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|0007 : [I]|

Syſtem

des

heutigen Römiſchen Rechts

von

Friedrich Carl von Savigny.

Dritter Band.

Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.

 Berlin.

Bei Veit und Comp.

1840.

 

|0008 : [II]|

|0009 : [III]|

Inhalt des dritten Bandes.

Zweytes Buch. Die Rechtsverhältniſſe.

Drittes Kapitel. Von der Entſtehung und dem Unter-

gang der Rechtsverhältniſſe.

 

Seite

§. 104. Einleitung 1

§. 105. Wichtigſte Fälle der juriſtiſchen Thatſachen. I. Suc-

ceſſionen 8

§. 106. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Alters-

ſtufen. Einleitung 21

§. 107. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Alters-

ſtufen. Infantes und Qui fari possunt 25

§. 108. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. A. Al-

tersſtufen. Infantes und Qui fari possunt.

(Fortſetzung.) 39

|0010 : IV|

Inhalt des dritten Bandes.

Seite.

§. 109. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Al-

tersſtufen. Impuberes und Puberes 55

§. 110. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Al-

tersſtufen. Impuberes und Puberes. (Fort-

ſetzung.) 70

§. 111. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Al-

tersſtufen. Minores und Majores 79

§. 112. II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: B. Ver-

nunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen 83

§. 113. II. Freye Handlungen. — Erweiterung durch Stell-

vertretung 90

§. 114. III. Willenserklärungen. — Zwang und Irrthum 98

§. 115. III. Willenserklärungen. — Zwang und Irrthum

(Fortſetzung.) 111

§. 116. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Begriff 120

§. 117. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Arten 127

§. 118. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Regel-

mäßige Erfüllung 135

§. 119. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Fingirte

Erfüllung 138

§. 120. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Regel-

mäßige Wirkung 149

§. 121. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Noth-

wendige und unmögliche 156

§. 122. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unſittliche 169

|0011 : V|

Inhalt des dritten Bandes.

Seite.

§. 123. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unſittliche

(Fortſetzung.) 185

§. 124. III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unmög-

liche und unſittliche. (Fortſetzung.) 191

§. 125. III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung 204

§. 126. III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung.

(Fortſetzung.) 210

§. 127. III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung.

(Fortſetzung.) 217

§. 128. III. Willenserklärungen. Modus 226

§. 129. III. Willenserklärungen. — Modus. (Fortſetzung.) 233

§. 130. III. Willenserklärungen. — Erklärung. Förmliche 237

§. 131. III. Willenserklärungen. — Erklärung. Ausdrück-

liche oder ſtillſchweigende 242

§. 132. III. Willenserklärungen. — Erklärung. Durch

bloßes Schweigen 248

§. 133. III. Willenserklärungen. — Erklärung. Fingirte 253

§. 134. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-

len. Abſichtliche 257

§. 135. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-

len. Unabſichtliche 263

§. 136. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-

len. Unabſichtliche. (Fortſetzung.) 269

§. 137. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-

len. Unabſichtliche. Error in substantia 276

|0012 : VI|

Inhalt des dritten Bandes.

Seite.

§. 138. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-

len. Unabſichtliche. Error in substantia. (Fort-

ſetzung.) 291

§. 139. III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Wil-

len. Unabſichtliche. Gränze dieſes Falles 302

§. 140. IV. Vertrag 307

§. 141. IV. Vertrag. (Fortſetzung.) 314

Beylage VIII. Irrthum und Unwiſſenheit 326

|0013 : [1]|

Drittes Kapitel.

Von der Entſtehung und dem Untergang

der Rechtsverhältniſſe.

§. 104.

Einleitung.

Es iſt ſchon oben bemerkt worden (§ 52), daß unſre Wiſ-

ſenſchaft keine anderen Gegenſtände hat, als erworbene

Rechte. Dieſes hat den Sinn, daß die Rechtsverhältniſſe,

deren Weſen wir zu erforſchen haben, nicht ſchon in der

menſchlichen Natur als ſolcher gegründet, ſondern als ihr

von außenher kommende Zuſätze zu betrachten ſind. Nur

die Moͤglichkeit und das Bedürfniß ſolcher Rechtsverhält-

niſſe, das heißt der Keim derſelben, findet ſich gleichmäßig

in der Natur jedes Menſchen, führt alſo eine innere Noth-

wendigkeit mit ſich; die Entwicklung jenes Keimes iſt das

Individuelle und Zufällige, und offenbart dieſe ihre Natur

durch den höchſt verſchiedenen Umfang, den wir an den

Rechten der Einzelnen wahrnehmen.

 

Es würde aber irrig ſeyn, jene Behauptung auch noch

dahin näher beſtimmen zu wollen, daß alle Rechte einer

 

III. 1

|0014 : 2|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Perſon nur im Laufe ihres Lebens erworben werden könn-

ten; denn wenngleich dieſes von den meiſten Rechten aller-

dings wahr iſt, ſo giebt es doch auch viele und wichtige,

die unmittelbar mit der Geburt ihren Anfang nehmen, in-

dem ſie gerade durch die unter beſonderen Umſtänden er-

folgte Geburt begründet werden (a). Die erworbenen Rechte

können daher allerdings auch angeborene ſeyn.

Jedes einzelne Rechtsverhältniß nun hat ſeine beſonde-

ren Regeln, nach welchen es in Beziehung auf eine be-

ſtimmte Perſon entſteht und wiederum aufhoͤrt. Dieſe Re-

geln ſind von ſolcher Wichtigkeit, daß ſie bey manchen

Rechtsverhältniſſen beynahe den einzigen Gegenſtand ge-

nauerer Forſchung und Darſtellung ausmachen (b). Jedoch

 

(a) So z. B. entſteht für das

Kind im Augenblick ſeiner Ge-

burt ſtets Cognation, wenigſtens

zur Mutter; gewöhnlich auch Ab-

hängigkeit von der Gewalt des

Vaters, und Agnation zu deſſen

Agnaten; iſt vor der Geburt der

Vater geſtorben, in deſſen Ge-

walt das Kind außerdem gebo-

ren wäre, ſo erwirbt das Kind

mit der Geburt ſogleich deſſen

Vermögen oder einen Theil deſ-

ſelben als suus heres.

(b) Dieſe Wichtigkeit iſt aner-

kannt und ſelbſt zu einſeitig und

ausſchließend dargeſtellt von Ul-

pian in L. 41 de leg. (1. 3.).

