
|0344 : 332|
Beylage VIII.
eine von den Erbſchaftsglaubigern unvorſichtigerweiſe be-
wirkte Separation: bey den Erben, die aus Nachläſſig-
keit die Mörder des Erblaſſers zu verfolgen unterlaſſen:
endlich in mehreren Fällen zum Vortheil einiger beſon-
ders begünſtigten Klaſſen von Perſonen (Num. XXX —
XXXIII.) (g).
III.
Ehe die einzelnen Fälle zuſammengeſtellt werden, worin
der Irrthum wirkt oder nicht wirkt, muß der Verſuch ge-
macht werden, irgend ein allgemeineres Princip für dieſe
Wirkſamkeit aufzufinden. Hier tritt uns nun ſogleich in
vielen Stellen die Regel entgegen, nach welcher zwiſchen
dem factiſchen und Rechtsirrthum ein Unterſchied gelten
ſoll. Bald werden beide Fälle geradezu, als praktiſch
verſchieden, neben einander geſtellt (a); bald wird von dem
7.). So viel wir wiſſen, war die-
ſes der einzige, im Edict nament-
lich erwähnte, Fall einer Reſtitu-
tion wegen Irrthums. Andere
Fälle wurden aus der clausula
generalis abgeleitet.
(g) Im Ganzen iſt dieſe Be-
gränzung der Reſtitution wegen
Irrthums übereinſtimmend mit
Burchardi Wiedereinſetzung in
den vorigen Stand § 21 und § 12
S. 181. Nur hält dieſer noch
daneben für zuläſſig alle Fälle,
welche ſich auf die bekannten Re-
geln von damnum und lucrum
zurückführen laſſen (S. 385). Da-
von wird weiter unten (Num. VIII.)
die Rede ſeyn. Ich nehme keine
Reſtitution wegen Irrthums an,
außer den in unſren Rechtsquel-
len namentlich erwähnten Fällen.
(a) L. 2 h. t. „In omni parte
error in jure non eodem loco,
quo facti ignorantia, haberi de-
bet” … L. 9 pr. h. t. „Re-
gula est, juris quidem ignoran-
tiam cuique nocere, facti vero
ignorantiam non nocere” …
L. 9 § 5 h. t. „.. sciant, igno-
rantiam facti, non juris, prod-
esse” … L. 8 h. t., L. 29 § 1
mandati (17. 1.), L. 11 § 4 de
his qui not. (3. 2.), C. 13 de reg.
juris in VI.
|0345 : 333|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Rechtsirrthum beſonders angegeben, daß er dem Irrenden
nicht nütze (b).
Fragen wir jedoch nach dem Grund dieſer verſchiede-
nen Behandlung, ſo werden wir dadurch ſogleich auf ein
höheres Princip zurückgeführt, welches uns zugleich nö-
thigt, jene beiden Regeln ſehr zu beſchränken.
Der Grund nämlich der günſtigen Behandlung des fac-
tiſchen Irrthums wird darin geſetzt, daß es oft ſchwer,
ja unmöglich ſey ihn zu vermeiden (c). Hieran knüpft ſich
aber ſogleich die natürliche Beſchränkung, daß er Dem-
jenigen nicht zu gut kommen ſoll, welcher ſich dabey in
einer groben Nachläſſigkeit befindet (d). — Die Anwen-
dung dieſer beſchränkenden Beſtimmung kann nur in jedem
einzelnen Fall mit Sicherheit gemacht werden. Im Allge-
meinen wird angenommen, daß der Irrthum über eine
eigene Handlung oder über den eigenen Rechtszuſtand un-
zuläſſig ſey, weil man darüber nicht ohne große Nachläſ-
ſigkeit irren könne (e). Doch darf dieſes nur als eine Ver-
muthung gelten, indem auch ein ſolcher Irrthum zuläſſig
ſeyn kann, theils wegen der beſonderen Beſchaffenheit der
irrenden Perſon (f), theils wegen der eigenthümlichen, den
(b) L. 7 h. t., L. 11. 12 C. h. t.
(c) L. 2 h. t. „cum … facti
interpretatio plerumque etiam
prudentissimos fallat.”
(d) L. 3 § 1 L. 6 L. 9 §. 2
h. t., L. 11 § 11 de interrog.
(11. 1.), L. 3 pr. ad Sc. Mac.
(14. 6.), L. 15 § 1 de contr. emt.
(18. 1.), L. 14 § 10 L. 55 de ae-
dil. ed. (21. 1.), L. 3 § 7. 8 L. 4
quod vi (43. 24.).
(e) L. 3 pr. h. t., L. 6. 7 ad
Sc. Vell. (16. 1.), L. 5 § 1 pro
suo (41. 10.), L. 42 de R. J. (50.
17.).
(f) L. 2 § 7 de j. fisci (49. 14.)
„si ea persona sit, quae igno-
rare propter rusticitatem vel
|0346 : 334|
Beylage VIII.
Irrthum entſchuldigenden, Umſtände des einzelnen Fal-
les (g).
Auf gleiche Weiſe ſoll der Rechtsirrthum deswegen
ungünſtiger beurtheilt werden, weil dabey den Irrenden
ſtets der Vorwurf großer Nachläſſigkeit treffe (h); denn
die Rechtsregel ſey klar und gewiß (i), und daher könne
ein Jeder ſie entweder ſelbſt wiſſen, oder durch Erkundi-
gung bey Rechtsverſtändigen leicht erfahren. Dieſer letzte
Gedanke wird nun noch dahin näher ausgebildet, daß es
allerdings Fälle gebe, worin dieſe Nachläſſigkeit, alſo auch
die darauf gegründete ungünſtige Behandlung, wegfalle,
aber dieſe Fälle ſeyen ſehr ſelten anzunehmen (k).
propter sexum femininum jus
suum possit.” Über die Bedeu-
tung des jus suum vergl. oben
Num. I. Note c.
(g) Ein ſolcher Fall wird er-
wähnt in L. 1 § 2 h. t. — Wenn
nun in anderen Stellen der Irr-
thum über eigene Handlungen
ohne Weiteres als zuläſſig behan-
delt wird, ſo ſind dabey ſtets ſol-
che beſondere entſchuldigende Um-
ſtände vorauszuſetzen. So in L. 22
pr. L. 32 § 1. 3 de cond. indeb.
(12. 6.).
(h) Daß hierin Alles auf den
Begriff der culpa zurück zu füh-
ren iſt, erhellt deutlich ſowohl aus
den in Note d angeführten Stel-
len, als aus L. 29 § 1 mandati
(17. 1.). Hier iſt nicht von der
Zuläſſigkeit und den Wirkungen
des Irrthums nach allgemeinen
Rechtsregeln (wie in unſrer Un-
terſuchung) die Rede, ſondern im
Verhältniß zu einem anderen Con-
trahenten, wo gewiß nur die culpa
entſcheiden kann; und doch wird
auch hier der Unterſchied zwiſchen
dem factiſchen und Rechtsirrthum
zum Grund gelegt. Vgl. auch
Glossa in L. 11 § 4 de his qui
not. (3. 2.) und Cujacius Opp.
IV. p. 508.
(i) L. 2 h. t. „cum jus fini-
tum et possit esse et debeat,
facti interpretatio plerumque
etiam prudentissimos fallat.”
(k) L. 10 de Bon. Poss. (37.
1.), L. 2 § 5 quis ordo (38. 15.),
L. 9 § 3 h. t. „Sed juris igno-
rantiam non prodesse, Labeo
ita accipiendum existimat, si
jurisconsulti copiam haberet,
vel sua prudentia instructus sit:
ut, cui facile sit scire, ei de-
trimento sit juris ignorantia:
|0347 : 335|
Irrthum und Unwiſſenheit.
In der That alſo laſſen ſich beide Regeln auf den
gemeinſamen Grundſatz zurückführen, daß kein Irrthum,
der auf großer Nachläſſigkeit beruht, dem Irrenden zu
gut kommen ſoll, oder, was die Sache von anderer Seite
her ausdrückt, daß nur derjenige Irrthum geltend gemacht
werden darf, den man justus oder probabilis error, justa
ignorantia, nennen kann (l). Dieſer gemeinſame Grund-
ſatz aber erſcheint in der Anwendung verſchieden, indem
die Nachläſſigkeit bey dem factiſchen Irrthum als eine be-
ſondere Thatſache erwieſen werden muß, anſtatt daß ſie
ſich bey dem Rechtsirrthum von ſelbſt verſteht, und nur
durch den Beweis ungewöhnlicher Umſtände widerlegt wer-
den kann. Beide Arten des Irrthums ſtehen alſo nicht
unter einer verſchiedenen Rechtsregel, ſondern die Beweis-
quod raro accipiendum est.”
Dieſe letzten Worte könnten an
ſich eine dreyfache Bedeutung ha-
ben. Erſtlich: nur ſelten könne
Jemand den Rechtsirrthum ver-
meiden; dieſes aber würde au-
genſcheinlich falſch ſeyn, auch mit
den übrigen Stellen völlig im
Widerſpruch ſtehen. Zweytens:
die Meynung des Labeo ſey nur
ſelten als wahr anzunehmen. Ein-
facher und natürlicher iſt aber die
dritte Erklärung, nach welcher
Paulus nicht die Meynung des
Labeo beſtreitet, ſondern ihre An-
wendbarkeit näher beſtimmt. Denn
eigentlich liegt in der Behauptung
des Labeo der umgekehrte poſitive
Satz, daß ſelbſt der Rechtsirrthum
zuläſſig ſey, da wo er nicht ein-
mal durch Erkundigung vermie-
den werden könne. Dieſen Satz
nun will Paulus nicht beſtreiten,
er bemerkt nur, daß der darin
vorausgeſetzte Fall nur ſelten an-
genommen werden könne, der Satz
ſelbſt alſo von keiner erheblichen
Anwendung ſey.
(l) Über dieſen letzten Ausdruck
vgl. L. 11 § 10 de interrog. (11.
1.), L. 42 de R. J. (50. 17.),
L. 25 pr. de prob. (22. 3.), fer-
ner die in Num. II. Note e ab-
gedruckten Stellen, und (was den
probabilis error betrifft) L. 5
§ 1 pro suo (41. 10.). — Das
hier aufgeſtellte Princip wird im
Allgemeinen auch anerkannt von
Mühlenbruch Archiv B. 2
S. 383.
|0348 : 336|
Beylage VIII.
laſt iſt für beide Arten verſchieden. Ja man kann noch
einen Schritt weiter gehen, und behaupten, daß bey dem
Rechtsirrthum nicht blos die Schuldloſigkeit, ſondern ſelbſt
das Daſeyn des Irrthums, ſchwerer und ſeltner, als bey
dem factiſchen, anzunehmen iſt; und dieſer letzte Gegenſatz
iſt beſonders wichtig, da überhaupt der Irrthum, als eine
innere Thatſache, durch gewöhnliche Beweismittel nur ſel-
ten zur vollen Gewißheit gebracht werden wird.
IV.
Die bereits angedeutete Beſchränkung einer ungünſti-
gen Behandlung des Rechtsirrthums ſoll jetzt genauer aus-
geführt werden. Zu einer ſolchen findet ſich Veranlaſſung
ſchon nach dem Römiſchen Recht, noch mehr aber nach
dem heutigen. Es wird nämlich bey jener ungünſtigen
Behandlung als Gegenſtand des Irrthums eine ſolche
Rechtsregel vorausgeſetzt, die als gewiß allgemein aner-
kannt iſt. Denn nur bey einer ſolchen kann man dem Ir-
renden eine große Nachläſſigkeit vorwerfen, auch ſind die
zahlreichen, in unſren Rechtsquellen vorkommenden, Bey-
ſpiele insgeſammt von Regeln eines ſolchen Characters
hergenommen (a). Daher würde denn eine ſolche Behand-
lung in folgenden zwey Fällen nicht eintreten dürfen. Er-
ſtens bey controverſen Rechtsſätzen. Wenn z. B. ein Satz
(a) L. 1 § 1 — 4 h. t., L. 25
§ 6 de her. pet. (5. 3.), L. 10 de
Bon. Poss. (37. 1.), L. 31 pr.
de usurp. (41. 3.), L. 2 § 15 pro
emt. (41. 4.).
|0349 : 337|
Irrthum und Unwiſſenheit.
unter den beiden Schulen der Römiſchen Juriſten ſtreitig
war, ſo konnte der Richter, welcher die Meynung einer
Partey für einen Rechtsirrthum hielt, ihr nicht einen nach-
läſſigen Mangel der Erkundigung bey Rechtsverſtändigen
vorwerfen, da ja auch die diversae scholae auctores
Rechtsverſtändige waren. Zweytens bey Sätzen des par-
ticulären Rechts, da deſſen Kenntniß oft weit weniger
verbreitet und zugänglich iſt, als die des allgemeinen;
vorzüglich wird dieſe Schwierigkeit anerkannt werden müſ-
ſen, wenn das örtlich beſchränkte Recht ein Gewohnheits-
recht iſt, welches meiſt ſchwerer kennen zu lernen ſeyn
wird, als das Daſeyn eines Geſetzes (b). Die Anerken-
nung dieſer beiden Fälle aber muß uns dahin führen, in
dem heutigen Recht den Rechtsirrthum überhaupt milder
zu behandeln, als er nach den Ausſprüchen der Römi-
ſchen Juriſten behandelt werden ſollte. Denn der Um-
fang des controverſen Rechts iſt in unſrem gelehrten und
verwickelten Rechtszuſtand ungleich größer, als er den
Römern erſcheinen konnte. Eben ſo aber nimmt auch das
particuläre Recht bey uns eine ohne Vergleich wichtigere
Stelle ein, als bey den Römern; in Beziehung auf die-
ſes wird daher auch die Schuldloſigkeit des Rechtsirr-
thums in einer merkwürdigen Stelle des canoniſchen Rechts
(b) Gegen dieſe Berückſichti-
gung des Unterſchieds zwiſchen Ge-
ſetz und Gewohnheitsrecht, in Be-
urtheilung des Rechtsirrthums, iſt
Nichts einzuwenden. Dagegen iſt
es ganz verwerflich, wenn Man-
che den Irrthum über ein Ge-
wohnheitsrecht gar nicht als
Rechtsirrthum, ſondern als fac-
tiſchen, anſehen wollen. Puchta
Gewohnheitsrecht II. S. 217 —
220.
III. 22
|0350 : 338|
Beylage VIII.
ausdrücklich anerkannt (c). Indem wir alſo hier eine mil-
dere Behandlung des Rechtsirrthums für die heutige Zeit
in Anſpruch nehmen, ſo liegt darin keinesweges eine will-
kührliche Abweichung von den Grundſätzen des Römiſchen
Rechts, die wir vielmehr ganz in ihrem Sinn auf die
veränderten Umſtände anwenden wollen. So verwandelt
ſich von ſelbſt der eine bloße Thatſache ausdrückende Satz
des Paulus: quod raro accipiendum est (Num. III. k)
in den etwas veränderten Satz: quod minus raro hodie
accipiendum est.
V.
Aus der hier entwickelten Natur des Rechtsirrthums
folgt nun zugleich die ſchon oben (Num. I.) angekündigte
praktiſche Beſtätigung des Satzes, daß der Irrthum über
die Subſumtion der Thatſachen unter die Rechtsregel zu
den Fällen des factiſchen, nicht des Rechtsirrthums, zu
rechnen iſt. Die Subſumtion nämlich iſt in einfachen Fäl-
len ſo leicht, daß in derſelben ein Irrthum kaum vorkom-
men kann. Sobald aber ein Rechtsfall in verwickelter
Geſtalt erſcheint, wird oft die Subſumtion ſo ſchwierig
ſeyn, daß ſelbſt Diejenigen, die über die einſchlagenden
Rechtsregeln ganz einig und im Klaren ſind, dennoch den
(c) C. 1 de constitut. in VI.
(1. 2.). „Romanus pontifex …
locorum specialium et perso-
narum singularium consuetudi-
nes et statuta, cum sint facti
et in facto consistant, potest
probabiliter ignorare.” Was
hier dem Pabſt nachgeſehen wird,
muß doch wohl jeder andern Per-
ſon nicht weniger zugeſtanden
werden.
|0351 : 339|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Fall ſelbſt auf ganz entgegengeſetzte Weiſe beurtheilen wer-
den. Dann aber wäre es doch die hoͤchſte Willkühr und
Ungerechtigkeit, wenn wir Demjenigen, deſſen Subſum-
tion wir verwerfen, nicht nur Unrecht geben, ſondern auch
große Nachläſſigkeit vorwerfen wollten, indem er durch
Erkundigung die Wahrheit leicht hätte erfahren können.
Ein Beyſpiel mag dieſes anſchaulich machen. Der be-
rühmten L. Frater a Fratre (L. 38 de cond. indebiti) liegt
ein ſo verwickelter Rechtsfall zum Grund, daß ſehr nam-
hafte Juriſten, lediglich durch verſchiedene Subſumtion,
auf ganz entgegengeſetzte Erklärungen gerathen ſind. Woll-
ten wir nun Demjenigen, der unter Vorausſetzung einer
irrigen Erklärung dieſer Stelle ein Rechtsgeſchäft vorge-
nommen hätte, eine unverzeihliche Nachläſſigkeit vorwer-
fen, und deshalb den Schutz entziehen, worauf er außer-
dem, des Irrthums wegen, Anſpruch haben dürfte? Die
Römer urtheilten nicht alſo. Denn obgleich ſie überhaupt
den Rechtsirrthum ſehr ſtreng behandeln, und namentlich
als Grund der condictio indebiti nicht gelten laſſen, ſo
geſtattet doch Africanus in dem Fall dieſer Stelle die
Condiction unbedenklich: offenbar von der Anſicht ausge-
hend, daß der Irrthum des an ſeinen Bruder zahlenden
Schuldners, der ſich in das verwickelte Rechtsverhältniß
nicht hatte finden können, ganz anderer Natur ſey, als
der Irrthum über eine leicht faßliche, überall zu erfra-
gende Rechtsregel (a)
(a) Mühlenbruch S. 423 nimmt freylich in dieſer Stelle
22*
|0352 : 340|
Beylage VIII.
Die hier aufgeſtellten Regeln gelten übrigens nur da,
wo der Irrthum lediglich als ſolcher in Betracht kommt.
Tritt alſo zu dem Irrthum des Einen der Betrug des
Andern hinzu, ſo kommt lediglich die Regel des Betrugs,
nicht die des Irrthums, zur Anwendung. Dann alſo er-
ſcheint die in dem Irrthum vielleicht enthaltene Nachläſ-
ſigkeit als ganz gleichgültig, und eben deshalb auch die
beſondere Natur des Rechtsirrthums. Es iſt daher ganz
einerley, ob durch den Betrug ein factiſcher, oder ein
Rechtsirrthum in dem Betrogenen erzeugt worden iſt.
VI.
Obgleich wir nun die beſonderen Regeln für den fac-
tiſchen und den Rechtsirrthum auf eine gemeinſame Regel
zurückführen konnten, ſo müſſen wir dennoch anerkennen,
daß damit ein poſitives Princip für die Lehre vom Irr-
thum keinesweges aufgefunden iſt: ein poſitives Princip
nämlich in dem Sinn, daß daraus die Wirkſamkeit des
Irrthums für jeden einzelnen Fall erkannt werden könnte.
Wer z. B. eine Sache zu theuer bezahlt oder zu wohlfeil
verkauft, weil er über ihren wahren Werth im Irrthum
iſt, wird gegen dieſen Nachtheil nicht geſchützt, ohne Un-
terſchied des factiſchen oder des Rechtsirrthums, des ſchuld-
loſen oder nachläſſigen. Dagegen kann die irrige Zahlung
einer Nichtſchuld allerdings zurück gefordert werden, vor-
die Vorausſetzung eines Rechts-
irrthums an, und gebraucht ſie
als Beweis, daß dieſer bey der
condictio indebiti nicht ſchade.
|0353 : 341|
Irrthum und Unwiſſenheit.
ausgeſetzt daß ein factiſcher Irrthum zum Grunde liegt.
Dieſen Unterſchied alſo, und ſomit überhaupt die Wirk-
ſamkeit des Irrthums, erkennen wir aus jener Regel nicht.
Vielmehr hat dieſelbe die blos negative Bedeutung, daß
in den Fällen, die an ſich für die Wirkſamkeit des Irr-
thums wohl geeignet ſind, dieſe Wirkſamkeit dennoch weg-
fällt, ſobald dem Irrthum eine große Nachläſſigkeit zum
Grunde liegt, in der Regel alſo wenn derſelbe ein Rechts-
irrthum iſt. Finden wir alſo nicht etwa anderwärts ein
poſitives Princip, ſo werden wir genöthigt ſeyn, von fol-
gender Anſicht auszugehen. Der Irrthum im Allgemeinen
wirkt an und für ſich gar nicht, ſchützt alſo auch nicht
gegen den dadurch entſtandenen Nachtheil. Für viele ein-
zelne juriſtiſche Thatſachen iſt ihm allerdings eine Einwir-
kung mitgetheilt, und dieſe muß für jede derſelben beſon-
ders begründet werden. Allein auch bey dieſen fällt die
Einwirkung hinweg, wenn der Irrthum auf einer großen
Nachläſſigkeit beruht, welches in der Regel bey dem
Rechtsirrthum anzunehmen iſt, bey dem factiſchen aber
ſtets beſonders erwieſen werden muß.
Wir haben alſo nun die verſchiedenen Klaſſen juriſti-
ſcher Thatſachen, in Beziehung auf die Wirkſamkeit des
Irrthums, einzeln zu unterſuchen. Da jedoch in den
Quellen des Römiſchen Rechts zwey ſcheinbare poſitive
Principien erwähnt werden, ſo iſt zur Rechtfertigung des
vorgezeichneten Verfahrens zuvor die Prüfung dieſer Prin-
cipien nöthig.
|0354 : 342|
Beylage VIII.
VII.
In folgenden Stellen ſcheint das durchgreifende Prin-
cip ausgeſprochen, daß der aus Irrthum entſprungene
Wille gar kein Wille ſey, alſo auch nicht als Wille wirke.
„.. cum non consentiant qui errent. Quid enim tam
„contrarium consensui est quam error qui imperitiam
„detegit?”
L. 15 de jurisd. (2. 1.).
„error enim litigatorum non habet consensum.”
L. 2. pr. de jud. (5. 1.).
„nulla enim voluntas errantis est.”
L. 20 de aqua pluv. (39. 3.).
„Non videntur, qui errant, consentire.”
L. 116 § 2 de R. J. (50. 17.).
„cum errantis voluntas nulla sit.”
L. 8 C. h. t.
„cum nullus sit errantis consensus.”
L. 9 C. h. t.
Wäre dieſer Satz richtig, ſo würde er von der äußer-
ſten Wichtigkeit ſeyn, und wir hätten dann in ihm das
durchgreifendſte poſitive Princip für die Wirkſamkeit des
Irrthums gefunden. Aber Nichts iſt auch gewiſſer, als
daß derſelbe verworfen werden muß. Der entſcheidendſte
Beweis dafür liegt in der ganzen, vom Römiſchen Recht
ſo ſorgfältig ausgebildeten, Lehre vom dolus. Wäre der
Irrthum ſchon an ſich hinreichend, die Annahme irgend
|0355 : 343|
Irrthum und Unwiſſenheit.
eines Willens, alſo auch aller Folgen deſſelben, völlig
auszuſchließen, ſo würde z. B. jeder durch Irrthum ver-
anlaßte Vertrag nichtig ſeyn. Dann wäre alſo auch die
Entſtehung des Irrthums durch den Betrug des Gegners
ganz gleichgültig. Das Römiſche Recht aber behandelt
gerade dieſe Entſtehung als höchſt wichtig, und ſieht ſie
als ganz entſcheidend an. Ja ſelbſt im Fall dieſer Ent-
ſtehung behandelt es den Vertrag nicht als nichtig, ſon-
dern es ſucht ihn auf indirectem Wege (durch doli ex-
ceptio) zu entkräften. Dieſes Alles iſt augenſcheinlich nur
denkbar unter der ſicheren Vorausſetzung, daß der Irr-
thum an ſich das Daſeyn des Willens und deſſen Folgen
nicht ausſchließt, daß alſo der durch bloßen Irrthum ver-
anlaßte Vertrag ein vollgültiger, unanfechtbarer Ver-
trag iſt.
Der in den mitgetheilten Stellen enthaltene ſcheinbare
Widerſpruch verſchwindet, wenn man dieſelben nicht in
dieſer willkührlichen Abſonderung, worin allein der trüge-
riſche Schein derſelben, als durchgreifender Rechtsregeln,
enthalten iſt, betrachtet, ſondern im Zuſammenhang mit
ihrer ganzen Umgebung und mit anderen verwandten Stel-
len. Jede derſelben will alſo nur ſagen, daß in einem
gegebenen Fall, unter den beſonderen Bedingungen deſſelben,
die in Verbindung mit einem Irrthum vorgenommene
Handlung keine Wirkung habe. Es wird im Verfolg un-
ſrer Unterſuchung gezeigt werden, welches die beſonderen
Bedingungen dieſer Fälle ſind. Hier war es genug, vor-
|0356 : 344|
Beylage VIII.
läufig zu zeigen, daß jene Stellen ein poſitives Princip für
die Lehre vom Irrthum überhaupt nicht enthalten können.
VIII.
Weit allgemeinere Anerkennung hat bey neueren Schrift-
ſtellern folgendes poſitive Princip gefunden: der factiſche
Irrthum helfe ohne Unterſchied, der Irrende möge ſich
bereichern, oder nur Schaden von ſich abwenden wollen;
der Rechtsirrthum dagegen helfe nur in dem letzten dieſer
beiden Fälle, nicht in dem erſten. Dieſes Princip ſcheint
in zwey Stellen vollſtändig enthalten zu ſeyn, welche merk-
würdigerweiſe beide von Papinian herrühren.
L. 7 h. t. „Juris ignorantia non prodest adquirere vo-
lentibus, suum vero petentibus non nocet.”
L. 8 h. t. „Error facti ne maribus quidem in damnis
vel compendiis obest: ceterum omnibus juris error
in damnis amittendae rei suae non nocet.”
Ein Stück dieſes Princips kommt auch noch in folgender
Stelle vor, die ohne Zweifel auf jene Ausſprüche des Pa-
pinian gegründet iſt:
L. 11 C. h. t. „Quamvis in lucro nec feminis jus igno-
rantibus subveniri soleat” …
Verſucht man aber, dieſes ſcheinbare Princip in der An-
wendung durchzuführen, ſo zeigt es ſich bald durch den
Widerſpruch mit den unzweifelhafteſten einzelnen Entſchei-
dungen, bald durch ſeine Unbeſtimmtheit, ganz unbrauchbar.
Die erſte dieſer Behauptungen, die ihrer Natur nach die
|0357 : 345|
Irrthum und Unwiſſenheit.
entſcheidendſte ſeyn muß, kann erſt durch die ganze folgende
Unterſuchung des Irrthums in einzelnen Rechtsverhältniſſen
ihre volle Begründung erhalten. Zwei Betrachtungen aber
können ihr ſchon vorläufig Zuſtimmung verſchaffen. Die
in unſren Rechtsquellen anerkannte Grundanſicht war die,
daß ein verſchuldeter Irrthum niemals helfe, und daß der
Rechtsirrthum, mit Ausnahme ſeltener Fälle, ein verſchul-
deter ſey (Num. III.). Damit aber ſteht es in offenbarem
Widerſpruch, wenn der Rechtsirrthum ſtets dazu helfen
ſoll, poſitiven Schaden abzuwenden. Ferner iſt einer der
wichtigſten Fälle des Irrthums im täglichen Verkehr der,
wenn Jemand aus Unkunde des wahren Werthes einer
Sache zu Schaden kommt, z. B. wenn er zu theuer kauft
oder miethet, zu wohlfeil verkauft oder vermiethet. Das
iſt ſtets ein factiſcher Irrthum, der alſo nach dem hier
vorliegenden Princip den Schaden abwenden müßte. Aber
gerade über dieſen wichtigen und häufigen Fall ſind ſo
ziemlich Alle einig, daß der Irrthum keine Hülfe gewähre.
Unſere Rechtslehrer haben dieſen Maͤngeln durch höchſt
ſubtile Unterſcheidungen abzuhelfen verſucht. So z. B. be-
zeichnen die Römiſchen Juriſten die Zuläſſigkeit des Irr-
thums, oder die günſtige Behandlung des Irrenden, ab-
wechslend durch prodest, non obest, non nocet, permissum
est, subvenitur: die entgegengeſetzte Unzuläſſigkeit eben ſo
durch non prodest, obest, nocet, detrimento est (a); jeder
(a) L. 7. 8 h. t., verglichen
mit L. 9 pr. § 3 h. t., worin
die Ausdrücke ganz zufällig und
willkührlich abwechslen.
|0358 : 346|
Beylage VIII.
dieſer Ausdrücke nun ſoll nach manchen Neueren eine ſub-
tile Eigenthümlichkeit des Erfolgs bezeichnen (b). Eben
ſo kommt einmal der beſondere Ausdruck vor: in damnis
amittendae rei suae (L. 8 h. t.); dieſer wird benutzt, um
darauf einen, die ganze Lehre beherrſchenden, Gegenſatz
von damnum rei amittendae und amissae zu gründen (c).
Ein ſo willkührliches, unkritiſches Verfahren in der Aus-
legung würde höchſtens durch ſehr klare und einfache Re-
ſultate einige Wahrſcheinlichkeit gewinnen können; allein
auch daran fehlt es bey jenen Schriftſtellern gänzlich. Es
iſt daher am Gerathenſten, ein Princip ganz aufzugeben,
welches doch nur durch die willkührlichſten Deutungen und
Einſchränkungen ſein Scheindaſeyn friſten kann, alſo eine
ganz unnütze Verwicklung in eine Lehre bringt, die in der
Anwendung auf einzelne Rechtsinſtitute meiſt klar und ge-
wiß erſcheint (d). Wir widerſprechen alſo nicht etwa durch
dieſes Verfahren unſren Rechtsquellen, ſondern wir halten
uns nur an deren ſichere Entſcheidungen im Einzelnen,
und behandeln die oben mitgetheilten Stellen als einen
nicht gelungenen Verſuch zur Aufſtellung eines allgemeinen
Princips. Dieſer Tadel aber trifft nicht Papinian, ſon-
(b) Cujacius obs. V. 39, und
Opp. VII. p. 890.
(c) Donellus I. 21 § 14—20,
I. 22 § 1. 2.
(d) Im Allgemeinen ſtimmt
dieſe Anſicht überein mit Müh-
lenbruch S. 413—416, der nur
darin nicht conſequent verfährt, daß
er einen Theil jener im Allge-
meinen auch von ihm aufgegebe-
nen Regel zu retten verſucht,
nämlich die Unzuläſſigkeit des
Rechtsirrthums im Fall des lu-
crum. Allein eine ſolche Theilung
läßt ſich eben ſo wenig durchfüh-
ren, als das ganze Princip.
|0359 : 347|
Irrthum und Unwiſſenheit.
dern die Compilatoren. Hätten wir jene Stellen in ihrem
urſprünglichen Zuſammenhang vor uns, ſo würde ohne
Zweifel aus ihrer Umgebung klar werden, in welcher be-
ſchränkten Beziehung Papinian jene Sätze aufſtellen wollte
(e). Nur ſo abgeriſſen, wie wir ſie jetzt leſen, erhalten
ſie die abſolute Bedeutung, in welcher wir ſie nicht als
wahr annehmen können. Ja ſelbſt abgeſehen von dieſer
neuen Geſtalt, in welche dieſe Stellen durch ihre Aufnahme
in die Digeſten gerathen ſind, dürfen wir uns auf den all-
gemeineren Grundſatz der Auslegung berufen, nach welchem
im Conflict allgemeiner, von den alten Juriſten gebildeter
Rechtsregeln mit ſicheren concreten Entſcheidungen, dieſe
letzten den Vorzug erhalten müſſen (§ 44).
Zur noch vollſtändigeren Rechtfertigung dieſes Verfah-
rens gegen den Vorwurf willkührlicher Behandlung unſrer
Rechtsquellen mögen folgende Betrachtungen dienen. Im
Weſentlichen iſt daſſelbe nicht von demjenigen verſchieden,
welches wir oben zur Beſeitigung des ſcheinbaren erſten
Princips (Num. VII.) angewendet haben. Iſt es nun hier
(e) Wir behaupten alſo nicht,
daß die in Papinians Stellen
gemachten Unterſcheidungen un-
wahr, ſondern daß ſie nur bezie-
hungsweiſe wahr ſind. Welches
nun die beſonderen Beziehungen
waren, an welche Papinian dabey
dachte, und die aus dem ganzen
Zuſammenhang ſeiner Rede deut-
lich hervorgehen mochten, können
wir freylich bey dem abgeriſſenen
Zuſtande der Stellen nicht mit völ-
liger Sicherheit angeben. Wahr-
ſcheinlich aber ſprach Papinian von
den Wirkungen des Irrthums nicht
im Allgemeinen, ſondern bey be-
ders privilegirten Klaſſen, oder
vielmehr blos bey Frauen. Das
Genauere hierüber wird am Ende
dieſer Nummer ausgeführt wer-
den.
|0360 : 348|
Beylage VIII.
von den Meiſten ſtets als zuläſſig und unbedenklich ange-
nommen, wenigſtens ſtillſchweigend vorausgeſetzt worden,
ſo darf es nicht ohne Inconſequenz bey der Prüfung des
zweyten Princips verworfen werden. — Ferner iſt das
Reſultat unſrer Unterſuchung eigentlich dieſes, daß in den
mitgetheilten Stellen die Unterſcheidung zwiſchen lucrum
und damnum, als zu einem allgemeinen Princip nicht ge-
eignet, ausgeſchieden werden müſſe; dann aber bleibt in
denſelben Nichts übrig, als die ohnehin gewiſſe verſchiedene
Behandlung des factiſchen und des Rechtsirrthums, und
ſie ſtimmen nun ganz überein mit den vielen, dieſe Ver-
ſchiedenheit bezeugenden Stellen (Num. III. Note a). Ja
unter dieſen iſt eine ſo gefaßt, daß ſie mit den Stellen
Papinians geradezu in Widerſpruch treten würde, wenn
wir nicht dieſen, auf die oben vorgeſchlagene Weiſe, die
Kraft eines durchgreifenden Princips verſagen wollten (f).
— Endlich müſſen wir aber auch noch zu der ſchon oben
angedeuteten Behauptung zurückkehren, daß das in den
Stellen Papinians ſcheinbar enthaltene Princip zu einer
ſicheren Anwendung durchaus nicht geeignet iſt, weil ihm
keine ſcharf beſtimmbaren Begriffe zum Grunde liegen.
Denn ob der durch den Irrthum veranlaßte Nachtheil als
entbehrter Gewinn, oder als poſitiver Schade gelten ſoll,
das hängt oft blos von dem Zeitpunkt ab, den wir für
(f) L. 9 pr. h. t. „Regula est,
juris quidem ignorantiam cui-
que nocere, facti vero ignoran-
tiam non nocere.” Hier wird
die Schädlichkeit des Rechtsirr-
thums abſolut ausgeſprochen, ohne
Unterſchied des poſitiven Verluſtes
und des entbehrten Gewinnes.
|0361 : 349|
Irrthum und Unwiſſenheit.
die Betrachtung wählen; dieſer Zeitpunkt aber wird durch
jenes Princip auf keine Weiſe beſtimmt, ſo daß daſſelbe
den letzten Erfolg meiſt unentſchieden laſſen wird. Wer
z. B. die condictio indebiti anſtellt, will etwas gewinnen
in Beziehung auf die unmittelbar vorhergehende Zeit, da
das bezahlte Geld in ſeinem Vermögen gegenwärtig gar
nicht mehr enthalten, er alſo durch die geleiſtete Zahlung
ſchon wirklich ärmer geworden iſt; in Beziehung auf die
Zeit vor der Zahlung will er Verluſt abwenden; Alles
hängt alſo davon ab, ob wir den Umfang des Vermögens
vor oder nach der Zahlung unſrer Betrachtung zum Grund
legen wollen (g). Wer eine Uſucapion vollendet, wird
vielleicht gar nicht reicher, da die Uſucapion ſehr oft nur
dadurch einen praktiſch höchſt wichtigen Dienſt leiſtet, daß
ſie den fehlenden Beweis des bereits vorhandenen Eigen-
(g) Hieraus erklärt ſich die
ſubtile Unterſcheidung des Donel-
lus zwiſchen damnum rei amit-
tendae und amissae. — Höpf-
ner, Inſtitutionencommentar §
954, nimmt an, der Kläger bey
der condictio indebiti wolle zwar
gewöhnlich nur Verluſt abwenden,
zuweilen aber auch Gewinn ma-
chen; dieſes namentlich wenn der
Teſtamentserbe die Legate ohne
Abzug der Falcidia ausgezahlt
habe, und nun das ſo zuviel
Bezahlte zurückfordere; denn die-
ſer Abzug ſey reiner Gewinn.