„Totum autem jus consistit aut

in adquirendo, aut in conser-

vando, aut in minuendo: aut

enim hoc agitur quemadmodum

quid cujusque fiat: aut quem-

admodum quis rem vel jus suum

conservet: aut quomodo alienet

aut amittat.” Hier wird noch

ein neues Moment in die Mitte

jener beiden geſtellt, das conser-

vare. Nimmt man dieſes im ei-

gentlichen Sinn, für die Bewir-

kung der Fortdauer des Rechts

ſelbſt, ſo fällt es mit dem drit-

ten zuſammen, indem es dann als

die Negation des dritten (oder um-

gekehrt) aufgefaßt werden kann;

dann ſagt aber auch das totum

jus consistit viel zu viel. Iſt

dagegen das conservare als Er-

haltung der Ausübung, oder

als Rechtsverfolgung, gedacht, ſo

umfaſſen allerdings jene drey Mo-

mente den größten Theil aller

Rechtsregeln überhaupt: dann

|0015 : 3|

§. 104. Einleitung.

giebt es in dieſen, die einzelnen Rechte betreffenden, Re-

geln viele und wichtige gemeinſchaftliche Beſtimmungen, die

gerade nur indem man ſie als ſolche auffaßt und zuſam-

menſtellt, richtig verſtanden werden können. Dieſe Beſtim-

mungen gehören dem allgemeinen Theil des Rechtsſyſtems

an (§ 58), und ihre Darſtellung iſt die Aufgabe des ge-

genwärtigen Abſchnitts.

Ich nenne die Ereigniſſe, wodurch der Anfang oder

das Ende der Rechtsverhältniſſe bewirkt wird, juriſti-

ſche Thatſachen. Alle juriſtiſche Thatſachen alſo kom-

men darin mit einander überein, daß durch ſie an den

Rechtsverhältniſſen beſtimmter Perſonen irgend eine Ver-

änderung in der Zeit hervorgebracht wird. Innerhalb

dieſer ihnen gemeinſamen Natur aber zeigen ſich in ihnen

große Verſchiedenheiten. Zunächſt ſind nun die wichtig-

ſten Verſchiedenheiten, die in denſelben wahrgenommen wer-

den, überſichtlich zuſammen zu ſtellen, und es ſind dabey

diejenigen Momente beſonders hervorzuheben, deren Wich-

tigkeit ſodann eine abgeſonderte genauere Darſtellung nö-

thig machen wird.

 

1) Die juriſtiſchen Thatſachen ſind theils poſitiv, theils

negativ, indem entweder etwas geſchehen, oder etwas un-

terbleiben muß, damit irgend ein Recht entſtehe oder auf-

höre. Unter dieſen beiden Klaſſen aber iſt die erſte bey

weitem die häufigſte und wichtigſte.

 

aber ſind die drey Momente nicht

ſo gleichartig, daß dieſe Zuſam-

menſtellung derſelben gerechtfer-

tigt werden könnte.

1*

|0016 : 4|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

2) Wir giengen davon aus, als Wirkung der juriſti-

ſchen Thatſachen entweder die Entſtehung oder den Unter-

gang der Rechtsverhältniſſe zu bezeichnen. Es giebt jedoch

viele und wichtige unter dieſen Thatſachen, deren Wir-

kung weder dem einen noch dem andern jener Momente

rein zugerechnet werden kann, indem ſie vielmehr als ge-

miſcht aus beiden erſcheint. Eine ſolche gemiſchte Wir-

kung juriſtiſcher Thatſachen iſt die Umwandlung oder Me-

tamorphoſe der Rechtsverhältniſſe (§ 59). In dieſem Fall

wird durch die juriſtiſche Thatſache zwar die frühere Ge-

ſtalt des Rechtsverhältniſſes zerſtört, zugleich aber eine

neue Geſtalt deſſelben erzeugt.

 

Die Umwandlung ſelbſt aber kann auf zweyerley Weiſe

gedacht werden:

 

A. Subjectiv, in Beziehung auf die Perſonen, indem

daſſelbe Rechtsverhältniß auf andere Perſonen übertragen,

folglich durch neu eintretende Subjecte fortgeſetzt wird.

Dieſer wichtige Rechtsbegriff führt den Namen Succeſ-

ſion, und von der allgemeinen Natur derſelben wird nach-

her beſonders gehandelt werden.

 

B. Objectiv, in Beziehung auf den Inhalt des Rechts-

verhältniſſes, indem daſſelbe Rechtsverhältniß mit verän-

dertem Inhalt als fortdauernd betrachtet wird. Dieſe ob-

jective Umwandlung hat ihre vollſtändige und genaue Aus-

bildung im Obligationenrecht erhalten (c). Zwar wird da-

von auch in anderen Rechtstheilen Anwendung gemacht,

 

(c) Nämlich in der Lehre von Dolus, Culpa, Caſus und Intereſſe.

|0017 : 5|

§. 104. Einleitung.

aber nur indem man obligatoriſche Begriffe und Regeln

auf ſie anwendet (d). Es hat daher dieſe Lehre eine ſo

concrete Natur, daß es gerathener erſcheint, ſie an der

gegenwärtigen Stelle ganz zu übergehen, als eine Dar-

ſtellung ihrer Grundbegriffe zu verſuchen, die doch nur

entweder unlebendig und unbefriedigend ausfallen könnte,

oder in das beſondere Gebiet des Obligationenrechts hin-

übergreifen müßte.

3) Die juriſtiſchen Thatſachen können beſtehen:

 

A. In freyen Handlungen des Betheiligten, das

heißt derjenigen Perſon, von deren Erwerb und Verluſt

die Rede iſt.

 

B. In zufälligen Umſtänden, unter welche auch die

Handlungen Anderer als des Betheiligten, imgleichen auch

Unterlaſſungen gehoͤren (e).

 

In den freyen Handlungen ferner kann der Wille des

Handelnden auf eine zwiefache Weiſe thätig ſeyn:

 

a) Als unmittelbar gerichtet auf die Entſtehung oder

Auflöſung des Rechtsverhältniſſes, wenngleich dieſe viel-

 

(d) So z. B. iſt in der rei vin-

dicatio auch Derjenige ein rech-

ter Beklagter, qui dolo desiit

possidere. Ferner hat ebenda-

ſelbſt in der Verurtheilung der

Dolus und die Culpa des Beklag-

ten den wichtigſten Einfluß. Allein

in dieſen Fällen nimmt auch das

Verhältniß zwiſchen dem Kläger

und Beklagten einen obligatori-

ſchen Character an.

(e) Wenn ich einen Diebſtahl

erleide, und dadurch Rechte er-

werbe, ſo iſt dieſes zwar von

Seiten des Diebes eine freye

Handlung, in Beziehung auf mich

aber etwas Zufälliges, außer mei-

nem Willen Liegendes. — Wenn

ich eine Nothfriſt verſäume, und

dadurch ein Recht verliere, ſo iſt

dieſes niemals eine freye Hand-

lung, die Verſäumniß mag nun

aus Vergeſſenheit oder aus Ab-

ſicht hervorgegangen ſeyn.

|0018 : 6|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

leicht nur das Mittel für andere, auch nichtjuriſtiſche Zwecke

ſeyn mag (f). Dieſe Thatſachen heißen Willenserklä-

rungen oder Rechtsgeſchäfte.

b) Oder als unmittelbar gerichtet auf andere, nicht-

juriſtiſche Zwecke, ſo daß die juriſtiſche Wirkung entwe-

der als untergeordnet im Bewußtſeyn zurücktritt (g), oder

entſchieden nicht gewollt wird (h).

 

Die Willenserklärungen endlich erſcheinen wieder auf

zweyerley Weiſe:

 

1) Als einſeitiger Wille des Betheiligten, wohin als

wichtigſter Fall der letzte Wille gehört, der jedoch nur im

beſonderen Theile des Rechtsſyſtems, nämlich im Erbrecht,

ſeine rechte Stelle findet.

 

2) Als übereinſtimmender Wille des Betheiligten mit

 

(f) Wer ein Haus kauft, tritt

mit Bewußtſeyn in ein Rechts-

verhältniß ein, welches ihm ſo-

wohl Rechte als Verbindlichkei-

ten giebt, aber dieſes Verhältniß

ſoll ihm doch nur als Mittel die-

nen, um das Haus ſicher und nach

Gutdünken bewohnen zu können,

oder durch Vermiethung, vielleicht

auch durch neuen Verkauf, Geld

zu gewinnen.

(g) Wer auf der Jagd ein

Wild erregt, der will das Ver-

gnügen der Jagd genießen, dane-

ben auch das Wild verzehren oder

verkaufen; des Eigenthumser-

werbs durch Occupation wird er

ſich dabey weniger bewußt wer-

den. — Wer das baufällige Haus

eines abweſenden Freundes durch

ſchleunige Anſtalten gegen Ein-

ſturz ſichert, der will Schaden ab-

wenden, ohne dabey beſonders an

den Quaſicontract negotiorum

gestio zu denken, oder den fünf-

ten Titel des dritten Buchs der

Digeſten nachzuſchlagen.

(h) Wer mich beſtiehlt, hat ge-

wiß nicht die Abſicht mein Schuld-

ner ex delicto zu werden. Darum

wird dieſe Thatſache, die in Be-

ziehung auf mich zufällig (Note e),

in Beziehung auf ihn eine freye

Handlung iſt, dennoch auch in die-

ſer letzten Beziehung nicht ein

Rechtsgeſchäft genannt.

|0019 : 7|

§. 104. Einleitung.

dem Willen einer oder mehrerer anderer Perſonen, das

heißt als Vertrag (i).

Dieſe allgemeinen Rechtsbegriffe erſcheinen in indivi-

dueller Geſtalt bey allen Arten der Rechtsinſtitute, bey

dem Eigenthum und anderen dinglichen Rechten, den Obli-

gationen, dem Erbrecht, den Familienverhältniſſen: dieſe

ihre concrete Geſtalten gehören der Darſtellung eben jener

Inſtitute, alſo dem ſpeciellen Rechtsſyſtem, an. Allein

zwey beſondere Formen derſelben ſind wieder ſo umfaſſen-

der Natur, und mit ſo verſchiedenen einzelnen Rechtsinſti-

tuten vereinbar, daß auch ihre genauere Betrachtung nur

hier ihre rechte Stelle finden kann: dieſe weit umfaſſenden

Formen der Willenserklärung ſind der Vertrag und die

Schenkung.

 

4) Eine beſondere Rückſicht endlich verdienen diejeni-

gen Thatſachen, welche als weſentliches Element den Ab-

lauf irgend eines Zeitraums in ſich ſchließen, folglich von

Zeitbeſtimmungen abhängig ſind.

 

Nach dieſer vorbereitenden Überſicht iſt nun von den

juriſtiſchen Thatſachen im Einzelnen zu handeln, und zwar:

 

Erſtlich von den wichtigſten unter denſelben nach ihrer

Natur und den darin vorkommenden Verſchiedenheiten.

 

(i) Der Vertrag alſo, der in

Beziehung auf Jeden der Theil-

nehmer Rechte und Verpflichtun-

gen erzeugt, iſt zugleich in Be-

ziehung auf Jeden derſelben eine

freye Handlung, und zwar insbe-

ſondere ein Rechtsgeſchäft.

|0020 : 8|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Dahin rechne ich folgende, die demnach einzeln abgehan-

delt werden ſollen:

I. Succeſſionen.

II. Freye Handlungen.

III. Willenserklärungen.

IV. Verträge.

V. Schenkungen.

VI. Von Zeitbeſtimmungen abhängige Thatſachen.

Zweytens von den Hemmungen, welche der Wirk-

ſamkeit der juriſtiſchen Thatſachen entgegen ſtehen, oder von

den verſchiedenen Arten und Gründen ihrer Ungültigkeit.

 

Das erſte können wir als die poſitive, das zweyte als

die negative Seite der Lehre von den juriſtiſchen Thatſa-

chen bezeichnen.

 

§. 105.

Wichtigſte Fälle der juriſtiſchen Thatſachen.

I. Succeſſionen.

Es iſt bereits als Eigenſchaft der juriſtiſchen Thatſa-

chen bemerkt worden, daß dieſelben in Beziehung auf

Rechtsverhältniſſe ſtets eine Veränderung in der Zeit her-

vorbringen, und daß dieſe Veränderung insbeſondere auch

in der bloßen Verwandlung des Subjekts des Rechtsver-

hältniſſes beſtehen kann (§ 104). Die ſo eben bezeichnete

Art der Thatſachen nennen wir Succeſſionen, und de-

ren Natur ſoll nunmehr näher beſtimmt werden.

 

|0021 : 9|

§. 105. Succeſſionen.

Damit nun eine ſolche juriſtiſche Succeſſion, das heißt

die blos ſubjective Umwandlung eines Rechtsverhältniſſes,

angenommen werden könne, wird vorausgeſetzt die fort-

dauernde Identität dieſes Rechtsverhältniſſes ſelbſt. Zur

Annahme dieſer Identität aber genügt keinesweges ſchon

die gleiche Gattung des Rechts, bezogen auf den gleichen

Gegenſtand. Wenn z. B. Zwey Perſonen in verſchiedenen

Zeitpunkten Eigenthum an demſelben Grundſtück haben, ſo

iſt dieſer Umſtand allein nicht hinreichend, unter Beiden

eine Succeſſion anzunehmen; vielmehr muß zur Rechtfer-

tigung dieſer Annahme zwiſchen beiden Rechtsverhältniſſen

eine ſolche innere Verbindung wahrzunehmen ſeyn, wo-

durch ſie als ein einziges, nur in verſchiedenen Perſonen

fortdauerndes, Rechtsverhältniß erſcheinen. Die Grund-

lage einer ſolchen Verbindung iſt der Umſtand, daß das

ſpätere Recht, der Zeit nach, unmittelbar auf das frühere

folgt; denn wenn z. B. eine Sache von einem Eigenthü-

mer derelinquirt, und nach einiger Zeit von einem Andern

occupirt wird, ſo beſteht unter denſelben ſchon wegen des

gänzlich trennenden Zwiſchenzuſtandes der Herrenloſigkeit

keine Succeſſion (a). Allein auch jener Anſchluß in der

Zeit iſt noch nicht hinreichend; ein ſolcher findet ſich unter

andern bey jedem Übergang des Eigenthums durch Uſu-

 