Hier ſchiebt alſo Höpfner den
Standpunkt der Beurtheilung in
eine noch frühere Zeit zurück,
nämlich vor den Erwerb der Erb-
ſchaft, in welcher Zeit freylich die
ganze Erbſchaft, alſo auch der in
der Falcidia enthaltene Theil der-
ſelben, noch als bevorſtehender
reiner Gewinn erſcheinen muß;
oder gar in die Zeit vor der Lex
Falcidia, die ja überhaupt erſt den
Abzug, als reinen Gewinn, dem
Erben zugeſtanden hat. Hieraus
wird es nun immer einleuchten-
der, daß jene Unterſcheidung die
willkührlichſte Anwendung zuläßt,
alſo ſchon an ſich ſelbſt als ſichere
Regel zu dienen unfähig iſt.
|0362 : 350|
Beylage VIII.
thums entbehrlich macht. Jedoch auch Der, welcher durch
ſie wirklich erſt Eigenthum erwirbt, wird zwar um den
ganzen Werth dieſes Eigenthums reicher, als er unmittel-
bar vor der Uſucapion war; gehen wir aber auf einen
früheren Zeitpunkt zurück, ſo wendet er vielleicht blos den
Verluſt ab, den er durch den Kauf einer fremden Sache
erleiden würde, wenn gerade der Verkäufer die Eviction
zu leiſten nicht im Stande iſt. Wer eine Sache zu theuer
kauft, und nun gegen dieſen nachtheiligen Contract Hülfe
verlangt, will Schaden abwenden mit Rückſicht auf den
Vermögenszuſtand vor geſchloſſenem Contract; ſehen wir
auf den gegenwärtigen Zeitpunkt, ſo will er reicher wer-
den, denn der Schade iſt durch die in dem geſchloſſenen
Contract übernommene Obligation bereits vollendet, und
wird es nicht erſt durch die Zahlung des Geldes. — In-
dem alſo jenes Princip ganz entgegengeſetzte Anwendungen
zuläßt, zeigt es ſich ſchon durch ſeine Faſſung untauglich
als ſichere Regel gebraucht zu werden, ganz abgeſehen
noch von den ihm widerſprechenden ſicheren Entſcheidungen
einzelner Fälle.
Ich will damit nicht behaupten, daß der Begriff von
lucrum überall ein unbeſtimmter, juriſtiſch wenig brauch-
barer Begriff wäre. Wenn einem Rechtsgeſchäft die be-
ſtimmte Abſicht einſeitiger Bereicherung zum Grunde liegt
(durch Schenkung), ſo iſt allerdings der lucri animus eine
beſtimmte und wichtige Bedingung für die Eigenthümlich-
keit dieſer Handlung. Aber hier iſt uns auch durch die
|0363 : 351|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Handlung ſelbſt ein unzweifelhafter Zeitpunkt gegeben, in
Beziehung auf welchen das Mehr oder Weniger in dem
Vermögen abzumeſſen iſt. Gerade der Mangel eines ſol-
chen ſicheren Zeitpunkts iſt es, wodurch jenes angebliche
Princip für die Lehre vom Irrthum ſo unbrauchbar für
die Anwendung wird.
Dieſe letzte Bemerkung aber führt uns nun noch zu
einer beſtimmteren Behauptung über die urſprüngliche Ge-
ſtalt der Stellen Papinians und deren gegenwärtig vorlie-
gende Interpolation. Die ganze Verwirrung entſteht da-
durch, daß Papinian eine erſchöpfende Klaſſification aller
möglichen Rechtsereigniſſe aufſtellen zu wollen ſcheint, aus
welcher man für jeden vorkommenden Fall eines Irrthums
abnehmen könne, ob dem Irrenden zu helfen ſey oder nicht.
In dieſer Geſtalt aufgefaßt, führten die Stellen theils zu
anerkannt unrichtigen, theils zu ſchwankenden, in beiden
Fällen alſo zu unbrauchbaren Reſultaten. In der That
aber hatte Papinian nicht von dem Irrthum überhaupt,
ſondern nur von dem Irrthum der Frauen geſprochen.
Dieſe hatten zu ſeiner Zeit das Vorrecht, da wo überhaupt
der Irrthum ſchützte, auch den Rechtsirrthum für ſich gel-
tend machen zu dürfen: jedoch mit Ausnahme der Schen-
kungen, d. h. der Geſchäfte, die uns nicht etwa blos be-
reichern (welches bey ſehr vielen Geſchäften nach Einer
Seite hin geſchieht), ſondern wobey dieſe einſeitige Berei-
cherung die beſtimmte Abſicht beider zuſammen wirkenden
Perſonen iſt. In dieſem Zuſammenhang hatte der von
|0364 : 352|
Beylage VIII.
ihm gebrauchte Ausdruck lucrum eine ganz beſtimmte Be-
deutung, und in welcher Verbindung daneben von damnum
geſprochen war, können wir jetzt nicht errathen. Daß er
aber von den Frauen ſprach, erhellt aus den Worten der
Stelle ſelbſt ganz deutlich. Die generaliſirende Interpo-
lation fanden die Compilatoren deswegen nöthig, weil
ſpäterhin das ausgedehnte Vorrecht der Frauen beſchränkt,
und dem Recht der Männer nahe gebracht worden iſt
(Num. XXXI.). So haben durch ungeſchickte Behandlung
jene Stellen die irre führende Geſtalt eines durchgreifenden
Princips über die Wirkſamkeit oder Unwirkſamkeit des
Irrthums im Allgemeinen erhalten. — Bisher habe ich
dieſe Behauptung blos als eine Hypotheſe aufzuſtellen ge-
ſucht, die ſich als wahrſcheinlich durch ungezwungene und
befriedigende Löſung der vorliegenden Schwierigkeit bewährt.
Sie erhält aber ein hiſtoriſches Gewicht durch eine, auch
ſchon oben angeführte, Kaiſerconſtitution, in welcher wir
glücklicherweiſe unmittelbar nachweiſen können, daß die Com-
pilatoren ein ähnliches, als das hier für Papinian behaup-
tete, Verfahren wirklich angewendet haben. Es iſt dieſes
die von Conſtantin herrührende L. 3 C. Th. de sponsal.
(3. 5.) „Quamvis in lucro nec feminis jus ignorantibus
subveniri soleat, contra aetatem adhuc imperfectam locum
hoc non habere, retro principum statuta declarant. Ne
igitur soluta matrimonii caritate inhumanum aliquid sta-
tuatur, censemus, si futuris conjugibus tempore nuptiarum
intra aetatem constitutis res fuerint donatae et traditae,
|0365 : 353|
Irrthum und Unwiſſenheit.
non ideo posse eas revocari, quia actis consignare dona-
tionem quondam maritus noluit.” Soweit hier die Stelle
curſiv gedruckt iſt, ſteht ſie wörtlich gleichlautend (nur
mit Einſchaltung des gleichgültigen Worts attamen) als
L. 11 C. h. t. im Juſtinianiſchen Codex. Aus dem weg-
gelaſſenen Stück aber erhellt deutlich, daß das lucrum
hier ſpeciell die Schenkung, und nicht die eine Hälfte aller
Rechtsgeſchäfte überhaupt bezeichnet: ferner daß von der
Begünſtigung gewiſſer Klaſſen die Rede iſt, welche im
Fall der Schenkung bey Frauen nicht gelten, bey Minder-
jährigen gelten ſoll. Erſt durch die Weglaſſung des letz-
ten, concreten Stücks hat die ſo abgekürzte Stelle daſſelbe
abſtracte Anſehen erhalten, wie die Stellen Papinians;
und da im Codex die Entſtehung dieſes Anſehens durch
bloße Abkürzung vor unſren Augen liegt, ſo gewinnt durch
dieſe Analogie unſre Annahme einer gleichartigen Entſte-
hung in den Digeſten, hiſtoriſchen Boden.
IX.
Nachdem dieſe beiden ſcheinbaren Principien beſeitigt
ſind, kehre ich zu der früher (Num. VI.) eingeſchlagenen
Bahn zurück, um nach den einzelnen Klaſſen juriſtiſcher
Thatſachen zu unterſuchen, auf welche derſelben dem Irr-
thum ein, die regelmäßige Wirkſamkeit modificirender, Ein-
fluß zuzuſchreiben iſt. Zur leichteren Überſicht will ich
gleich hier den Gang dieſer Unterſuchung durch eine ta-
bellariſche Zuſammenſtellung anſchaulich machen.
III. 23
|0366 : 354|
Beylage VIII.
I. Poſitive Thatſachen (Thun):
1. Rechtsgeſchäfte inter vivos:
A. Wirkſamkeit an ſich.
a. Ausdrückliche Willenserklärung (Num. X. XI.).
b. Stillſchweigende Willenserklärung (Num. XII.).
B. Hinderniſſe der Wirkſamkeit, die in Folge eines
Irrthums beſeitigt werden können:
a. entweder gleich urſprünglich (Num. XIII.);
b. durch ſpätere Ergänzung (Num. XIV—XVI.).
2. Handlungen im Gebiet des Erbrechts (Num. XVII.
XVIII.).
3. Prozeſſualiſche Handlungen (Num. XIX.).
4. Delicte und delictenähnliche Handlungen (Num.
XX—XXIII.).
II. Negative Thatſachen (Unterlaſſen) (Num. XXIV —
XXIX.).
X.
Der wichtigſte und ausgedehnteſte Fall einer denkbaren
Einwirkung des Irrthums betrifft die Rechtsgeſchäfte des
täglichen Verkehrs, und namentlich die Verträge; ſowohl
die obligatoriſchen, als die Tradition, die ihrem eigenſten
Weſen nach auch ein Vertrag iſt. Hier aber hat in der
Regel der Irrthum gar keine Einwirkung, er mag nun ein
factiſcher oder ein Rechtsirrthum, verſchuldet oder unver-
ſchuldet ſeyn. Der Kauf aus Irrthum alſo iſt dennoch
ein unanfechtbarer Kauf, eine aus Irrthum entſprungene
|0367 : 355|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Tradition iſt vollgültig. In dieſer regelmäßigen Unwirk-
ſamkeit des Irrthums liegt ſogar die einzige Rettung des
Verkehrs gegen gränzenloſe Unſicherheit und Willkühr. Sie
muß zugleich behauptet werden im Gegenſatz jeder an ſich
denkbaren Form der Einwirkung (Num. II.). Es iſt alſo
der durch Irrthum veranlaßte Vertrag weder ſchon an ſich
ſelbſt ungültig, noch auch durch eine gewöhnliche Klage
oder durch eine Reſtitution zu entkräften möglich (a).
Der aufgeſtellte Satz iſt gleich wahr, der Irrthum mag
nun den Werth und die Brauchbarkeit des Gegenſtandes
(welches der häufigſte Fall iſt) betreffen, oder aber das
Rechtsverhältniß des Irrenden zu dieſem Gegenſtand. Wenn
ich alſo meine Sache, deren Eigenthum ich dem Titius
irrig zuſchreibe, im Auftrag des Titius veräußere, ſo iſt
dieſe Veräußerung dennoch für mich bindend (b). — Fer-
ner iſt der Satz wahr, nicht blos in der gewoͤhnlich be-
achteten Bedeutung, daß der Irrende nicht verlangen kann,
um des Irrthums willen von den nachtheiligen Folgen des
Geſchäfts befreyt zu werden; ſondern auch in der umge-
kehrten Bedeutung, daß der Irrende die Vortheile des an
ſich gültigen Geſchäfts behaupten kann, wenngleich er irrig
(a) Der hier aufgeſtellte Grund-
ſatz iſt auch ſchon dargeſtellt und
gegen die widerſprechenden Be-
hauptungen anderer Schriftſteller
vertheidigt worden von Thi-
baut, Verſuche B. 2 Abhand-
lung 4 Num. II.
(b) L. 49 § 1 mandati (17. 1.).
Scheinbar widerſprechend iſt L. 35
de adqu. rer. dom. (41. 1.), die
jedoch von der Verwechslung
zweyer verſchiedener Sachen bey
der Tradition (error in corpore)
verſtanden werden muß. Vgl.
Thibaut Verſuche B. 2 S. 107.
23*
|0368 : 356|
Beylage VIII.
glaubte, daſſelbe ſey weniger gültig. Wer alſo eine Sache
von dem Eigenthümer tradirt bekommt, den er irrig für
einen Nichteigenthümer hält, wird darum nicht minder Ei-
genthümer (c).
Dieſer wichtige Satz ſoll nunmehr gegen jede Einwen-
dung geſichert werden. Er folgt erſtlich aus der Natur
des freyen Willens ſelbſt, deſſen Daſeyn und Wirkung von
den wahren oder irrigen Beweggründen ganz unabhängig
iſt: und zwar ſowohl nach der allgemeinen Betrachtung
der Freyheit (Syſtem § 115), als nach den Beſtimmungen
des Römiſchen Rechts, wenngleich einige derſelben das
Gegentheil zu ſagen ſcheinen (Num. VII.). — Er iſt ferner
unzweifelhaft als die nothwendige Vorausſetzung einiger
der wichtigſten Inſtitute des Römiſchen Rechts, die ohne
ihn ganz unmöglich ſeyn würden. Dahin gehört die Lehre
vom dolus, die ſchon oben zu dieſem Zweck benutzt worden
iſt (Num. VII.). Eben ſo aber auch die Ausnahmen des
Satzes, von welchen ſogleich ausführlich die Rede ſeyn
wird, nämlich die ädiliciſchen Klagen, und die Condictio-
nen; denn dieſe wären völlig überflüſſig, ja in ihrer feſt
begränzten Ausnahmenatur undenkbar, wenn nicht unſer
Satz als bekannte und unzweifelhafte Regel vorausgeſetzt
(c) L. 9 § 4 h. t. (Herald.
obs. C. 35 emendirt ementis für
mentis, was einen guten Sinn
giebt, aber nicht nöthig iſt). —
Allerdings iſt hier der Empfänger
in mala fide, und dieſes würde
die Uſucapion hindern: die un-
mittelbare Wirkung der Tradition
des wahren Eigenthümers, wobey
eine ergänzende Uſucapion nicht
nöthig iſt, hindert es nicht.
|0369 : 357|
Irrthum und Unwiſſenheit.
werden dürfte. — Endlich wird dieſer Satz noch durch
folgende einzelne Ausſprüche des Römiſchen Rechts be-
ſtätigt:
1. Wer Etwas ſchenkt, um den Andern für irrig vor-
ausgeſetzte Dienſte zu belohnen, kann ungeachtet dieſes Irr-
thums das Gegebene nicht zurück fordern (d).
2. Wenn Waaren nach Gewicht verkauft werden, und
ein Dritter hat zu dieſem Handel wiſſentlich falſches Ge-
wicht hergeliehen, ſo kann in der Regel der Beſchädigte
die Berichtigung der ungenauen Erfüllung des Vertrags
verlangen, wodurch dann jeder Schade abgewendet iſt.
Nur wenn ausdrücklich auf dieſes individuelle Gewicht
contrahirt war, fällt dieſe Aushülfe weg, und nun gilt die
doli actio gegen den Betrüger (e). Daraus aber folgt
nothwendig, daß jener Vertrag ſelbſt, ungeachtet des Irr-
thums, unanfechtbar ſeyn muß, indem die doli actio nicht
gegeben werden darf, ſobald der Schade durch ein anderes
Rechtsmittel (Klage oder Exception) abgewendet werden
kann, es möge dieſes Rechtsmittel gegen den Betruͤger
ſelbſt, oder gegen einen Andern, zuläſſig ſeyn (f).
3. Wenn der Gläubiger durch Betrug ſeines Schuld-
ners zur Acceptilation beſtimmt wird, ſo hat er gegen den
Schuldner die doli actio (g). Daraus folgt aber, daß die
Acceptilation, ungeachtet des Irrthums, gültig ſeyn muß,
(d) L. 65 § 2 de cond. indeb.
(12. 6.).
(e) L. 18 § 3 de dolo (4. 3.).
(f) L. 1 § 4—8, L. 2—7 de
dolo (4. 3.).
(g) L. 38 de dolo (4. 3.).
|0370 : 358|
Beylage VIII.
weil außerdem jene Klage entbehrlich, alſo auch unzuläſſig,
ſeyn würde (Note f).
XI.
Es giebt jedoch zwey wichtige Ausnahmen der eben
dargeſtellten Regel: Fälle, in welchen ein Rechtsgeſchäft
blos wegen eines irrigen Beweggrundes als ungültig durch
beſondere Klagen angefochten werden kann (a).
Der erſte dieſer ausgenommenen Fälle findet ſich in
den ädiliciſchen Klagen. Wer eine Sache kauft, die mit
einem heimlichen Fehler beſonders beſtimmter Art behaftet
iſt, kann nach ſeiner Wahl entweder den Kauf aufheben,
oder eine Verminderung des Kaufgeldes verlangen, und
zwar lediglich wegen dieſes Irrthums, der Verkäufer alſo
mag den Fehler gekannt haben oder nicht (b). Die ge-
(a) Mit dieſen ausgenommenen
Fällen darf nicht zuſammengeſtellt
werden der Fall des Betrugs;
denn bey dieſem tritt der Irrthum
als ſolcher ganz zurück, und der
Betrug für ſich iſt ſelbſtſtändiger
Entſtehungsgrund eigenthümlicher
Rechtsverhältniſſe (Syſtem § 115).
Eben ſo darf dahin nicht gezählt
werden die Anfechtung des Kaufs
wegen laesio ultra dimidium;
denn bey dieſer iſt der Irrthum
des Verkäufers über den wahren
Werth der Sache zwar ein mög-
licher Beweggrund, aber nicht der
nothwendige: es kann auch ein
Verkauf ſeyn aus Geldnoth, die
der Käufer wucherlich misbraucht,
in welchem Fall kein Irrthum
zum Grund liegt.
(b) Mit den ädiliciſchen Klagen
darf in dieſer Hinſicht nicht zu-
ſammengeſtellt werden die Klage
auf Evictionsleiſtung, obgleich auch
bey dieſer ein Irrthum allerdings
vorausgeſetzt wird. (L. 27 C. de
evict. 8. 45.). Denn der wahre
Grund der Klage iſt hier nicht
der Irrthum, ſondern der nicht
gehörig erfüllte Kauf (L. 11 § 2
de act. emti 19. 1, L. 8 de
evict. 21. 2.); der Irrthum aber
kommt hier nur inſofern in Be-
tracht, als umgekehrt in der Be-
kanntſchaft mit dem fremden Recht
eine Entſagung auf den Regreß
|0371 : 359|
Irrthum und Unwiſſenheit.
naueren Beſtimmungen dieſes Rechtsſatzes gehören hierher
nicht, ſondern nur deſſen Verbindung mit der Lehre vom
Irrthum, worin er als poſitive Ausnahme erſcheint von
der Regel, nach welcher der Irrthum keinen Einfluß auf
die Gültigkeit der Verträge hat. Das ganz Poſitive des
erwähnten Rechtsſatzes iſt von allen Seiten unverkennbar:
in der unzuläſſigen Contractsklage: in den dafür einge-
führten eigenen Klagen mit ganz beſonderer, kurzer Ver-
jährung: in dem Wahlrecht des Klägers: ja ſchon in den
ſehr eigenthümlich und willkührlich beſtimmten factiſchen
Beſtimmungen der Klage (vitium und morbus). — Gleich
hier aber bewährt ſich deutlich das oben (Num. VI.) auf-
geſtellte negative Princip, indem die erwähnten Klagen
ungeachtet des Irrthums wegfallen, wenn derſelbe nicht
ohne große Nachläſſigkeit des Irrenden eintreten konnte (c).
Der zweyte, weit wichtigere, ausgenommene Fall iſt
gegen den Verkäufer liegen würde.
Darum gilt auch bey den Römi-
ſchen Juriſten die Evictionsleiſtung
gar nicht, ſo wie die Vorſchrift
des ädiliciſchen Edicts, als ein
ganz poſitiver Rechtsſatz, ſondern
als eine natürliche Folge des
Kaufcontracts; ſie kann daher
durch die actio emti geltend ge-
macht werden, die wegen vitium
und morbus der erkauften Sache
nicht gilt.
(c) L. 14 § 10 de aedil. ed.
(21. 1.) „Si … talis tamen mor-
bus sit, qui omnibus potuit ap-
parere .. ejus nomine non te-
neri Caecilius ait … ad eos
enim morbos vitiaque pertinere
Edictum Aedilium probandum
est, quae quis ignoravit, vel
ignorare potuit.” Der letzte
Ausdruck erklärt ſich aus dem
erſten; es ſoll der Irrthum ent-
weder als Thatſache nachgewieſen
ſeyn, oder wegen der Verborgen-
heit des Fehlers mit Wahrſchein-
lichkeit angenommen werden kön-
nen. Dabey verſteht es ſich von
ſelbſt, und wird durch die voran-
ſtehenden Worte beſtätigt, daß
auch der wirklich vorhandene Irr-
thum nicht beachtet wird, wenn
er mit großer Nachläſſigkeit ver-
bunden iſt.
|0372 : 360|
Beylage VIII.
enthalten in den Condictionen (d). Auch bey dieſen wird
ein an ſich gültiges Rechtsgeſchäft vorausgeſetzt, welches
lediglich wegen des Irrthums durch eine beſondere Klage
wiederum entkräftet werden kann. Die eigenthümliche Vor-
ausſetzung wird darin geſetzt, daß das Rechtsgeſchäft vor-
genommen werde mit Rückſicht auf eine juriſtiſche causa,
und daß der Irrthum gerade dieſe causa, nicht etwa blos
die factiſchen Vortheile oder Nachtheile, die dabey eintre-
ten können, betreffe (e). Das Rechtsgeſchäft kann nun
beſtehen entweder in einem Geben, beſonders einer Geld-
zahlung, oder in dem Abſchluß eines obligatoriſchen Ver-
(d) Ich gebrauche hier der
Kürze wegen dieſen allgemeinen
Ausdruck, obgleich dabey als hier-
her nicht gehörend abgerechnet
werden müſſen: 1. Die Condic-
tionen aus Verträgen (Darlehen
und Stipulation), 2. die anoma-
liſchen Condictionen, bey welchen
es auf Irrthum gar nicht an-
kommt, nämlich condictio furtiva
und ob turpem causam. Dann
bleiben folgende, als hierher ge-
hörend, das heißt auf einer irri-
gen causa beruhend, übrig: a.
wegen einer künftigen causa die
condictio ob causam datorum,
b. wegen einer gegenwärtigen oder
vergangenen: die allgemeine con-
dictio sine causa, und für einen
einzelnen Fall, aber den wichtig-
ſten und häufigſten unter allen,
die condictio indebiti.
(e) Wenn ich einen Tauſchver-
trag von meiner Seite erfülle,
ſo geſchieht es, um den Andern
zur gegenſeitigen Erfüllung zu
verpflichten. Dieſe (obligandi)
causa hat eine ganz juriſtiſche
Natur, und wenn ich mich in
dieſer Erwartung getäuſcht finde,
ſo habe ich die condictio ob
causam datorum. Wenn dage-
gen der Andere gleichfalls erfüllt,
und es ſich findet, daß ich eine
gute Sache gegen eine ſchlechte
vertauſcht habe, ſo iſt mir zwar
auch ein Nachtheil aus Irrthum
entſtanden, aber dieſer Irrthum
betrifft blos die factiſchen Ver-
hältniſſe der Sache (Brauchbar-
keit und Preis), ſteht nicht in
Verbindung mit einer juriſtiſchen
causa, und begründet keine Con-
diction. Die juriſtiſche causa iſt
hier vielmehr vollſtändig in Er-
füllung gegangen, und auf ſie
hat ſich daher kein Irrthum be-
zogen.
|0373 : 361|
Irrthum und Unwiſſenheit.
trags: im erſten Fall geht die Condiction auf Rückgabe
des gezahlten Geldes (f), im zweyten auf Befreyung von
der übernommenen Obligation; und dieſer Anſpruch auf
Befreyung kann nicht blos durch die Condiction geltend
gemacht werden, ſondern noch einfacher durch eine Excep-
tion gegen die Klage des Gläubigers auf Erfüllung jenes
abgeſchloſſenen Vertrags (g). — Es kann nun hier noch
weniger, als bey den ädiliciſchen Klagen, die Rede davon
ſeyn, dieſen ſehr wichtigen Abſchnitt des Obligationenrechts
am gegenwärtigen Ort vollſtändig abzuhandeln; vielmehr
ſoll hier nur der Zuſammenhang der Condictionen mit der
Lehre vom Irrthum nachgewieſen werden. Die genauere
Beſtimmung dieſes Zuſammenhangs aber wird faſt nur
bey der condictio indebiti erforderlich; auch iſt dieſe über-
haupt häufiger und wichtiger als die übrigen Condictionen,
und erſcheint daher unter allen am meiſten im Römiſchen
Recht ausgebildet. Es wird deshalb hier ausſchließend
von dem Irrthum in Beziehung auf die condictio indebiti
(f) L. 1 § 1, L. 7 de cond.
indeb. (12. 6.). Dieſes iſt der
gewöhnlichſte Fall, der in dem
ganzen Digeſtentitel faſt überall
vorausgeſetzt wird.
(g) L. 5 § 1 de act. emti
(19. 1.), L. 51 pr. § 1 de pactis
(2. 14.), L. 31 de cond. ind.
(12. 6.). Auch dieſes wieder läßt
ſich auf ganz verſchiedene Weiſe
denken. Es geſchieht, wenn ich
als Erbe fälſchlich glaube, durch
Teſtament zum Verkauf meines
Hauſes verpflichtet zu ſeyn, und
deswegen das Haus wirklich ver-
kaufe. Es geſchieht aber auch,
wenn ich für eine fälſchlich an-
genommene Geldſchuld, anſtatt
baarer Zahlung, durch Novation
eine ganz neue Schuld contrahire,
z. B. einen Wechſel ausſtelle. An-
dere und verſtecktere Formen,
worin dieſer wichtige Rechtsſatz
erſcheint, werden noch weiter un-
ten erwähnt werden.
|0374 : 362|
Beylage VIII.
ferner die Rede ſeyn. — Bey dieſer nun zeigt ſich der
oben aufgeſtellte Unterſchied des factiſchen und Rechtsirr-
thums (Num. III.) vorzüglich wirkſam, indem nur der erſte,
nicht der zweyte den Anſpruch auf die Condiction ſoll be-
gründen können. Indeſſen iſt dieſer wichtige Satz ſehr
beſtritten, und bedarf einer ausführlichen Darſtellung der
entgegen ſtehenden Meynungen und ihrer Gründe. Da-
durch würde aber, wenn dieſe gleich hier vorgenommen
werden ſollte, der überſichtliche Zuſammenhang der Haupt-
unterſuchung ſehr geſtört werden. Ich habe es daher vor-
gezogen, dieſe Streitfrage hier auszuſcheiden, und an das
Ende der gegenwärtigen Abhandlung, als eine für ſich
beſtehende Unterſuchung zu verweiſen (Num. XXXV. u. fg.).
Dieſes ſind die beiden Ausnahmen des Römiſchen Rechts.
Das canoniſche Recht fügt eine dritte hinzu, welche ſich
auf die Eingehung einer Ehe aus irrigen Vorausſetzungen
bezieht. Dadurch ſoll jedoch die Ehe nur in dem einzigen
Fall nichtig werden, wenn der eine Ehegatte frey, der an-
dere unfrey iſt, und der Freye die Unfreyheit des Andern
nicht kannte (h). Im Römiſchen Recht konnte dieſer Fall
gar nicht vorkommen, da für die Sklaven, die einzigen
Unfreyen die bey den Römern vorkommen, eine Ehe über-
(h) c. 4 C. 29. q. 2, C. 2. 4 X.
de conj. serv. (4. 9.). Böhmer
§ 348. 384 not. a. Eichhorn II.
S. 352. — Ohne Grund will die
Praxis dieſes auf andere Fälle
ausdehnen. Dazu wird in den
meiſten Fällen nicht einmal ein
Bedürfniß vorhanden ſeyn, da
meiſt Betrug concurrirt, von wel-
chem dann der Irrthum abſorbirt
wird.
|0375 : 363|
Irrthum und Unwiſſenheit.
haupt unmöglich war, ohne Rückſicht auf das Bewußtſeyn
und den Willen der Parteyen.
XII.
Bisher war von Rechtsgeſchäften durch ausdrückliche
Willenserklärung die Rede; eine etwas andere Natur hat
in Beziehung auf Irrthum die ſtillſchweigende (§ 131).
Denn das Daſeyn des Willens war, bey der ausdrückli-
chen, durch die mündliche oder die ſchriftliche Rede voͤllig
gewiß, und es konnte nur die Frage ſeyn, ob dieſem wirk-
lich vorhandenen Willen wegen des Irrthums die gewöhn-
liche Wirkung entzogen werden ſollte. In der ſtillſchwei-
genden Erklärung dagegen iſt das Daſeyn des Willens
nicht ſchon für ſich gewiß, vielmehr ſoll daſſelbe erſt aus
Handlungen geſchloſſen werden, die wir als Ausdruck des
Willens annehmen. Sind nun aber dieſe Handlungen in
einer ſolchen irrigen Vorausſetzung unternommen, daß ſie
gar nicht als Ausdruck jenes Willens gelten können, dann
fehlt es an allem poſitiven Grund einer Rechtsänderung,
und es kann gar nicht die Frage davon ſeyn, dem Willen
ſeine gewöhnliche Wirkſamkeit zu verſagen.
Wenn wir aber dieſes anerkennen, ſo nehmen wir nicht
etwa blos einen anderen Grund an für die Einwirkung
des Irrthums auf die ſtillſchweigenden Willenserklärungen,
ſondern auch die praktiſche Beurtheilung im Einzelnen wird
eine ganz andere. Denn die Schuldloſigkeit des Irrthums
wird nunmehr ganz gleichgültig: dann aber verſchwindet
|0376 : 364|
Beylage VIII.
auch der Unterſchied zwiſchen dem factiſchen und Rechts-
irrthum, indem auch dieſer letzte das Daſeyn des Wil-
lens, mithin den poſitiven Grund irgend einer Rechtsän-
derung, ausſchließt.
Beſtätigungen der hier aufgeſtellten Anſicht ſind fol-
gende.
Wer auf ſeinem Grundſtück ſolche Arbeiten vornimmt,
wodurch das Regenwaſſer einem Nachbar ſchädlich wer-
den kann, wird durch eine eigene Klage zur Herſtellung
des früheren Zuſtandes gezwungen. Hat aber der Nach-
bar die Arbeit gewußt und geſchehen laſſen, ſo hat er
dadurch in die möglichen Nachtheile ſtillſchweigend einge-
willigt, weshalb die Klage wegfällt. Jedoch kann wie-
derum dieſe Ausnahme nicht gelten, wenn der Nachbar
aus Irrthum die Gefährlichkeit der Arbeit nicht einſah;
denn nun kann ſein Stillſchweigen nicht als freye Unter-
werfung unter dieſe Gefahr angeſehen werden (a). Dabey
iſt nun blos von error aut imperitia die Rede, ohne Un-
terſchied ob der Irrthum ſchwer oder leicht zu vermeiden
war, welcher letzte Fall hier wohl am häufigſten ange-
nommen werden dürfte.
(a) L. 19. 20 de aqua et aquae
pluv. (39. 3.). Dieſes iſt eine der
oben angeführten Stellen (Num.
VII.), deren allgemeiner Ausdruck
dahin führen könnte, wegen des
Irrthums das Daſeyn jedes (auch
des ausdrücklich erklärten) Wil-
lens zu verneinen. — Der au-
genſcheinliche Grund der von der
Ausnahme gemachten Ausnahme
liegt darin, daß der Nachbar, dem
die Arbeit wirklich keine Gefahr
bringt, auch kein Recht des Wi-
derſpruchs hat, weshalb ſein
Schweigen nicht als Einwilligung
gelten kann.
|0377 : 365|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Wenn ſich zwey Parteyen vor einem incompetenten
Gericht einlaſſen, ſo wird dieſes durch freywillige Proro-
gation competent; die Einlaſſung alſo gilt als ſtillſchwei-
gende Erklärung, daß ſie dieſem Gericht durch freyen Ent-
ſchluß ſich unterwerfen wollen (b). Glaubten ſie aber irri-
gerweiſe, das Gericht ſey ohnehin competent, ſo wollten
ſie ſich blos der vermeyntlichen Nothwendigkeit fügen;
dann kann ihre Einlaſſung nicht als ſtillſchweigende freye
Unterwerfung ausgelegt werden, und ſie hat daher nicht
die Kraft einer Prorogation (c). Hier wird nun der Irr-
thum faſt immer ein Rechtsirrthum ſeyn, indem er die
Rechtsregeln über die örtlichen oder perſönlichen Gränzen
des Gerichtsſprengels zum Gegenſtand haben wird, ſo daß
alſo hier, wie oben bemerkt, der Rechtsirrthum dieſelbe
Wirkung hat, wie der factiſche Irrthum.
Wenn ein zur Erbſchaft Berufener Geſchäfte der Erb-
ſchaft beſorgt, ſo liegt in dieſer pro herede gestio eine
ſtillſchweigende Antretung. Wenn er jedoch irrigerweiſe
das zur Erbſchaft gehörende Geſchäft nicht für ein ſol-
ches, ſondern für ſein eigenes hielt, ſo kann unmöglich
ſeine Handlung als Ausdruck jenes Willens angeſehen
werden (d).
(b) L. 1 de judiciis (5. 1.).
(c) L. 2 pr. de judiciis (5. 1.),
L. 15 de jurisd. (2. 1.). Dieſe
beide Stellen gehören wiederum,
eben ſo wie die in Note a an-
geführte, unter diejenigen, welche
ſcheinbar jede Willenserklärung
für nicht vorhanden erklären, wenn
ihr ein Irrthum zum Grunde liegt
(Num. VII.). Gerade die Hälfte
der dort angeführten Sechs Stel-
len bezieht ſich alſo lediglich auf
die eigenthümliche Natur der ſtill-
ſchweigenden Willenserklärung.
(d) L. 20 pr. de adqu. her.
(29. 2.) „.. si quid non quasi
|0378 : 366|
Beylage VIII.
Allein nicht jeder Irrthum ſchließt die ſtillſchweigende
Willenserklärung aus, ſondern nur derjenige, welcher dem
Schluß von der Handlung auf das Daſeyn des Willens
im Wege ſteht. Wenn alſo jener berufene Erbe die erb-
ſchaftlichen Geſchäfte beſorgt, weil er aus Irrthum die
Erbſchaft für vortheilhaft hält, obgleich ſie inſolvent iſt,
ſo iſt er dennoch Erbe geworden; denn der Wille, Erbe
zu werden, war in ihm unzweifelhaft vorhanden.
XIII.
Bisher war die Rede von ſolchen Fällen, worin die
regelmäßige Wirkſamkeit von Rechtsgeſchäften wegen eines
Irrthums auf irgend eine Weiſe gehemmt wird. Umge-
kehrt aber giebt es auch Fälle, worin die in der Regel
eintretende Ungültigkeit eines Rechtsgeſchäfts durch die
Zwiſchenkunft eines Irrthums weggeräumt, und dem Ge-
ſchäft Gültigkeit verſchafft wird.
In einigen Fällen geſchieht dieſes gleich von Anfang
an, ſo daß dann zu keiner Zeit die Ungültigkeit des Ge-
ſchäfts behauptet werden kann. Das Sctum Macedonia-
num erklärt das Gelddarlehen an einen in väterlicher Ge-
walt ſtehenden Schuldner allgemein für ungültig, ohne
zu unterſcheiden, ob der Glaubiger jene Eigenſchaft des
Schuldners kenne oder nicht (a). Die Interpretation der
heres egit, sed quasi alio jure
dominus” … § 1 eod. „.. aut
putavit sua.”
(a) L. 1 pr. de Sc. Maced.
(14. 6.).
|0379 : 367|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Juriſten fügte jene billige Unterſcheidung hinzu, und nahm
alſo an, daß der Irrthum des Schuldners die Schuld-
klage von der gewöhnlichen Exception befreye; vorausge-
ſetzt jedoch, daß es weder ein Rechtsirrthum, noch ein
leicht zu vermeidender factiſcher ſey, alſo ganz nach den
oben fuͤr den Irrthum überhaupt aufgeſtellten Grund-
ſätzen (b). — Minderjährige jedoch dürfen ſich hier auch
auf den Rechtsirrthum berufen (c).
Eine ganz ähnliche Beſtimmung findet ſich bey der
durch das Sc. Vellejanum unterſagten Bürgſchaft der
Frauen. Die Exception aus dieſem Senatusconſult gilt
ohne Unterſchied, ob die Frau ſelbſt die Bürgſchaft leiſtet,
oder ein Anderer im Auftrag der Frau. Wenn aber in
dieſem letzten Fall der Glaubiger von dem Auftrag Nichts
weiß, und alſo den Bevollmächtigten für einen Bürgen
auf eigene Rechnung hält, ſo wird die Exception durch
doli replicatio ausgeſchloſſen (d).
Ein Sklave konnte nicht als Zeuge bey einem Teſta-
ment zugezogen werden. Geſchah dieſes dennoch, jedoch
bey einem ſolchen Sklaven, der allgemein für einen Freyen
(b) L. 3 pr. de Sc. Maced.