(a) Man könnte einwenden, je-

der Erbe ſey ja Succeſſor des Ver-

ſtorbenen, und doch könne zwi-

ſchen dem Tod und dem Antritt

der Erbſchaft eine lange Zwiſchen-

zeit geweſen ſeyn, in welcher das

Vermögen keinen wirklichen Herrn

hatte. Allein mit dem Antritt der

Erbſchaft wird ſtets durch eine

Rechtsfiction das Recht des Er-

ben auf den Augenblick des Todes

zurück bezogen. S. o. § 102. b.

|0022 : 10|

Buch. II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

capion, ohne daß deshalb zwiſchen beiden Eigenthümern

eine juriſtiſche Verbindung beſteht. Das Weſen dieſer Ver-

bindung nun iſt darin zu ſetzen, daß das ſpätere Rechts-

verhältniß auf das erſte gegründet, von ihm abgeleitet,

alſo auch durch daſſelbe bedingt und von ihm abhängig

iſt. So verhält es ſich mit dem Übergang des Eigen-

thums durch Tradition. Das neue Eigenthum fängt nicht

nur in demſelben Augenblick an, wo das frühere aufhört,

ſondern es entſteht auch nur inſoferne der frühere Beſitzer

wirklich Eigenthum hatte: eine ſolche Abhängigkeit von

einem individuellen früheren Recht findet ſich bey dem Er-

werb durch Uſucapion durchaus nicht. Das hier beſchrie-

bene Verhältniß allein berechtigt uns, das ſpätere Recht

mit dem früheren als identiſch anzuſehen, und dieſer Fall

erſcheint vorzugsweiſe vor den übrigen, hier damit zuſam-

men geſtellten, ſo wichtig und folgenreich, daß für ihn

die beſondere Bezeichnung durch einen eigenen Kunſtaus-

druck (Successio) nöthig gefunden worden iſt.

Die einfachſte und natürlichſte Betrachtung der Rechts-

verhältniſſe führt dahin, die berechtigte Perſon als die

bleibende Subſtanz, das Recht ſelbſt aber als das Acci-

dens anzuſehen, welches nach wechſlenden Umſtänden bald

verbunden iſt mit der Perſon, bald nicht (§ 4. 52). Der

Begriff der Succeſſion führt uns auf eine Betrachtungs-

weiſe, worin die angegebene Stellung der Perſon gegen

das ihr zukommende Recht umgekehrt erſcheint. Das Recht

kann nun als das Subſtantielle und Bleibende gelten, in-

 

|0023 : 11|

§. 105. Succeſſionen.

dem es in einer Reihe auf einander folgender wechſlender

Inhaber unverändert fortdauern kann.

Zunächſt iſt zu unterſuchen, ob der wichtige Rechtsbe-

griff der Succeſſion auf alle Arten der Rechtsverhältniſſe

gleichmäßig angewendet werden könne. Dieſe Frage müſ-

ſen wir verneinen; vielmehr iſt das wahre Gebiet ſeiner

Anwendung das Vermögensrecht, während er in Bezie-

hung auf die Familienverhältniſſe nur eine untergeordnete

und wenig bedeutende Stelle einnimmt. — Da nämlich

das Vermögen an ſich ſelbſt der Perſon fremd, und nur

von außen zu ihr hinzugethan iſt, folglich die einzelnen

Stücke deſſelben ſtets in einem ganz zufälligen und wech-

ſelnden Verhältniß zu ihr ſtehen (§ 56), ſo iſt die ausge-

dehnteſte und mannichfaltigſte Anwendung des Succeſſions-

begriffs dem Weſen des Vermögensrechts ganz angemeſ-

ſen. — Anders iſt es mit dem Familienrecht. Deſſen ur-

ſprüngliche Inſtitute ſind mit dem Weſen der Perſon ſo

eng verbunden, daß eine Anwendung der Succeſſion ihnen

nicht angemeſſen ſeyn kann. Auch finden wir ſie hier in

der That nur auf zweyerley Weiſe. Erſtlich bey denjeni-

gen künſtlichen Theilen der Familie, die ſelbſt nur auf

Vermögensverhältniſſe gegründet, und daher eben ſo wie

dieſe der gewöhnlichen Succeſſion unterworfen ſind. So

iſt das Recht des Herrn über den Sklaven gegründet auf

Eigenthum, folglich ſo wie jedes andere Eigenthum Ge-

genſtand einer gewöhnlichen Succeſſion. Eine ähnliche Be-

wandniß hat es mit dem Patronat, der mancipii causa,

 

|0024 : 12|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

dem Colonat (§ 55). Zweytens hat das älteſte Römiſche

Recht ſelbſt einige Theile der urſprünglichen Familienver-

hältniſſe der Natur des Eigenthums angenähert, wodurch

die väterliche Gewalt und die ſtrenge Gewalt des Ehe-

gatten (manus) zu Gegenſtänden einer möglichen Succeſ-

ſion gemacht wurden (§ 55 N. 1. 4). Allein faſt alle dieſe

Anwendungen ſind im heutigen Römiſchen Recht verſchwun-

den: einige waren ſchon frühe bey den Römern ſelbſt zu

blos ſymboliſchen Handlungen herabgeſunken, und ſind dann

ſchon vor Juſtinian völlig untergegangen. Nur in Einem

Inſtitut des Familienrechts hat ſich noch eine wahre Suc-

ceſſion erhalten, bey der datio in adoptionem; jedoch iſt

auch hier der Succeſſionsbegriff ohne irgend einen erheb-

lichen Einfluß. — Wir können demnach behaupten, daß

das Vermögensrecht dasjenige Rechtsgebiet iſt, in welchem

allein eine bedeutende Anwendung von dem Begriff der

Succeſſion gemacht werden kann.

An dieſe Bemerkung knüpft ſich unmittelbar folgende

wichtige Eintheilung der Succeſſion. Dieſelbe iſt bald

Singular- bald Univerſalſucceſſion (b).

 

Singularſucceſſion nennen wir diejenige, welche

irgend ein einzelnes Vermögensrecht zum Gegenſtand hat,

 

(b) Um jedem möglichen Mis-

verſtändniß vorzubeugen, bemerke

ich gleich hier, daß die von den

Neueren gebrauchten Kunſtaus-

drücke Successio universialis

und singularis (oder auch parti-

cularis) nicht ächt ſind; ich weiß

jedoch keine eben ſo kurze, ver-

ſtändliche, und allgemein bekannte,

an ihre Stelle zu ſetzen. Übri-

gens wird die ächte Terminolo-

gie weiter unten ausführlich feſt-

geſtellt werden.

|0025 : 13|

§. 105. Succeſſionen.

oder auch mehrere zuſammengefaßte Vermögensrechte, je-

doch ſo, daß jedes einzelne für ſich übergeht, ohne durch

dieſen, zufällig gemeinſchaftlichen, Übergang mit den übri-

gen in Verbindung zu treten. Dieſer Begriff iſt für ſich

allein weder ſchwierig noch erheblich, und er bekommt nur

durch den Gegenſatz des nachfolgenden Falles ſeine Be-

deutung.

Die Univerſalſucceſſion hat zum Gegenſtand das

Vermoͤgen als ein ideales Ganze, das heißt ſo daß dabey

von ſeinem ſpeciellen Inhalt, ſowohl nach der Quantität

(dem Geldwerth), als nach der Qualität (der Art der

darin enthaltenen einzelnen Rechte, und den Gegenſtänden

dieſer Rechte), ganz abſtrahirt wird (§ 56) (c). Dieſe

Succeſſion alſo bezieht ſich zwar allerdings auch auf die

einzelnen in dieſem Vermögen enthaltenen Rechte, jedoch nur

mittelbar, das heißt nur inſofern und weil ſie Theile die-

ſes Vermögens als des eigentlichen Gegenſtandes der Suc-

ceſſion ſind. Dieſer wichtige Rechtsbegriff erhält ſeine nä-

here Beſtimmung durch folgende Reihe von Sätzen.

 

1) Das Vermögen als ſolches, als eine ideale Groͤße,

ohne Rückſicht auf ſeinen beſondern Inhalt, iſt Gegenſtand

dieſer Art der Succeſſion. Damit aber iſt wohl vereinbar,

daß dieſelbe oft nicht das geſammte Vermögen, ſondern

 

(c) Die wichtigſte Schrift über

die Natur der Univerſalſucceſſion

iſt die Abhandlung von Haſſe

über Universitas juris und re-

rum, Archiv B. 5 N. 1 (ſ. oben

§ 56. o), obgleich darin dieſer Ge-

genſtand nicht Hauptpunkt der Un-

terſuchung iſt. Von dem Begriff

der Univerſalſucceſſion wird da-

ſelbſt S. 19 gehandelt.

|0026 : 14|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

nur eine Quote, das heißt einen Rechnungstheil deſſelben,

betrifft; denn auch ein ſolcher Theil bezieht ſich ja nur

auf den angegebenen idealen Begriff des Vermögens als

ſeine Grundlage: das Vermögen iſt die Einheit, wovon

jener Theil als ein Bruch erſcheint. — Eben ſo iſt mit

dieſer Art der Succeſſion vereinbar der Umſtand, daß

manche einzelne Rechte, nach ihrer beſonderen Natur, nicht

fähig ſind durch ſie mit übertragen zu werden, und da-

her, im Fall einer ſolchen Succeſſion, vielmehr ganz un-

tergehen (d); denn durch dieſes Ausſcheiden beſtimmter ein-

zelner Stücke wird das Weſen der Vermögenseinheit,

worauf es hier allein ankommt, gar nicht verändert.

2) Da das Vermögen eine universitas iſt, und zwar

die wichtigſte unter allen, ſo kann man den eben aufge-

ſtellten Satz auch ſo ausdrücken: Gegenſtand dieſer Art

der Succeſſion iſt eine universitas als ſolche; auch wird

ſich ſogleich zeigen, daß die Römiſche Bezeichnung dieſer

Succeſſionsart auf den eben erwähnten Ausdruck gegrün-

det iſt. Irrigerweiſe aber haben Manche dieſen Ausdruck

umgekehrt, und daher angenommen, daß dieſe Succeſſion

auch auf andere Arten einer universitas, z. B. Dos oder

Peculium (§ 56), angewendet werden könne, da ſie doch

nur allein bey dem Vermögen vorkommt.

 

(d) Haſſe a. a. O., S. 24. —

So z. B. iſt Erbſchaft eine Uni-

verſalſucceſſion; eben ſo die Ar-

rogation. Aber bey der Erbſchaft

geht der Niesbrauch des Verſtor-

benen nicht mit über; bey der Ar-

rogation, nach dem älteren Recht,

weder der Niesbrauch, noch auch

ſelbſt die Schulden des Arrogirten.

|0027 : 15|

§. 105. Succeſſionen.

3) Das eigentliche Kennzeichen der Univerſalſucceſſion

iſt der unmittelbare Übergang der zu dieſem Vermögen ge-

hörenden Forderungen und Schulden (e), für welche die-

ſes ſogar der einzig mögliche Übergang iſt, indem ſie durch

Singularſucceſſion gar nicht übertragen werden können (f).

 

4) Dieſes künſtliche Rechtsverhältniß kann nicht etwa

nach Gutdünken auf irgend einen beliebigen Zweck ange-

wendet werden, ſondern es iſt vielmehr ausſchließend für

eine Anzahl beſtimmter, einzelner Fälle angeordnet, in wel-

chen es dann aber auch immer, und wiederum ohne Rück-

ſicht auf eine möglicherweiſe entgegengeſetzte individuelle

Willkühr eintritt (g). Die wichtigſten dieſer Fälle betreffen

den Nachlaß eines Verſtorbenen, als: hereditas, bonorum

possessio, fideicommissaria hereditas, und andere ähnliche

Verhältniſſe. Das Vermögen eines Lebenden geht auf

dieſe Weiſe über: erſtlich, wenn der Inhaber in eines An-

dern Gewalt kommt (arrogatio, in manum conventio, Skla-

verey zur Strafe), zweytens wenn das Vermögen deſſel-

ben im Concurſe (nach der älteren Form deſſelben) ver-

 

(e) Haſſe a. a. O., S. 21. —

Bey der Erbſchaft iſt dieſes un-

zweifelhaft. Bey der Arrogation

gehen wenigſtens die meiſten For-

derungen über; die Schulden

würden auch übergehen, wenn ſie

nicht durch capitis deminutio zer-

ſtört würden (§ 70 N. III.). — In

Beziehung auf den Erben wird

dieſer Umſtand geradezu als Kenn-

zeichen angegeben in L. 37 de

adqu. vel om. her. (29. 2.).

(f) Bey den Obligationen giebt

es keine Singularſucceſſion, ſon-

dern nur Surrogate derſelben für

die Zwecke des Verkehrs; näm-

lich Umtauſch gegen eine neue

Obligation von gleichem Werth

(novatio), oder Verfolgung der

Schuld durch einen Stellvertre-

ter (cessio actionis).