(14. 6.). „Si quis patremfami-
lias esse credidit, non vana
simplicitate deceptus, nec juris
ignorantia, sed quia publice
paterfamilias plerisque vide-
batur, sic agebat, sic contra-
hebat, sic muneribus fungeba-
tur: cessabit Senatusconsul-
tum.” Daſſelbe ſagt indirect, in
Beziehung auf den Rechtsirrthum,
L. 9 pr. h. t., worin nur dem
Minderjährigen (alſo dem Voll-
jährigen nicht) Hülfe zugeſagt
wird, wenn er aus Rechtsirrthum
einem filiusfamilias Geld als Dar-
lehen giebt.
(c) L. 9 pr. h. t. (ſ. Note b),
L. 11 § 7 de minor. (4. 4.).
(d) L. 6 ad Sc. Vellej. (16. 1.).
|0380 : 368|
Beylage VIII.
gehalten wurde, ſo ſollte das Teſtament darum nicht min-
der gültig ſeyn (e).
Eben dahin kann man auch die Vortheile rechnen, die
der redliche Beſitz einer Sache verſchafft; denn dieſer muß
immer auf Irrthum beruhen, wenn in der That kein Ei-
genthum zum Grunde liegt (f).
XIV.
Wichtiger aber ſind die Fälle, in welchen der Irrthum
die Folge hat, daß die anfängliche Ungültigkeit eines Rechts-
geſchäfts hinterher weggeräumt wird. Eine ſolche Verän-
derung kann man als Ergänzung eines unvollſtaͤndigen
Rechtsgeſchäfts bezeichnen, und dieſe Ergänzung eben iſt
es, welche durch den Irrthum vermittelt werden kann.
Ein Fall dieſer Art war im älteren Recht die erroris
causae probatio. War nämlich eine Ehe unter ſolchen
Perſonen geſchloſſen, die kein gegenſeitiges Connubium hat-
ten, ſo war ſie nach Civilrecht ungültig, die Kinder folg-
ten nicht dem Stande des Vaters, und kamen nicht in
väterliche Gewalt. Hielten aber die Ehegatten ihre Ehe
für eine richtige, indem ſie aus Irrthum dem einen unter
ihnen einen höheren oder niederen Stand, als er hatte,
zuſchrieben, und deshalb Standesgleichheit unter ſich an-
nahmen, ſo war ihnen geſtattet, eine causae probatio,
(e) § 7 J. de test. ord. (2. 10.),
L. 1 C. de test. (6. 23.).
(f) Dahin gehört der Fruchter-
werb (§ 35 J. de rer. div. 2. 1.),
und der (etwas beſchränkte) Er-
werb durch den servus bona fide
possessus (§ 4 J. per quas pers.
2. 9.).
|0381 : 369|
Irrthum und Unwiſſenheit.
das heißt den Beweis des Irrthums, zu unternehmen;
dann kam der niedere Gatte nebſt den in dieſer Ehe er-
zeugten Kindern in den Stand des höheren, alſo gewöhn-
lich in die Civität, und die Kinder kamen zugleich in die
Gewalt des Vaters (a). Es wird nicht geſagt, ob der
Irrthum durch ungewöhnliche Umſtände entſchuldigt wer-
den mußte, welches man, da er den Zuſtand der eigenen
Perſon betrifft, nach allgemeinen Grundſätzen wohl an-
nehmen möchte (Num. III.). Vielleicht aber galt hier eine
begünſtigende Ausnahme mit Rückſicht auf die Kinder;
vielleicht auch iſt eben der Nachweis beſonderer Umſtände
in dem Ausdruck causae probatio angedeutet, und wird
nur zufällig in den angeführten Stellen nicht beſonders
hervorgehoben.
Eine weit wichtigere Anwendung dieſes ergänzenden
Verhältniſſes aber, die auch noch in dem heutigen Recht
volle Anwendung findet, gilt bey der Uſucapion. Wenn
eine Handlung, wodurch Eigenthum erworben werden ſoll,
dazu auf irgend eine Weiſe untauglich iſt, ſo kann der
Erwerber dieſes entweder wiſſen oder nicht wiſſen. Im
erſten Fall iſt ihm nicht zu helfen; im zweyten dagegen
wird das Anfangs fehlende Eigenthum durch den Ablauf
der Uſucapionszeit ergänzt, vorausgeſetzt daß der Irrthum
die gehörige Beſchaffenheit hat. Hier iſt alſo der (gehö-
rig qualificirte) Irrthum nicht nur kein Hinderniß des red-
lichen Erwerbs, ſondern ſogar deſſen nothwendige Bedin-
(a) Ulpian. VII. § 4. Gajus Lib. 1 § 67 sq.
III. 24
|0382 : 370|
Beylage VIII.
gung und Vermittlung, ſo daß man ſagen kann, es gebe
keine Uſucapion ohne Irrthum (b). — Es kann nun nicht
die Abſicht ſeyn, hier die ganze Lehre der Uſucapion vor-
zutragen; allein das Verhältniß derſelben zum Irrthum
muß hier allerdings vollſtändig dargeſtellt werden. Es
wird ſich zeigen, daß die über den Irrthum oben aufge-
ſtellten Regeln bey der Uſucapion ſehr rein angewendet,
und mit vorzüglicher Sorgfalt ausgebildet worden ſind.
XV.
Soll ſich nun dieſe Behauptung bewähren, ſo muß der
zur Uſucapion geeignete Irrthum erſtlich ein factiſcher,
und zweytens ein durch die Umſtände gerechtfertigter, alſo
nicht leichtſinniger Irrthum ſeyn. Gerade dieſe zwey For-
derungen ſind es aber, die der ganzen Lehre der Uſuca-
pion zum Grunde liegen.
(b) Damit dieſer Satz nicht
misverſtanden werde, iſt eine
zwiefache Erinnerung nöthig. Erſt-
lich kannte das ältere Recht zwey
ganz verſchiedene Anwendungen
des Uſucapionsprincips, indem da-
durch ſowohl das in bonis, als
die davon ganz verſchiedene b. f.
possessio in vollſtändiges Eigen-
thum verwandelt werden konnte.
(Gajus Lib. 2 § 41—44). Un-
ſer Satz gilt blos für die zweyte
Anwendung, gar nicht für die
erſte; allein dieſe erſte Anwen-
dung iſt auch überhaupt im Ju-
ſtinianiſchen Recht völlig ver-
ſchwunden, ſo daß nunmehr un-
ſer Satz allgemein wahr gewor-
den iſt. — Zweytens iſt der Satz
allerdings nur wahr da wo die
Uſucapion vollſtändig wirkt, näm-
lich in der That Eigenthum dem
Einen nimmt, dem Andern giebt.
Praktiſch ſtellt ſich die Sache oft
ganz anders, indem die Uſuca-
pion vielleicht nur den fehlenden
Beweis des wirklich ſchon vor-
handenen Eigenthums erſetzt, in
welchem Fall allerdings kein Irr-
thum vorhanden iſt. Die weitere
Ausführung dieſer Anſicht gehört
an einen andern Ort.
|0383 : 371|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Ehe dieſes bewieſen werden kann, muß zuvor unter-
ſucht werden, welche Elemente der Uſucapion eigentlich in
Verbindung mit dem Irrthum gedacht werden müſſen.
Die Uſucapion hat zwey poſitive Bedingungen: redliches
Bewußtſeyn, und Daſeyn eines Rechtstitels. Das erſte
iſt eine Thatſache, auf deren bloßes Daſeyn die Art ihrer
Entſtehung keinen Einfluß hat. Mag alſo auch ein Rechts-
irrthum, oder ein leichtſinniger factiſcher, zum Grunde
liegen, das redliche Bewußtſeyn iſt darum nicht minder
vorhanden (a); allein zur Uſucapion taugt der Irrthum
nur, wenn er gerechtfertigt iſt, und dieſe Rechtfertigung
eben wird durch die Forderung des Titels ausgedrückt.
Inſofern kann man ſagen, die Nothwendigkeit beſonderer
Eigenſchaften des Irrthums beziehe ſich nicht auf die bona
fides, ſondern auf den Titel (b). Über das Verhältniß
aber der bona fides zum Titel muß hier noch Folgendes
hinzugefügt werden. Der Titel dient nicht nur dazu, die
(a) Man kann umgekehrt fra-
gen, ob das auf Irrthum beru-
hende unredliche Bewußtſeyn die
Uſucapion hindert. Es hindert,
wenn es auf einem Rechtsirr-
thum beruht (L. 32 § 1 de usurp.
41. 3.), aber nicht im Fall des
factiſchen Irrthums. L. 25 de
don. int. vir. (24. 1.), L. 3 pro
don. (41. 6.). Vgl. das Syſtem
§ 156.
(b) Man könnte dieſe Unter-
ſcheidung für eine leere Subtili-
tät halten, da doch eben nach
unſrer Darſtellung der Titel
Nichts ſeyn ſoll, als die Recht-
fertigung der bona fides, ſo daß
beide Momente als ein unge-
trenntes Ganze erſcheinen. Allein
ſie wird praktiſch wichtig bey der
außerordentlichen Uſucapion, in
welcher der dreyßigjährige Beſitz
den Titel erſetzt und entbehrlich
macht (L. 8 § 1 C. de praescr.
XXX. 7. 39.). Hier bleibt die
bona fides als einziges Erfor-
derniß bey dem Anfang des Be-
ſitzes übrig, und der Rechtsirr-
thum macht dabey kein Hinderniß
24*
|0384 : 372|
Beylage VIII.
bona fides zu rechtfertigen, ſondern auch das Daſeyn der-
ſelben als Thatſache ſo lange feſtzuſtellen, bis der Gegner
die Unredlichkeit beweiſt (c). Dieſes iſt bey der Uſucapion
der durchgreifende Grund, weshalb der Beſitzer ſeine bona
fides nicht zu beweiſen braucht. Aber auch von dieſem
Grunde abgeſehen, müſſen wir ſagen, daß ſtets Derjenige,
welcher einem Gegner die Unredlichkeit vorwirft, dieſe als
eine Thatſache zu beweiſen hat. Wir verfahren daher am
genaueſten, wenn wir die bona fides überhaupt negativ,
als Abweſenheit eines unredlichen Bewußtſeyns, aus-
drücken (d).
Die Natur des zur Uſucapion tauglichen Titels ſoll
nunmehr genauer feſtgeſtellt werden.
Der Titel beſteht in einem ſolchen Anfang des Beſitzes,
welcher zwar kein Eigenthum giebt (denn ſonſt bedürfte
es keiner ergänzenden Uſucapion), wohl aber zu geben
ſcheint, ſo daß ſelbſt der Beſonnene und Geſchäftskundige
glauben kann, es ſey Eigenthum ſchon jetzt vorhanden.
Was darf nun zum urſprünglichen Eigenthumserwerb feh-
len, damit dennoch für dieſen gerechtfertigten Glauben
Raum bleibe?
(c) L. 30 C. de evict. (8. 45.).
(d) Dieſe Auffaſſung iſt dem
Ausdruck der Rechtsquellen ganz
gemäß. L. 109 de V. S. (50.
16.). „Bonae fidei emtor esse
videtur, qui ignoravit eam rem
alienam esse: aut putavit eum,
qui vendidit, jus vendendi ha-
bere, puta procuratorem, aut
tutorem esse.” Auch iſt die in
der Note c angeführte L. 30 C.
de evict., welche den Beſitzer vom
Beweiſe der bona fides entbin-
det, gar nicht auf die Uſucapion
eingeſchränkt.
|0385 : 373|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Vor Allem darf bey den Veräußerungen, als der häu-
figſten unter allen Erwerbungsformen, das Eigenthum des
Auctors fehlen; dieſes iſt der Hauptfall aller Uſucapion,
und dabey wird der Irrthum am unbedenklichſten zuge-
laſſen, weil in der Regel die genaue Prüfung fremder
Rechte uns nicht zugemuthet werden kann. Laſſen ſich je-
doch Umſtände nachweiſen, welche dieſen Irrthum als be-
ſonders leichtſinnig darſtellen, ſo liegt gewiß auch hierin
ein Hinderniß der Uſucapion (e).
Bedenklicher ſchon wird der Mangel, wenn er das zur
wirklichen Erwerbung erforderliche Rechtsgeſchäft betrifft,
indem er ſich dann meiſt auf eine eigene Handlung des
Irrenden beziehen wird. Zwar wenn das Geſchäft blos
wegen der Handlungsunfähigkeit des Veräußernden ungül-
tig iſt, ſo kann in Beziehung auf dieſe, als den Zuſtand
einer fremden Perſon, der Irrthum leicht gerechtfertigt
ſeyn; ſo z. B. wenn der Käufer den unmündigen oder
wahnſinnigen Verkäufer für mündig oder vernünftig hält (f).
(e) Es kann dieſer Irrthum
noch eine zwiefache Geſtalt an-
nehmen, indem man dem Ver-
käufer fälſchlich entweder das Ei-
genthum ſelbſt, oder die Vollmacht
der Veräußerung für den Eigen-
thümer, zuſchreibt, welche beide
Fälle in L. 109 de V. S. (Note c)
erwähnt werden. Vorzüglich in
dem letzten Fall wird der Irr-
thum oft leicht zu vermeiden, alſo
zur Uſucapion untauglich ſeyn.
(f) L. 2 § 15. 16 pro emtore
(41. 4.). (Bey § 15 iſt es be-
ſtritten, wie man den Fall zu den-
ken habe, damit die Stelle nicht
mit anderen in Widerſpruch kom-
me. Vgl. Unterholzner Ver-
jährungslehre I. S. 128. 133). Na-
türlich wird vorausgeſetzt, daß die
irrige Annahme durch das täu-
ſchende äußere Anſehen der Per-
ſon unterſtützt wurde; ſonſt würde
derſelbe dennoch als leichtſinnig
anzuſehen ſeyn, und zur Uſuca-
pion nicht genügen. — Von der
|0386 : 374|
Beylage VIII.
Anders wenn die Handlungen ſelbſt, die zu dem Geſchäft
gehören, auf mangelhafte Weiſe vorgenommen waren, oder
wenn ſogar das Daſeyn irgend eines Rechtsgeſchäfts nur
irrigerweiſe von dem Erwerber angenommen wird, wel-
ches letzte man einen Putativtitel zu nennen pflegt. Aller-
dings erſcheinen gerade für dieſen Fall die Ausſpruͤche un-
ſrer Rechtsquellen ſchwankend; einige Stellen ſcheinen ihn
ſchlechthin zuzulaſſen (g), andere ſchlechthin zu verwer-
fen (h). Noch andere aber vermitteln dieſen ſcheinbaren
Widerſpruch auf eine Weiſe, die mit den allgemeinen
Grundſätzen vom Irrthum völlig übereinſtimmt: in der
Regel iſt der Irrthum über das Daſeyn eines Titels un-
zuläſſig, weil er meiſt eine eigene Handlung betreffen wird;
er kann jedoch durch ungewöhnliche Umſtände gerechtfer-
tigt werden, z. B. wenn der Erwerber den Kaufcontract
durch einen Bevollmächtigten abſchließen wollte, und durch
deſſen falſchen Bericht über den wirklichen Abſchluß ge-
täuſcht worden iſt (i).
XVI.
Bisher iſt angegeben worden, wie ein factiſcher Irr-
Interdiction, und einer ähnli-
chen, bey dem spatium delibe-
randi möglichen, Beſchränkung
reden indirect (nach dem argu-
mentum a contrario) L. 12 de
usurp. (41. 3.), L. 7 § 5 pro
emt. (41. 4.), mit welchen Stel-
len noch zu verbinden iſt L. 26
de contr. emt. (18. 1.).
(g) L. 3, L. 4 § 2 pro suo
(41. 10.).
(h) L. 27 de usurp. (41. 3.),
§ 11 J. eod. (2. 6.).
(i) L. 11 pro emtore (41. 4.),
L. 5 § 1 pro suo (41. 10.), L. 4
pro legato (41. 8.).
|0387 : 375|
Irrthum und Unwiſſenheit.
thum beſchaffen ſeyn müſſe, um eine Uſucapion möglich
zu machen. Bey dem Rechtsirrthum iſt eine ſo genaue
Unterſcheidung nicht nöthig, da er ſchon im Allgemeinen
als unzuläſſig anzuſehen iſt, welches bey dem factiſchen Irr-
thum von den Umſtänden jedes Falles abhängt (Num. III.).
Daher wird in mehreren Stellen unſrer Rechtsquellen die
Regel allgemein ausgeſprochen, daß der (den Titel be-
treffende) Rechtsirrthum die Uſucapion ſtets unmöglich
mache (a).
Indeſſen darf dieſe Regel doch nicht ſo unbedingt an-
genommen werden, wie man es nach der woͤrtlichen Faſ-
ſung der angeführten Stellen glauben möchte. Vielmehr
ſind darauf diejenigen Einſchränkungen anzuwenden, die
ſchon oben (Num. IV.) für die Unzuläſſigkeit des Rechts-
irrthums im Allgemeinen geltend gemacht worden ſind.
Auch paſſen dazu ganz die in den angeführten Stellen
(Note a) angeführten Beyſpiele des Rechtsirrthums, die
insgeſammt von den einfachſten und unbeſtrittenſten Rechts-
regeln hergenommen ſind; ſo die Regel, daß ein Unmün-
diger ohne den Vormund Nichts veräußern dürfe: ferner
daß die vormundſchaftliche auctoritas unmittelbar nach der
Willenserklärung des Pupillen ausgeſprochen werden muß,
alſo weder vorher, noch auch lange Zeit nachher. Da-
(a) L. 4 h. t., L. 31 pr. L. 32
§ 1 de usurp. (41. 3.), L. 2 § 15
pro emtore (41. 4.). Vgl. Un-
terholzner Verjährungslehre
§ 117 S. 408. — Bey der ange-
führten L. 2 § 15 pro emtore
iſt die Erklärung ſehr beſtritten-
jedoch in Beziehung nicht auf die
Unzuläſſigkeit des Rechtsirrthums,
ſondern umgekehrt auf die Zu-
läſſigkeit des factiſchen, ſ. oben
Num. XV. Note f.
|0388 : 376|
Beylage VIII.
gegen müſſen wir auch bey dem Rechtsirrthum die Uſu-
capion zulaſſen, wenn er ſich auf wirklich controverſe
Rechtsregeln bezieht. Folgende, aus dem älteren Römi-
ſchen Recht hergenommene Fälle werden dieſen Satz ein-
leuchtend machen.
Die Sabinianer rechneten die Pubertät von der Zeu-
gungsfähigkeit an, die Proculejaner (ſo wie Juſtinian)
von Vierzehen Jahren (b). Wenn nun ein Proculejaner
von einem Vierzehenjährigen, der noch nicht zeugungsfähig
war, eine Sache kaufte, ſo glaubte er ſogleich Eigenthü-
mer zu werden. Entſtand aber nach Jahren Streit über
dieſes Eigenthum, ſo war der Prätor, der den Prozeß
durch ſeine Inſtruction leitete (oder deſſen juriſtiſcher Rath-
geber), entweder ein Proculejaner oder ein Sabinianer.
Im erſten Fall erkannte er jenem Käufer das Eigenthum
ſchon von der Tradition oder Mancipation an zu. Im
zweyten Fall konnte er dieſes freylich nicht, aber nun ent-
ſtand die Frage, ob dem Käufer nicht wenigſtens die Uſu-
capion zu gut komme? Allerdings mußte jener Prätor
dem Käufer einen Rechtsirrthum zuſchreiben, allein für
einen leichtſinnigen, durch bloße Erkundigung zu vermei-
denden, Irrthum konnte er ihn gewiß nicht erklären, da
ja die diversae scholae auctores doch auch für angeſehene
Juriſten galten. Ich glaube alſo, daß ſelbſt der Sabi-
nianiſche Prätor in dieſem Fall die Uſucapion zulaſſen
mußte, nach dem (von dem Schulenſtreit ganz unabhängi-
(b) Ulpian. XI. § 28. Vergl. das Syſtem § 109.
|0389 : 377|
Irrthum und Unwiſſenheit.
gen) Ausſpruch des Labeo: ut, cui facile sit scire, ei
detrimento sit juris ignorantia (Num. III. Note k).
Ganz ähnliche Fälle ſind folgende. Das unter einer
unmöglichen Bedingung gegebene Legat erklärten die Pro-
culejaner für ungültig, die Sabinianer (und eben ſo Ju-
ſtinian) für gültig (c). Hatte nun ein Sabinianiſcher Le-
gatar mehrere Jahre hindurch ein ſolches Legat beſeſſen,
ſo konnte ihm ein Proculejaniſcher Prätor wenigſtens die
usucapio pro legato nicht verſagen. — Eben ſo bey dem
alten Streit, ob der Niesbrauch einer Sklavin dem Fructuar
das Eigenthum an den Kindern dieſer Sklavin gewähre (d).
Der Prätor, der dieſes auch nicht annahm, mußte den-
noch dem Fructuar die usucapio pro suo geſtatten.
War nun ſchon bey den Römern die Uſucapion nicht
allgemein wegen eines Rechtsirrthums zu verwerfen, ſo
muß dieſes in noch ausgedehnterer Weiſe für unſer heuti-
tiges Recht anerkannt werden (Num. IV.) (e).
XVII.
Bey den auf das Erbrecht bezüglichen juriſtiſchen Hand-
lungen hat der Irrthum eine etwas ausgedehntere Ein-
wirkung, als bey den Geſchäften des Verkehrs unter Le-
benden.
(c) Gajus Lib. 3 § 98.
(d) L. 68 pr. de usufructu
(7. 1.). Cicero de finibus I. 4.
(e) Mit dieſer Anſicht, daß der
Rechtsirrthum über einen contro-
verſen Rechtsſatz die Uſucapion
nicht ausſchließe, ſtimmen auch
ſchon ältere Rechtslehrer überein.
Gilken de usucapionibus P. 2
membr. 1. Cap. 3 Num. 2.
|0390 : 378|
Beylage VIII.
Dieſes zeigt ſich zunächſt bey den Verfügungen des
Erblaſſers in folgenden Fällen:
1) Das Teſtament iſt nichtig, wenn der Teſtator über
ſeinen perſönlichen Rechtszuſtand im Irrthum, oder auch
nur im Zweifel iſt (a).
2) Die Erbeinſetzung iſt in der Regel von dem bloßen
(unförmlichen) Willen unabhängig, und unterſcheidet ſich
dadurch von den Legaten, von welchen ſogleich die Rede
ſeyn wird. Daher wird ſie, abweichend von den Legaten,
durch einen unförmlichen Widerruf nicht entkräftet (b).
Eben ſo aber ſchadet ihr auch in der Regel nicht ein blo-
ßer Irrthum im Beweggrund (c). Von dieſem letzten Satz
giebt es jedoch Zwey wichtige Ausnahmen:
(a) L. 14. 15 qui test. (28. 1.),
Ulpian. XX. § 11. — Glück B. 22
S. 285.
(b) L. 22 de adimendis (34.
4.), L. 36 § 3 de test. mil. (29. 1.).
(c) Dieſes folgt aus dem in
der vorhergehenden Anwendung
(Note b) anerkannten Princip,
woraus der Unterſchied zwiſchen
Erbeinſetzung und Legat klar her-
vorgeht, und wozu ſich die fol-
genden Fälle als bloße ſinguläre
Ausnahmen verhalten. Eine ſehr
ſcheinbare Einwendung gegen die
hier aufgeſtellte Regel liegt in
L. 4 § 10 de doli exc. „Prae-
terea sciendum est, si quis quid
ex testamento contra volunta-
tem petat, exceptione eum doli
mali repelli solere, et ideo he-
res, qui non habet voluntatem,
per exceptionem doli repelli-
tur.” Erklärt man den letzten
Satz von einer Ausſchließung der
hereditatis petitio, ſo iſt unſre
Behauptung widerlegt; allein dieſe
Erklärung muß verworfen wer-
den, weil die doli exceptio bey
einem dritten, vielleicht ganz un-
rechtmäßigen, Beſitzer völlig ohne
Grund ſeyn würde. Die Stelle
iſt vielmehr von einem einzelnen
Anſpruch des wahren Erben, z. B.
gegen einen Erbſchaftsſchuldner,
zu erklären, deſſen Befreyung in
dem Willen des Erblaſſers lag,
und nur nicht durch ein rechts-
gültiges Legat civilrechtliche Kraft
erhalten hat, alſo von ſolchen
Fällen wie der in L. 6 § 1 de
pecul. leg. (33. 8.) erwähnte.
|0391 : 379|
Irrthum und Unwiſſenheit.
A. Die Erbeinſetzung iſt ungültig, wenn ſie bewirkt
wurde durch die irrige Annahme, daß ein Inteſtaterbe
oder ein früher eingeſetzter Erbe verſtorben ſey (d).
B. Sie iſt ungültig, wenn ſie ſich gründet auf die
irrige Annahme einer Verwandtſchaft zwiſchen dem Erb-
laſſer und dem eingeſetzten Erben. Bezieht ſich dieſe irrige
Erbeinſetzung auf ein vermeyntliches, aber untergeſchobe-
nes Kind des Teſtators, ſo liegt darin eine Indignität,
und die Erbſchaft fällt an den Fiscus (e); in allen ande-
ren Fällen gilt die Erbeinſetzung als nicht geſchrieben (f).
(d) L. 28 de inoff. (5. 2.),
L. 92 de her. inst. (28. 5.). Die
Legate und andere Nebenbeſtim-
mungen des auf jenem Irrthum
beruhenden Teſtaments werden
aufrecht erhalten. Man ſah es
freylich nicht als eine gewöhnliche
Rechtsregel an, ſondern als eine
frey eingreifende Billigkeit; da-
her wird in beiden Stellen er-
wähnt, daß der Kaiſer auf dieſe
Weiſe zu Hülfe gekommen ſey.
(e) L. 46 pr. de j. fisc. (49.
14.), L. 4 C. de her. inst. (6
24.) „auferendam ei succes-
sionem.” Der Grund der ab-
weichenden Behandlung dieſes
Falles liegt darin, daß durch die
Drohung der Confiscation dem
Verbrechen der Unterſchiebung
entgegen gewirkt werden ſoll. —
Wären dieſe Stellen nicht ſo ſehr
beſtimmt, ſo könnte man nach
L. 1 § 11 de Carbon. ed. (37.
10.) annehmen, auch die Ein-
ſetzung eines untergeſchobenen
Kindes ſey pro non scripta, wo-
durch das Recht des Fiscus aus-
geſchloſſen würde. Man muß nun
den Ausdruck dieſer letzten Stelle
als einen ungenauen anſehen, ſo
daß der beſtimmtere Erfolg allein
aus den vorher angeführten Stel-
len zu entnehmen iſt. Vielleicht
iſt auch das Recht des Fiscus erſt
nach der Zeit des Ulpian einge-
führt, von welchem L. 1 § 11 cit.
herrührt; die L. 46 de j. fisci
iſt von Hermogenian.
(f) L. 7 C. de her. inst. (6.
24.). Der Fall dieſer ſehr be-
ſtrittenen Stelle muß ſo gedacht
werden. Ein Peregrinus hatte
einen Andern als Bruder adop-
tirt, dann waren Beide Römi-
ſche Bürger geworden, und der
Adoptirende hatte den vermeynt-
lichen Bruder zum Erben einge-
ſetzt. Die Kaiſer erklären die
Erbeinſetzung für ungültig, weil
die vorausgeſetzte brüderliche Ver-
wandtſchaft gar nicht vorhanden
|0392 : 380|
Beylage VIII.
3) Die Enterbung eines ächten Sohnes, den der Te-
ſtator irrig für unächt hält, iſt ungültig (g). Eben ſo
auch die in einer allgemeineren Formel ausgedrückte Ent-
erbung eines Sohnes, der aus Irrthum für verſtorben
gehalten wird (h).
4) Auch ein Legat wird in der Regel durch den blo-
ßen Ausdruck eines irrigen Beweggrundes nicht entkräftet,
ſey, indem ſelbſt unter Peregri-
nen Niemand als Bruder adop-
tirt werden könne. Die ſpäter
erworbene Civität muß in den
Fall der Stelle hinein interpre-
tirt werden; denn wenn (wie
Manche wollen) die fortdauern-
de Peregrinität der Grund der
ungültigen Erbeinſetzung wäre,
ſo würde gewiß dieſer einfachſte
Grund namhaft gemacht ſeyn,
durch welchen ja die irrige Mey-
nung des Teſtators zu einem ganz
gleichgültigen Umſtand werden
würde. — Daſſelbe Princip liegt
zum Grunde in L. 5 C. de te-
stam. (6. 23.). Denn wenngleich
dieſe Stelle vielleicht urſprüng-
lich auf den Fall eines Legats
gegangen ſeyn mag („non de-
beri”), ſo hat ſie doch durch ihre
Aufnahme in den Titel de te-
stamentis eine allgemeinere Be-
deutung bekommen, und es iſt
kein nothwendiger Grund vor-
handen, ihre Beweiskraft für die
Erbeinſetzung dadurch zu beſeiti-
gen, daß man ſie (wie Manche
wollen) für eine lex fugitiva
erklärt. — Fälſchlich würde man
zur Widerlegung unſrer Behaup-
tung anführen L. 33 pr. de cond.
(35. 1.), denn dieſe ſpricht von
der falsa demonstratio, die von
der falsa causa weſentlich ver-
ſchieden iſt.
(g) L. 14 § 2 L. 15 de lib. et
posth. (28. 2.).
(h) L. 25 pr. de lib. et posth.
(28. 2.). Ein Teſtator hatte ge-
ſagt: ceteri omnes filii filiae-
que meae exheredes sunto;
Einen Sohn hatte er aber fälſch-
lich für todt gehalten. Paulus
erklärt nun, dieſer Sohn könne
zwey Gründe für ſich geltend ma-
chen wollen: a) die mangelhafte
Form der Enterbung, da dieſe
hätte nominatim geſchehen müſ-
ſen (pr. J. de exher. 2. 13.);
dieſer Grund ſey jedoch hier un-
haltbar, da die angeführte Ent-
erbung für nominatim geſchehen
gelten müſſe. b) Den Irrthum
über den Tod; dieſer Grund ſey
an ſich entſcheidend, und es kom-
me nur darauf an, das Daſeyn
der behaupteten falſchen Voraus-
ſetzung vor Gericht zu erweiſen.
|0393 : 381|
Irrthum und Unwiſſenheit.
weil der Erblaſſer zugleich durch andere, nur nicht aus-
gedrückte, Gründe beſtimmt ſeyn kann (i). Wenn jedoch
aus den Umſtänden ſicher hervorgeht, daß ohne jenen Irr-
thum das Legat nicht gegeben ſeyn würde, ſo ſteht dem
Legatar eine doli exceptio entgegen (k). Dieſe iſt nur eine
einzelne Anwendung der allgemeineren Regel, daß der Le-
gatar, dem der erweisliche Wille des Verſtorbenen entge-
genſteht, durch die doli exceptio ausgeſchloſſen wird (l);
weshalb denn auch der unförmliche Widerruf eines Legats
zur Begründung dieſer doli exceptio hinreicht (m). Hierin
liegt alſo ein wichtiger, von Vielen verkannter, Unter-
ſchied zwiſchen Erbeinſetzungen und Legaten (n).
5) Ungültig iſt endlich das Legat einer fremden Sache,
wenn nicht der Teſtator wußte, das ſie eine fremde ſey,
welches Bewußtſeyn vom Legatar bewieſen werden muß (o).
Wenngleich nun hier der Irrthum einen größeren Ein-
fluß hat, als bey Verträgen, ſo würde es doch ganz un-
richtig ſeyn, über die Gränzen der angegebenen Fälle hin-
aus zu gehen, und jedem Irrthum überhaupt eine gleiche
Kraft beyzulegen. Geſetzt alſo, der Teſtator hätte dem
eingeſetzten Erben Verdienſte oder andere Eigenſchaften zu-
(i) L. 17 § 2. 3 L. 72 § 6 de
cond. (35. 1.), § 31 J. de leg.
(2. 20.), L. 1—5 C. de falsa
causa (6. 44.).
(k) L. 72 § 6 de cond. (35.
1.), L. 1 in f. C. de falsa causa
(6. 44.).
(l) L. 4 § 10 de doli exc. (44.
4.), ſ. oben Note c.
(m) L. 22 de adimendis (31.
4.), L. 36 § 3 de test. mil (29. 1.).
(n) Über dieſe ganze Frage ſind
zu vergleichen Ramos bey Meer-
man. V. 176, und Chesius, Ju-
rispr. Rom. et Att. II. 723.
(o) § 4 J. de leg. (2. 20.),
L. 67 § 8 de leg. 2 (31. un.).
|0394 : 382|
Beylage VIII.
geſchrieben, die dieſer in der That nicht beſäße, ſo wäre
dennoch der Inteſtaterbe nicht berechtigt, deshalb das Te-
ſtament als ungültig anzufechten.
Man darf mit dieſen Fällen nicht verwechſeln den
ſcheinbar ähnlichen Fall, da der Teſtator einen Erben er-
nennt, den er für eine andere Perſon hält. Hier wird
nicht, wie in jenen Fällen, die gewöhnliche Wirkung juri-
ſtiſcher Thatſachen wegen des Irrthums modificirt, ſondern
es iſt in Beziehung auf den wörtlich bezeichneten Erben
gar kein Wille vorhanden, ſo daß dieſer Fall unter die
des unächten Irrthums gehört (p).
XVIII.
Eben ſo zeigt ſich die Einwirkung des Irrthums bey
den zum Erwerb der Erbſchaft führenden Handlungen auf
folgende Weiſe. Iſt der berufene Erbe über die Art der
Delation (aus letztem Willen oder geſetzlich u. ſ. w.) im
Irrthum, ſo iſt ſeine ausdrückliche oder ſtillſchweigende
Antretung (a) ſowohl, als ſeine Ausſchlagung der Erbſchaft
ohne Wirkung (b). Auch hier wird die gewöhnliche Be-
ſchränkung hinzugefügt, daß der Rechtsirrthum eine ſolche
(p) S. u. Num. XXXIV. und
das Syſtem § 135. — In einem
ſolchen Fall alſo gilt weder der
Ausgeſprochene als Erbe, weil er
nicht gemeynt iſt, noch der Ge-
meynte, weil er nicht ausgeſpro-
chen iſt. L. 9 pr. de her. inst.
(28. 5.).
(a) Die Ungültigkeit der irri-
gen pro herede gestio könnte
nun zugleich auf das allgemeinere
Princip der irrigen ſtillſchweigen-
den Willenserklärungen zurückge-
führt werden (Num. XII.).
(b) L. 13 § 1 L. 14. 15. 16. 19.
22. 23. 32. 33. 34. de adquir
hered. (29. 2.).
|0395 : 383|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Wirkung nicht hervorbringe (c). — Jeder andere Irrthum
dagegen kann dem antretenden Erben nicht zu gut kommen.
Insbeſondere nicht der vorzüglich wichtige Irrthum über
den reinen Werth des erbſchaftlichen Vermögens. In einem
ſolchen Fall gab einmal Hadrian, aus durchgreifender Bil-
ligkeit, dem irrenden Erben Reſtitution: Gordian erhob die-
ſelbe bey Soldaten zu einer allgemeinen Rechtsregel: Ju-
ſtinian aber machte jede Hülfe dieſer Art auf einem andern
Wege entbehrlich, indem er jeden Erben, der ein Inventa-
rium macht, von allem Überſchuß der Schulden über das
active Erbſchaftsvermögen befreyte. Jetzt fällt alſo auch
jene Reſtitution des irrenden Erben als überflüſſig im All-
gemeinen hinweg, und iſt nur wieder dem Soldaten, der
das Inventarium verſäumt, vorbehalten (d); in dieſem
Fall aber betrifft ſie nicht mehr, wie früher, die unvor-
ſichtige Handlung, ſondern die bloße Unterlaſſung. Die
Richtigkeit dieſer Behauptung, daß jeder andere Irrthum
(c) L. 2 C. h. t.
(d) Gajus Lib. 2 § 163, § 5. 6
J. de hered. qualit. (2. 19.).
Die im Text enthaltenen Sätze
ſtellen den wahren Sinn und
Zuſammenhang der Inſtitutionen-
ſtelle dar. Es iſt alſo irrig, wenn
Manche glauben, es gelte noch
außer und neben dem beneficium
inventarii eine allgemeine Reſti-
tution des unvorſichtig antreten-
den Erben. (So Burchardi
Wiedereinſetzung S. 388). Aller-
dings wollte Juſtinian, wie er
ausdrücklich ſagt, dem berufenen
Erben gründlicher helfen, als es
Hadrian und Gordian gethan
hatten: nur nicht durch Erweite-
rung der Reſtitution, ſondern
durch ein ganz anderes Mittel.
In Juſtinians Sinn müſſen wir
ſagen: entweder hat der Erbe
ein Inventarium gemacht, dann
braucht er keine Reſtitution; oder
er hat es unterlaſſen, dann ver-
dient er ſie nicht. Der Soldat
freylich ſollte auch durch dieſe
Unterlaſſung nicht leiden (Num.
XXXIII.).
|0396 : 384|
Beylage VIII.
des antretenden Erben gleichgültig iſt, bewährt ſich noch
in dem beſondern Fall, da der Patron die Teſtamentserb-
ſchaft ſeines Freygelaſſenen antritt, deſſen große Veräuße-
rungen er nicht kannte; in dieſem Fall würde dem Patron
die Anfechtung des Teſtaments vortheilhafter geweſen ſeyn,
und dennoch muß es bey der erklärten Antretung verblei-
ben (e).
Wenn die Erbſchaftsgläubiger eine Separation der Erb-
ſchaft auswirken, die ſich hinterher als nachtheilig zeigt,
ſo koͤnnen ſie, bey vollſtändiger Rechtfertigung ihres Irr-
thums, Reſtitution erlangen (f).
Faſſen wir alle dieſe Beſtimmungen zuſammen, ſo müſ-
ſen wir allerdings bey erbſchaftlichen Handlungen dem
Irrthum einen größeren Einfluß zuſchreiben, als bey Ge-
ſchäften des gewoͤhnlichen Verkehrs. Allein es iſt doch
nur eine etwas größere Zahl einzelner Fälle, worin der
Irrthum ausnahmsweiſe wirkt. Und ſo erſcheint auch hier
das allgemeinſte Princip feſtgehalten und beſtätigt, daß der
Irrthum an ſich das Daſeyn des freyen Willens nicht
ausſchließt, alſo auch den Wirkungen deſſelben im Allge-
meinen nicht im Wege ſteht.
XIX.
Im älteren Römiſchen Prozeß kamen mehrere Hand-
lungen vor, die ſchon für ſich allein eine ſtrenge formelle
(e) L. 3 pr. si quid in fraud.
patr. (38. 5.).
(f) L. 1 § 17 de separat.
(42. 6.).
|0397 : 385|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Wirkung mit ſich führten, und daher dem Handelnden,
wenn ſie unvorſichtigerweiſe vorgenommen wurden, großen
Schaden bringen konnten. Gegen dieſen Nachtheil aber
konnte ihm Hülfe gewährt werden nach den Grundſätzen
vom Irrthum; das heißt alſo wenn der Irrthum nicht
nur ſeinem Daſeyn nach dargethan werden konnte, ſondern
auch weder ein Rechtsirrthum, noch ein leichtſinniger fac-
tiſcher Irrthum war. Die Hülfe aber beſtand hier nicht
in einer beſonderen Klage, wodurch ja der Gang des frü-
heren Prozeſſes nur hätte erſchwert und verwirrt werden
können, ſondern in einer Reſtitution, die hier, wo ſich oh-
nehin ſchon die Parteyen vor dem Prätor befanden, gewiß
die angemeſſenſte Form war. Die Fälle ſelbſt, wie ſie in
unſren Rechtsquellen vorkommen, ſind folgende.
1. Jedes Klagerecht wurde durch die angebrachte Klage
conſumirt, oft auch wenn man eine unrichtige Perſon als
Gegner gewählt hatte. Dieſes geſchah namentlich durch
die Klage gegen einen Pupillen, bey welcher ein falsus
tutor die auctoritas gegeben hatte; dagegen gab aber der
Prätor Reſtitution (a). — Eben ſo geſchah es, wenn eine
Erbſchaftsſchuld gegen einen der Miterben, der ſich fälſch-
lich für den einzigen Erben ausgegeben hatte, ganz einge-
klagt wurde. Dieſer war nun wirklich für das Ganze
verpflichtet, gegen die Miterben war die Klage conſumirt.
War nun aber jener, theilweiſe falſche, Beklagte inſolvent,
(a) L. 1 § 6 L. 2—6 quod
falso (27. 6.). Vgl. Keller
Litisconteſtation § 68. Burchar-
di Wiedereinſetzung § 21.
III. 25
|0398 : 386|
Beylage VIII.
ſo wurde die verlorne Klage gegen die Miterben reſtituirt (b).
2. Wer mehr einklagte, als er zu fordern hatte, ver-
lor ſein ganzes Recht (plus petendo). War es aber aus
erweislichem, und zugleich voͤllig gerechtfertigtem, Irrthum
geſchehen, ſo konnte er dagegen Reſtitution erhalten (c).
3. Wenn eine Partey Prozeßcaution zu fordern berech-
tigt war, und dafür einen Bürgen annahm, der nachher
als Sklave anerkannt wurde, folglich zur Bürgſchaft un-
tauglich war, ſo konnte die dadurch gefährdete Partey
Reſtitution erhalten (d).
4. Wer vor dem Prätor Etwas einräumte, ſey es aus
eigenem Antriebe (confessio), oder auf die Aufforderung
des Gegners (responsio), der war dadurch in der Regel
verpflichtet. Wenn er aber einen Irrthum in dieſem Ge-
ſtändniß beſonders nachweiſen konnte (e), oder wenn dieſer
Irrthum aus der nachher augenſcheinlich gewordenen Un-
möglichkeit der eingeräumten Thatſache von ſelbſt hervor-
gieng (f), ſo wurde er von dieſer Verpflichtung durch Re-
(b) L. 18 de interrog. (11. 1.).
(c) § 33 J. de act. (4. 6.)
Gajus Lib. 4 § 53. Vgl. Bur-
chardi Wiedereinſetzung S. 387.
— Die Reſtitution, die in einem
ähnlichen Fall der Beklagte er-
hielt (Gajus Lib. 4 § 57), bezog
ſich nicht auf deſſen Irrthum.
(d) L. 8 § 2 qui satisdare
(2. 8.). Der erſte Theil der
Stelle ſetzt einen factiſchen Irr-
thum voraus, und geſtattet daher
die Reſtitution allgemein; der
zweyte Theil, der den Minder-
jährigen und Frauen beſonders
die Reſtitution einräumt, muß
von dem Fall eines Rechtsirr-
thums verſtanden werden, näm-
lich ſo daß die Partey wußte, daß
es ein Sklave ſey, und ihn den-
noch für fähig hielt. Vgl. Müh-
lenbruch S. 390.
(e) L. 2 de confessis (42. 2.),
L. 11 §. 8. 10. 11 de interrog.
(11. 1.).
(f) L. 13 pr. de interrog.
|0399 : 387|
Irrthum und Unwiſſenheit.
ſtitution befreyt. Hier wird nun ausdrücklich bemerkt, es
dürfe weder ein Rechtsirrthum geweſen ſeyn (g), noch ein
auf grober Nachläſſigkeit beruhender factiſcher Irrthum (h).
Von dieſen Fällen ſind die meiſten ſchon im Juſtinia-
niſchen Recht, noch mehr aber in dem unſrigen, nicht mehr
anwendbar. Der letzte jedoch, welcher das gerichtliche
Geſtändniß betrifft, kann, ungeachtet der veränderten Form
des zum Grunde liegenden Rechtsſatzes, auch noch im heu-
tigen Recht zur Anwendung kommen (i).
Ich habe hier abſichtlich Fälle des älteren Rechts zu-
ſammengeſtellt. Die Art, wie in dem heutigen Prozeßrecht
der Irrthum behandelt wird, iſt dieſem ganz eigenthümlich,
und gehört nicht mehr zu den Entwicklungen der allgemei-
nen Rechtslehre vom Irrthum (k).
(11. 1.), L. 23 § 11 L. 21 L. 25
pr. ad L. Aquil. (9. 2.), L. 8
de confessis (42. 2.).
(g) L. 2 de confessis (42. 2.).
Dieſer Satz hängt zuſammen mit
dem Grundſatz der condictio
indebiti, welcher gleichfalls den
Rechtsirrthum von der Rückfor-
derung ausſchließt (Num. XXXV.
fg.). Denn wer geſteht, thut es,
eben ſo wie der welcher zahlt, in
der Meynung, damit nur ſeine
Schuldigkeit zu thun, nicht aus
freyer Willkühr.
(h) L. 11 § 11 de interrog.
(11. 1.).
(i) Wichtiger, als alle hier zu-
ſammengeſtellte, Prozeßreſtitutio-
nen iſt die gegen das rechtskräf-
tige Urtheil. Vgl. Burchardi
Wiedereinſetzung S. 185. Allein
dieſe gehört nicht zur Lehre vom
Irrthum, da der Irrthum der
unterliegenden Partey doch nur
unter andern, und nur auf indi-
recte Weiſe, als Urſache des Ur-
theils angeſehen werden kann.
(k) So z. B. ſteht die Behand-
lung des Irrthums eines Advo-
caten im Zuſammenhang mit der
beſondern Stellung der Advoca-
ten im Prozeß.
25*
|0400 : 388|
Beylage VIII.
XX.
In Anwendung auf Delicte (a) erſcheint die Lehre vom
Irrthum auf folgende eigenthümliche Weiſe.
Es giebt Delicte, deren Begriff zunächſt nur auf die
Erſcheinung eines äußeren Ereigniſſes gegründet iſt, ſo daß
dabey die Freyheit des Handelnden zwar auch als nöthig,
aber doch als untergeordnet erſcheint. Bey dieſen iſt Do-
lus und Culpa ſtrafbar; ſo bey dem Todſchlag, obgleich
mit verſchiedenem Grade der Strafbarkeit: ſo auch bey
der actio legis Aquiliae, bey welcher ſelbſt die Höhe der
Strafe von jenem Unterſchied unabhängig iſt. — Dagegen
giebt es andere Delicte, zu deren Begriff und Thatbeſtand
der rechtswidrige Wille, alſo auch das Bewußtſeyn der
Rechtsverletzung, gehört, ſo daß in deſſen Ermanglung
gar kein Delict vorhanden iſt. Bey dieſen kann es nicht
einmal einen Unterſchied machen, ob der den Dolus aus-
ſchließende Irrthum durch die Umſtände gerechtfertigt iſt
oder nicht, alſo auch ob er factiſch oder ein Rechtsirrthum
iſt. Denn der Dolus iſt eine Thatſache, deren Daſeyn
durch den Irrthum jeder Art ausgeſchloſſen wird.
(a) Ich gebrauche hier der
Kürze wegen dieſen Ausdruck,
und verſtehe darunter ſowohl das
öffentliche Verbrechen (crimen),
als das Privatdelict, das heißt
die Rechtsverletzung, welche im
Privatrecht die eigenthümliche
Wirkung einer actio quae poe-
nae causa datur hervorbringt;
es mag nun dieſe Klage zum
Inhalt haben eine Strafe (wie
die furti actio), oder bloßen
Schadenserſatz (wie die doli ac-
tio), oder beides zugleich (wie vi
bonorum raptorum). Beide Fälle
hier zuſammen zu faſſen, wird
dadurch nothwendig, daß die Be-
handlung des Irrthums in beiden
völlig dieſelbe iſt.
|0401 : 389|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Indeſſen iſt hierin noch folgender Unterſchied wohl zu
beachten. Wenn der Handelnde das Strafgeſetz kennt,
aber durch einen Rechtsirrthum über die ſtrafbare Beſchaf-
fenheit ſeiner Handlung getäuſcht wird, ſo iſt der eben
aufgeſtellte Satz allgemein wahr. Anders, was die Kennt-
niß des Strafgeſetzes ſelbſt betrifft. Dieſe wird bey Jedem
gefordert und vorausgeſetzt, und ihr Mangel ſchließt den
Dolus und die Strafbarkeit nicht aus. Von dieſer Strenge
ſind nur gewiſſe Klaſſen von Perſonen ausgenommen, de-
nen auch die Rechtsunwiſſenheit überhaupt nachgeſehen
wird; dahin gehört Minderjährigkeit, weibliches Geſchlecht,
Rusticitas und Soldatenſtand. Jedoch ſind auch dieſe Klaſ-
ſen nur bey denjenigen Strafgeſetzen ausgenommen, welche
eine mehr poſitive Natur haben (juris civilis), nicht bey
denen, welche ſchon dem natürlichen Rechtsgefühl einleuch-
ten (juris gentium) (b). Der Ausdruck juris ignorantia
nun iſt zweydeutig, indem er an ſich ſowohl auf die ſtraf-
bare Natur der Handlung, als auf die Unbekanntſchaft
mit dem Strafgeſetz bezogen werden kann; die juris igno-
rantia im erſten Sinn alſo wird jedes doloſe Delict aus-
ſchließen, die im zweyten Sinn dagegen nur in den be-
ſchränkten Fällen der angegebenen Ausnahmen. Durch dieſe
Zweydeutigkeit des Ausdrucks ſind manche ſcheinbare Wi-
derſprüche in unſren Rechtsquellen aufzulöſen (c).
(b) Der Unterſchied iſt deutlich
anerkannt in L. 38 § 2. 4 ad L.
J. de adult. (48. 5.), L. 2 C. de
in jus voc. (2. 2.), welche Stel-
len im Num. XXI., bey den ein-
zelnen Delicten, benutzt werden
ſollen.
(c) Coll. LL. Mos. et Rom.
|0402 : 390|
Beylage VIII.
Dieſe Grundſätze kommen in unſren Rechtsquellen nir-
gend in der Allgemeinheit vor, worin ſie hier aufgeſtellt
worden ſind; dagegen werden ſie in folgenden einzelnen
Anwendungen zum Theil ſo beſtimmt und unverkennbar
vorausgeſetzt, daß wir berechtigt ſind, dieſe beſtimmteren
Vorſchriften theilweiſe auch auf diejenigen Fälle anzuwen-
den, worüber wir weniger genau beſtimmte Vorſchriften
beſitzen.
XXI.
Zum Begriff des Diebſtahls gehört rechtswidrige, und
zwar insbeſondere gewinnſüchtige Abſicht. Wer nun dem
Andern eine Sache entwendet, die er irrigerweiſe für ſeine
eigene hält, begeht keinen Diebſtahl, und macht die Sache
nicht zur res furtiva, ſelbſt wenn er durch Rechtsirrthum
zu jener Meynung gekommen wäre; z. B. wenn er den
Niesbrauch einer Sklavin hat, und an dem Kind derſelben
aus Rechtsirrthum Eigenthum zu haben meynt (a). Die
I. § 12 (von Modeſtin): „Non-
nunquam per ignorantiam de-
linquentibus juris civilis venia
tribui solet, si modo rem facti
quis, non juris ignoret: quae
scilicet consilio delinquentibus
praestari non solet. Propter
quod necessarium est, addita
distinctione considerare, utrum
sciente an ignorante aliquo quid
gestum proponatur.” Hier wird
unzweifelhaft unter der juris igno-
rantia, die niemals entſchuldigen
ſoll, die Unbekanntſchaft mit dem
Strafgeſetz verſtanden, und auch
dafür blos die Regel vorgetragen,
mit Übergehung der perſönlichen
Ausnahmen, die dadurch nicht
etwa von Modeſtin verneint wer-
den ſollen. Das Nonnunquam
bezieht ſich darauf, daß die Straf-
loſigkeit ſelbſt des factiſchen Irr-
thums nicht für alle Delicte be-
hauptet werden kann, ſondern
nur für die doloſen.
(a) § 5 J. de usuc. (2. 5.),
L. 36 § 1 L. 37 pr. de usurp.
(41. 3.).
|0403 : 391|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Unbekanntſchaft mit dem Strafgeſetz gegen den Diebſtahl
würde ihn, da der Diebſtahl ſchon nach dem jus gentium
verboten iſt, ſelbſt dann nicht ſchützen, wenn er zu jenen
begünſtigten Klaſſen von Perſonen gehörte (Num. XX.).
Eben ſo, wer eine Sache, die er für ſein hält, mit
Gewalt wegnimmt, unbekannt mit dem Verbot der Selbſt-
hülfe, iſt frey von der actio vi bonorum raptorum, weil
zu dieſer das Bewußtſeyn der Eigenthumsverletzung erfor-
dert wird. Um dieſer Entſchuldigung zu begegnen, haben
daher die Kaiſer auch ſchon die bloße Selbſthülfe mit
ſchwerer Strafe bedroht (b). Offenbar liegt dabey die
Vorausſetzung zum Grunde, die Unbekanntſchaft mit dem
Geſetz gegen die Selbſthülfe befreye nicht von der Strafe
der Selbſthülfe, ſo wie die Unbekanntſchaft mit dem Edict
vi bonorum raptorum nicht von dieſer prätoriſchen Straf-
klage befreye. Beide Strafbeſtimmungen hatten auch nicht
einmal eine ſtreng poſitive Natur, ſie waren vielmehr in
dem natürlichen Rechtsgefühl gegründet.
Der Inceſt wird natürlich immer ausgeſchloſſen durch
die factiſche Unbekanntſchaft mit dem Verwandtſchaftsver-
hältniß (c). Dagegen ſoll der Rechtsirrthum, das heißt
die Unbekanntſchaft mit dem Eheverbot, nur ausnahms-
weiſe entſchuldigen: 1. die Frauen, jedoch nur wenn der
Inceſt juris civilis, nicht gentium, alſo begangen mit Sei-
tenverwandten, nicht mit Aſcendenten oder Deſcendenten,
(b) § 1 J. de vi bon. rapt.
(4. 2.).
(c) L. 4 C. de incestis (5. 5.).
|0404 : 392|
Beylage VIII.
iſt (d); 2. die minderjährigen Männer, und zwar unter
derſelben Einſchränkung wie die Frauen (e).
Das Sc. Turpillianum verbietet unter Strafe den An-
klägern, von ihrer Anklage ohne ausgewirkte obrigkeitliche
Abolition zurück zu treten. Dieſes Strafgeſetz iſt ganz
poſitiver Art, weshalb Frauen und Minderjährige wegen
Rechtsunwiſſenheit von der Strafe deſſelben Befreyung
erhalten (f).
Die doloſe Beſchädigung obrigkeitlicher Edicte war mit
einer Strafe von 500 aurei bedroht (g), und dieſe Strafe
konnte durch ihre Höhe als eine völlig poſitive Beſtimmung
(d) L. 38 pr. § 2. 4. 7 ad L.
Jul. de adult. (48. 5.), vgl. mit
L. 68 de ritu nupt. (23. 2).
(e) L. 38 § 4. 7 ad L. Jul.
de adult. (48. 5.), L. 4 C. de
incestis (5. 5.). — Wörtlich iſt
hier von incestus juris civilis
Nichts geſagt; dennoch können
wir dieſe Beſchränkung hinzu den-
ken wegen der völligen Zuſam-
menſtellung mit den Frauen. Daß
ſie nicht ausdrücklich erwähnt iſt,
mag aus der äußerſten Selten-
heit des incestus juris gentium
bey minderjährigen Männern er-
klärt werden. Denn mit der
Mutter (alſo der älteren Frau)
wird er nicht vorkommen, und
eine Tochter, die des Inceſts
fähig wäre, kann er ſchon ſeinen
Jahren nach nicht haben. — In
L. 38 § 4 cit. muß übrigens ſtatt
Claudiae geleſen werden Claudio,
da offenbar von einem Mann die
Rede iſt, wie der nachher folgende
Gegenſatz zeigt.
(f) L. 1 § 10 L. 4 pr. ad Sc.
Turpill. (48. 16.). Der § 10
enthält zwey verſchiedene Erwäh-
nungen der ſtrafloſen Frauen:
1. wenn ihre Anklage ohnehin
ungültig iſt, als nicht auf eige-
nes Intereſſe gegründet, 2. (am
Schluß) ganz allgemein, wobey
die Frauen mit den Minderjähri-
gen zuſammengeſtellt werden. Die
erſte (beſchränktere, aber beſonders
einleuchtende) Erwähnung beruft
ſich auf ein Reſponſum des Pa-
pinian, und dieſes Reſponſum
ſteht eben in der angeführten
L. 4 pr. eod., weshalb aber auch
in dieſer anſtatt injuriae propriae
emendirt werden muß injuriae
non propriae, wie ſchon Cujacius
bemerkt hat.
(g) L. 7 pr. de jurisd. (2. 1.).
|0405 : 393|
Irrthum und Unwiſſenheit.
angeſehen werden. Deshalb wurde hier dem Erforderniß
des Dolus eine größere Ausdehnung als in anderen Fäl-
len gegeben. Es ſollte daher der Thäter durch allgemeine
Rechtsunwiſſenheit oder durch gänzlichen Mangel an Bil-
dung von der Strafe befreyt werden (h).
Das Teſtament eines Ermordeten ſollte bey Strafe von
100 aurei nicht eher eröffnet werden, als die Sklaven
deſſelben gefoltert wären, damit nicht durch die im Teſta-
ment vielleicht enthaltene Freylaſſung ſolcher Sklaven die
Folter verhindert werden möchte (i). Die Strafe war
durch den Dolus des Thäters bedingt, und wegen der
ganz poſitiven Natur des Strafgeſetzes wurde dieſelbe Be-
freyung geſtattet, wie bey dem vorhergehenden Fall (k).
Wer aus Rechtsunwiſſenheit die Zollgeſetze übertritt,
wird dadurch von der Strafe um ſo weniger frey, als
dieſelbe überhaupt nur durch die materielle That, nicht
durch Dolus, bedingt iſt (l). Nur der Minderjährige bleibt
(h) L. 7 § 4 de Jurisd. (2. 1.)
„.. si per imperitiam vel ru-
sticitatem … aliquis fecerit,
non tenetur.” Imperitia iſt die
Unbekanntſchaft mit dem Recht
und den Geſchäften, die mit an-
derer Art von Bildung wohl be-
ſtehen kann, und damit ſind, nach
der Analogie anderer Stellen,
Frauen und Minderjährige, auch
wohl Soldaten, gemeynt. Ru-
sticitas iſt die allgemeine Roh-
heit und Unbildung, wie ſie in
der unterſten Klaſſe häufig vor-
kommt.
(i) L 25 § 2 de Sc. Silan.
(29. 5.).
(k) L. 3 § 22 de Sc. Silan.
(29. 5.) „Et si sciens, non ta-
men dolo aperuit, neque non
tenebitur: si forte per imperi-
tiam, vel per rusticitatem, ig-
narus Edicti Praetoris vel Scti,
aperuit.”
(l) L. 16 § 5 de publicanis
(39. 4.).
|0406 : 394|
Beylage VIII.
von der Strafe ausgenommen, wenn ihm nicht Dolus be-
ſonders nachgewieſen werden kann (m).
Wer einer in jus vocatio nicht Folge leiſtet, wird zu
einer willkührlichen Geldſtrafe verurtheilt, wovon jedoch
gänzliche Unbildung befreyt (n).
Der Schreiber, dem ein Teſtament dictirt wird, ſoll
bey ſchwerer Strafe kein ihm ſelbſt angewieſenes Legat
niederſchreiben. Dagegen ſollte Rechtsunwiſſenheit weniger
als in anderen Fällen ſchützen (o). Soldaten zwar waren
auch hier allgemein befreyt (p), Frauen aber nur unter
beſonderen entſchuldigenden Umſtänden (q).
Wer eine Frau innerhalb des Trauerjahres heurathet,
wird infam; dagegen ſchützt nur die Unwiſſenheit über die
Thatſache, nicht der Rechtsirrthum (r).
Der Freygelaſſene, der ſich eine in jus vocatio gegen
den Patron erlaubt, wird beſtraft. Dagegen ſchützt ſelbſt
gänzliche Unbildung nicht, weil ſchon das natürliche Ge-
fühl der Ehrfurcht ihn zurückhalten mußte (s).
(m) L. 9 § 5 de minor. (4. 4.)
Der Vorbehalt des Dolus iſt ei-
gentlich keine Ausnahme, da durch
den erwieſenen Dolus die behaup-
tete Rechtsunwiſſenheit von ſelbſt
widerlegt iſt.
(n) L. 2 § 1 si quis in jus.
voc. (2. 5.).
(o) L. 15 pr. ad L. Corn.
de falsis (48. 10.).
(p) L 5 C. de his qui sibi
adscrib. (9. 23.). Näm lich befreyt
von der Strafe, nicht von der
Ungültigkeit des Legats.
(q) L. 15 § 5 ad L. Corn.
de falsis (48. 10.).
(r) L. 1 L. 11 § 4 de his qui
not. (3. 2.). In dieſen Stellen
iſt blos von dem Mann die Rede,
Die Frau ſelbſt aber hatte gewiß
auch keine Strafloſigkeit, weil die-
ſes Verbot nichts weniger als po-
ſitiv war, und gerade den Frauen
vorzugsweiſe einleuchten mußte.
(s) L. 2 C. de in jus voc.
|0407 : 395|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Dem Vormund iſt unter Strafe verboten, ſeine vor-
malige Mündel für ſich oder ſeinen Sohn zur Ehefrau zu
nehmen. Dagegen ſchützt auch nicht imperitia und rusti-
citas (t).
Die Frau, die es unterläßt einen Vormund für ihr
Kind zu erbitten, wird beſtraft, und dagegen ſchützt ſie
nur Minderjährigkeit, nicht die allgemeine Rechtsunwiſſen-
heit des Geſchlechts, ohne Zweifel weil ſie als Mutter zur
äußerſten Sorgfalt durch die Natur aufgefordert war (u).
Der Senator, der eine Freygelaſſene zur Frau nahm,
war mit Strafen bedroht, wenn er es sciens dolo malo
that (v). Dagegen ſchützte ihn natürlich nicht die Unbe-
kanntſchaft mit dem Geſetz, wohl aber der Irrthum über
den Stand der Frau, vorausgeſetzt jedoch daß ſelbſt die-
ſer Irrthum nicht leicht zu vermeiden, alſo nicht tadelns-
werth war (w).
XXII.
Bisher iſt die Beziehung des Irrthums zum Dolus
(2. 2.) „Nec in ea re rusticitati
venia praebeatur, cum naturali
ratione honor hujusmodi per-
sonis debeatur.”
(t) L. 1 C. de interdicto ma-
trim. (5. 6.).
(u) L. 2 C. si adv. del. (2. 35.),
vgl. L. 8 C. qui pet. (5. 31.).
(v) L. 44 pr. de ritu nupt.
(23. 2.).
(w) L. 6 h. t. Die Beziehung
dieſer Stelle auf das Eheverbot
zwiſchen dem Senator und der
Freygelaſſenen folgt aus der In-
ſcription. Heineccius ad L. Jul.
p. 442. Aus gleichem Grunde
gehört eben dahin L. 5 h. t.,
welche ſagen will, es komme nur
auf Wiſſen oder Nichtwiſſen des
Senators ſelbſt, nicht auf das
der Frau, bey Beurtheilung ſei-
ner Strafbarkeit an. Vgl. oben
Num. I. Note b.
|0408 : 396|
Beylage VIII.
bey den Delicten nachgewieſen worden. Eine gleichartige
Beziehung aber kommt auch bey einigen Rechtsinſtituten
vor, worin der Dolus nicht ſelbſt als Delict erſcheint,
ſondern nur andere Rechtsverhältniſſe modificirt. Wegen
dieſer Gleichartigkeit wird es zweckmäßig ſeyn, davon an
dieſer Stelle zu reden.
Bey der hereditatis petitio und bey der rei vindicatio
macht es, wenn der Kläger Recht behält, einen großen
Unterſchied, ob der Beklagte ein b. f. oder ein m. f. pos-
sessor iſt, unter welchen letzten Fall insbeſondere auch der
praedo gehört, das heißt der Beſitzer, welcher ſeinen Beſitz
nicht einmal durch einen angeblichen Titel zu beſchönigen
weiß. Das Bewußtſeyn des redlichen Beſitzers kann ſich
nun entweder gründen auf einen factiſchen Irrthum über
die früheren Schickſale der Sache, oder auf einen Rechts-
irrthum. Wenden wir auf dieſen letzten Fall dieſelbe Be-
urtheilung, wie bey den Delicten (Num. XXI.) an, ſo er-
geben ſich als unzweifelhaft folgende Sätze. Niemand kann
ſich darauf berufen, daß er die Rechtsregeln über den un-
redlichen Beſitz und deſſen nachtheilige Folgen nicht gekannt
habe. Hat aber der Beſitzer über die Regeln des Eigen-
thumserwerbs geirrt, und ſich deswegen das Eigenthum
fälſchlich zugeſchrieben, ſo iſt er darum nicht weniger ein
redlicher Beſitzer, denn dieſer Zuſtand iſt eine Thatſache,
die durch den Rechtsirrthum, woraus ſie entſtanden ſeyn
mag, nicht ungeſchehen gemacht werden kann. Dieſer prak-
|0409 : 397|
Irrthum und Unwiſſenheit.
tiſch wichtige Satz wird nun in folgender Stelle auf das
Deutlichſte anerkannt.
L. 25 § 6 de hered. petit. (5. 3.) „Scire ad se non per-
tinere, utrum is tantummodo videtur, qui factum scit,
an et is, qui in jure erravit? putavit enim recte
factum testamentum, cum inutile erat: vel, cum eum
alius praecederet adgnatus, sibi potius deferri. Et
non puto hunc esse praedonem, qui dolo caret, quam-
vis in jure erret.”
Es iſt wohl zu bemerken, daß die Rechtsſätze, über welche
hier ein Irrthum vorausgeſetzt wird, nicht etwa verwickelte
und beſtrittene, ſondern einfache und gewiſſe ſind: die be-
kannten Formen des Teſtaments, und noch mehr die Ord-
nung worin die Agnaten zu der Inteſtaterbfolge berufen
werden. Dennoch wird ein ſo Irrender unbedingt als red-
licher Beſitzer anerkannt. — Hier zeigt ſich nun auch recht
deutlich die Unbrauchbarkeit des oben (Num. VIII.) beur-
theilten Princips, nach welchem der Rechtsirrthum zwar
ſoll Schaden abwehren, aber nicht Gewinn bringen können.
Der redliche Beſitz hat bey den oben angeführten Klagen
zweyerley Folgen: er wendet Schaden ab, indem der un-
redliche Beſitzer auch nicht gewonnene Früchte, und auch
den Werth der verſchenkten oder verſchwendeten Sachen
vergüten muß (a); er bringt Gewinn, indem der redliche
Beſitzer den Werth der verzehrten oder verkauften Früchte
als Bereicherung behalten darf, die der unredliche Beſitzer
(a) L. 25 § 2. 4. 11. 15 de hered. petit. (5. 3.).
|0410 : 398|
Beylage VIII.
zu vergüten hat (b). Da nun nach der oben mitgetheilten
Stelle der redliche Beſitz, ungeachtet des Rechtsirrthums,
unbedingt als vorhanden anerkannt wird, ſo iſt eben da-
durch dem Rechtsirrthum die Kraft zugeſchrieben, nicht nur
die Abwendung des Schadens, ſondern auch die Erwerbung
eines reinen Gewinns zu vermitteln.
XXIII.
Eine ähnliche, vielleicht noch wichtigere, Frage ent-
ſteht für die Beziehung des Irrthums auf die Klagver-
jährung. Dieſe Beziehung kommt auf zweyerley Weiſe
vor: bey dem Irrthum des Klagberechtigten, wovon wei-
ter unten, bey den Unterlaſſungen, die Rede ſeyn wird
(Num. XXV.); bey dem des Beklagten, welcher Irrthum
hier zu erwägen iſt, indem er mit einer delictähnlichen
Handlung des Beklagten in Verbindung ſteht.
Die Klagverjährung wird größtentheils vom Römi-
ſchen Recht als bloße Verſäumniß des Klagberechtigten
behandelt, ganz ohne Rückſicht auf das Verhalten des
möglichen Beklagten. Nur zu der longi temporis prae-
scriptio war es nöthig, daß der Beſitzer gerade ſo beſitze,
wie zum Zweck der Uſucapion, alſo mit redlichem Be-
wußtſeyn und mit einem Titel des Beſitzes. Dabey alſo
müſſen unzweifelhaft, auch in Beziehung auf den Irrthum,
und namentlich den Rechtsirrthum, genau dieſelben Re-
(b) § 35 J. de rer. divis. (2. 1.), § 2 J. de off. jud. (4. 27.).
|0411 : 399|
Irrthum und Unwiſſenheit.
geln angewendet werden, welche eben über den Irrthum
bey der Uſucapion aufgeſtellt worden ſind (Num. XV. XVI.).
Allein das canoniſche Recht hat für die Verjährung
zwey neue und wichtige beſchränkende Regeln aufgeſtellt:
die bona fides ſoll bey jeder Verjährung noͤthig ſeyn, und
ſie ſoll während der ganzen Verjährungsfriſt fortdauern (a),
anſtatt daß ſie das Römiſche Recht, da wo ſie überhaupt
nöthig war (bey der Uſucapion und l. t. praescriptio) doch
nur für den Anfang des Beſitzes erforderte. Was nun
die erſte neue Beſtimmung betrifft, ſo iſt anzunehmen,
daß das canoniſche Recht, abweichend von dem Roͤmi-
ſchen Sprachgebrauch, unter praescriptio jede durch Zeit-
lauf bewirkte Rechtsänderung begreift, alſo die Uſucapion
und die Klagverjährung zugleich; und als Klagverjäh-
rung nicht blos die longi temporis praescriptio, ſondern
gewiß auch die dreyßigjährige, welche die wichtigſte unter
allen iſt. Jedoch dieſe, nach der richtigern Meynung,
nicht in allen Fällen, ſondern nur inſofern ſie zum Schutz
eines Beſitzverhältniſſes des Beklagten geltend ge-
macht wird (b). Daher ſchließt das unredliche Bewußt-
(a) C. 5 und C. 20 X. de prae-
script. (2. 26.). — Die aus Au-
guſtin genommene Stelle c. 5
C. 34 q. 1 ſagt nur, daß der An-
fangs redliche Beſitzer durch ſpä-
teres Bewußtſeyn des fremden
Rechts ein injustus oder m. f.
possessor werde. Das iſt auch
ſchon nach R. R. wahr, aber es
folgt daraus noch nicht die Un-
terbrechung der Verjährung. Gra-
tian ſelbſt trägt vielmehr noch
das reine Römiſche Recht vor.
(Additio ad c. 15 C. 16 q. 3).
Daher iſt denn der Anfang des
neuen Rechtsſatzes auf die ange-
führten Decretalen von Alexan-
der III. und Innocenz III. zurück
zu führen.
(b) Unterholzner Verjäh-
rungslehre § 92.
|0412 : 400|
Beylage VIII.
ſeyn die Klagverjährung aus, nicht nur bey der rei vin-
dicatio und hereditatis petitio, ſondern auch bey der actio
commodati, depositi, locati auf Rückgabe der anvertrau-
ten Sache, weil auch durch dieſe der Kläger die Rück-
gabe eines unrechtmäßig vorenthaltenen Beſitzes verlangt;
dagegen nicht bey den gewöhnlichen Schuldklagen aus Ver-
trägen oder Delicten, auch nicht bey der actio emti oder
der Klage auf Erfüllung eines Tauſchvertrags.
Damit iſt der Umfang der neuen Regel beſtimmt, und
nun haben wir für dieſelbe die Frage zu beantworten, ob
etwa die Redlichkeit des Beſitzes, mithin die Klagverjäh-
rung ſelbſt, durch einen Rechtsirrthum des Beklagten aus-
geſchloſſen werde? Es iſt merkwürdig, daß dieſe von den
älteren Schriftſtellern lebhaft verhandelte Streitfrage von
den neueren gar nicht berührt zu werden pflegt.
Nach den oben aufgeſtellten Grundſätzen wird die Klag-
verjährung durch den Rechtsirrthum nicht verhindert. Denn
die Redlichkeit des Bewußtſeyns, die das canoniſche Recht
allein fordert, iſt eine Thatſache, für deren Daſeyn der
Entſtehungsgrund, auch wenn derſelbe in einem Rechtsirr-
thum liegen mag, ganz gleichgültig iſt. Die buchſtäbliche
Vorſchrift des canoniſchen Rechts hindert alſo die auf ei-
nem Rechtsirrthum beruhende Klagverjährung nicht. Aber
auch der Grund dieſes Geſetzes führt auf ein gleiches Re-
ſultat. Denn dieſer Grund wird darin geſetzt, daß vor
Allem die Sünde vermieden werden müſſe (Quoniam omne,
quod non est ex fide, peccatum est); Niemand aber wird
|0413 : 401|
Irrthum und Unwiſſenheit.
behaupten wollen, daß jeder Rechtsirrthum eine ſündliche
Natur an ſich trage. Endlich entſcheidet für dieſe Mey-
nung auch noch die augenſcheinliche Analogie der L. 25
§ 6 de hered. petit. (Num. XXII.). Denn wenn der
Rechtsirrthum den Beklagten nicht hindert, die Vortheile
des redlichen Beſitzes im Fall der Verurtheilung zu genie-
ßen, ſo iſt kein Grund denkbar, warum er den Vortheil
der Klagverjährung ſollte verhindern können.
Folgende Gegengründe ſind aufgeſtellt worden:
1) Die Klagverjährung bewirke eine Bereicherung des
Beklagten, wozu der Rechtsirrthum niemals führen dürfe.
— Dieſes Princip iſt oben ſchon an ſich widerlegt wor-
den (Num. VIII.). Auch hier aber zeigt ſich wieder ſeine
(von der hiſtoriſchen Begründung noch unabhängige) ge-
ringe Tauglichkeit zu irgend einer ſicheren Anwendung.