(g) Eine Aufzählung dieſer Fälle

findet ſich bey Haſſe S. 49.

|0028 : 16|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

kauft wird. — In vielen anderen Fällen dagegen kann

zwar auch die Abſicht auf die Übertragung eines ganzen

Vermögens gerichtet ſeyn; ſie geht aber nicht unmittelbar

in Erfüllung, weil von der Univerſalſucceſſion nicht will-

kührlich Anwendung gemacht werden kann; vielmehr müſ-

ſen in ſolchen Fällen alle Beſtandtheile des Vermögens

einzeln übertragen werden (h).

5) Man kann nun fragen, aus welchem Grund dieſer

künſtliche Rechtsbegriff aufgeſtellt, und auf beſtimmte Fälle

angewendet, auf andere aber nicht angewendet worden iſt?

Ohne Zweifel lag die Veranlaſſung dazu in dem uralten,

ſtets wiederkehrenden, höchſt wichtigen Verhältniß der he-

reditas. In dieſes die Forderungen und Schulden, ſo wie

beſonders die sacra, mit herein zu ziehen, war unentbehr-

lich. Dieſer praktiſche Zweck konnte durch einzelne, für

jedes dieſer Verhältniſſe beſonders erlaſſene, Vorſchriften

erreicht werden; es war aber dem juriſtiſchen Takt der

Roͤmer angemeſſen, dieſe Einzelnheiten durch einen Total-

 

(h) Haſſe S. 23 — 40. — Die

wichtigſten Fälle ſind die, wenn

ein ganzes Vermögen verſchenkt,

zu einer Dos verwendet, in eine

Societät eingebracht werden ſoll,

oder wenn ein Erbe die ihm an-

gefallene Erbſchaft verkauft. Ge-

wiſſermaßen gehört dahin auch das

legatum partitionis, indem die-

ſes gleichfalls nur als Singular-

ſucceſſion wirkt, obgleich es eine

Quote der Erbſchaft zum Gegen-

ſtand hat; nur iſt hier der Un-

terſchied, daß der Erblaſſer dieſe

Quote dem ernannten Legatar

eben ſo leicht als Erbeinſetzung

zuwenden könnte, wodurch es eine

Univerſalſucceſſion werden würde,

daß alſo hier gerade die Abſicht

des Erblaſſers darauf gerichtet iſt,

die angewieſene Quote in den

Gränzen einer Singularſucceſſion

zu halten. — Eben dahin gehörte

urſprünglich die Reſtitution einer

fideicommiſſariſchen Erbſchaft, bis

das Sc. Trebellianum die Natur

einer Univerſalſucceſſion hinein

legte. Gajus II. § 252. 253.

|0029 : 17|

§. 105. Succeſſionen.

begriff zuſammen zu faſſen, in welchem dann, neben jenen

wichtigſten Zwecken, zugleich alle Nebenfragen ihre ganz

zuſammenſtimmende Erledigung fanden. An die hereditas

ſchloſſen ſich dann die wichtigſten anderen Fälle, wie die

bonorum possessio, unmittelbar an, da ſie ohnehin nur

erweiterte Anwendungen jenes Rechtsbegriffs waren. Auch

für die Arrogation u. ſ. w. war eine angemeſſenere Ana-

logie gewiß nicht aufzufinden. Weiter zu gehen mit die-

ſer künſtlichen Anſtalt, als wohin das unmittelbare Be-

dürfniß führte, ſagte wieder dem juriſtiſchen Sinn der

Roͤmer nicht zu; insbeſondere konnte es zu großen Härten

führen, wenn man die Anwendung jenes künſtlichen Rechts-

inſtituts ganz der Privatwillkühr hätte überlaſſen wol-

len (i). Inſoferne könnte man wohl im Sinne der Römi-

ſchen Juriſten ſagen, die Anwendung der Univerſalſucceſ-

ſion ſey juris publici (§ 16).

Es bleibt nun noch übrig, den Sprachgebrauch der

Römer genau feſtzuſtellen (k).

 

Der Ausdruck Successio (Successor, Succedere) allein,

ohne Zuſatz, iſt unſicher, indem er in zwey verſchiedenen

Bedeutungen gebraucht wird, ſo daß in jeder einzelnen

 

(i) Man kann daneben wohl

annehmen, daß die Gränzen der

Anwendung mitunter etwas Zu-

fälliges an ſich tragen mögen, und

daß unter den minder wichtigen

Fällen einzelne mehr oder weni-

ger der Univerſalſucceſſion hätten

zugezählt werden können, ohne

das Weſen dieſes Rechtsverhält-

niſſes zu gefährden. Haſſe S. 60

unterſucht ansführlich, warum die

Römer gerade dieſe und keine an-

dere Fälle dahin gerechnet haben,

wobey er vielleicht hie und da et-

was zu ſubtil verfährt.

(k) Vergl. Haſſe a. a. O.

S. 40 fg.

III. 2

|0030 : 18|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Stelle deſſen Bedeutung nur aus dem Zuſammenhang zur

Gewißheit gebracht werden kann. — In mehreren Stellen

bezeichnet derſelbe ſchon für ſich allein ausſchließend die

Univerſalſucceſſion (l); dahin gehören unter andern auch

die Stellen, worin heredes ceterique successores zuſam-

mengeſtellt werden (m); ja nicht ſelten wird der Ausdruck

noch enger auf die durch einen Todesfall veranlaßte

Univerſalſucceſſion beſchränkt (n). — In anderen Stellen

dagegen hat derſelbe eine ganz allgemeine Bedeutung,

ſo daß beide Arten der Succeſſion von ihm umfaßt wer-

den. Dahin gehören diejenigen Stellen, worin er beſtimmt

auf einzelne Fälle bloßer Singularſucceſſion angewendet

wird (o); ganz beſonders aber diejenigen, worin die Ver-

faſſer nöthig finden, durch Zuſätze auszudrücken, daß die eine

oder die andere Art beſonders gemeynt ſey, welche Aus-

drucksweiſe unverkennbar vorausſetzt, daß Successio ohne

Zuſatz eine ganz allgemeine, beide Arten umfaſſende, Be-

deutung habe. Davon werden ſogleich viele Beyſpiele an-

gegeben werden.

Was nun aber die genauere Bezeichnung für jede Art

beſonders betrifft, ſo ſind vor allen diejenigen Stellen

 

(l) Gajus III. § 82. — pr. J.

de eo cui lib. (3. 11.). — Inscript.

tit. J. de successionibus sublatis

(3. 12.). — L. 170 de V. S. (50.

16.), L. 7 § 2 de cond. furt.

(13. 1.), L. 1 § 37. 43 de aqua

(43. 20.) u. a. m.

(m) L. 1 § 44. 48 de vi (43.

16.), L. 14 § 1 de div. temp.

(44. 3.), L. 17 § 1 de proc. (3. 3.).

(n) Haſſe S. 43 fg.

(o) L. 17 § 5 de pactis (2. 14.)

„etsi per donationem successio

„facta sit.” L. 4 § 29 de doli

exc. (44. 4.), L. 7 in f. L. 8

de jurej. (12. 2.).

|0031 : 19|

§. 105. Succeſſionen.

wichtig, worin beide Arten neben einander, alſo in ihrem

Gegenſatz, erwähnt werden. Dahin gehören folgende:

I. L. 3 § 1 de exc. rei vend. (21. 3.). „Pari ratione

etiam venditoris successoribus nocebit: sive in uni-

versum jus, sive in eam dumtaxat rem successerint.”

II. L. 1 § 13 quod leg. (43. 3.). „In locum successisse

accipimus, sive per universitatem, sive in rem his

sit successum.”

III. L. 37 de adqu. vel om. her. (29. 2.). „Heres in

omne jus mortui, non tantum singularum rerum

dominium succedit.”

IV. L. 24 § 1 de damno inf. (39. 2.). „.. successo-

res autem non solum qui in universa bona succe-

dunt, sed et hi, qui in rei tantum dominium

successerint, his verbis continentur.” (Nämlich in

den Worten einer vorher erwähnten Stipulation,

worin der Ausdruck successorum ohne näheren Zu-

ſatz vorkam.)

Ich will nun theils aus dieſen, theils aus anderen

Stellen eine Überſicht derjenigen Ausdrücke geben, wodurch

die eine oder andere Art der Succeſſion beſonders bezeich-

net wird.

 

A. Die Univerſalſucceſſion:

 

Per universitatem successio oder succedere.

N. II. der abgedruckten Stellen.

pr. J. de succ. subl. (3. 12.).

2*

|0032 : 20|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Per universitatem adquirere oder adquisitio.

§ 1 J. de succ. subl. (3. 12.).

§ 6 J. per quas pers. (2. 9.).

Gajus II. § 97.

Per universitatem transire.

L. 62 de adqu. rer. dom. (41. 1.).

L. 1 § 1 de fundo dot. (23. 5.).

Universitatis successio.

L. 3 pr. de B. P. (37. 1.).

In jus succedere.

L. 9 § 1 de edendo (2. 13.).

L. 177 § 1 de R. J. (50. 17.).

L. 3 pr. de B. P. (37. 1.).

In omne jus succedere.

N. III. der abgedruckten Stellen.

L. 11 de div. temp. (44. 3.).

In universum jus succedere und successio.

N. I. der abgedruckten Stellen.

L. 19 § 5 de aedil. ed. (21. 1.).

L. 24 de V. S. (50. 16.).

L. 62 de R. J. (50. 17.).

Juris successor.

L. 9 § 12 de her. inst. (28. 5.).

L. 9 § 1 de edendo (2. 13.).

§ 11 de J. test. ord. (2. 10.).

In universa bona succedere.

N. IV. der abgedruckten Stellen.

|0033 : 21|

§. 106. Altersſtufen.

B. Die Singularſucceſſion.

 

In rem succedere.

N. I. II. der abgedruckten Stellen.

L. 8 de jurej. (12. 2.).

In rei dominium succedere.

N. IV. der abgedruckten Stellen.

In singularum rerum dominium succedere.

N. III. der abgedruckten Stellen.

Bey den angeführten Formen: per universitatem suc-

cedere u. ſ. w., iſt jedoch zu bemerken, daß dadurch die

Univerſalſucceſſion, d. h. die Succeſſion in das Vermögen

ſelbſt als eine universitas, nur auf mittelbare Weiſe be-

zeichnet wird. Denn zunächſt iſt in dieſem Ausdruck die

Rede von dem Erwerb einer einzelnen Sache, und es wird

durch jenen Zuſatz nur ausgedrückt, daß der Erwerb der

einzelnen Sache vermittelſt des Ganzen, wozu dieſelbe

als Beſtandtheil gehört, vor ſich gehe.

 

§. 106.

II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Alters-

ſtufen. Einleitung.

Freye Handlungen können in zwey verſchiedenen Be-

ziehungen zu den Rechtsverhältniſſen gedacht werden: als

Gegenſtände der Rechte, und als Entſtehungsgründe

derſelben. Die erſte Beziehung iſt nur anwendbar auf eine

einzelne Klaſſe der Rechte, die Obligationen, fällt alſo

 

|0034 : 22|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

dem ſpeciellen Theil des Syſtems anheim. Die zweyte Be-

ziehung dagegen, in welcher ſie als Gründe der Entſte-

hung, oder auch des Untergangs der Rechte, und daher

als die wichtigſte Klaſſe der juriſtiſchen Thatſachen über-

haupt, erſcheinen, gehört weſentlich hierher, indem ſie für

die gemeinſame Betrachtung folgende wichtige Frage dar-

bietet: Welches ſind die perſönlichen Bedingungen der

Handlungsfähigkeit (a), oder genauer: welches ſind

einestheils die Hinderniſſe, wodurch jene Fähigkeit ausge-

ſchloſſen oder vermindert wird, anderntheils die künſtlichen

Erweiterungen derſelben?

Die Hinderniſſe der Handlungsfähigkeit, oder des voll-

ſtändig freyen Vernunftgebrauchs, können auf folgende

Fälle zurückgeführt werden, die nunmehr einzeln zu erwä-

gen ſind:

 

Unreifes Alter.

Vernunftloſigkeit.

(a) Der weſentliche Unterſchied

der Rechtsfähigkeit von der Hand-

lungsfähigkeit iſt ſchon oben (§ 60)

bemerkt worden. Das Verhält-

niß beider Rechtsbegriffe zu ein-

ander iſt aber dieſes: Der Rechts-

fähige kann nach Umſtänden bald

handlungsfähig ſeyn, bald auch

nicht. Der Rechtsunfähige dage-

gen muß gerade ſoweit, als er die-

ſes iſt, auch handlungsunfähig

ſeyn, weil in ihm die Handlung

die ihr ſonſt zukommende Wir-

kung gar nicht hervorbringen kann.

Wo dieſes anders zu ſeyn ſcheint,

da iſt es in der That, juriſtiſch

zu reden, nicht ſeine Handlung,

ſondern die Handlung eines von

ihm nur vertretenen Anderen. So

z. B. konnte ein Römiſcher Sklave

allerdings die wichtigſten Geſchäf-

te, ſelbſt Mancipationen und Sti-

pulationen, gültig abſchließen:

allein er galt hierin nur als das

juriſtiſche Inſtrument des Herrn,

dem die Handlungen des Skla-

ven gerade ſo zu gut gerechnet

wurden, als ob er ſelbſt gehan-

delt hätte.

|0035 : 23|

§. 106. Altersſtufen.

Interdiction.

Natur der juriſtiſchen Perſonen.

Daß der Menſch, unmittelbar nach ſeiner Geburt, alles

Vernunftgebrauchs gänzlich ermangelt, iſt unzweifelhaft.