Denn ob der Beklagte durch die Klagverjährung reicher
wird, oder blos Schaden vermeidet, wird in den meiſten
Fällen völlig ungewiß bleiben; er wird reicher, wenn eine
wirklich vorhandene Klage untergeht; er vermeidet Scha-
den, wenn ihm blos der zufällig fehlende Beweis des ohne-
hin ſchon aufgehobenen Klagerechts durch die Verjährung
erſetzt wird. Ob nun aber im einzelnen Fall der eine
oder der andere Erfolg anzunehmen ſey, dieſes eben wird
meiſt im Dunkeln bleiben, und in der Umgehung dieſer
Schwierigkeit liegt ein Hauptvortheil des durchgreifenden
Princips der Klagverjährung.
2) Die Analogie der Uſucapion, welche gleichfalls
III. 26
|0414 : 402|
Beylage VIII.
durch den Rechtsirrthum verhindert werde. Allein bey die-
ſer bezieht ſich der allerdings hindernde Rechtsirrthum nicht
auf die bona fides, ſondern auf den Titel (Num. XV.),
und ein Titel wird zur Klagverjährung im Allgemeinen
nicht erfordert.
Mit der hier vertheidigten Meynung ſtimmten die äl-
teren Rechtslehrer größtentheils überein (c). Die neueren
haben dieſe Frage ſo wenig behandelt, daß ſich unter ih-
nen eine überwiegende Meynung gar nicht bilden konnte (d).
Das wahre Element aber, welches man in der ent-
gegengeſetzten Meynung noch anerkennen kann, iſt folgen-
des. Über die Annahme der Unredlichkeit als einer That-
ſache hat der Richter freyes Urtheil. Wenn nun der Be-
klagte nach den vorliegenden Beweiſen, vielleicht nach ei-
genem Geſtändniß, alle factiſchen Umſtände vollſtändig
kannte, und daneben ſein redliches Bewußtſeyn lediglich
aus einem Rechtsirrthum ableitet, ſo iſt dieſer nicht zu
vermuthen, vielmehr von dem Beklagten darzuthun (ſ. o.
Num. III.). Der Richter wird dabey ein freyes Ermeſſen
haben müſſen, und beſonders auch die Perſoͤnlichkeit des
Beklagten zu berückſichtigen haben (e). In dieſer Hinſicht
(c) Gilken de usucapione
P. 2 membr. 1 Cap. 3 Num. 8
sq. handelt ſehr gründlich von
dieſer Frage, und erklärt ſich für
die hier angenommene Meynung,
die auch, nach vielen von ihm
angeführten Schriftſtellern, als
communis opinio angeſehen wer-
den muß.
(d) Rave de praescriptione
§ 56 erklärt ſich für unſre Mey-
nung; gegen dieſelbe Lüder
Mencken an requiratur b. f. in
praescript. actionum persona-
lium Lips. 1692 Thes. 4.
(e) Gilken l. c. Num. 19.
|0415 : 403|
Irrthum und Unwiſſenheit.
kann man ſagen, daß der Beſitzer bey der Klagverjäh-
rung zuweilen in einer nachtheiligeren Lage ſeyn kann,
als bey der Uſucapion. Jedoch iſt dieſer Nachtheil nur
ſcheinbar. Der Unterſchied entſteht vielmehr daraus, daß
der uſucapirende Beſitzer ſtets einen Titel für ſich hat,
welcher ſeine bona fides bis zum Beweiſe des Gegentheils
außer Zweifel ſetzt (Num. XV.), und daß er nie in den
Fall kommen kann, durch Berufung auf Rechtsirrthum in
eine verdächtige und darum ungünſtige Lage zu gerathen.
Alles nun, was hier über den Irrthum im Verhältniß
zur Klagverjährung geſagt worden iſt, gilt ganz eben ſo
auch bey der außerordentlichen oder dreyßigjährigen Er-
ſitzung. Denn dieſe hat keine andere Vorausſetzungen, als
die bloße Klagverjährung, nur unter der hinzutretenden
Bedingung eines redlichen Beſitzes (f). Da nun dieſe Be-
dingung durch das canoniſche Recht ſchon zum Zweck der
bloßen Klagentilgung allgemein aufgeſtellt worden iſt, ſo
iſt die Klagverjährung des Beſitzers, in ihren factiſchen
Bedingungen, mit der dreyßigjährigen Erſitzung identiſch
geworden, ſo daß die eben beendigte Unterſuchung noth-
wendig beide zugleich umfaſſen muß.
XXIV.
Es bleibt nun noch übrig, von den Folgen des Irr-
thums bey bloßen Unterlaſſungen zu ſprechen. Auch hier
müſſen wir zuvörderſt an das allgemeine Princip erin-
(f) L. 8 § 1 C. de praescr. XXX. (7. 39.).
26*
|0416 : 404|
Beylage VIII.
nern, welches in dieſer Anwendung mehr als anderwärts
verkannt zu ſeyn ſcheint: Der Irrthum ſchützt in der Re-
gel gegen die nachtheilige Folge der Unterlaſſung nicht,
weder direct noch durch Reſtitution, und es ſind daher
nur einzelne, ausgenommene Fälle worin er ſchützt; aber
auch in dieſen Fällen wird der Schutz ausgeſchloſſen durch
beſondere Nachläſſigkeit, alſo auch in der Regel bey je-
dem Rechtsirrthum. — Die einzelnen Fälle, worin der
Irrthum als Urſache einer Unterlaſſung vorkommt, ſind
folgende:
I. Die Bonorum Possessio muß innerhalb einer Friſt
von einem Jahr oder 100 Tagen agnoſcirt werden, ſonſt
iſt ſie verloren. Wie aber, wenn der Berufene aus Un-
wiſſenheit die Friſt verſäumt hat? Da wir die Worte
des hier einſchlagenden Edicts nicht kennen, ſo iſt es nö-
thig, auf ein anderes, dem älteren Recht angehörendes,
Inſtitut zurück zu gehen. Es war üblich, die Erben cum
cretione einzuſetzen, und zwar beſonders häufig mit dieſer
Formel: Titius heres esto, cernitoque in diebus centum
proximis, quibus scieris, poterisque (a). Wahrſcheinlich
(a) Dieſes hieß cretio vulga-
ris. Ulpian. XXII. § 27. 31. 32,
Gajus Lib. 2 § 165. 171—173.
Ähnliche Bedingungen (des An-
tritts in einer beſtimmten Zeit)
können auch nach dem neueſten
Recht in einem Teſtamente vor-
kommen (L. 72 de adqu. her.
29. 2.). Ob dann die Friſt von
dem Todestage, oder von der Zeit
worin der Erbe die Bedingung
erfuhr, gerechnet werden ſoll, das
muß von dem Inhalt und der
Auslegung des Teſtaments abhän-
gen. — Auf den Fall einer cretio
vulgaris bezog ſich ohne Zweifel
in ihrer urſprünglichen Abfaſſung
L. 86 de adqu. her. (29. 2.), die
durch Verwandlung von cretio-
nis in aditionis interpolirt iſt.
|0417 : 405|
Irrthum und Unwiſſenheit.
hatte das Edict über die Bonorum Possessio dieſelben
Ausdrücke, oder doch ähnliche, gebraucht, ſo daß die Friſt
erſt anfangen ſollte von der Zeit, wo der Berufene den
Tod und zugleich den Grund ſeiner Berufung (Teſtament,
Verwandtſchaft u. ſ. w.) erfahren hatte (a¹). Die Unter-
laſſung durch factiſchen Irrthum war alſo ſchon unmittel-
bar durch die buchſtäbliche Faſſung der Rechtsregel gegen
Nachtheil geſchützt, ſo daß ſie eines künſtlichen Schutzes
gar nicht bedurfte (Num. II.). Allein auf den factiſchen
Irrthum ſollte dieſer Schutz beſchränkt bleiben, der Rechts-
irrthum ſollte ihn nicht genießen (b). Dieſer Satz geſtat-
tet zwey Anwendungen, und iſt in beiden wahr. Die Erb-
ſchaft geht alſo durch verſäumte Friſt verloren, ſowohl
wenn der Berufene über das Daſeyn oder die Länge die-
ſer Friſt in Unwiſſenheit iſt, als wenn er, bey völliger
Bekanntſchaft mit den verwandtſchaftlichen Verhältniſſen,
über die Succeſſionsordnung irrt; ſo z. B., wenn ein ent-
fernter Agnat des Verſtorbenen glaubt, daß ein naher
Cognat ihm vorgehe.
Von dieſer Regel werden zwey Ausnahmen erwähnt,
die rusticitas und die Minderjährigkeit. Wenn alſo der
Berufene durch ſeinen hohen Grad allgemeiner Unbildung
in einer ſolchen Rechtsunwiſſenheit ſich befindet, ſo ſoll
ihm die Verſäumniß nicht ſchaden, das heißt wohl, er ſoll
(a¹) L. 2 pr. quis ordo (38.
15.). „.. ut per singulos dies
et scierit et potuerit admittere.”
(b) L. 1 § 1 — 4 h. t., L. 3
C. h. t., L. 10 de Bon. Poss.
(37. 1.), L. 6 C. qui admitti
(6. 9.).
|0418 : 406|
Beylage VIII.
dagegen Reſtitution erhalten (c). Desgleichen haben Min-
derjährige allgemein Reſtitution gegen verſäumte Bonorum
Possessio (d); alſo auch im Fall des Rechtsirrthums, der
ihnen ja überall nachgeſehen wird (Num. XXX.).
II. Bey dem alten spatium deliberandi bedurfte es
keiner beſonderen Vorſorge für den Fall des Irrthums,
da es überhaupt nur auf die Bitte des berufenen Erben
gegeben wurde, die ja ohne Bewußtſeyn der Berufung
nicht denkbar iſt. Dagegen iſt im neueren Recht auf die
Befugniß zur Deliberation ein beſonderes Transmiſſions-
recht gegründet; dieſes dauert Ein Jahr, welches aller-
dings erſt von der Zeit der Kenntniß des berufenen Er-
ben angeht (e).
III. Eben ſo iſt in Juſtinians neuer Vorſchrift, daß
der berufene Erbe, um gegen jeden Verluſt ſicher zu ſeyn,
binnen Dreyßig Tagen ein Inventarium zu machen an-
(c) L. 8 C. qui admitti (6. 9.).
„.. sciat sibi non obesse, si
per rusticitatem, vel ignoran-
tiam facti, vel absentiam, vel
quamcunque aliam rationem in-
tra praefinitum tempus bono-
rum possessionem minime pe-
tiisse noscatur: quoniam haec
sanctio hujusmodi consuetudi-
nis necessitatem mutavit.” Soll
die Stelle keine müßige Wieder-
holung enthalten, ſo muß die ru-
sticitas auf den Rechtsirrthum
gehen, womit ſie ja auch ander-
wärts ſtets in Verbindung ge-
nannt wird: die quaecunque alia
ratio aber auf eine der Abweſen-
heit ähnliche äußere Abhaltung,
z. B. Gefangenſchaft am Wohn-
ort ſelbſt oder lange ſchwere
Krankheit. Die Schlußworte deu-
ten auf einen neuen Rechtsſatz;
damit iſt wohl der durch rustici-
tas entſchuldigte Rechtsirrthum,
und eben ſo die äußere (auch ne-
ben der factiſchen Sachkenntniß
denkbare) Abhaltung gemeynt,
denn der factiſche Irrthum ſchützte
ja auch ſchon früher gegen jeden
Nachtheil (Note b).
(d) L. 2 C. de in int. rest.
min. (2. 22.).
(e) L. 19 C. de j. delib. (6. 30.).
|0419 : 407|
Irrthum und Unwiſſenheit.
fangen ſolle, ausdrücklich hinzugefügt, dieſe Dreyßig Tage
ſeyen zu zählen von dem Tage an, wo der Erbe die Be-
rufung erfahre (f); dieſes jedoch mit Ausnahme der Sol-
daten, die durch die Verſäumniß der Friſt nicht leiden
ſollen (g).
XXV.
IV. Die wichtigſte Anwendung des Irrthums bey Un-
terlaſſungen betrifft die Klagverjährung, womit wir in
dieſer Beziehung auch die Verjährung der Reſtitution ver-
binden können, wenngleich das Reſtitutionsgeſuch nicht als
eine Römiſche actio bezeichnet werden kann. Kann nun
der Kläger die verjährte Klage mit Erfolg anſtellen, wenn
er ſie aus Unbekanntſchaft mit ſeinem Klagrecht in der
vorgeſchriebenen Zeit anzuſtellen unterlaſſen hat? Dieſe
Frage kommt in zwey verſchiedenen Bedeutungen vor.
Jede Verjährung hat einen beſtimmten Zeitraum angewie-
ſen, bey welchem zuerſt der Anfangspunkt feſtzuſtellen iſt.
Dieſer könnte möglicherweiſe entweder auf ein äußeres
Ereigniß geſetzt werden, oder auf des Klägers Bekannt-
ſchaft mit dieſem Ereigniß, welche vielleicht erſt in einem
weit ſpäteren Zeitpunkt eintritt. Darin liegt eine erſte
denkbare Einwirkung des Irrthums. Allein wenn man
(f) L. 22 § 2 C. de jure de-
lib. (6. 30.). „.. ut intra tri-
ginta dies post apertas tabu-
las, vel postquam nota fuerit
ei apertura tabularum, vel de-
latam sibi ab intestato heredi-
tatem cognoverit, numerandos,
exordium capiat inventarium”…
(g) L. 22 § 15 eod.
|0420 : 408|
Beylage VIII.
auch regelmäßig die Verjährung von dem äußeren Ereig-
niß an berechnet, ſo wäre es doch wiederum denkbar, daß
gegen den Ablauf derſelben der Kläger wegen ſeines Irr-
thums einen außerordentlichen Schutz (durch Reſtitution)
in ähnlicher Weiſe erhielte, wie es nun ſchon für viele
andere Fälle nachgewieſen worden iſt.
Zuerſt alſo: Wird die Klagverjährung regelmäßig be-
rechnet von dem äußeren Ereigniß, das heißt von der
Rechtsverletzung an, oder aber von des Klägers Bekannt-
ſchaft mit dieſem Ereigniß (a scientia)? Eine ſcheinbare
Ähnlichkeit mit den Friſten der Bonorum Possessio (Num.
XXIV.) könnte uns für dieſe letzte Behandlung beſtimmen.
Allein eine genauere Betrachtung muß uns von der we-
ſentlichen Verſchiedenheit beider Fälle überzeugen.
Die kurzen Friſten der Bonorum Possessio haben den
Zweck, die Perſon des Erben bald außer Zweifel zu ſetzen.
Dieſem Zweck iſt die von der Kenntniß des Berufenen
anfangende Berechnung nicht hinderlich, da Diejenigen,
welche bey der ſchnellen Entſcheidung Intereſſe haben, den
Berufenen unterrichten, und ſo den Lauf der Friſt veran-
laſſen können. Die Klagverjährung ſoll auf ſchnelle Rechts-
verfolgung hinwirken, damit die ſichere Entſcheidung er-
leichtert und die Rechtsungewißheit abgekürzt werde. Die-
ſem Zweck würde durch die Berechnung der Friſt von der
Kenntniß des Klägers an entgegengewirkt, da hier Nie-
mand iſt, der zu einer Aufforderung des Klägers veran-
laßt wäre; dem moͤglichen Beklagten kann man dieſe nicht
|0421 : 409|
Irrthum und Unwiſſenheit.
zumuthen, da in ſo vielen Fällen das Recht auf der Seite
des Beklagten, oder doch ungewiß iſt, der Beklagte aber
wünſchen muß, den Rechtsſtreit lieber ganz zu vermeiden.
In der That würde die wohlthätige Wirkung der Klag-
verjährung größtentheils vernichtet ſeyn, wenn man von
der erweislichen Kenntniß des Klägers an rechnen wollte.
Dazu kommt noch, daß der Kläger durch Aufmerkſamkeit
auf ſeine Rechte die Verletzung wahrnehmen kann, alſo
meiſt den Vorwurf der Nachläſſigkeit verdient, wenn er
die Verjährung, ſey es auch durch Unbekanntſchaft mit
der Verletzung, ablaufen läßt. Nicht ſo der prätoriſche
Erbe, der keinen Beruf hat, den vielleicht ganz zufälligen
und unerwarteten Anfall der Bonorum Possessio ſchnell
in Erfahrung zu bringen. Es iſt demnach der Natur der
Klagverjährung angemeſſen, die Friſt von dem äußeren
Ereigniß anfangen zu laſſen, ohne Rückſicht auf die Kennt-
niß des Klagberechtigten. Auch wird in allgemeineren
Verjährungsgeſetzen beyläufig bemerkt, die Unwiſſenheit
des Klägers ſey gleichgültig (a); vollends die Rechtsun-
wiſſenheit, das heißt die Unbekanntſchaft mit dem Ver-
jährungsgeſetze ſelbſt, ſollte gar keinen Einfluß haben (b).
(a) L. 12 C. de praescr. longi
temp. (7. 33.). „… nulla scien-
tia vel ignorantia exspectanda,
ne altera dubitationis inextri-
cabilis oriatur occasio.” — Eine
ganz andere Natur haben die Pro-
zeßfriſten, die ſtets von der Zeit
an berechnet werden, wo die Par-
tey das Ereigniß erfährt, welches
ſie zum Handeln veranlaſſen ſoll.
(b) L. 3 C. de praescr. XXX.
(7. 39.). „.. Post hanc vero
temporis definitionem nulli mo-
vendi ulterius facultatem com-
petere censemus, etiamsi se le-
gis ignorantia excusare tenta-
verit.” An ſich war dieſer Zu-
ſatz überflüſſig, er wurde wohl
|0422 : 410|
Beylage VIII.
XXVI.
Nur bey Einer, und zwar ſehr zahlreichen, Klaſſe von
Klagen konnte ein Zweifel entſtehen: bey den Klagen mit
utile tempus, alſo bey denen, welche eine einjährige oder
noch kürzere Verjährung hatten. In das utile tempus
nämlich wurden nur eingerechnet diejenigen Tage, an wel-
chen es dem Kläger möglich war, die Klage anzuſtellen
(quibus experiundi potestatem habebat); die übrigen Tage
wurden bey Berechnung des Ablaufs der Verjährung nicht
mitgezählt, ſo daß der wörtlich vorgeſchriebene Zeitraum
um die Zahl dieſer nicht mitgezählten Tage verlängert
wurde (a). Nun entſtand die Frage, ob der Kläger auch
dadurch in der Unmöglichkeit zu klagen ſey, daß er die
Verletzung nicht wiſſe? Faßt man die Stellen des Rö-
miſchen Rechts zuſammen, ſo ergiebt ſich folgende Ant-
wort. Jener Kläger iſt der Regel nach nicht in der Un-
moͤglichkeit zu klagen, denn in vielen Fällen iſt es augen-
ſcheinlich, daß er durch gehörige Aufmerkſamkeit die Ver-
letzung hätte erfahren können, und in noch mehreren Fäl-
len wird gerade dieſer Umſtand ungewiß bleiben. Es gilt
alſo die im Allgemeinen für den Anfang der Klagverjäh-
rung aufgeſtellte Regel auch bey den einjährigen Klagen.
In einzelnen, ſeltenen Fällen jedoch kann für den Kläger
deswegen nöthig gefunden, weil
das ganze ſo wichtige Princip ei-
ner allgemeinen Klagverjährung
etwas völlig Neues, dem frühe-
ren Recht Fremdes war.
(a) L. 1 de div. temp. praescr.
(44. 3.).
|0423 : 411|
Irrthum und Unwiſſenheit.
die Entdeckung der Rechtsverletzung ſo ſchwer ſeyn, daß
ſie der Unmöglichkeit gleich zu achten iſt; kann er alſo
ſolche Umſtände nachweiſen, ſo wird die Verjährung aus-
nahmsweiſe von der Zeit ſeiner Kenntniß an gerechnet.
Es verhält ſich alſo hier gerade umgekehrt, als in ande-
ren Fällen, worin die Unwiſſenheit Einfluß hat, und worin
dieſer Einfluß gilt, wenn nur nicht eine beſondere Nach-
läſſigkeit dargethan werden kann, anſtatt daß bey den
Klagen mit utile tempus die Unmöglichkeit der Kenntniß
zu erweiſen iſt. Die beſonders zahlreichen Fälle zweifel-
hafter, unerweislicher Umſtände kommen daher in anderen
Fällen dem Unwiſſenden, bey der Verjährung der einjaͤh-
rigen Klagen ſeinem Gegner zu gut. Hierin wird alſo
die einjährige Klagverjährung namentlich ganz anders be-
handelt, als die Friſt der Bonorum Possessio (Num.
XXIV.) (b). — Der hier aufgeſtellte Grundſatz iſt von
den Römern nirgend allgemein ausgeſprochen; er findet
ſich in einzelnen Anwendungen, und zwar hier bald mehr
bald weniger vollſtändig, ſo daß es gewiß das einzig rich-
tige Verfahren iſt, die weniger beſtimmten Stellen aus
den beſtimmteren zu ergänzen, da ihnen allen ohne Zwei-
(b) Vergl. über dieſe verſchie-
dene Behandlung das Syſtem
§ 190. — Mit Unrecht wirft beide
Fälle zuſammen Burchardi
Wiedereinſetzung S. 188. — Der
hier aufgeſtellten Anſicht nähert
ſich Arndts in Linde’s Zeitſchrift
B. 14 S. 31, der jedoch das Ver-
hältniß von Regel und Ausnah-
me nicht ſo, wie es hier geſche-
hen, auffaßt, ſondern Alles dem
richterlichen Ermeſſen überläßt,
und dabey eher geneigt ſcheint,
die Regel auf die entgegengeſetzte
Seite zu legen.
|0424 : 412|
Beylage VIII.
fel ein und derſelbe Gedanke zum Grunde liegt. Gerade
das wichtigſte Stück meiner Behauptung aber, daß näm-
lich auch bey den einjährigen Klagen in der Regel ge-
rechnet werde von dem äußeren Ereigniß an (alſo nicht
von der Kenntniß), iſt in allen Stellen deutlich anerkannt;
die Ausnahme, die ja ſo ſelten zur Anwendung kommen
kann, wird nur in einigen derſelben erwähnt. Da aber
dieſe letzten unſere ganze Behauptung am Vollſtändigſten
enthalten, will ich ſie hier voranſtellen.
A. Das Interdict quod vi aut clam dauert Ein Jahr,
und dieſes fängt an mit der widerrechtlichen Unterneh-
mung ſelbſt, nicht mit der Kenntniß, die davon der Klä-
ger erhält. Anders iſt es nur, wenn die Arbeit unter ſol-
chen beſonderen Umſtänden geſchieht, daß ſie der Kläger
faſt gar nicht ohne bloßen Zufall bemerken kann (c). Die
Vorſchrift für dieſen Fall iſt die klarſte und vollſtändigſte
unter allen, und ſie kann am Sicherſten zur Ergänzung
der übrigen weniger beſtimmten Vorſchriften benutzt werden.
B. Die Strafklage de calumnia gilt unter andern für
den Fall, da ein Anderer einem Dritten Geld giebt, da-
mit dieſer Dritte eine grundloſe Klage gegen mich erhebe.
(c) L. 15 § 4. 5 quod vi (43.
24.). Annus autem cedere in-
cipit, ex quo id opus factum
perfectum est, aut fieri desiit
..... (§ 5) Sed si is sit lo-
cus, in quo opus factum est,
qui facile non adiretur, utputa
in sepulchro vi aut clam fac-
tum est, vel in abdito alio lo-
co, sed et si sub terra fieret
opus, vel sub aqua, vel cloaca
aliquid factum sit; etiam post
annum causa cognita competit
interdictum de eo quod factum
est, nam causa cognita annu-
am exceptionem remittendam,
hoc est magna et justa causa
ignorantiae interveniente.”
|0425 : 413|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Dieſe Klage dauert Ein Jahr, welches aber berechnet
wird nicht von jener verwerflichen Verabredung an, ſon-
dern von meiner Kenntniß (d). Hier wird alſo das, was
die vorhergehende Beſtimmung als Ausnahme bezeichnete,
ſogleich als Regel ausgedrückt, und dieſer verſchiedene
Ausdruck erklärt ſich hinreichend aus der Eigenthümlichkeit
des Falles. Denn jene hinterliſtige Verabredung iſt für
mich immer und nothwendig ſo lange verborgen, bis die
ſpätere Ausführung oder ein anderer Zufall ſie mir offen-
bart. Ja, wenn man dieſes nicht annehmen wollte, ſo
würde die widerſinnige Folge eintreten, daß die Strafe
dieſes Delicts von den Thätern durch eine kleine Vorſicht
ſtets abgewendet werden könnte; ſie brauchten nur ihrer
Abrede den Zuſatz zu geben, daß ſie erſt nach einem Jahr
ausgeführt werden ſolle, und während dieſer Zeit über die
Sache zu ſchweigen.
C. Die Klagen aus dem Edict der Ädilen verjähren
theils in Einem Jahr, theils noch kürzer. Dieſe Verjäh-
(d) L. 6 de calumniatoribus
(3. 6.). „.. In illius vero per-
sonam, cum quo ut agatur alius
pecuniam dedit, dubitari po-
test, utrum ex die datae pecu-
niae numerari debeat, an po-
tius ex quo cognovit datam
esse, quia qui nescit, is vide-
tur experiundi potestatem non
habere: et verius est, ex eo
annum numerari, ex quo co-
gnovit.” Das qui nescit u. ſ. w.
iſt hier von dieſem einzelnen Rechts-
verhältniß (der calumnia) zu ver-
ſtehen, nicht als allgemeine Re-
gel für alle Verjährungen mit
utile tempus. Unbedenklich kön-
nen wir es auch anwenden auf
gleichartige Fälle, nur nicht (mit
Mühlenbruch S. 366) auf alle
Klagen aus einem factum alie-
num, wohin namentlich alle De-
lictenklagen gehören würden; denn
die meiſten Delicte berühren un-
ſre Rechte auf ſo merkliche Weiſe,
daß es ganz unſre Schuld iſt, wenn
wir darüber in Unwiſſenheit blei-
ben.
|0426 : 414|
Beylage VIII.
rung fängt an von dem abgeſchloſſenen Contract (e), nicht
von der Bekanntſchaft des Käufers mit dem mangelhaften
Zuſtand der Sache. Dieſe Regel gilt ſelbſt in dem Fall,
worin man ſie am leichteſten bezweifeln könnte, wenn der
gekaufte Sklave die Gewohnheit hat zu entlaufen (fugiti-
vus) (f); nur dann leidet ſie eine Ausnahme, wenn die-
ſer Fehler des Sklaven beſonders verſteckt war (etwa durch
ein täuſchendes gutes Betragen), und zugleich der Käufer
nicht durch verſäumte Erkundigung Nachläſſigkeit bewie-
ſen hat (g).
D. Die doli actio verjährte ehemals in Einem annus
utilis, und verjährt jetzt in Zwey gewöhnlichen Jahren
(continui). Dieſe ſollen angehen von der Zeit des Be-
trugs, nicht der Kenntniß des Betrogenen (h). Die Worte
(e) L. 19 § 6 de aedil. act.
(21. 1.).
(f) L. 2 C. de aedil. act. (4.
58.). Hier iſt allerdings blos die
Flucht des Sklaven als einzelne
Thatſache, nicht die fehlerhafte Ge-
wohnheit eines fugitivus erwähnt.
Dieſe wird aber offenbar voraus-
geſetzt, da die Regreßklage nicht
als an ſich unbegründet, ſondern
blos wegen der Verjährung, ver-
worfen wird.
(g) L. 55 de aedil. act. (21.
1.). „… non videbitur pote-
statem experiundi habuisse, qui
vitium fugitivi latens ignoravit:
non idcirco tamen dissolutam
ignorationem emtoris excusari
oportebit.” Hier ſind zwey Be-
dingungen aufgeſtellt für die gün-
ſtigere Zeitberechnung: erſtlich daß
die böſe Gewohnheit des Sklaven
nicht aus dem ſichtbaren Beneh-
men deſſelben vermuthet werden
konnte (latens); zweytens daß
auch ſonſt nicht die Unkunde des
Käufers leicht vermeidlich war.
Indeſſen könnte man auch den
zweyten Satz für eine Wiederho-
lung des erſten in anderen Wor-
ten halten, was den Sinn nicht
weſentlich ändern würde. — Der
Widerſpruch dieſer Stelle mit der
in der Note f angeführten iſt wohl
nur auf die im Text angegebene
Weiſe zu beſeitigen. Vgl. auch
Haubold opuscula T. 1 p. 429.
430.
(h) L. 8 C. de dolo (2. 21.),
d. h. L. 1 C. Th. de dolo (2. 15.).
|0427 : 415|
Irrthum und Unwiſſenheit.
dieſes Zuſatzes ſind ſo gefaßt, daß auch hierin eine beab-
ſichtigte Neuerung unverkennbar iſt. Der hier abgeän-
derte Zuſtand des älteren Rechts war aber nicht der, daß
immer von der Zeit der erlangten Kenntniß an gerechnet
wurde, ſondern daß dieſe Berechnung, eben ſo wie bey
den vorher erwähnten Klagen, zuweilen ſtatt finden konnte,
nämlich wenn der Betrug beſonders liſtig verſteckt war;
ſelbſt dieſe Ausnahme ſollte jetzt wegfallen (i).
E. Die Reſtitutionsfriſt dauerte früher Ein Jahr, wel-
ches bey Minderjährigen genau von ihrer Volljährigkeit
an berechnet wurde (k), bey Abweſenden von der Wieder-
kehr, alſo bey Allen ohne Rückſicht auf die erlangte Kennt-
niß. Dieſelbe Berechnungsweiſe iſt natürlich auch auf die
im neueſten Recht beſtimmten Vier Jahre übertragen
worden (l).
F. Die actio Pauliana dauert Ein Jahr lang, wel-
ches von der unredlichen Veräußerung des Schuldners an
„Optimum duximus, non ex eo
die, quo se quisque admissum
dolum didicisse commemorave-
rit, neque intra anni utilis tem-
pus, sed potius ex eo die, quo
adseritur commissus dolus in-
tra continuum biennium de dolo
actionem moveri” …
(i) Man könnte dieſes Letzte
für zu hart halten, um es an-
nehmbar zu finden, es paßt aber
völlig zu dem übrigen Inhalt die-
ſes Geſetzes, welches ja auch ganz
unerhörterweiſe nicht blos die An-
ſtellung der Klage, ſondern die
Beendigung des Prozeſſes, auf
die Zeit von zwey Jahren be-
ſchränkt. Praktiſch wird die eine
und die andere Härte dadurch ſehr
gemildert, daß dreyßig Jahre lang
eine actio in factum fortdauert
inſoweit der Betrüger Vortheil
durch den Betrug erlangt hat.
L. 28. 29 de dolo (4. 3.).
(k) L. 19 de minor. (4. 4.).
(l) L. 7 C. de tempor. in int.
rest. (2. 53.).
|0428 : 416|
Beylage VIII.
gerechnet wird, alſo nicht von der erlangten Kenntniß des
Glaubigers (m).
G. Die Anklage aus der Lex Julia de adulteriis ver-
jährte bey beiden Geſchlechtern in Fünf Jahren von der
Zeit des begangnen Verbrechens an; außerdem bey Frauen
auch noch in Sechs Monaten. Dieſe Sechs Monate wa-
ren ein utile tempus, und wurden dennoch berechnet, bey
Wittwen von der That an, bey Ehefrauen von der Schei-
dung an; in beiden Fällen alſo ganz ohne Rückſicht auf die
Kenntniß, die der Ankläger von der That haben mag (n).
In den Fällen nun, worin eine begünſtigende Berech-
nung als Ausnahme eintreten ſoll, könnte man zweifeln,
ob dieſe ganz von ſelbſt eintrete, oder nur vermittelſt ei-
ner Reſtitution. Nach den Ausdrücken mehrerer Stellen
(Note d und g) dürfte wohl das erſte angenommen wer-
den, womit jedoch eine vorgängige Cognition des Prä-
tors (Note c) wohl vereinbar iſt. Auch würde wenig-
ſtens die Anordnung einer Reſtitution hier gar nicht prak-
tiſch fühlbar geweſen ſeyn. Denn das Wichtigſte bey der
Reſtitution war die Einſchränkung auf Ein Jahr; in jenen
(m) L. 6 § 14 L. 10 § 18 quae
in fraud. (42. 8.).
(n) L. 29 § 5 ad L. Jul. de
adult. (48. 5.), L. 1 § 10 ad Sc.
Turp. (48. 16.). — Bey Witt-
wen wurden die Fünf Jahre ſtets
abſorbirt von den Sechs Mona-
ten, weil beide Zeiträume denſel-
ben Anfangspunkt haben; bey Ehe-
frauen kann bald die eine, bald
die andere Verjährung vortheil-
hafter ſeyn, und die Frau hatte
zwiſchen beiden die Wahl. L. 29
§ 5 cit. — Alles Dieſes übrigens
gehört nur dem ältern Recht an;
ſpäterhin wurde dieſe ſechsmonat-
liche Verjährung ganz aufgeho-
ben, und die fünfjährige für die
einzige erklärt. L. 28 C. ad L.
J. de adult. (9. 9.).
|0429 : 417|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Fällen aber wäre das Reſtitutionsjahr mit der einjähri-
gen Klagverjährung völlig zuſammen gefallen, da beide
von der Zeit der erlangten Kenntniß an gerechnet werden
mußten. Dagegen iſt es ſehr wichtig ſich davon zu über-
zeugen, daß nicht noch neben jenen ſtrengen Bedingungen
der Ausnahme, alſo in Ermanglung derſelben, eine Reſti-
tution gegen die einjährige Klagverjährung blos auf den
Grund des (nicht unüberwindlichen) Irrthums ſtatt finden
konnte. Wer die angeführten Stellen unbefangen betrach-
tet, kann wohl nicht an eine ſolche Reſtitution denken;
ohnehin wäre die Unterſcheidung einer ſolchen Reſtitution
von der ohne dieſelbe eintretenden günſtigen Berechnung
viel zu kleinlich und unpraktiſch geweſen, als daß wir ſie
bey den Römiſchen Juriſten vorausſetzen dürften.
Allein alles hier Geſagte darf blos auf die Fälle be-
zogen werden, worin der Irrthum allein, als ſolcher, die
Anſtellung der Klage verhindert. Anders iſt es, wenn
man den Beklagten nicht kennt, oder nicht verklagen kann
weil derſelbe entflohen oder verborgen iſt. Denn nun iſt
eine vom Irrthum ganz unabhängige wahre Unmöglichkeit
der Klage vorhanden, die den Lauf des utile tempus an
ſich ausſchließt (o).
(o) L. 1 de div. temp. praescr.
(44. 3.). So z. B. iſt die actio
vi bonorum raptorum einjährig
(L. 3. 4 pr. vi bon. rapt. 47. 8.).
Sind die Räuber entflohen, ſo
läuft keine Verjährung. Eben ſo
wäre es mit der actio furti, wenn
man, wie gewöhnlich, gar nicht
weiß wer der Dieb iſt; allein da-
von kann deswegen nicht die Rede
ſeyn, weil dieſe Klage 30 Jahre
dauert.
III. 27
|0430 : 418|
Beylage VIII.
XXVII.
Bisher iſt gezeigt worden, daß die Klagverjährung zu
laufen anfängt von dem äußern Ereigniß an, welches die
Klage begründet, ohne Rückſicht auf die mögliche Unwiſ-
ſenheit des Klägers über dieſes Ereigniß; und zwar bey
den Verjährungen mit tempus continuum ganz allgemein,
bey denen mit utile tempus unter Vorbehalt einer ſeltenen
Ausnahme (Num. XXV. XXVI.). Es bleibt nun noch die
Frage übrig, ob nach Ablauf einer ſolchen durch Unwiſſen-
heit veranlaßten Verjährung, dem früher Unwiſſenden durch
Reſtitution geholfen werde. Eine ſolche Reſtitution würde
wichtig ſeyn für die einjährigen Verjährungen, ſobald die
Bedingung der begünſtigenden Ausnahme fehlt; weit wich-
tiger noch für die übrigen, weil bey dieſen überhaupt keine
Ausnahme vorkommt.
Dieſe Frage aber nimmt wieder zwey verſchiedene Ge-
ſtalten an, indem die Reſtitution gedacht werden könnte
entweder wegen des Irrthums oder der Unwiſſenheit an
ſich, die alſo ſelbſt der Reſtitutionsgrund wäre: oder aber
wegen eines anderen, allgemeineren Reſtitutionsgrundes,
der dann die nachtheiligen Folgen der Unwiſſenheit hin-
wegnehmen würde.
Zuerſt alſo: Wird der Kläger ſchon aus dem Grund
allein reſtituirt, weil er aus Unbekanntſchaft mit dem Klag-
recht die Verjährung ablaufen ließ? Sind die bisher auf-
geſtellten Sätze richtig, ſo kann die Verneinung dieſer
|0431 : 419|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Frage keinen Zweifel haben. Sie folgt aus dem prakti-
ſchen Bedürfniß der Klagverjährung, deren wohlthätige
Wirkſamkeit durch dieſe Art der Reſtitution nicht minder
entkräftet werden würde, als durch die oben widerlegte
anfängliche Berechnung der Verjährung (Num. XXV.).
Sie folgt aber noch nothwendiger aus der Art, wie das
Römiſche Recht die einjährige, mit utile tempus verſehene
Verjährung behandelt. Daß bey dieſer eine Reſtitution
wegen Unwiſſenheit nicht gegeben wird, iſt bereits gezeigt
worden (Num. XXVI.). Daraus aber folgt unwiderſprech-
lich, daß ſie noch weit weniger bey den längeren Verjäh-
rungen gelten kann, die auf ein continuum tempus ange-
wieſen ſind. — Dennoch haben Viele der angeſehenſten
Rechtslehrer dieſe Reſtitution in Schutz genommen; Manche
ganz allgemein, Andere nur mit Ausnahme der dreyßigjäh-
rigen Verjährung (a). Alle dieſe Schriftſteller unterlaſſen
es, die Frage in dem hier dargeſtellten Zuſammenhang
aufzufaſſen, durch welchen ich ſie insgeſammt für widerlegt
halte. Daneben ſetzen ſie ſtillſchweigend voraus eine unbe-
ſchränkte Anwendbarkeit der Reſtitution aus Irrthum auf
alle denkbare Fälle; ſie ſelbſt ſuchen dieſe Vorausſetzung
mit Nichts zu begründen, und im Widerſpruch mit derſel-
ben iſt ſchon oben (Num. II.) bemerkt worden, daß die
(a) Cocceji Lib. 4 Tit. 6 qu.
4, Thibaut Beſitz und Verjäh-
rung § 73, Unterholzner Ver-
jährungslehre § 137 Num. 4,
Burchardi Wiedereinſetzung
S. 188. Sehr gut wird die ent-
gegengeſetzte Anſicht vertheidigt
von Emminghaus zu der ange-
führten Stelle von Cocceji ed.
Lips. 1791.
27*
|0432 : 420|
Beylage VIII.
Reſtitution aus Irrthum kein allgemeines Rechtsmittel iſt,
ſondern nur eine ziemlich beſchränkte Aushülfe darbietet
für einzelne genau beſtimmte Fälle. Und dieſe Behauptung
ſteht wieder mit unſrer Grundanſicht vom Irrthum (Num.
VI.) in ſo unzertrennlicher Verbindung, daß ſie mit der-
ſelben ſtehen und fallen muß.
Zweytens: Kann der Kläger, der aus Unwiſſenheit eine
Verjährung ablaufen ließ, gegen dieſen Verluſt durch all-
gemeine Reſtitutionsgründe, wie Minderjährigkeit, Abwe-
ſenheit u. ſ. w. geſchützt werden? Die Bejahung dieſer
Frage könnte, eben wegen der allgemein umfaſſenden Na-
tur jener Gründe keinen Zweifel haben, wenn nicht be-
ſondere geſetzliche Beſtimmungen gerade über dieſe Frage
vorhanden wären, deren Inhalt nunmehr dargeſtellt wer-
den ſoll.
A. Gehört die Klage zu einem ſogenannten peculium
adventitium ordinarium, ſo daß der eigentlich Klagberech-
tigte auf die Ausübung ſeiner Rechte keinen Einfluß hat,
ſo iſt während dieſes Rechtszuſtandes die Klagverjährung
ipso jure gehemmt, ſo daß es keiner Reſtitution bedarf.
Es iſt dabey gleichgültig, ob die Klage einer einjährigen
oder einer dreyßigjährigen Verjährung unterworfen iſt (b).
B. Völlig daſſelbe gilt, wenn der Klagberechtigte noch
unmündig iſt, ſolange dieſer perſönliche Zuſtand dauert (c).
C. Daſſelbe Recht, nur in einer beſchränkteren Anwen-
(b) L. 1 § 2 C. de annali
except. (7. 40.).
(c) L. 3 C. de praescr. XXX.
(7. 39.).
|0433 : 421|
Irrthum und Unwiſſenheit.
dung, gilt, ſolange der Klagberechtigte minderjährig iſt.
Es gilt dieſes nämlich bey denjenigen Verjährungen, welche
weniger als dreyßig Jahre dauern, ſo daß dabey der Min-
derjährige keiner Reſtitution bedarf (d).
Für alle übrige Fälle muß unterſchieden werden die
dreißigjährige Verjährung von den kürzeren, wobey alſo
die einjährige und zwanzigjährige ganz auf gleicher Linie
ſtehen. Bey der dreyßigjährigen iſt jede anderwärts gel-
tende Reſtitution völlig ausgeſchloſſen, und dieſer Satz ent-
hält eine poſitive Ausnahme von allgemeineren Rechtsre-
geln. Bey den kürzeren iſt gar nichts Poſitives vorge-
ſchrieben, ſo daß hier die gewöhnlichen Regeln der Reſti-
tution unbeſchränkt zur Anwendung kommen. Der erſte
Satz iſt in hohem Grade beſtritten (e); bey dem zweyten
kommt ein ſolcher Streit nicht vor.
Gegen die dreyßigjährige Klagverjährung alſo ſollen
auch Diejenigen keine Reſtitution erhalten, die gegen jeden
anderen Nachtheil reſtituirt werden, namentlich die Min-
(d) L. 5 C. in quib. causis
(2. 41.). — Voet IV. 4 § 29
behauptet, die Minderjährigen
müßten in dieſer Hinſicht gleiches
Recht mit den Unmündigen ha-
ben, weil ſie gleich dieſen unter
Tutoren ſtänden. Allein die Un-
terordnung unter Tutoren hin-
dert ſie nicht, zugleich ſelbſt von
ihren Geſchäften Kenntniß zu neh-
men. Auch zu Juſtinians Zeit
wurde ihr Vermögen nicht von
ihnen ſelbſt, ſondern von Cura-
toren verwaltet, und doch ſollten
ſie der dreißigjährigen Verjährung
völlig unterworfen ſeyn.
(e) Die hier vorgetragene Mey-
nung wird vertheidigt von Thi-
baut Beſitz und Verjährung § 65.
73, und Unterholzner Verjäh-
rungslehre § 136; die entgegen-
geſetzte von Burchardi Wieder-
einſetzung S. 136.
|0434 : 422|
Beylage VIII.
derjährigen. Der Beweis liegt in folgenden Worten der
L. 3 C. de praescr. XXX. (7. 39.):
non sexus fragilitate, non absentia, non militia contra
hanc legem defendenda, sed pupillari aetate duntaxat,
quamvis sub tutoris defensione consistat, huic eximenda
sanctioni. Nam cum ad eos annos pervenerint, qui ad
sollicitudinem pertinent curatoris, necessario eis simili-
ter ut aliis, annorum triginta intervalla servanda sunt.
Der Sinn dieſer Worte iſt folgender. Von der dreißig-
jährigen Verjährung ſind ipso jure frey (ſo daß ſie keiner
Reſtitution bedürfen), die Unmündigen (huic eximenda
sanctioni) (f). Alle übrigen dagegen ſollen nicht einmal
Reſtitution erhalten (contra hanc legem defendenda), noch
viel weniger alſo ipso jure frey ſeyn; in dieſer Hinſicht
ſollen die Minderjährigen ganz auf gleicher Linie ſtehen
mit den Frauen, Abweſenden, und Soldaten. — Hätten
wir blos den wörtlichen Gegenſatz von eximenda und de-
fendenda vor uns, ſo würde dieſer in einer Conſtitution
aus ſo ſpäter Zeit nicht völlig entſcheiden; der Verfaſſer
hätte eine nichtsſagende Abwechslung der Ausdrücke als
Zierlichkeit der Rede anbringen koͤnnen. Allein folgende
Gründe nöthigen uns, dieſe Ausdrücke in dem beſtimmte-
ren Sinn zu nehmen, welcher oben in unſrer Erklärung
vorausgeſetzt iſt. Erſtlich will der Geſetzgeber offenbar
(f) Daß nur dieſe ipso jure
Befreyten, und nicht auch die
filiifamilias (Note b) hier genannt
werden, erklärt ſich hiſtoriſch.
Das im Text abgedruckte Geſetz
iſt von Theodoſius II., die Be-
freyung der filiifamilias hat erſt
Juſtinian hinzugefügt.
|0435 : 423|
Irrthum und Unwiſſenheit.
einen ſtarken praktiſchen Unterſchied anordnen zwiſchen den
Pupillen und Minderjährigen. Nun iſt aber der Unter-
ſchied zwiſchen Befreyung ipso jure und durch Reſtitution
ungleich geringer, als der zwiſchen Befreyung überhaupt
und Nichtbefreyung. Der Geſetzgeber konnte alſo unmoͤg-
lich jenen geringeren Unterſchied mit Wichtigkeit behandeln,
und den größeren mit Stillſchweigen übergehen, alſo zwei-
felhaft laſſen; er konnte nicht von den Minderjährigen ſa-
gen, ſie ſeyen ſtrenge an die Beobachtung der 30 Jahre
gebunden, wenn ſie ſich von dieſer Strenge ſogleich wieder
durch Reſtitution los machen konnten. Zweytens zeigt der
ganze Ausdruck, daß der Geſetzgeber etwas Neues, Uner-
wartetes anordnen wollte, Etwas das ohne dieſe Vorſchrift
nicht ſo geweſen ſeyn würde. Dieſes paßt ganz zu unſrer
Erklärung, denn die hier zuſammen geſtellten Perſonen hat-
ten in der That einen ſehr ausgedehnten Anſpruch auf
Reſtitution, der ihnen unzweifelhaft auch gegen die dreißig-
jährige Verjährung geholfen haben würde, wenn nicht hier
die Reſtitution ausdrücklich verboten worden wäre. Zu
der entgegengeſetzten Erklärung paßt jener Ausdruck gar
nicht, da Niemand daran denken konnte, den Frauen u. ſ. w.
gegen die dreyßigjährige Verjährung eine Befreyung ipso
jure zu geben, die ſie ſelbſt gegen kürzere Verjährungen
niemals gehabt hatten (g).
(g) Burchardi S. 136 ſtellt
dagegen die Behauptung auf, die
Abweſenden und Soldaten hätten
allerdings oft ipso jure Befreyung
gehabt, und er führt zum Beweiſe
mehrere Stellen an, die in der That
nicht ausdrücklich von Reſtitution
ſprechen. Allein es iſt eine ganz
|0436 : 424|
Beylage VIII.
Der zweyte oben aufgeſtellte Satz war der, daß gegen
alle kürzere als dreyßigjährige Verjährungen jede an ſich
begründete Reſtitution geltend gemacht werden könne, wo-
durch dann auch der Nachtheil aus der Unwiſſenheit ab-
gewendet werde, die nur nicht als ein ſelbſtſtändiger Re-
ſtitutionsgrund angeſehen werden darf. Dieſen zweyten
Satz haben wir nicht, ſo wie den erſten, gegen den Wi-
derſpruch Anderer zu vertheidigen, ſondern nur in unſren
Rechtsquellen als anerkannt und vielfältig angewendet nach-
zuweiſen. Darüber iſt voraus im Allgemeinen zu bemer-
ken, daß auch diejenigen Stellen von dieſer Reſtitution
verſtanden werden müſſen, welche bey Abweſenden u. ſ. w.
nur überhaupt die Befreyung von der Verjährung erwäh-
nen, ſelbſt wenn darin die Reſtitution nicht namentlich
angegeben wird (Note g). Die vorkommenden Fälle ſelbſt
ſind folgende.
1. Abweſenheit ſchützt gegen die vierjährige Verjährung
der Regreßklage gegen den Fiscus, der die Sache des Ab-
weſenden veräußert hat (h).
verwerfliche Interpretation, aus
jeder etwas unbeſtimmt redenden
Stelle (beſonders wenn es ein
Reſcript iſt) ſogleich einen iſolir-
ten Rechtsſatz zu machen, da wo
ſich die Zurückführung auf ein
ſonſt ſchon bekanntes Princip ſo
ungezwungen darbietet. Zudem
ſtehen in der Reihe jener befrey-
ten Perſonen auch die Frauen;
bey dieſen aber hat Burchardi
auch nicht einmal den Schein ei-
ner früheren Befreyung ipso
jure, ſo wie bey Abweſenden,
hervorzubringen vermocht.
(h) L. 5 C. de rest. mil.
(2. 51.) „Neque … praescrip-
tionem quadriennii .. obesse
manifestum est,” nämlich eben
wegen der Reſtitution, worauf
ſogar in den hier ausgelaſſenen
Worten ausdrücklich hingewieſen
wird. Burchardi S. 136 ver-
ſteht es dennoch von der Befreyung
|0437 : 425|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Ferner gegen die Verjährung einer öffentlichen An-
klage (i).
Ferner gegen die einjährige Verjährung des Interdicts
quod vi (k).
Ferner gegen die longi temporis praescriptio (l).
2. Die Abhaltung durch Amtsgeſchäfte (ſie mag mit
Abweſenheit verbunden ſeyn oder nicht) ſchützt gegen die
Verjährung der doli actio (m).
3. Wer die Klage, die er gegen einen Pupillen hat,
gegen den falsus tutor anſtellt, und darüber die Verjäh-
rung ablaufen läßt, hat die Wahl zwiſchen der Reſtitution
und dem Regreß gegen den Tutor; die erſte gilt allgemein,
der Regreß nur wenn der Tutor in mala fide war (n).
4. Minderjährige würden dieſe Reſtitution haben, wenn
ſie nicht von Juſtinian die günſtigere Befreyung ipso jure
ipso jure. Der ganze Titel han-
delt aber von der Reſtitution.
(i) L. 44 pr. ex quib. causis
maj. (4. 6.) „.. non perimitur,”
nämlich mit Hülfe der Reſtitution,
von welcher ja der ganze Titel
handelt.
(k) L. 15 § 6 quod vi (43. 24.).
(l) L. 1. 2. 4. 6. 8 C. quibus
non objicitur (7. 35.). In eini-
gen dieſer Stellen wird deutlich
genug auf die Reſtitution hinge-
wieſen, in anderen iſt der Aus-
druck unbeſtimmter; ohne Zweifel
aber kann dieſe ganz zufällige
Abwechslung des Ausdrucks eine
verſchiedene Auslegung dieſer we-
ſentlich übereinſtimmenden Re-
ſcripte nicht rechtfertigen. — Die
L. 8 cit. ſteht nochmals im Codex
als L. 8 C. de rest. mil. (2. 51.).
(m) L. 3 C. de dolo (2. 21.).
(n) L. 1 § 6 L. 7 pr. quod
falso (27. 6.) enthalten das Prin-
cip des Wahlrechts überhaupt,
L. 10 eod. enthält die Anwen-
dung der Regreßklage auf den
Fall der erlittenen Klagverjäh-
rung. Die Reſtitution gegen die
Klagverjährung iſt eben ſo un-
zweifelhaft; die alten Juriſten
haben ſie wohl deswegen nicht
beſonders erwähnt, weil ſie zu
ihrer Zeit mit der Reſtitution
gegen die Klageconſumtion (Num.
XIX.) zuſammen fiel.
|0438 : 426|
Beylage VIII.
erhalten hätten (o). Vor dieſem Geſetz hatten ſie die Re-
ſtitution unzweifelhaft; eben ſo auch die Pupillen vor dem
Geſetz von Theodoſius II.
5. Kirchen ſollen adversus lapsum temporis reſtituirt
werden (p). Da dieſelben jedoch im Allgemeinen die Rechte
der Minderjährigen haben (q), ſo müſſen ſie bey der Klag-
verjährung theils ipso jure geſchützt ſeyn, theils auch nicht
einmal durch Reſtitution. Daher kann ihre oben erwähnte
Reſtitution gar nicht auf die Klagverjährung bezogen wer-
den, ſondern auf andere Zeitverſäumniſſe, namentlich auf
die bey den Prozeßfriſten (r).
Es iſt alſo überhaupt die Reſtitution gegen Klagver-
jährungen von ſehr beſchränkter Anwendung, ja die Ab-
weſenheit iſt eigentlich die einzige etwas umfaſſende Ver-
anlaſſung derſelben. Und nicht nur die Abweſenheit des
Klägers kann ſie veranlaſſen, ſondern auch die des Be-
klagten. Zwar bey den einjährigen Klagen (mit utile
tempus) würde es einer Reſtitution nicht einmal bedürfen,
weil die Tage der Abweſenheit, wegen der fehlenden ex-
periundi potestas, ohnehin nicht mitgezählt werden. Allein
bey den Verjährungen von Zwey, Vier, Fünf, Zehen,
Zwanzig Jahren kann dieſe Reſtitution eine wichtige und
billige Hülfe gewähren.
(o) S. o. Note d. — Daraus
erklärt es ſich wohl, daß in den
Digeſten ſo wenig von dieſer Re-
ſtitution die Rede iſt. Ich finde
ſie nur einmal erwähnt, in L. 15
§ 6 quod vi (43. 24.).
(p) Clem. un. de restit. (1. 11.).
(q) C. 1. 3 X. de in int. rest.
(2. 41.).
(r) Unterholzner Verjäh-
rungslehre § 136.
|0439 : 427|
Irrthum und Unwiſſenheit.
XXVIII.
Ich faſſe das hier Dargeſtellte kurz zuſammen. Gegen
die Verſäumniß der Friſt zur Bonorum Possessio ſchützt
der factiſche Irrthum, nicht der Rechtsirrthum, außer bey
gänzlichem Mangel an Bildung (Num. XXIV.). — Die
Klagverjährung wird in der Regel berechnet von der Ent-
ſtehung des Klagrechts an, ohne Rückſicht auf die Be-
kanntſchaft des Klägers mit ihrem Daſeyn (Num. XXV.).
Dieſes letzte leidet eine Ausnahme bey den einjährigen
Klagen, vorausgeſetzt daß durch beſondere Umſtände die
Unbekanntſchaft des Klägers unüberwindlich war (Num.
XXVI.). Außerdem ſind manche Perſonen gegen die Klag-
verjährung (alſo auch gegen den dieſelbe veranlaſſenden
Irrthum) ipso jure, ohne Reſtitution geſchützt: nämlich
filiifamilias und Pupillen allgemein, Minderjährige gegen
die Verjährungen die weniger als dreyßig Jahre dauern.
Endlich gilt jede gewöhnliche Reſtitution auch gegen die
Klagverjährungen unter dreißig Jahren: gegen die drey-
ßigjährige gilt gar keine Reſtitution (Num. XXVII.).
XXIX.
Nachdem die wichtigſten Fälle der Unterlaſſungen, wo-
bey der Irrthum von Einfluß ſeyn kann, betrachtet wor-
den ſind (Num. XXIV. XXV. u. fg.), bleiben jetzt nur noch
folgende zu erwägen übrig.
V. Wer es zur Zeit des älteren Prozeſſes unterließ,
|0440 : 428|
Beylage VIII.
zugleich mit einer angeſtellten Klage die Beweisurkunden
einzureichen, ſollte dieſe nachher nicht mehr gebrauchen
dürfen. Gegen dieſen Nachtheil erhielten Reſtitution die
Minderjährigen, Frauen, und ſehr ungebildete Menſchen (a).
VI. Gegen die unterlaſſene Einwendung einer perem-
toriſchen Einrede wurde im älteren Prozeß allgemein Re-
ſtitution ertheilt; bey dilatoriſchen Einreden war es be-
ſtritten (b).
VII. Wenn eine ſchwangere Frau nach aufgelöſter Ehe
die vorgeſchriebenen Formen wegen der künftigen Geburt
aus Unkunde verſäumt, ſo wird ihr dieſes nachgeſehen (c).
VIII. Der Erbe, der es unterläßt, die Moͤrder ſeines
Erblaſſers gerichtlich zu verfolgen, verliert ſein Erbrecht,
und ſelbſt die Klagen, die ihm durch Confuſion verloren
giengen, werden ihm nicht reſtituirt. Unterläßt er es aber
aus factiſcher Unwiſſenheit über den Hergang, ſo bekommt
er Reſtitution gegen dieſe Confuſion, nicht gegen den Ver-
luſt des Erbrechts (d).
IX. Wenn ein Teſtament die Erfüllung einer Bedin-
gung vor einem beſtimmten Tage vorſchreibt, der Erbe
oder Legatar aber dieſe Bedingung deswegen nicht erfuhr,
(a) L. 1 § 2—5 de edendo
(2. 13.). Vgl. Schulting enar-
ratio Lib. 2 Tit. 13 § 13. Bur-
chardi Wiedereinſetzung S. 184.
— Unrichtig erklärt dieſe Stelle
Noodt ad Pand. II. 13.
(b) Gajus Lib. 4 § 125. Vgl.
Burchardi Wiedereinſetzung
S. 185.
(c) L. 2 § 1 de inspic. ventre
(25. 4.).
(d) L. 8. 17 de his quae ut
ind. (34. 9.), L. 29 § 1. 2 de j.
fisci (49. 14.), L. 21 § 1 de Sc.
Silan. (29. 5.). Vgl. Burchardi
Wiedereinſetzung S. 390.
|0441 : 429|
Irrthum und Unwiſſenheit.
weil die Eröffnung des Teſtaments wegen einer geſetzlichen
Vorſchrift verſchoben wurde, ſo wird gegen die Unterlaſ-
ſung rechtzeitiger Erfüllung Reſtitution gegeben (e).
X. Endlich werden die Prozeßfriſten in der Regel, und
ohne daß es dabey einer Reſtitution bedarf, von dem Zeit-
punkt an berechnet, in welcher der Partey die ihren An-
fang beſtimmende Thatſache bekannt geworden iſt, ſo daß
ſie in dieſer Hinſicht wie die Bonorum Possessio, und nicht
wie die Klagverjährung, behandelt werden. In dieſer Be-
ziehung iſt auch die Excuſationsfriſt gegen eine uns ange-
fallene Vormundſchaft, ganz wie eine Prozeßfriſt zu be-
handeln (f).
XXX.
Im Laufe dieſer Unterſuchung ſind viele Fälle vorge-
kommen, in welchen der Irrthum bey gewiſſen Klaſſen von
Perſonen günſtiger als bey allen Übrigen behandelt wurde.
Es gehören dahin:
Minderjährige, Frauen, Ungebildete (Rusticitas), Sol-
daten.
Indem dieſe jetzt einzeln betrachtet werden ſollen, iſt
es nöthig, neben jener gemeinſchaftlichen Begünſtigung,
(e) L. 3 § 31 de Sc. Silan.
(29. 5.). Vgl. Burchardi Wie-
dereinſetzung S. 185.
(f) § 16 J. de excus. (1. 25.),
L. 13 § 9 eod. (27. 1.), L. 6 C.
eod. (5. 62.) Fragm. Vatic.
§ 156. — Über die Prozeßfriſten
vgl. u. a. L. 1 § 15 quando ap-
pell. (49. 4.).
|0442 : 430|
Beylage VIII.
zugleich die eigenthümliche Natur jeder Klaſſe ſorgfältig
im Auge zu behalten.
Die Minderjährigen haben bekanntlich einen allge-
meinen Anſpruch auf Reſtitution gegen alles Thun oder
Laſſen, welches ihnen im erlaubten Rechtsverkehr (alſo
abgeſehen von Verletzungen) Nachtheil bringen kann. Die-
ſer allgemeine Grundſatz hat die wichtigſten Folgen auch
in Beziehung auf den Irrthum. Volljährige werden in
der Regel nicht gegen den aus ihrem Irrthum entſtehen-
den Nachtheil geſchützt, ſondern nur in beſonders beſtimm-
ten Fällen (Num. VI.): Minderjährige allgemein (a). Bey
Volljährigen wird der Schutz gegen Irrthum ausgeſchloſ-
ſen durch beſondere Nachläſſigkeit, und deshalb in der Re-
gel bey jedem Rechtsirrthum: Minderjährige dürfen ſich
auch auf den Rechtsirrthum berufen (b). Bei Volljährigen
deutet der Schutz gegen Irrthum darauf hin, daß durch
wiſſentliches Handeln jeder Schutz ausgeſchloſſen ſeyn ſoll:
Minderjährige werden auch in dieſem Fall geſchützt.
Folgende Anwendungen dieſer Grundſätze werden aus-
drücklich erwähnt: Wenn der Minderjährige einem filius-
familias Geld als Darlehen giebt (Num. XIII.), wenn er
einen untauglichen Bürgen zur Prozeßcaution annimmt
(Num. XIX. Note d.), und wenn er die Friſt einer Bono-
(a) L. 8 C. de in int. rest. min.
(2. 22.), interpolirt aus L. 3 C.
Th. de int. rest. (2. 16.) ſ. u.
Num. XXXI.
(b) L. 9 pr. h. t., L. 11 C.
h. t., interpolirt aus L. 3 C. Th.
de sponsal. (3. 5.).
|0443 : 431|
Irrthum und Unwiſſenheit.
rum Possessio verſäumt (Num. XXIV.). Es hat aber
durchaus keinen Zweifel, daß ſie auch in allen anderen,
nichterwähnten, Fällen gelten müſſen, ſo daß alſo gewiß
ein Minderjähriger uſucapiren kann, auch wenn ſein Be-
ſitztitel mit einem Rechtsirrthum in Verbindung ſteht.
Es iſt jedoch wohl zu bemerken, daß dieſe Beguͤnſti-
gung bey dem Irrthum, ſo wie die Reſtitution überhaupt,
nur auf den erlaubten Verkehr zu beziehen iſt. Auf De-
licte geht Beides nicht, hier wird überhaupt keine Reſti-
tution gegeben, und der Minderjährige kann ſich alſo auch
nicht durch die Unbekanntſchaft mit dem Strafgeſetz ent-
ſchuldigen (c). Dieſe Regel gilt ohne Unterſchied der do-
loſen und culpoſen Delicte, ja auch bey dem in Contracten
begangenen Dolus, da dieſer eine delictenähnliche Natur
hat (d). Jedoch gilt ſie nur für diejenigen Rechtsverletzun-
gen, deren Strafbarkeit ſchon dem natürlichen Rechtsgefühl
einleuchtet, nicht auf die welche eine mehr poſitive Natur
haben (Num. XX.). Daher ſollte der Minderjährige frey
ſeyn von der Strafe des incestus juris civilis und der
übertretenen Zollgeſetze, ſo wie die minderjährige Frau,
(c) L. 9 pr. h. t. „ .. ante
praemisso, quod minoribus vi-
gintiquinque annis jus ignorare
permissum est: quod et in fe-
minis in quibusdam causis prop-
ter sexus infirmitatem dicitur:
et ideo sicubi non est delictum,
sed juris ignorantia, non lae-
duntur.” Die hier curſiv gedruck-
ten Worte müſſen als Parentheſe
gedacht werden, ſo daß der letzte
Satz unmittelbar an den erſten
anſchließt, und auf die Minder-
jährigen geht, nicht auf die Frauen
(vgl. Num. XXXI.). — L. 9 § 2.
3. 4 L. 37 § 1 de minor. (4. 4.),
L. 1 C. si adv. del. (2. 35.).
(d) L. 9 § 2 de minor. (4. 4.).
|0444 : 432|
Beylage VIII.
die ihrem Kind keinen Vormund erbittet, von der Strafe
dieſer Unterlaſſung (Num. XXI.) (e).
XXXI.
Frauen befinden ſich in einer ganz anderen Lage als
Minderjährige. Einen allgemeinen Anſpruch auf Reſtitu-
tion haben ſie überhaupt nicht, alſo auch nicht bey Gele-
genheit des Irrthums. Wenn aber der Fall, worin ihnen
ein Irrthum Nachtheil gebracht hat, ſo geſtaltet iſt, daß
dagegen ohnehin, und ſelbſt Männern, Hülfe gewährt wird,
dann haben die Frauen die Begünſtigung, daß ihnen auch
der Rechtsirrthum, nicht blos wie den Männern der facti-
ſche, zu gut kommen ſoll. Sie gehören alſo auch zu den
Perſonen, quibus jus ignorare permissum est, und das iſt
die einzige Ähnlichkeit, die wir zwiſchen ihnen und den
Minderjährigen annehmen können.
Jedoch iſt hierin noch eine wichtige Veränderung des
Rechts zu bemerken. Urſprünglich war dieſe Begünſtigung
der Frauen in Anſehung des Rechtsirrthums eben ſo un-
beſchränkt als die der Minderjährigen. K. Leo aber hob
dieſelbe im J. 469. als allgemeine Regel auf, und ließ ſie
(e) Von ſolchen Fällen müſſen
denn auch folgende etwas unbe-
ſtimmt beſchränkende Ausdrücke
verſtanden werden: L. 37 § 1 de
minor. (4. 4.) „utique atrocio-
ribus,” L. 1 C. si adv. del. (2.
35.) „Si tamen delictum non
ex animo, sed extra venit …
restitutionis auxilium compe-
tit.” Auf die culpoſen Delicte im
Allgemeinen kann dieſe mildernde
Vorſchrift nicht bezogen werden,
da gerade bey der actio Legis
Aquiliae die Reſtitution ſchlecht-
hin verneint wird (Note d).
|0445 : 433|
Irrthum und Unwiſſenheit.
nur als Ausnahme für diejenigen einzelnen Fälle fortdau-
ern, worin ihre Anwendung in früheren Geſetzen ſpeciell
erwähnt worden war (a). Von dieſer Änderung des Rechts
haben ſich die ſichtbarſten Spuren erhalten theils in In-
terpolationen (b), theils in ſolchen Stellen, worin das frü-
her ausgedehntere Recht nicht ſowohl ausgeſprochen, als
unverkennbar vorausgeſetzt iſt (c). — Nur für Eine Art
(a) L. 13 C. h. t. „Ne passim
liceat mulieribus omnes suos
contractus retractare, in his
quae praetermiserint vel igno-
raverint: statuimus, si per ig-
norantiam juris damnum ali-
quod circa jus vel substantiam
suam patiantur, in his tantum
casibus, in quibus praeterita-
rum legum auctoritas eis suf-
fragatur, subveniri.” Hätten wir
dieſe Stelle allein, ſo könnte man
annehmen, das Recht der Frauen
ſey von jeher ſo beſchränkt ge-
weſen, und die bisher geltende
Rechtsregel ſollte nicht abgeän-
dert, ſondern nur eingeſchärft
werden. Allein die Stellen in
Note b. und c. machen die im
Text dargeſtellte Erklärung nöthig.
(b) L. 3 C. Th. de integri re-
stit. (2. 16.) vom J. 414 „Etmulie-
ribus, et minoribus in his, quae
vel praetermiserint, vel ignora-
verint, innumeris auctoritatibus
constat esse consultum.” Daß
damit eine unbeſchränkte Begün-
ſtigung der Frauen in Beziehung
auf die juris ignorantia gemeynt
war, zeigt theils die unbeſtimmte
Allgemeinheit des Ausdrucks, theils
die Zuſammenſtellung mit den
Minderjährigen, deren Recht oh-
nehin unzweifelhaft iſt. Dieſelbe
Stelle nun lautet im Juſtiniani-
ſchen Codex (L. 8 C. de in int.
rest. min. 2. 22.) wörtlich eben
ſo, nur mit Weglaſſung der drey
erſten Worte (Et mulieribus et),
wobey die Abſicht unverkennbar
iſt, dieſes Recht der Frauen nicht
mehr gelten zu laſſen. — Eine
gleiche Interpolation, nur durch
Zuſetzen anſtatt durch Weglaſſen,
findet ſich in L. 9 pr. h. t. (Num.
XXX. Note c), wo die Worte in
quibusdam causis ganz im Sinn
der Conſtitution des K. Leo, ein-
geſchoben ſind.
(c) L. 3 C. de praescr. XXX.
(7. 39.) ſagt, bey Einführung der
dreyßigjährigen Klagverjährung:
non sexus fragilitate, non ab-
sentia, non militia contra hanc
legem defendenda (ſ. o. Num.
XXVII.) welches offenbar voraus-
ſetzt, daß die hier zuſammenge-
ſtellten Perſonen gegen die bis-
her bekannten kürzeren Verjäh-
rungen Reſtitution haben konnten,
weil es außerdem überflüſſig war,
dieſe Reſtitution für die neu ein-
III. 28
|0446 : 434|
Beylage VIII.
von Rechtsgeſchäften ſollte auch ſchon im älteren Recht
die juris ignorantia den Frauen nicht zu gut kommen, bey
Schenkungen nämlich (d).
Wir haben alſo nunmehr die einzelnen Fälle aufzuſu-
chen, in welchen die Frauen ausnahmsweiſe befugt ſeyn
ſollen, ſich auf ihre Rechtsunwiſſenheit zu berufen, und
worauf der Ausdruck der Conſtitution von Leo (in his tan-
tum casibus), nach dem Inhalt der Juſtinianiſchen
Geſetzgebung, allein noch anzuwenden iſt.
Es gehört dahin die Annahme eines untauglichen Bür-
gen im Prozeß (Num. XIX. Note d.).
Ferner die unterlaſſene Urkundenedition (Num. XXIX.).
Ferner die verſäumte Form, welche nach aufgelöſter
Ehe im Fall der Schwangerſchaft zu beobachten war
(Num. XXIX.).
Ferner die Zahlung einer ſolchen Schuld, gegen welche
ſie durch die exceptio Scti Vellejani geſchützt war, wenn
die Frau dieſes Senatusconſult nicht kannte (e).
geführte längere Verjährung zu
verbieten. Bey den Frauen nun
kann dieſe Reſtitution nichts An-
deres ſeyn, als eine Folge der
ihnen damals allgemein nachge-
ſehenen Rechtsunwiſſenheit. —
Eben dahin gehört die in den
Stellen der folgenden Note er-
wähnte Ausnahme bey Schenkun-
gen, die nur unter Vorausſetzung
der entgegengeſetzten Regel bey
allen anderen Rechtsgeſchäften
Sinn hat. Endlich auch die all-
gemeine Gleichſtellung von rusti-
citas und sexus im L. 2 § 7 de
j. fisci (49. 14.).
(d) L. 11 C. h. t., und die
auf dieſelbe Ausnahme anſpielen-
den Worte ne maribus quidem
in L. 8 h. t. Vgl. über beide
Stellen oben Num. VIII.
(e) L. 9 C. ad Sc. Vell. (4. 29.).
Es iſt dieſes eine einzelne Aus-
nahme von der Regel, welche die
condictio indebiti im Fall des
Rechtsirrthums überhaupt aus-
ſchließt. Donellus will dieſe
Ausnahme auf alle von Frauen
|0447 : 435|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Außerdem aber gehören dahin auch die Fälle des Straf-
rechts, worin die Frau aus Unkunde eines völlig poſitiven
Strafgeſetzes (juris civilis) gefehlt hat. Hierin ſteht die
Frau mit dem Minderjährigen noch jetzt faſt ganz auf
gleicher Linie. Als ſolche Fälle werden namentlich erwähnt:
Incestus juris civilis, Sc. Turpillianum, und das Vergehen
der Frau, welche in ein ihr dictirtes Teſtament Verfügun-
gen zu ihrem eigenen Vortheil aufnimmt; dieſes letzte je-
doch nur unter beſonderen, entſchuldigenden Umſtänden
(Num. XXI.).
Dagegen kommt nun gewiß nicht mehr der Rechtsirr-
thum einer Frau zu gut in folgenden wichtigen Fällen:
Bey dem Titel einer Uſucapion.
Bey der Friſt der Bonorum Possessio (f).
Bey der Friſt der Klagverjährung.
Denn für die dreyßigjährige iſt ihr die Begünſtigung aus-
drücklich unterſagt (Num. XXVII.), für die kürzeren aber
iſt ſie ihr nicht beſonders beygelegt, folglich kann ſie dar-
aus Rechtsirrthum geleiſtete Zah-
lungen ausdehnen (I. 21 § 13),
und er führt zum Beweiſe an
die L. 5 C. de pactis (2. 3.).
Allein die Worte dieſer Stelle
„cum et solutum per ignoran-
tiam repeti potuisset” können
eben ſo gut von einem factiſchen
Irrthum verſtanden werden, be-
weiſen alſo jene ausgedehnte Aus-
nahme nicht.
(f) Hier iſt die Begünſtigung
ausdrücklich verneint in L. 3 C.
h. t., und L. 6 C. qui admitti
(6. 9.). Beide Stellen ſind älter
als die Verordnung des K. Leo.
Ob ſie nun mit Rückſicht auf dieſe
interpolirt ſind (was man ihnen
allerdings nicht anſieht), oder ob
den Frauen von jeher, bey der
B. P. allein, der Rechtsirrthum
weniger als in allen anderen Fäl-
len zu Hülfe kommen ſollte, muß
unentſchieden bleiben. Das Re-
ſultat des neueſten Rechts iſt un-
zweifelhaft.
28*
|0448 : 436|
Beylage VIII.
auf, nach dem Geſetz des K. Leo, keinen Anſpruch mehr
haben, obgleich ſie einen ſolchen vor dieſem Geſetz ohne
Zweifel hatte.
XXXII.
Es iſt ferner zu betrachten der Zuſtand ganz roher,
ungebildeter Menſchen (Rusticitas), deren allgemeine
Unwiſſenheit auch über ihre beſondere Rechtsunkunde kei-
nen Zweifel läßt (a).
Dieſe haben eben ſo wenig, als die Frauen, einen
allgemeinen Reſtitutionsgrund. Ihnen kommt die Rechts-
unwiſſenheit nur in folgenden einzelnen Fällen zu gut.
Bey der verſäumten Friſt der Bonorum Possessio,
wobey ſie gerade den Frauen nicht geſtattet iſt (Num.
XXIV.) (b).
(a) Rusticitas bezeichnet alſo
nicht einen Stand oder ein Ge-
werbe, ſondern einen Geiſteszu-
ſtand, der ſich allerdings vorzugs-
weiſe bey dem abgeſonderten Le-
ben der unterſten Klaſſen auf dem
Lande finden wird. Imperitia iſt
zweydeutiger: Es heißt oft die
Unwiſſenheit im Einzelnen, als
Thatſache, alſo ſo viel als igno-
rantia. Einigemal ſteht es ne-
ben rusticitas (imperitia vel ru-
sticitas, vgl. Num. XXI. Note
h. k und t). Dann heißt es wohl
die allgemeine Rechtsunwiſ-
ſenheit der einzelnen Perſon,
die neben mancher andern Art
von Kenntniß oder Bildung be-
ſtehen kann, und darum von der
umfaſſenderen rusticitas noch ver-
ſchieden iſt. — Vgl. auch Müh-
lenbruch S. 446 fg.
(b) Es iſt wohl nicht zufällig,
daß gerade hierin eine Begünſti-
gung gilt. Verwandtſchaft und
Erbſchaft findet ſich bey jeder Bil-
dungsſtufe, und iſt auch jedem
Stande gleich wichtig. Bey ſehr
ungebildeten Menſchen wird es
aber leicht ſelbſt an der Ahnung
fehlen, daß Formen zu beobach-
ten und Rath einzuholen ſeyn
möchte. Frauen dagegen, die nicht
zu der unterſten Klaſſe gehören,
auch wenn ſie völlig rechtsunkun-
dig ſind, werden doch leichter die
|0449 : 437|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Bey der verſäumten Urkundenedition (Num. XXIX.).
Bey einigen ſtrafbaren Handlungen, deren Strafbar-
keit eine blos poſitive Natur hat; namentlich bey der Ver-
letzung obrigkeitlicher Edicte, Sc. Silanianum, und bey Un-
gehorſam gegen eine in jus vocatio (Num. XXI.).
In anderen Fällen, namentlich bey der Uſucapion und
der Klagverjährung, kann keine Ausnahme zum Vortheil
dieſes Zuſtandes behauptet werden.
XXXIII.
Bey Soldaten kamen zwey verſchiedene Rückſichten
zuſammen, um große Begünſtigungen zu bewirken: die An-
erkennung, daß ſie meiſt durch ihre Beſchäftigung an der
Erwerbung von Rechtskenntniſſen verhindert werden; zu-
gleich aber der Wunſch, durch Privilegien die Neigung
zum Soldatenſtand zu befoͤrdern, wovon ſich ja auch an-
derwärts viele Beyſpiele finden.
Dennoch haben ſie ihres Standes wegen eine allge-
meine Reſtitution, etwa gleich den Minderjährigen, nie
erhalten; in vielen Fällen aber werden ſie an der allge-
meinen Reſtitution der Abweſenden Antheil nehmen, die
ſogar urſprünglich als ein höchſt billiger Schutz der im
Feld ſtehenden Soldaten eingeführt worden iſt.
Dagegen iſt allerdings von den Kaiſern die unverſchul-
dete Rechtsunwiſſenheit der Soldaten im Allgemeinen an-
Wichtigkeit eines Todesfalls inſoweit begreifen, daß ſie um Rath fra-
gen werden.
|0450 : 438|
Beylage VIII.
erkannt worden (a). Indeſſen hat dieſelbe niemals zu ei-
ner allgemeinen Reſtitution der Soldaten wegen Rechts-
unwiſſenheit geführt, ſondern nur zu einzelnen, allerdings
wichtigen, Begünſtigungen, worüber jetzt eine Überſicht
gegeben werden ſoll.
Eine derſelben iſt zu einer regelmäßigen Rechtsform aus-
gebildet worden, und kommt alſo nicht mehr als Reſtitu-
tionsgrund in Betracht; es iſt das Soldatenteſtament, deſ-
ſen privilegirte Gültigkeit ausdruͤcklich durch die Rechts-
unkunde der Soldaten begründet wird (b).
Soldaten werden reſtituirt, wenn ſie die Friſt zur adi-
tio einer hereditas verſäumen (c), oder zur agnitio einer
Bonorum Possessio (d).
Wenn ſie aus Unkunde eine ſehr verſchuldete Erbſchaft
antraten, ſo erhielten ſie dagegen im früheren Recht Re-
ſtitution (e). Dieſe hat Juſtinian dadurch entbehrlich ge-
macht, daß er allgemein, nicht blos für Soldaten, das
Inventarium einführte, wodurch der Erbe von den die
Erbſchaft überſteigenden Schulden frey wird. Für dieſes
(a) L. 22 pr. C. de j. delib.
(6. 30.). „arma etenim magis
quam jura scire milites, sacra-
tissimus Legislator existimavit.
(b) L. 1 pr. de test. mil. (29.
1.). „simplicitati eorum con-
sulendum existimavi.” — pr. J.
de militari test. (2. 11.). „pro-
pter nimiam imperitiam.”
(c) L. 9 § 1 h. t. Ohne Zwei-
fel ſprach die Stelle von einer
cretio, und iſt daher interpolirt.
Im Juſtinianiſchen Recht muß ſie
verſtanden werden von einer Erb-
einſetzung, bedingt durch den An-
tritt innerhalb eines beſtimmten
Zeitraums, alſo dem Weſen nach
der alten cretio ähnlich.
(d) L. 1 C. de restit. mil.
(2. 51.).
(e) § 5 J. de hered. qual. (2.
19.), L. 22 pr. C. de j. delib.
(6. 30.).
|0451 : 439|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Inventarium freylich ſind kurze Friſten vorgeſchrieben; aber
von der Beobachtung dieſer Friſten ſind wieder die Sol-
daten dispenſirt (f).
Bey Strafgeſetzen genießen ſie keine allgemeine Be-
freyung. Ein Soldat, der in ein ihm dictirtes Teſtament
eine Verfügung zu ſeinem Vortheil aufnahm, erhielt Frey-
heit von der Strafe (Num. XXI. Note p).
Über dieſe einzelnen Fälle hinaus zu gehen, iſt ſelbſt
im Juſtinianiſchen Recht kein Grund vorhanden. Für das
heutige Recht aber müſſen wir die Unanwendbarkeit auch
dieſer Beſtimmungen behaupten, da ſie ſich auf die Stel-
lung der Soldaten als eines eigenen Standes bezieht, die
zu den Staatseinrichtungen, alſo zum öffentlichen Rechte,
gehört (g).
Faſſen wir die hier dargeſtellten Klaſſen von Perſo-
nen (Num. XXX — XXXIII.) unter einen gemeinſamen Ge-
ſichtspunkt zuſammen, ſo finden wir, daß ihnen allen mehr
als gewöhnlich die Rechtsunwiſſenheit nachgeſehen, das
heißt daß ſie zu ihrem Vortheil der factiſchen Unwiſſenheit
gleich behandelt wird; jedoch dieſes wieder in verſchiede-
nen Graden, ſo daß ſich eine durchgreifende praktiſche Re-
(f) L. 22 § 15 C. de j. delib.
(6. 30.).
(g) Anders iſt es mit dem Mi-
litärteſtament, wobey nicht blos
der Stand als ſolcher, ſondern
auch die Handlung unter beſon-
deren Umſtänden, in Betracht
kommt, welche Umſtände in un-
ſrer Zeit dieſelben ſind wie bey
den Römern. Ohnehin iſt dieſe
Teſtamentsform in den Deut-
ſchen Reichsgeſetzen ausdrücklich
anerkannt.
|0452 : 440|
Beylage VIII.
gel für die Vier Klaſſen nicht aufſtellen läßt. Aber nicht
blos dieſe Nachſicht muß bey ihnen angewendet werden,
ſondern es liegt dabey auch unzweifelhaft der Gedanke
zum Grunde, daß bey ihnen ſtets die Rechtsunwiſſenheit
als Thatſache vermuthet werde, ſo lange nicht ihre Rechts-
kenntniß beſonders bewieſen werden kann (h).
XXXIV.
Die juriſtiſche Lehre vom Irrthum iſt dadurch nicht
wenig verdunkelt worden, daß man (theilweiſe ſchon in
den alten Rechtsquellen) Fälle in dieſelbe eingemiſcht hat,
die eigentlich außer ihrem Gebiet liegen. Von einer Ein-
wirkung des Irrthums nämlich kann nur da die Rede ſeyn,
wo die gewöhnlichen, regelmaͤßigen Folgen ſolcher juriſti-
ſchen Thatſachen, die auf dem freyen Willen beruhen,
durch das Daſeyn eines Irrthums aufgehoben oder verän-
dert werden, indem der Wille, mit Rückſicht auf dieſen
Irrthum, als ein unvollkommner Wille betrachtet wird
(Num. II.). Iſt aber der Fall, worin ein Irrthum vor-
kam, auch ſchon an ſich ſelbſt ſo geſtaltet, daß es an den
nothwendigen Bedingungen einer juriſtiſchen Thatſache
fehlt, ſo iſt es nicht der Irrthum, der die Folgen derſel-
ben hindert, weshalb es unrichtig iſt, in dieſen Fällen von
einer Einwirkung des Irrthums zu reden, und dieſelben
überhaupt mit den bisher abgehandelten Fällen zuſammen
(h) Dieſe Anſicht iſt deutlich
ausgeſprochen bey dem Minder-
jährigen, der die Zollgeſetze über-
tritt, ſ. o. Num. XXI. Note m.
|0453 : 441|
Irrthum und Unwiſſenheit.
zu ſtellen. Man kann dieſe Fälle als unächten Irrthum
bezeichnen.
Wenn alſo ein Eigenthümer fälſchlich glaubt, ſeine
Sache gehöre einem Andern, und dieſe Meynung auch
wörtlich ausſpricht, ſo ſchadet das ſeinem Eigenthum
nicht (a). Eben ſo wenn er es dadurch ausſpricht, daß
er dem Andern, der dieſelbe Sache gegen einen Dritten
vindicirt, in dieſem Rechtsſtreit Beyſtand leiſtet (b). Eben
ſo, wenn er es durch die That erklärt, indem er dem An-
dern, den er für den Eigenthümer hält, Früchte der Sache
zukommen läßt (c). Der Grund der Unſchädlichkeit liegt
nicht in dem Irrthum, ſondern darin daß dieſe einſeitige
Handlungen ſchon an ſich ſelbſt keine rechtsverbindliche Na-
tur haben.
Wenn der Eigenthümer eines Sklaven dieſen aus Irr-
thum als einen freyen Menſchen anerkennt, ſo wird da-
durch der Sklave nicht frey, und der Eigenthümer oder
deſſen Erben können ihn noch immer in servitutem vindi-
ciren (d). Denn die Freyheit des Sklaven entſteht nur
durch die Freylaſſung in beſtimmten Formen (e), und die
(a) L. 18 C. de rei vind. (3.
32.).
(b) L. 54 de rei vind. (6. 1.).
(c) L. 79 de leg. II. (31. un.).
Hier heißt es „juris ignoratione
lapsi;” und dennoch ſollen ſie ihr
wahres Recht geltend machen
können.
(d) L. 8. 9 C. de jur. et
facti ign, (1. 18.). Dieſe beide
Stellen gehören unter diejenigen,
woraus man die unrichtige allge-
meine Regel gebildet hat, daß
jeder Irrthum den Willen aus-
ſchließe (Num. VII.). Der Aus-
druck derſelben iſt freylich nicht
vorſichtig genug gefaßt.
(e) Allerdings gehörte unter
dieſe Formen auch die unfeyer-
liche manumissio inter amicos,
|0454 : 442|
Beylage VIII.
einſeitige Anerkennung einer ſchon vorhandenen Freyheit iſt
eine gleichgültige, wirkungsloſe Handlung.
Wenn ein Erbe gegen ſeine Miterben eine unvollſtän-
dige Collation vornimmt, indem dieſe ſie für vollſtändig
halten, alſo nicht durch Vertrag das Fehlende erlaſſen,
ſo können dieſelben das Fehlende in der Theilung nach-
fordern, weil jene vorläufige Handlung an ſich nichts
Rechtsverbindliches hat (f). Es iſt alſo wie eine unvoll-
ſtändige Geldzahlung, die man für vollſtändig hält, und
wodurch die Nachforderung des Reſtes nicht ausgeſchloſ-
ſen wird (g).
Wer ein Stück ſeines Vermögens für mütterliches Erb-
gut irrig erklärt, da es in der That väterliches iſt, wird
dadurch nicht gebunden, weil eine ſolche einſeitige Erklä-
rung an ſich nichts Verbindliches hat (h).
Nach altem Recht ſollte der Eheloſe aus einem Teſta-
ment gar Nichts bekommen können, der Kinderloſe nur
die Hälfte des ihm angewieſenen Werthes; das, was ein
und die Berufung auf den Irr-
thum konnte dazu dienen, um die
Behauptung einer ſolchen zu wi-
derlegen. Dann aber ſtand doch
nur die Thatſache in Frage, und
der Grund, warum der Sklave
nicht frey wurde, lag nicht in dem
Irrthum, ſondern darin daß der
Wille des Herrn, den Sklaven
in einen Freyen zu verwandeln,
nicht vorhanden war.
(f) L. 20 pr. fam. hercisc.
(10. 2.).
(g) Wer zu viel zahlt, bedarf
einer condictio indebiti, weil
die Tradition des Geldes Eigen-
thum übertragen hat. Wer zu
wenig annimmt, bedarf weder
einer Klage noch einer Exception,
weil für den nicht gezahlten Theil
der Schuld noch gar nichts juri-
ſtiſch Wirkſames geſchehen iſt.
Nur wenn eine Acceptilation der
ganzen Schuld hinzugekommen
wäre, würde er eine condictio
gebrauchen.
(h) L. 5 C. de jur. et facti
ign. (1. 18.).
|0455 : 443|
Irrthum und Unwiſſenheit.
Solcher nicht erwerben konnte, ſollte in vielen Fällen (ſpä-
terhin immer) dem Fiscus zufallen. Nur wer die ihm
günſtige Verfügung des Teſtaments und ſeine Incapacität
freywillig anzeigte, ſollte zum Lohn für dieſe Offenheit die
Hälfte der dem Fiscus gebührenden Portion erhalten (i).
Hatte er aber aus Irrthum die Anzeige gemacht, obgleich
er in der That nicht unfähig war (k), ſo ſollte ihm dieſe
irrige Anzeige nicht ſchaden, das heißt er ſollte dennoch
alles ihm Zugedachte bekommen, ohne die Hälfte an den
Fiscus abgeben zu müſſen (l). Der Grund lag hier offen-
bar nicht in dem entſchuldigenden Irrthum bey der Dela-
tion, ſondern darin daß der Anſpruch des Fiscus an ſich
gar nicht auf die Delation gegründet war, ſondern auf
die (in einem ſolchen Fall gar nicht vorhandene) Inca-
pacität.
Ein ähnlicher Fall iſt der, wenn Jemand ſeine eigene
Sache, die er für eine fremde hält, aus dem Beſitz eines
(i) L. 13 pr. § 1 de j. fisci
(49. 14.).
(k) Dieſes läßt ſich beyſpiels-
weiſe ſo denken. Das Geſetz ſollte
überhaupt nicht Anwendung fin-
den bey den an nahe Verwandte
angewieſenen Erbſchaften oder Le-
gaten. Nun konnte es geſchehen,
daß ein zum Erben eingeſetzter
Erbe ſich irrig für unfähig hielt,
entweder weil er über die Ver-
wandtſchaft in Unwiſſenheit war,
oder weil er die geſetzliche Be-
günſtigung nicht kannte; das erſte
war ein factiſcher, das zweyte
ein Rechtsirrthum.
(l) L. 13 § 10 de j. fisci (49.
14.), nach Reſcripten dreyer Kai-
ſer. L. 2 § 7 eod., nach com-
plura rescripta. Dann folgt aber
der Zuſatz, nach Einem Reſcript
könnte man behaupten, dieſe Frey-
heit von den Nachtheilen der ir-
rigen Selbſtdelation gelte nur „si
ea persona sit, quae ignorare
propter rusticitatem, vel pro-
pter sexum femininum, jus su-
um possit.” Von dieſem Zuſatz
wird ſogleich weiter die Rede ſeyn.
|0456 : 444|
Beylage VIII.
Andern entwendet, der gar kein Recht (auch nicht ein jus
in re) daran hat, vielleicht ſelbſt durch Diebſtahl in ihren
Beſitz gekommen iſt. Der entwendende Eigenthümer hat
zwar die Abſicht eines Diebſtahls, begeht aber einen ſol-
chen dennoch nicht, weil zum Weſen des Diebſtahls eine
Rechtsverletzung gehört, die hier unmöglich iſt. Es be-
freyt ihn alſo nicht etwa der entſchuldigende Irrthum, ſon-
dern der Umſtand, daß der Begriff des Diebſtahls (das
corpus delicti) gar nicht vorhanden iſt (m).
Unter einen gleichen Geſichtspunkt aber ſind ferner auch
die Fälle zu bringen, welche man als error in corpore
oder in substantia bezeichnet. Bey dieſen iſt gar nicht (ſo
wie bey dem wahren Irrthum) von einem unvollkomme-
nen, und darum oft minder wirkſamen, Willen die Rede,
ſondern vielmehr von einem Mangel an Übereinſtimmung
des Willens ſelbſt, mit der Erklärung des Willens (n).
Ein Beyſpiel wird die Grundverſchiedenheit ſogleich an-
ſchaulich machen. Wenn ein Kaufcontract über den Skla-
(m) Ähnliche Fälle kommen
auch im Prozeß vor. Dabey hängt
Alles von der Frage ab, unter
welchen Bedingungen die Erklä-
rung einer Partey an ſich unver-
bindlich, oder einer Berichtigung
empfänglich iſt, und die Beant-
wortung dieſer Frage kann nicht
aus der allgemeinen Lehre vom
Irrthum, ſondern nur aus den
beſonderen Beſtimmungen des
Prozeßrechts entnommen werden.
Dahin gehören L. 6 § 1 de off.
praes. (1. 18.), L. un. C. ut quae
desunt (2. 11.), L. 1. 2. 3 C. de
error. advoc. (2. 10.), und noch
mehrere andere Stellen.
(n) Vgl. hierüber das Rechts-
ſyſtem § 135. 138. Auf den er-
ror in corpore iſt am Wahr-
ſcheinlichſten zu beziehen L. 116
§ 2 de R. J. (50. 17.), eine der
Stellen, woraus man beweiſen
wollte, daß der Irrthum den Wil-
len überhaupt ganz ausſchließe
(Num. VII.). Vgl. § 136. m.
|0457 : 445|
Irrthum und Unwiſſenheit.
ven Stichus geſchloſſen wird, der Verkäufer aber hat zwey
Sklaven dieſes Namens, und Jeder der Contrahenten denkt
an einen andern Stichus, ſo hat Keiner von Beiden ge-
irrt, vielmehr hat Jeder einen beſtimmten und richtigen
Gedanken gehabt, und es fehlt nur an der Übereinſtim-
mung, die blos ſcheinbar vorhanden war, und über deren
Daſeyn allein Beide irrten. Wir haben alſo nicht zu
thun mit einem geſchloſſenen, wegen des Irrthums unwirk-
ſamen, Vertrag. Vielmehr fehlt das Daſeyn irgend eines
Vertrags gerade ſo, wie wenn Einer einen Vertrag an-
bietet, der Andere verneint, und der Erſte glaubt fälſch-
lich, eine Bejahung gehört zu haben.
Endlich gehören zu dieſem unächten Irrthum auch meh-
rere der ſchon oben abgehandelten Fälle. Wenn nämlich
wegen des Irrthums diejenige Auslegung einer Handlung
verneint wird, wodurch ſie außerdem als ſtillſchweigende
Willenserklärung zu betrachten geweſen wäre (Num. XII.),
ſo wollen wir nicht die regelmäßige Wirkung einer juri-
ſtiſchen Thatſache ausſchließen, ſondern vielmehr das Da-
ſeyn einer ſolchen verneinen, und nur den falſchen Schein
aufdecken, der uns zur Annahme dieſes Daſeyns verleiten
könnte. Ganz eben ſo verhält es ſich in den wichtigen
Fällen, worin wir wegen des Irrthums das Daſeyn eines
Dolus nicht annehmen können, alſo auch, weil derſelbe
gar nicht vorhanden iſt, jede rechtliche Folge deſſelben
ſchlechthin abweiſen müſſen (Num. XX — XXIII.).
Indem ich nun behaupte, daß alle dieſe Fälle des un-
|0458 : 446|
Beylage VIII.
ächten Irrthums aus der Lehre vom Irrthum ſorgfältig
entfernt werden müſſen, könnte man einwenden, dieſes ſey
eine überflüſſige, blos theoretiſche Strenge, da das Re-
ſultat ja doch daſſelbe ſey. Allein das praktiſche In-
tereſſe der Unterſcheidung iſt im Gegentheil ſehr groß.
Die Grundregel des eigentlichen Irrthums iſt die, daß
derſelbe, da wo er überhaupt von Einfluß iſt, dieſen Ein-
fluß dennoch verlieren ſoll, wenn er ein verſchuldeter, na-
mentlich alſo wenn er ein Rechtsirrthum iſt. In allen
hier zuſammen geſtellten Fällen dagegen kann es auf die-
ſen Umſtand durchaus nicht ankommen. Wer alſo durch
eine einſeitige Erklärung an ſeiner Sache das Eigenthum
eines Andern fälſchlich anerkennt, der iſt daran nicht ge-
bunden, auch wenn ein Rechtsirrthum ſeiner falſchen Mey-
nung zum Grunde liegt. In einer der oben angeführten
Stellen iſt dieſes ſogar ausdrücklich anerkannt (Note c).
Allerdings wird in einer anderen Stelle (Note l) eine ent-
gegengeſetzte Behauptung aufgeſtellt; die irrige Selbſtde-
lation an den Fiscus ſoll nur dann nicht ſchaden, wenn
der Irrthum durch die Ruſticität oder durch das weib-
liche Geſchlecht der irrenden Perſon entſchuldigt werde.
Allein dieſer (der Natur der Caducität ganz widerſpre-
chende) Satz wird doch nur als die mögliche Conſequenz
eines einzelnen (von den übrigen verſchieden lautenden)
Reſcripts verſuchsweiſe aufgeſtellt, nicht beſtimmt behaup-
tet; auch iſt darin eine bloße Fiscalität kaum zu verken-
nen. — Eben ſo iſt es bey dem error in corpore ganz
|0459 : 447|
Irrthum und Unwiſſenheit.
gleichgültig, ob das Misverſtändniß vielleicht von einer
Seite leicht zu vermeiden, alſo verſchuldet war. — End-
lich iſt auch da, wo der Dolus durch Irrthum ausge-
ſchloſſen wird, die Beſchaffenheit deſſelben ganz ohne Ein-
fluß, ſo daß ſelbſt der Rechtsirrthum keine nachtheilige
Folgen hat, wie dieſes in einer Stelle des R. R. (Num.
XXII.) ausdrücklich anerkannt wird.
XXXV.
Ich kehre jetzt zu der oben (Num. XI.) einſtweilen
ausgeſetzten, wichtigen und beſtrittenen, Frage zurück, ob
die condictio indebiti nicht blos durch einen factiſchen Irr-
thum (worüber kein Streit iſt), ſondern auch durch einen
Rechtsirrthum, begründet werden könne? Ich muß dieſe
Frage entſchieden verneinen, und habe hierin die größere
Zahl namhafter Rechtslehrer auf meiner Seite (a).
(a) Die Frage wird gleichfalls
verneint von Cujacius opp. VII.
895. Donellus I. 21 § 12. 18,
XIV. 14 § 5 — 10. Voet. XII. 6
N. 7. Cocceji XII. 6. qu. 14 (wo
zugleich viele Schriftſteller für die
Anerkennung dieſer Meynung in
der Praxis angegeben werden).
Merlin Répertorie v. Ignorance
§ 1. — Sie wird bejaht von Vin-
nius quaest. I. 47. Mühlen-
bruch S. 419 — 431. — Höpf-
ner § 954 unterſcheidet zwiſchen
Gewinn und Schadensabwen-
dung, womit ohnehin Nichts an-
zufangen iſt. Thibaut Pandek-
ten § 29 bejaht die Frage, aber
in den Vorleſungen (Braun
S. 41 — 43) fügt er die Bedin-
gung hinzu, wenn der Rechtsirr-
thum entſchuldbar ſey, und damit
bin ich ganz einverſtanden. Eben
ſo Bangerow Pandekten I.
S. 100 — 104, der alſo auch nur
ſcheinbar zu den Gegnern gehört.
Glück B. 13 S. 128 — 151 ver-
neinte zuerſt; nachdem aber die
Abhandlung von Mühlenbruch er-
ſchienen war, gerieth er (B. 22
S. 336 — 340) in ſolches Schwan-
ken, daß der Leſer völlig rathlos
bleibt.
|0460 : 448|
Beylage VIII.
Die hier ausgeſprochene Verneinung geht mit Noth-
wendigkeit hervor aus der ganzen, in gegenwärtiger Ab-
handlung dargeſtellten, Natur des Irrthums. Derſelbe
ſoll nicht überall helfen, ſondern nur ausnahmsweiſe in
einzelnen Fällen; auch die condictio indebiti verſteht ſich
nicht von ſelbſt, der Zahlende hat freywillig das Geld
veräußert, und es iſt beſondere Begünſtigung aus Billig-
keit, wenn ihm die Rückforderung verſtattet wird (b). In
den Fällen aber, worin der Irrthum zur Abwendung eines
Nachtheils geltend gemacht werden kann, iſt doch dieſe
Hülfe ausgeſchloſſen im Fall eines verſchuldeten Irrthums,
und als ein ſolcher wird in der Regel jeder Rechtsirr-
thum betrachtet (Num. III.). Durch dieſe allgemeine Be-
trachtung iſt die Verneinung der aufgeworfenen Frage be-
gründet, und ſie erhält eine große Unterſtützung dadurch,
daß dieſe Betrachtung ſich jetzt bereits in der Anwendung
auf ſo viele andere Rechtsverhältniſſe, worin der Irrthum
von Einfluß iſt, bewährt hat.
Ich will aber ſogleich einige, ſchon oben begründete,
Einſchränkungen des Satzes hinzufügen, wodurch vielleicht
die Gegner geneigter werden möchten ihn anzunehmen.
Der Satz gilt nicht, wenn der Irrthum nicht den Inhalt
der Rechtsregel, ſondern die Subſumtion einer verwickel-
ten Thatſache unter die Regel betrifft (Num. I. V.). —
Eben ſo auch nicht, wenn die Rechtsregel ſelbſt nicht leicht
mit Sicherheit zu erkennen iſt, welches ſowohl bey dem
(b) Cujacius opp. VII. 895. A.
|0461 : 449|
Irrthum und Unwiſſenheit.
controverſen, als bey dem partikulären Recht vorzugs-
weiſe der Fall ſeyn wird; denn in dieſen Fällen führt ſelbſt
die Erkundigung bey Rechtsverſtändigen oft zu keinem ſichern
Erfolg, wodurch alſo der Rechtsirrthum, wo er ſich zeigt,
zu einem unverſchuldeten wird (Num. IV.). Dieſes wird
häufiger in unſrem heutigen Rechtszuſtand eintreten, aber
auch bey den Römern fehlt es nicht an Beyſpielen eines
Rechtsirrthums, bey welchem nach dieſem Grundſatz die
condictio indebiti zugelaſſen werden mußte. So z. B.
wenn der Erbe ein unter unmöglicher Bedingung aufer-
legtes Damnationslegat auszahlte (c), oder wenn der Kauf
auf die Beſtimmung des Kaufpreiſes durch eine dritte Per-
ſon geſchloſſen war, und nun der Käufer das Geld aus-
zahlte (d). Denn in dieſen beiden Fällen war vor Juſti-
nian die Gültigkeit der Obligation controvers, und es
konnte daher von keiner Seite der etwa vorhandene Rechts-
irrthum als ein verſchuldeter, leicht zu vermeidender, an-
geſehen werden. — Ferner darf auch der aufgeſtellte Satz
nicht zur Anwendung kommen, da wo nicht der Irrthum
als ſolcher, ſondern etwas außer ihm Liegendes, das Über-
wiegende iſt. Dieſer Fall tritt ein, wenn der Empfänger
den Irrthum veranlaßt hat oder wenigſtens wiſſentlich dul-
det (Num. V.). Hier gilt der Empfang des Geldes ſo-
gar als wahrer Diebſtahl (e), wobey es natürlich keinen
(c) Gajus Lib. 3 § 98.
(d) Gajus Lib. 3 § 140.
(e) L. 18 de condict. furtiva
(13. 1.). „.... furtum fit, cum
quis indebitos numos sciens ac-
ceperit” …
III. 29
|0462 : 450|
Beylage VIII.
Unterſchied machen kann, ob es bey dem Geber ein facti-
ſcher oder ein Rechtsirrthum war. Dann aber muß con-
ſequenterweiſe auch für den Fall, wo nicht ſogleich Geld
gegeben, ſondern erſt eine Obligation contrahirt war (in-
debita obligatio) (f), dem Schuldner die condictio inde-
biti geſtattet werden. Ja wollte man ſie verſagen, ſo
würde ihm wenigſtens die doli actio eingeräumt werden
müſſen, worin aber eine noch härtere Behandlung des
Gegners liegen würde. Daſſelbe aber, was hier vom Do-
lus behauptet worden iſt, muß gewiß auch gelten in den
ausgenommenen Fällen, worin ſelbſt das wiſſentlich Ge-
zahlte mit der Condiction zurückgefordert werden kann, wie
bey der Spielſchuld, der nicht inſinuirten großen Schen-
kung, und den wucherlichen Zinſen; denn da, wo ſelbſt
das Bewußtſeyn des Zahlenden die Condiction nicht hin-
dert, kann um ſo weniger der etwa vorhandene Rechts-
irrthum im Wege ſtehen, indem hier überhaupt nicht der
Irrthum das entſcheidende Moment iſt, ſondern die durch-
greifende Handhabung abſoluter Rechtsregeln. — Endlich
aber wird jener Satz auch nicht gelten können zum Nach-
theil ſolcher Perſonen, denen im Allgemeinen jeder Rechts-
irrthum nachgeſehen wird. Dieſes iſt unſtreitig der Fall
bey den Minderjährigen (Num. XXX.). Im früheren
Recht war es eben ſo bey den Frauen; im Juſtinianiſchen
Recht iſt nur noch als einzelne Ausnahme der Fall übrig,
wenn eine Frau aus Unbekanntſchaft mit dem Sc. Velle-
(f) L. 5 § 1 de act. emti (19. 1.), L. 51 pr. de pactis (2. 14.).
|0463 : 451|
Irrthum und Unwiſſenheit.
janum eine Zahlung leiſtet, die ſie verweigern konnte
(Num. XXXI. e).
XXXVI.
Für die entgegengeſetzte Meynung werden folgende all-
gemeine Gründe geltend gemacht.
1. Die Regel, daß ſich Niemand durch den Schaden
eines Andern bereichern ſoll (a). — Dieſe Regel iſt in-
deſſen ſo allgemeiner und unbeſtimmter Natur, daß ſie eine
unmittelbare Anwendung auf die Beurtheilung praktiſcher
Rechtsfragen gar nicht zuläßt, ſondern lediglich auf die
Entſtehung mancher Rechtsregeln Einfluß gehabt hat, ſo
daß ſie höchſtens als einzelnes Element in wirklich prakti-
ſchen Regeln enthalten iſt, wo ſie nur in Verbindung mit
ſehr concreten Vorausſetzungen Leben und Wirkſamkeit er-
hält. So wird ſie in der That in den angeführten Stellen
(Note a) erwähnt, und zwar gerade als ein Element der
in der condictio indebiti wirkſamen praktiſchen Regel, ſo
daß wir aus ihr allein unmöglich den Umfang der zur
condictio indebiti noch außerdem nöthigen rein praktiſchen
Bedingungen beſtimmen können. Wollten wir aber in der
That jener Regel, nach ihrer buchſtäblichen Faſſung, prak-
tiſche Anwendbarkeit einräumen, ſo würden wir ſogleich
durch die Folgen zur Umkehr genoͤthigt werden. Denn
nach ihr koͤnnte jeder theure Kauf angefochten werden,
(a) L. 14 de cond. indeb. (12. 6.), L. 206 de R. J. (50. 17.)
Mühlenbruch S. 417.
29*
|0464 : 452|
Beylage VIII.
weil durch ihn der Verkäufer mit dem Schaden des Käu-
fers reicher wird. Um die Sicherheit eines lebendigen
Verkehrs, die auf der Möglichkeit des Gewinns und Ver-
luſtes durch freyen Austauſch beruht, wäre es alsdann
geſchehen.
2. Der Umſtand, daß ſo viele Stellen, und zwar na-
mentlich im Digeſtentitel de condictione indebiti, den error
im Allgemeinen als Bedingung der Condiction ausdrücken,
ohne den Rechtsirrthum auszuſchließen (b). — Dieſer Grund
widerlegt ſich durch den oben dargeſtellten Zuſammenhang,
in welchem allein der Rechtsirrthum vorkommt. Allerdings
iſt error die wahre Bedingung der Condiction, aber es iſt
dieſem Begriff in allen Anwendungen (nicht blos bey der
Condiction) die nähere Beſtimmung gegeben worden, daß
er, um wirkſam zu ſeyn, nur nicht ein verſchuldeter Irr-
thum ſeyn dürfe, wohin aber in der Regel jeder Rechts-
irrthum gehört. War es nun nöthig oder moͤglich, bey
jeder einzelnen Erwähnung des Irrthums dieſe nähere
Beſtimmung ausführlich zu wiederholen? Es war genug,
wenn ſie in einzelnen Stellen niedergelegt war, und dazu
war der Titel de juris et facti ignorantia gerade der paſ-
ſende Ort. Dieſe Anſicht der Sache erhält volle Beſtäti-
gung durch die ſchlagende Analogie der actio quod metus
causa. Bey dieſer iſt metus die allgemeine Bedingung,
ſo einfach wird ſie im Edict, und auf gleiche Weiſe in
(b) Mühlenbruch S. 420. 421. — Vgl. hierüber Donellus
XIV. 14. § 6. 7.
|0465 : 453|
Irrthum und Unwiſſenheit.
zahlreichen Anwendungen des Digeſtentitels ausgedrückt.
Beyläufig wird geſagt, es reiche nicht jede Furcht hin,
ſondern nur die vor einem großen Übel, und nur die vor
einem wahrſcheinlichen, nicht in der Ängſtlichkeit einer un-
männlichen Seele gegründeten (c). Sollte nun etwa dieſe
Einſchränkung in jeder einzelnen Anwendung wiederholt
werden, und dürfen wir darum, daß dieſes nicht geſchehen
iſt, die Klage bey jeder Furcht ohne Unterſchied zulaſſen?
Der Fall iſt genau derſelbe, wie bey der Ausſchließung
des Rechtsirrthums als Veranlaſſung der condictio indebiti.
3. Der Rechtsirrthum könne überhaupt geltend gemacht
werden zur bloßen Abwendung eines Schadens, eine ſolche
aber, und nicht Gewinn, werde ſtets durch die Condiction
bezweckt. — Hier muß ich mich auf Dasjenige beziehen,
was oben über die Unhaltbarkeit dieſer ganzen Unterſchei-
dung ausgeführt worden iſt; insbeſondere auch darauf,
daß dieſelbe, gerade in Anwendung auf die Condiction,
zu gar keinem ſicheren Reſultat fuͤhrt (d).
4. Der Irrthum überhaupt werde bey der Condiction
nur gefordert, um die Abſicht der Schenkung auszuſchlie-
ßen (e), eine ſolche Abſicht aber ſey bey dem Rechtsirr-
thum eben ſo wenig, als bey dem factiſchen, vorhanden.
(c) L. 5. 6. quod metus (4. 2.).
(d) S. o. Num. VIII. — Um
dieſem Grunde zu begegnen, hatte
Donellus ſeine Unterſcheidung von
damnum rei amittendae und
amissae ausgeſonnen (I. 21 § 12.
8, XIV. 14 § 9).
(e) L. 53 de R. J. (50. 17.)
„Cujus per errorem dati repe-
titio est, ejus consulto dati do-
natio est.” L. 82 eod., L. 29 pr.
de don. (39. 5.), L. 47 de operis
libert. (38.1.), L. 7 § 2 pro emt.
(41.4.), L. 12 de novat. (46. 2.).
|0466 : 454|
Beylage VIII.
— Dieſer Grund iſt der ſcheinbarſte unter allen, jedoch
nicht entſcheidend. Es ſteht feſt, daß die wiſſentliche Zah-
lung (mit einigen Ausnahmen) nicht zurückgefordert werden
kann, wohl aber die aus factiſchem Irrthum geleiſtete; der
Rechtsirrthum iſt beſtritten. Der Fall der wiſſentlichen
Zahlung war am leichteſten und ſicherſten durch die Ab-
ſicht der Schenkung zu beſeitigen, und darum wurde vor-
zugsweiſe dieſer Grund geltend gemacht. Es folgt aber
daraus nicht, daß es der einzige Grund ſey, und daß in
Ermanglung deſſelben das Gegentheil gelten müſſe. Ge-
rade umgekehrt bedarf jede Anwendung der Condiction ei-
ner poſitiven Begründung, dieſe liegt in dem Irrthum, der
Irrthum aber darf überall, um wirken zu können, kein
verſchuldeter, alſo unter andern kein Rechtsirrthum ſeyn.
XXXVII.
Bisher iſt die Frage aus allgemeinen, für beide Mey-
nungen aufgeſtellten, Gründen erwogen worden; ich wende
mich jetzt zu einzelnen Ausſprüchen unſrer Rechtsquellen,
welche aber wiederum die Frage theils im Allgemeinen,
theils in der Anwendung auf beſondere Fälle, beantworten.
Allgemein redende Stellen ſind folgende.
L. 10 C. h. t. „Cum quis jus ignorans indebitam pe-
cuniam solverit, cessat repetitio. Per ignorantiam
enim facti tantum repetitionem indebiti soluti com-
petere tibi notum est.”
L. 6 C. h. t. „Si . . indebitam, errore facti, olei mate-
|0467 : 455|
Irrthum und Unwiſſenheit.
riam spopondisse . . animadverterit … condicentes
audiet.”
L. 7 C. h. t. „Error facti, necdum finito negotio, ne-
mini nocet” …
L. 6 C. de cond. ind. (4. 5.) „Si per ignorantiam facti
non debitam quantitatem pro alio solvisti . . restitui
eo agente providebit.”
L. 7 C. eod. „Fideicommissum vel legatum indebitum,
per errorem facti solutum, repeti posse, explorati
juris est.”
Wer dieſe übereinſtimmende Stellen läſe, ohne noch
irgend eine Meynung über die vorliegende Frage gefaßt
zu haben, möchte die entſcheidende Kraft derſelben ſchwer-
lich in Zweifel ziehen. Wir wollen zuſehen, was unſre
Gegner dawider vorzubringen haben (a). Alle dieſe Stel-
len, ſagt man, haben den großen Fehler, daß ſie Reſcripte
ſind: einem Reſcript aber ſoll niemals recht zu trauen
ſeyn, weil man nicht weiß, was noch neben dem mitge-
theilten Excerpt geſtanden hat, und wie viel von der darin
ſcheinbar enthaltenen Regel auf die beſonderen Bedingun-
gen des einzelnen Falles zu rechnen iſt. — Dieſer, die
Reſcripte überhaupt entkräftende, Grund darf indeſſen über-
all nur mit großer Vorſicht angewendet werden. Bey den
vier letzten unter den oben abgedruckten Stellen gewinnt
er dadurch Schein, daß in denſelben unſre Regel über den
Rechtsirrthum nur vermittelſt des argumentum a contrario
(a) Mühlenbruch S. 427 — 431.
|0468 : 456|
Beylage VIII.
gefunden werden kann, dieſes aber allerdings in Reſcripten
bedenklicher als in anderen Stellen iſt. Es wäre alſo
denkbar, daß die Kaiſer in dieſen vier Stellen die Zuläſ-
ſigkeit des factiſchen Irrthums ausgeſprochen hätten, ohne
dabey als Gegenſatz die Unzuläſſigkeit des Rechtsirrthums
andeuten zu wollen. Allein wahrſcheinlich iſt dieſes doch
nicht, weil ſonſt überall der Gegenſatz beider Arten des
Irrthums in der Art vorkommt, daß der eine hilft, der
andere nicht hilft. Wer alſo in irgend einer Anwendung
die helfende Natur des factiſchen Irrthums ausſpricht (wie
es in jenen vier Stellen geſchieht), der wird dabey ſo
nothwendig an die nichthelfende Natur des Rechtsirrthums
erinnert, daß er es faſt unvermeidlich ausdrücken müßte,
wenn er ſie nicht anerkennen wollte. — Allein ſelbſt jener
ſchwache Schein verſchwindet bey der erſten der abgedruck-
ten Stellen. Dieſe ſagt auf das Beſtimmteſte: der facti-
ſche Irrthum hilft zur condictio indebiti, der Rechtsirr-
thum hilft dazu nicht. Was ſagt nun dagegen Mühlen-
bruch? Nichts, als es ſey ein Reſcript, und es könne
irgend Etwas dabey geſtanden haben, wodurch die ausge-
ſprochene Regel beſchränkt, oder eigentlich vernichtet werde.
Doch nein: er giebt ſogar an, was daneben geſtanden
haben werde, nämlich ein Fall von der Falcidiſchen Quart.
Aber erſtlich iſt dieſes eine rein willkührliche Zuthat, und
zweytens führt es ihn gar nicht einmal zu ſeinem Zweck,
wie ſich ſogleich bey der folgenden Stelle zeigen wird.
Und heißt denn das überhaupt interpretiren? Die Römer
|0469 : 457|
Irrthum und Unwiſſenheit.
wußten auch, was Reſcripte ſeyen, und wie ſie behandelt
werden müßten, damit der Kern einer reinen Regel von
der Hülſe ſeiner zufälligen concreten Umgebung befreyt
würde. Von dem Theil des Reſcripts, welcher allein in
den Codex aufgenommen iſt, hätten ſie ohne Zweifel ge-
ſagt, wie ſie es von anderen Reſcripten wirklich ſagen:
illa pars rescripti generalis est (b).
Zu jenen allgemein redenden Stellen will ich nun noch
folgende hinzufügen, welche die Unzuläſſigkeit des Rechts-
irrthums in einzelnen Anwendungen ausſprechen (c).
L. 9 § 5 h. t. Der Erbe, welcher ein Legat ganz aus-
zahlt, ohne die Falcidia, wozu er berechtigt wäre, abzu-
ziehen, hat keine condictio indebiti, wenn er durch Rechts-
irrthum dazu veranlaßt wurde. Dieſer Satz wird durch
ein ausführliches Kaiſerreſcript belegt (d). Es iſt wohl
zu bemerken, in welchem Zuſammenhang dieſe Stelle ſteht.
Paulus hatte (im princ.) den allgemeinen Satz an die
Spitze geſtellt, der factiſche Irrthum ſey unſchädlich, der
Rechtsirrthum aber ſchädlich. Dieſe Sätze werden theils
mit Beſchränkungen verſehen, theils durch Anwendungen
erläutert, und eine ſolche Anwendung der Schädlichkeit
(b) Vgl. das Syſtem § 24
Note k.
(c) Unter dieſe einzelnen An-
wendungen kann man auch rech-
nen die irrige in jure confessio,
die nicht ſchadet, außer wenn ſie
auf einem Rechtsirrthum beruht.
Denn Das geht ganz aus dem der
condictio indebiti zum Grunde
liegenden Princip hervor (Num.
XIX. g).
(d) Wörtlich Daſſelbe, und eben
ſo beſtimmt, nur kürzer, findet
ſich in L. 9 C. ad. L. Falc.
(6. 50.).
|0470 : 458|
Beylage VIII.
des Rechtsirrthums iſt es denn auch, die in dem eben an-
geführten § 5 weitläufig dargeſtellt wird. Könnte man
noch daran zweifeln, daß es ſo gemeynt ſey, ſo würde
durch folgende Worte des Reſcrips jeder Zweifel ver-
ſchwinden:
„Quod si ideo repetitionem ejus pecuniae habere cre-
dunt, quod imperitia lapsi legis Falcidiae beneficio usi
non sunt: sciant, ignorantiam facti non juris prodesse:
nec stultis solere succurri, sed errantibus.”
Alſo wegen des Rechtsirrthums ſollen ſie die Condiction
nicht haben, und zwar weil in dem Rechtsirrthum ein
thörichter Leichtſinn liegt, deſſen Folgen ſie mit Recht zu
tragen haben. Es iſt wohl einleuchtend, daß die Entſcheidung
und der Grund derſelben ganz unverändert geblieben wäre,
wenn auch irgend eine andere Veranlaſſung der Condiction
vorgelegen hätte; ſo daß alſo die Erwähnung der Falcidia
ein ganz gleichgültiger Nebenumſtand war. — Zu dieſer
Stelle ſagt Mühlenbruch (e), der Grund der Entſcheidung
liege lediglich in der Falcidia. Die volle Auszahlung der
Legate ſey nämlich zwar keine naturalis obligatio, aber
doch eine Gewiſſenspflicht, und dieſes habe die Folge, daß
die Condiction wegen eines Rechtsirrthums wegfalle, die
bey jedem andern Indebitum gelten würde. Allein durch
dieſe Erklärung wird zuerſt willkührlich der oben darge-
legte Zuſammenhang der ganzen Stelle ignorirt. Eben
ſo wird ignorirt der wahre Sinn des von den Kaiſern
(e) Mühlenbruch S. 393. 394.
|0471 : 459|
Irrthum und Unwiſſenheit.
ausgeſprochenen Grundes, der ja auf jedes andere Inde-
bitum völlig eben ſo paßt. Was ſoll nun hier die Ge-
wiſſenspflicht die keine naturalis obligatio erzeugt? Sie
könnte nur erheblich ſeyn als Beweggrund der Auszahlung;
dann waren die Erben wegen ihres Edelmuths zu loben,
nicht als stulti zu ſchelten: davon alſo war im vorliegen-
den Fall gar nicht die Rede, ſondern vielmehr von einem
ganz entgegengeſetzten Beweggrund, dem Rechtsirrthum (f).
Die ganze von Mühlenbruch zur Rettung ſeiner Meynung
verſuchte Erklärung iſt alſo der Stelle völlig aufgezwun-
gen. Und dieſe Erklärung nun iſt es zugleich, die er zur
Fiction eines Rechtsfalls benutzt, der urſprünglich in der
L. 10 C. h. t. geſtanden haben ſoll (g). Wollte man ihm
alſo auch dieſe Fiction nachſehen, ſo würde damit für die
Vertheidigung ſeiner Sache gegen die L. 10 C. h. t. gar
Nichts gewonnen ſeyn.
Eine andere Stelle, L. 2 C. si adv. sol. (2. 33.) drückt
unſre Regel in folgender noch allgemeineren Anwendung aus:
„Indebito legato, licet per errorem juris a minore so-
luto, repetitionem ei decerni, si necdum tempus, quo
restitutionis tribuitur auxilium, excesserit, rationis est.”
Ein Minderjähriger hatte ein Legat, das er aus irgend
(f) Darum iſt es denn auch
völlig unrichtig, wenn Mühlen-
bruch a. a. O. mit L. 9 § 5 h.
t. die L. 2 C. de fideic. (6. 42.)
zuſammenſtellt. Denn in dieſer
letzten iſt geradezu von einem Fall
wiſſentlicher Zahlung aus Achtung
gegen den Willen des Verſtorbe-
nen die Rede. Der Inhalt bei-
der Stellen hat alſo gar keine
Ähnlichkeit.
(g) Mühlenbruch S. 430.
431.
|0472 : 460|
Beylage VIII.
einem Grunde nicht ſchuldig war, aus Rechtsirrthum aus-
gezahlt. Er ſoll es zurück bekommen, wenn die Reſtitu-
tionszeit noch nicht abgelaufen iſt. (Alſo nicht, wenn ſie
abgelaufen iſt; und eben ſo wenig, wenn die Zahlung von
einem Volljährigen geſchah. Gegen dieſes arg. a contrario
wird wohl Niemand Etwas einwenden.). — In dieſer
Stelle liegt wiederum eine reine, einfache Anwendung un-
ſrer Regel. Mühlenbruch erklärt auch ſie wieder aus der
(oben wiederlegten) Natur der Gewiſſenspflicht (h). Frey-
lich iſt er zu dieſem Behuf genöthigt, erſt noch den Fall
einer ſolchen in die Stelle hinein zu tragen; denn das inde-
bitum legatum, wovon die Stelle ſpricht, kann ja auch ſo
gedacht werden, daß dabey ſelbſt nach ſeiner Anſicht von
einer Gewiſſenspflicht nicht die Rede ſeyn würde (i).
XXXVIII.
Ich will nun noch die Stellen angeben, welche von
den Gegnern für ihre Meynung angeführt werden (a).
Davon iſt eigentlich nur die erſte von einiger Erheblichkeit.
L. 1 pr. ut in poss. (36. 4.). Der Teſtamentserbe
mußte den Legataren Caution ſtellen, und davon konnte
(h) Mühlenbruch S. 440,
verbunden mit S. 393. 394.
(i) So z. B. wenn der Teſta-
tor die Legate einem Miterben
allein auflegte, und der Minder-
jährige aus Rechtsirrthum glaub-
te, er ſey dennoch mit verpflichtet;
oder wenn der Legatar ein Pere-
grinus war, und der Minderjäh-
rige von dieſer Unfähigkeit Nichts
wußte, der Teſtator vielleicht auch
Nichts.
(a) Die meiſten dieſer Stellen
finden ſich bey Mühlenbruch
S. 418 u. fg., einige bey Glück.
|0473 : 461|
Irrthum und Unwiſſenheit.
ihn nach älterem Recht ſelbſt der Wille des Teſtators nicht
entbinden; dieſe letzte Beſtimmung wurde von M. Aurel
durch ein Reſcript aufgehoben, welches in die Semestria
dieſes Kaiſers aufgenommen wurde (b). Nun hatte ein
Erbe die ihm erlaſſene Caution dennoch geleiſtet. That
er es, weil er von dem Erlaß im Teſtament Nichts wußte,
ſo konnte er unſtreitig mit der condictio indebiti die Be-
freyung von der Caution verlangen. Wie aber, wenn er
dieſen Erlaß für unwirkſam hielt, alſo in einem Rechts-
irrthum befangen war? Darüber ſagt hier Ulpian:
„Adhuc tamen benigne quis dixerit, satisdationem con-
dici posse.”
Auf den erſten Blick iſt es einleuchtend, wie ſchüchtern
und zweifelnd der Juriſt ſeine Meynung vorbringt, gleich-
ſam verſuchsweiſe; daran iſt alſo wohl nicht zu denken,
mit dieſer einzelnen Äußerung die vielen entſchiedenen Aus-
ſprüche für die entgegengeſetzte Meynung zu entkräften.
Aber wie iſt auch nur dieſe zweifelnde Äußerung zu er-
klären, da alle andere Stellen ſo entſchieden ſprechen?
Man hat geſagt, es ſey hier nur ein geringes Intereſſe
im Spiel geweſen (c); das iſt völlig willkührlich, und wo
wäre die Gränze? Eine andere Erklärung iſt die, es
handle ſich hier von einer indebita promissio, nicht solu-
tio (d); aber beide haben nicht nur auch ſonſt überall glei-
(b) L. 46 de pactis (2. 14.),
L. 2 C. ut in poss. (6. 54.).
Über die Semestria von D. Mar-
cus vgl. das Syſtem § 24 Note v.
(c) Cujacius opp. IV. 1432.
(d) Donellus I. 21 § 18.
|0474 : 462|
Beylage VIII.
ches Recht, ſondern gerade die Nothwendigkeit des facti-
ſchen Irrthums wird auch bey der indebita promissio aus-
drücklich anerkannt (e). Andere ſagen, es ſey eine ſpecielle
Ausnahme, zur Aufrechthaltung des letzten Willens (f),
und dieſe Erklärung könnte zur Noth zugelaſſen werden.
Allein ich halte auch ſie nicht für nöthig, und erkläre die
zweifelnde Äußerung Ulpians aus der Natur des vorliegen-
den Rechtsſatzes. Dieſer enthält eine Abänderung des frühe-
ren Rechts, nicht etwa durch eigentliches Geſetz begrün-
det, ſondern durch praktiſches Bedürfniß herbeygeführt, und
in dem Reſcript eines Kaiſers anerkannt, das ja kein Geſetz
war, ungeachtet der Aufnahme in die Semestria (§ 24).
Es konnte alſo als ungewiſſes Recht betrachtet werden,
und in dieſer Sachlage konnte ein billiger, nachſichtiger
Prätor wohl Grund finden (benigne quis dixerit), den
Rechtsirrthum als unverſchuldet anzuſehen, und daher die
condictio indebiti zu geſtatten.
Die übrigen Stellen geben weit weniger Schein; die
meiſten trifft die gemeinſchaftliche Bemerkung, daß in ihnen
eben ſo gut ein factiſcher, als ein Rechtsirrthum voraus-
geſetzt werden kann, daß wir alſo dieſen erſt willkührlich
hinzu denken müßten, um die Stellen für unſre Frage ent-
ſcheidend zu machen.
L. 17 § 10 ad mun. (50. 1.). Kann factiſcher Irr-
thum ſeyn.
(e) L. 6 C. h. t.
(f) Glück B. 13 S. 145, und
eben ſo vor ihm Weſtenberg und
Weber, die er anführt.
|0475 : 463|
Irrthum und Unwiſſenheit.
L. 16 § 2 de minor. (4. 4.). Eben ſo; wahrſcheinlich
Irrthum über den Inhalt oder die Auslegung des Teſta-
ments. So iſt wenigſtens die Stelle nach dem Juſtinia-
niſchen Recht auszulegen; der Verfaſſer der Stelle (Ulpian)
wollte wohl ſagen, dieſe Frau würde auch nach ihrer
Volljährigkeit durch die Condiction geſchützt ſeyn, weil
nämlich zu ſeiner Zeit die Frauen auch durch den Rechts-
irrthum nicht leiden konnten (Num. XXXI.). Man muß
dann am Ende der Stelle leſen: munita (anſtatt munitus),
welches auch durch ſehr alte Ausgaben unterſtützt wird.
L. 10 C. de cond. ind. (4. 5.). Es hatte Einer zwey
Sachen alternativ verſprochen, und aus Irrthum beide
abgeliefert. Darüber waren Alle einig, daß er Eine zu-
rückfordern könne, nur das Wahlrecht war ſtreitig; Ju-
ſtinian entſchied für das Wahlrecht des zurückfordernden
Schuldners. — Auch hier iſt ein Rechtsirrthum nicht noth-
wendig vorauszuſetzen; der Inhalt oder die Auslegung der
Stipulation konnte zweifelhaft ſeyn, beſonders wenn die
Erfüllung nicht von dem urſprünglichen Schuldner, ſondern
von dem Erben ausgieng. Hätte ein Rechtsirrthum (über
die Natur der Alternativobligation) zum Grunde gelegen,
ſo wäre es undenkbar, daß von ſo vielen über die Neben-
frage ſtreitenden Rechtslehrern nicht Einer dieſen Haupt-
punkt auch nur der Erwähnung werth gehalten haben ſollte.
L. 16 § 4 de publicanis (39. 4.). Wer aus Irrthum
dem Zollpächter zahlt, was er nicht ſchuldig iſt, kann es
zurück fordern. — Auch hier kann der Irrthum ein facti-
|0476 : 464|
Beylage VIII.
ſcher ſeyn, z. B. in unrichtigem Wiegen der Waare be-
ſtehen. Aber ſelbſt wenn er das Zollgeſetz, z B. den Ta-
rif, betrifft, ſo hat doch die Condiction kein Bedenken.
Denn der Zollpächter kennt gewiß das Zollgeſetz; wenn
er alſo das indebitum dennoch annimmt, ſo iſt ſein Do-
lus unzweifelhaft, und dann iſt dieſer, und nicht der
Rechtsirrthum des Zahlenden, der Grund der Rückforde-
rung (Num. V. und XXXV.) (g).
L. 38 de cond. indebiti (12. 6.). In dem hier beur-
theilten Rechtsfall betraf der Irrthum nicht die Rechtsre-
gel, ſondern die Subſumtion der Thatſache, und hatte
daher die Natur eines factiſchen Irrthums (Num. I. und V.).
L. 37 de auro (34. 2.). Ob die Frauenkleider zu den
Ornamentis gerechnet werden ſollten, war eine die Ausle-
gung der Teſtamente betreffende Frage, mithin hatte ein
Irrthum darüber blos factiſche Natur. Eine beſtimmte
Rechtsregel iſt erſt entſtanden durch die Aufnahme dieſer
Stelle in die Digeſten. Auch iſt nicht geſagt, ob der Irr-
thum des Erben bereits zur Tradition, oder nur erſt zu
einer einſeitigen Erklärung geführt hatte, die ohnehin nicht
bindend war, und einer condictio indebiti zur Abhülfe
gar nicht bedurfte.
L. 79 de leg. II. (31. un.). Dieſe Stelle ſpricht von
(g) Selbſt die Worte der Stelle
weiſen nicht undeutlich auf den
Dolus des Zollpächters hin: „si
quid autem indebitum per er-
rorem solventis publicanus ac-
cepit;” alſo der Zahler allein
war im Irrthum, der Publicanus
benutzte das, und nahm ſtillſchwei-
gend das Geld an.
|0477 : 465|
Irrthum und Unwiſſenheit.
einer einſeitigen, ſchon ihrer Form nach nicht verbindli-
chen, Handlung, wobey es einer Condiction gar nicht be-
darf (Num. XXXIV. c).
L. 20 pr. fam. herc. (10. 2.). Es gilt hier daſſelbe
wie bey der vorhergehenden Stelle (Num. XXXIV. f)
Auch iſt dabey nicht einmal geſagt, daß gerade ein Rechts-
irrthum zum Grunde gelegen habe.
XXXIX.
Die condictio indebiti giebt außerdem Veranlaſſung,
auf eine ſchon oben (Num. III.) aufgeſtellte Anſicht über
den Beweis des Irrthums zurück zu kommen. Wo näm-
lich der Irrthum überhaupt hilft (welches in der Regel
nur vom factiſchen gilt), da wird zugleich ſein Daſeyn
von ſelbſt angenommen, anſtatt daß bey dem Rechtsirr-
thum, welcher überhaupt nicht helfen ſoll, auch ſchon das
bloße Daſeyn nicht anzunehmen iſt. Daher braucht denn
bey der Uſucapion, der mit einem Titel verſehene Beſitzer
den factiſchen Irrthum, der die bona fides möglich machte,
nicht zu beweiſen: eben ſo der Bonorum Possessor, dem
der Lauf der Agnitionsfriſt erſt angerechnet werden kann
von dem Tage, für welchen ihm die Kenntniß der Dela-
tion zuerſt nachgewieſen werden kann.
Dieſe ganze Anſicht liegt zum Grunde bey folgender
Beſtimmung, welche in Anwendung auf die condictio in-
debiti eine feſtere Regel über die Beweislaſt enthält, als
III. 30
|0478 : 466|
Beylage VIII.
ſonſt wohl über dieſelbe vorzukommen pflegt (a). Wenn
nämlich die Frage ſtreitig iſt, ob die Schuld vorhanden
war oder nicht, ſo ſoll der Zurückfordernde das indebi-
tum in der Regel beweiſen, alſo indirect auch den bey der
Zahlung vorgefallenen Irrthum: aber nicht etwa wegen
der allgemeinen Natur des Irrthums überhaupt, ſondern
gerade umgekehrt, nur wegen der beſondern Beſchaffen-
heit dieſes Falles. Der Grund wird nämlich darin ge-
ſetzt, daß nicht leicht Jemand ſo unvorſichtig ſeyn werde,
ſein Geld, wenn er Nichts ſchuldig iſt, wegzuwerfen (b):
dieſes aber beſonders in dem Fall, wenn außerdem der
Zahler als ein ſorgfältiger Mann und beſonnener Haus-
halter anerkannt iſt. Ausnahmsweiſe aber ſoll gerade das
Gegentheil angenommen, und dem Empfänger der Beweis
der Schuld auferlegt werden, wenn die Zahlung geſchah
von einem Minderjährigen, Weibe, Soldaten, Bauer, oder
überhaupt einem Solchen, der aller Geſchäfte unkundig,
oder einfältig und ſorglos iſt. Dieſe Eigenſchaften alſo
ſollen wieder die Unwahrſcheinlichkeit aufwiegen, daß Ei-
(a) L. 25 pr. § 1 de prob.
(22. 3.).
(b) „qui enim solvit, nun-
quam ita resupinus est, ut fa-
cile suas pecunias jactet, et in-
debitas effundat .... et ideo
eum, qui dicit indebitas sol-
visse, compelli ad probationes,
quod per dolum accipientis, vel
aliquam justam ignorantiae
causam indebitum ab eo solu-
tum” … Hier erſcheint alſo die
justa ignorantiae causa, die an-
derwärts als Bedingung eines zu-
läſſigen, nicht völlig verwerflichen
Irrthums vorkommt (Num. III.),
zugleich als Grund, das bloße
Daſeyn deſſelben anzunehmen:
und Dieſes iſt praktiſch um ſo
wichtiger, als der Irrthum ein
innerer Zuſtand iſt, der nur ſel-
ten und zufällig durch unmittel-
baren Beweis dargethan werden
kann.
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Irrthum und Unwiſſenheit.
ner ſein Geld wegwerfen werde. In der Mitte liegen
nun noch manche unentſchiednere Fälle, worin der Richter
ein freyes Urtheil nach den individuellen Umſtänden haben
muß. Im Ganzen aber liegt die Hauptanſicht zum Grunde,
daß der factiſche Irrthum, da wo jene beſondere Unwahr-
ſcheinlichkeit nicht vorhanden iſt, Dem der ihn behauptet,
vorläufig wohl geglaubt werden kann.
XL.
Es ſind oben zwey ſcheinbare Principien für die Lehre
vom Irrthum geprüft und verworfen worden (Num. VII.
VIII.); dieſe laſſen ſich jetzt, nachdem dieſe Lehre im Ein-
zelnen durchgeführt worden iſt, mit noch größerer Sicher-
heit zu ihrer wahren und ſehr beſchränkten Bedeutung zu-
rückführen.
Das eine lautete ſo: der Irrthum ſchließt das Daſeyn
des freyen Willens ſelbſt aus. Was zu einem ſo ſtarken
Ausdruck in einigen Stellen des Römiſchen Rechts Gele-
genheit gab, waren nur folgende einfache Sätze: Wenn
eine Handlung als ſtillſchweigende Willenserklärung gelten
ſoll, darf ſie nicht auf Irrthum beruhen, ſonſt würde man
ihr durch jene Auslegung Gewalt anthun (Num. XII.
Note a und c). Ferner: Wenn eine Handlung ſchon an
ſich, ihrer Form nach, keine verbindliche Kraft hat, ſo
wird ſie noch weniger als Grund eines Rechts angeführt
werden können, wenn ſie auf Irrthum beruht (Num. XXXIV.
Note d und o).
30*
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Beylage VIII.
Das andere Princip war: Der factiſche Irrthum hilft
in allen Fällen, der Rechtsirrthum nur wenn man Scha-
den abwenden, nicht wenn man reicher werden will. Die-
ſes ſehr eingreifende Princip zeigt ſich in den unzweifel-
hafteſten Anwendungen bald falſch, bald unbrauchbar zu
irgend einem ſicheren praktiſchen Reſultat. Als wahre
Veranlaſſung ergab ſich nur der Satz des älteren Rechts:
Frauen haben das Vorrecht, ſich eben ſowohl auf Rechts-
irrthum, als auf factiſchen Irrthum, berufen zu dürfen,
nur mit Ausnahme der Schenkungen. Dieſer Satz war
im ſpäteren Recht größtentheils aufgegeben worden. Durch
ungeſchickte Behandlung in der Compilation hatten dann
Stellen der alten Juriſten, welche jenen Satz enthielten,
die trügeriſche Geſtalt angenommen, in welcher ſie uns
jenes falſche Princip verkündigen (Num. VIII. XXXI.).
XLI.
Nachdem jetzt die Römiſche Lehre vom Irrthum dar-
geſtellt worden iſt, wird es nicht unintereſſant ſeyn, einen
vergleichenden Blick auf die Behandlung dieſer Lehre in-
neueren Geſetzbüchern zu werfen.
Das Preußiſche Landrecht ſtellt den allgemeinen
Satz auf: „Es kann ſich Niemand mit der Unwiſſenheit
„eines gehörig publicirten Geſetzes entſchuldigen“ (Einl.
§ 12), wovon es nur eine Ausnahme bey den Strafge-
ſetzen gegen vorher unverbotene Handlungen zuläßt (§ 13).
Bey den Willenserklärungen (I. 4 § 75—82) werden
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Irrthum und Unwiſſenheit.
Regeln aufgeſtellt, die großentheils mit den Römiſchen
Grundſätzen über den error in corpore u. ſ. w., jedoch
mit manchen Erweiterungen, übereinſtimmen. Dann aber
wird ausdrücklich der wichtige Satz anerkannt, daß jeder
andere Irrthum die Gültigkeit der Willenserklärung nicht
aufhebe, namentlich nicht der Irrthum im Beweggrund,
außer wenn der Gegner in dolo ſey, oder das Geſchäft
eine blos lucrative Natur habe (§ 83. 148—150). Die-
ſes ſtimmt im Ganzen mit dem R. R. überein, nur die
letzte Ausnahme enthält eine abſichtliche und nicht zu tad-
lende Abweichung von demſelben.
Endlich die condictio indebiti (I. 16) wird, ſo wie im
Römiſchen Recht, auf Irrthum des Zahlenden gegründet,
den Derſelbe zu beweiſen hat (§ 166. 178. 181). Ein Rechts-
irrthum aber iſt dazu deswegen nicht hinreichend, weil das
Daſeyn deſſelben in der Regel nicht angenommen werden
kann (a). Nur der Dolus des Gegners erſetzt jede an-
dere fehlende Bedingung (§ 167).
Im Ganzen alſo wird hier die Rechtsunwiſſenheit mit
noch weniger Nachſicht, als im Römiſchen Recht, behan-
delt, obgleich unſer heutiger Rechtszuſtand eine mildere
(a) Urſprünglich hatte Suarez,
dem R. R. folgend, die condic-
tio indebiti wegen jedes Rechts-
irrthums ſchlechthin verſagen wol-
len. Dieſes wurde ſpäterhin ver-
worfen, und die Condiction, dem
Grundſatz nach, für jeden Irr-
thum ohne Unterſchied zugelaſſen.
Jedoch iſt dieſe geänderte Anſicht
praktiſch nicht erheblich. Denn da
in der Regel ein Rechtsirrthum
gar nicht als vorhanden angenom-
men werden darf (L. R., Einlei-
tung § 12. 13), ſo kann man ſich
auch zur Begründung der con-
dictio indebiti auf denſelben nicht
berufen. Dieſer Gedanke liegt zum
Grunde bey L. R. I. 16 § 176. 184
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Beylage VIII.
Behandlung wohl rechtfertigen dürfte (Num. IV.). Man
wird aber jene Beſtimmung natürlich finden, wenn man
erwägt, daß bey der Abfaſſung des Landrechts die Er-
wartung gehegt wurde, das Recht werde von nun an
nicht nur unzweifelhaft, ſondern auch der ganzen Nation
bekannt ſeyn. Die angeführte Beſtimmung iſt ohne Zwei-
fel gemeynt von jedem Rechtsirrthum überhaupt; der Aus-
druck aber geht zunächſt auf das Daſeyn der einzelnen
Geſetze, indem deren Publication als das einzig entſchei-
dende Moment betrachtet wird. Es iſt alſo dabey nicht
beachtet, daß der Rechtsirrthum in den allermeiſten Fällen
nicht auf der Unbekanntſchaft mit dem Daſeyn eines ein-
zelnen Geſetzes, ſondern auf der Bildung einer unrichti-
gen, aus vielen Geſetzen abgezogenen, wiſſenſchaftlichen
Theorie beruhen wird. Wir müßten daher, zur Rechtferti-
gung jener Strenge des Landrechts, annehmen, daß Nie-
mand ohne eine leicht vermeidliche Nachläſſigkeit in einen
ſolchen theoretiſchen Irrthum gerathen könne. Dieſer An-
nahme aber ſteht ſchon die große Zahl von Geſetzdeclara-
tionen entgegen, die ſeit der Erſcheinung des Landrechts
nöthig gefunden worden ſind, und die faſt immer durch
irrige, oder widerſprechende, Entſcheidungen der mit wohl-
geprüften Perſonen beſetzten Gerichtshöfe veranlaßt wurden.
Das Öſterreichiſche Geſetzbuch ſagt § 2, ſo wie
das Preußiſche, es könne ſich Niemand durch die Unbe-
kanntſchaft mit dem Geſetze entſchuldigen (b). — Der Irr-
(b) Zeillar Vorbereitung zur Öſterreich. Geſetzkunde B. 4 S. 84
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Irrthum und Unwiſſenheit.
thum entkräftet den Vertrag nur bey dem Dolus des Geg-
ners (§ 871); nicht, wenn er durch einen Dritten oder
den Irrenden ſelbſt (alſo auch nicht wenn er durch blo-
ßen Zufall) entſtanden iſt (§ 875. 876). — Die condictio
indebiti wird durch jeden Irrthum begründet, auch durch
den Rechtsirrthum (§ 1431); welches letzte, verglichen mit
der vorher angegebenen Strenge der allgemeinen Vor-
ſchrift, nicht ganz conſequent ſcheint.
Das Franzöſiſche Geſetzbuch ſcheint im Fall je-
der Art des Irrthums die Verträge für ungültig anzuſe-
hen (art. 1109). In der That aber iſt damit doch nur
der error in corpore und Ähnliches gemeynt (art. 1110).
Der Irrthum im Beweggrund, wohin namentlich der über
den Werth und die Brauchbarkeit der Sache gehört, wird
unter der allgemeinen Bezeichnung der lésion begriffen,
und gegen dieſe finden zwar die Minderjährigen allgemein
Schutz (art. 1305), die Volljährigen aber in der Regel
nicht (art. 1313), und nur ausnahmsweiſe bey dem Ver-
rechtfertigt dieſe Vorſchrift da-
durch, daß bey einem guten ein-
heimiſchen Geſetzbuch ſelbſt der
minder Gebildete nicht leicht durch
Rechtsunwiſſenheit in Schaden
kommen könne. Das R. R., ſagt
er, geſtattete in mehreren Fällen
den Landleuten, Soldaten, Wei-
bern u. ſ. w. die Entſchuldigung
der Rechtsunwiſſenheit. „Bey ei-
ner zahlloſen Menge unordentlich
zuſammengehäufter, in einer
gelehrten, wenigſtens den er-
wähnten Perſonen unverſtändli-
chen Sprache abgefaßter Geſetze
war die Ausnahme billig, ja ſie
hätte billigerweiſe ſchon zur Zeit
der Römer .... beynahe auf alle
… ausgedehnt werden ſollen.“
Dabey ſcheint faſt die Voraus-
ſetzung zum Grund zu liegen, das
Römiſche Volk habe Wieneriſch
geſprochen, und deshalb die latei-
niſch geſchriebenen Volksſchlüſſe
und Edicte nicht verſtehen können.
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Beylage VIII.
kauf eines Grundſtücks mit einem Verluſt von mehr als
7/12 des Werthes. — Der Rechtsirrthum wird nur in zwey
einzelnen Fällen nachtheiliger, als der factiſche, behan-
delt: bey dem gerichtlichen Geſtändniß (art. 1356), und
bey dem Vergleich (art. 2052. 2053). In allen übrigen
Fällen ſtehen beide Arten des Irrthums einander ganz
gleich. Namentlich zur condictio indebiti berechtigt jeder
Irrthum ohne Unterſchied (art. 1235. 1376—1381), und
dieſer allgemeine Ausdruck wird von den Auslegern und
in der Praxis ſo verſtanden, daß auch der Rechtsirrthum
zur Klage berechtigt (c). Dieſes Letzte iſt bemerkenswerth,
da Pothier, deſſen Lehrmeynungen ſonſt auf die Beſtim-
mungen des Code überwiegenden Einfluß auszuüben pfle-
gen, für das Roͤmiſche Recht den entgegengeſetzten Grund-
ſatz vertheidigt (d).
Vergleicht man dieſe geſetzliche Beſtimmungen in Be-
ziehung auf die condictio indebiti, ſo geben ſie folgendes
merkwürdige Reſultat. Das Römiſche und das Preußiſche
Recht laſſen den Rechtsirrthum nicht zu, das Öſterreichi-
ſche und das Franzöſiſche laſſen ihn zu. Und betrachtet
man dieſe letzte Beſtimmung von dem legislativen Stand-
punkt aus, ſo liegt darin eigentlich die praktiſche Aner-
(c) Merlin Répertoire v. Igno-
rance § 1. Toullier droit ci-
vil T. 6 Num. 59—67 Num. 75.
T. 11 Num. 63.
(d) Pothier traités de bien-
faisance, Condictio indebiti
Num. 162. Anders freylich äu-
ßert ſich derſelbe an einem an-
dern Ort. Pandectae Justin.
XXII. 6. Num. 5.
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Irrthum und Unwiſſenheit.
kennung des Umſtandes, daß nach heutigem Rechtszuſtand
weniger, als nach dem Römiſchen, der Rechtsirrthum des
Zahlenden den Vorwurf großer Nachläſſigkeit begründen
könne (Num. XXXV.). Dieſe eingetretene Veränderung
iſt in den erwähnten Geſetzgebungen dahin ausgebildet wor-
den, daß die Präſumtion in Beziehung auf Verſchuldung
nunmehr auf die entgegengeſetzte Seite gelegt worden iſt.
Gedruckt bei den Gebr. Unger.
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