Zwiſchen dieſem Zuſtand aber, und dem der vollſtändigen

Ausbildung, liegen allmälige, ganz unmerkliche Übergänge

in der Mitte. Dadurch entſteht für die Rechtsanwendung

eine zwiefache große Schwierigkeit: erſtlich durch die un-

ſichere Gränzbeſtimmung im Leben jedes Einzelnen, zwey-

tens durch die ungleiche Entwicklung verſchiedener Men-

ſchen. Das praktiſche Bedürfniß führt darauf, hierin po-

ſitiv durchzugreifen, weil nur dadurch die erwähnte zwie-

fache Ungewißheit gehoben werden kann. Dieſes iſt die

Bedeutung der im poſitiven Recht beſtimmten Altersſtufen,

die alſo lediglich auf die Handlungsfähigkeit, nicht auf

die Rechtsfähigkeit, Einfluß haben, und deren Feſtſtellung

daher nur an dieſem Ort unternommen werden kann.

 

Das Römiſche Recht nimmt in dem Leben jedes ein-

zelnen Menſchen Drey wichtige Gränzpunkte an, wodurch

folgende Vier juriſtiſch verſchiedene Lebensalter entſtehen:

 

1) Von der Geburt bis zum Ende des Siebenten Jah-

res. — Infantes, Qui fari non possunt, Kinder.

 

2) Von Sieben Jahren bis zum Ende des Vierzehen-

ten oder Zwölften Jahres, nach Verſchiedenheit der Ge-

ſchlechter. — Qui fari possunt (bey den Neueren Infantia

majores). — Beide erſte Lebens alter zuſammengefaßt: Im-

puberes, Un mündige.

 

|0036 : 24|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

3) Von Vierzehen oder Zwölf Jahren bis zum Ende

des Fünf und zwanzigſten Jahres. — Adolescentes, Adulti.

— Dieſes Lebensalter mit den zwey erſten zuſammen: Mi-

nores (b), Minderjährige. — Dieſes Lebensalter mit dem

folgenden zuſammen: Puberes, Mündige.

 

4) Von Fünf und zwanzig Jahren an, ohne weitere

Gränze. — Majores, Volljährige, Großjährige.

 

Als Grundlage der weiteren Ausführung aber muß

gleich hier bemerkt werden, daß unter dieſen drey Gränz-

punkten der mittlere (Pubertas), wie der älteſte, ſo auch

der wichtigſte iſt (c). Das Römiſche Recht nämlich, ſo

weit hiſtoriſche Nachrichten aufwärts reichen, nimmt an,

mit der Geſchlechtsreife ſey zugleich auch der volle Ver-

nunftgebrauch wirklich vorhanden. Vor dieſem Zeitpunkt

iſt daher der Menſch handlungsunfähig, weshalb ſein Ver-

mögen unter der Verwaltung eines Tutors ſteht. Nach

demſelben Zeitpunkt iſt er voͤllig handlungsfähig, beherrſcht

alſo ſelbſt ſein Vermoͤgen, und bedarf eines Tutors nicht

mehr (d). Beide Regeln aber haben allmälig Modifica-

 

(b) Der Ausdruck Minores iſt

eine bloße Abkürzung, da es roll-

ſtändig heißt: Minores XXV an-

nis; eben ſo auch Majores.

(c) Dieſe vorherrſchende Wich-

tigkeit der pubertas zeigt ſich auch

darin, daß das Alter der Impu-

beres und Puberes geradezu als

prima und secunda aetas bezeich-

net wird, gleich als ob dieſes die

einzigen Altersſtufen wären. L. 30

C. de ep. aud. (1. 4.), L. 10 C.

de impub. et al. subst. (6. 26.),

L. 8 § 3 C. de bon. quae lib.

(6. 61.).

(d) Im männlichen Geſchlecht

hörte nun jede Tutel auf; im

weiblichen trat allerdings eine

neue Tutel (die muliebris) an

die Stelle der bisherigen, allein

dieſe neue hatte gar keine Be-

ziehung mehr auf das Alter, und

hörte auch niemals des bloßen Al-

ters wegen auf.

|0037 : 25|

§. 107. Altersſtufen. Infantes.

tionen erhalten, worauf ſich nun der erſte und dritte

Gränzpunkt beziehen. Das Ende der Kindheit bezeichnet

den Punkt, bis zu welchem aufwärts doch noch ein ge-

wiſſer Grad der Handlungsfähigkeit reicht; ſo wie das

Ende der Minderjährigkeit den Punkt bezeichnet, bis zu

welchem abwärts die urſprünglich unbedingte Handlungs-

fähigkeit der Mündigen ſpäterhin doch noch einigen Ein-

ſchränkungen unterworfen worden iſt.

Unter dieſen Vier Lebensaltern bedarf das letzte keiner

beſonderen Betrachtung, da daſſelbe nur den normalen Zu-

ſtand in ſich ſchließt, worin überhaupt kein Hinderniß der

Handlungsfähigkeit wahrzunehmen iſt. Die drey erſten aber

ſind nunmehr nach ihrer natürlichen Zeitfolge abzuhan-

deln, und zwar iſt bey jedem derſelben ſowohl der Gränz-

punkt ſelbſt, als die praktiſche Bedeutung deſſelben zu un-

terſuchen: beides, ſo weit es geſchehen kann, mit Rück-

ſicht auf die hiſtoriſche Entſtehung der darauf bezüglichen

Rechtsregeln.

 

§. 107.

II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Alters-

ſtufen. Infantes und Qui fari possunt.

Wir fragen zuerſt: durch welche Betrachtungen wur-

den die Römer veranlaßt, innerhalb der Unmündigkeit noch

einen beſonderen Zeitraum unter dem Namen Infantia aus-

zuſcheiden? oder mit anderen Worten: welches war die

praktiſche Bedeutung der Infantia?

 

|0038 : 26|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Nach dem älteſten und durchgreifendſten Grundſatz wa-

ren alle Impuberes zu juriſtiſchen Handlungen ganz un-

fähig, und deshalb hatten ſie ſtets einen Tutor, der für

ſie handelte (§ 106). Allein die ſtrenge Durchführung die-

ſes Grundſatzes, auch in dem Fall wenn der Unmündige

von väterlicher Gewalt frey, folglich im Beſitz eines eige-

nen Vermögens war, würde für den Rechtsverkehr im

Ganzen ſehr ſtörend, für die Unmündigen ſelbſt aber äu-

ßerſt nachtheilig geweſen ſeyn. Denn die meiſten und

wichtigſten Geſchäfte des älteren Rechts konnten nur durch

eigenes Handeln des Betheiligten zu Stande kommen, und

die Vertretung durch einen Fremden (wie hier durch den

Tutor) war dabey ganz unzuläſſig und wirkungslos. Folg-

lich hätte der Tutor zwar die Felder des Unmündigen be-

ſtellen, Pachtgelder und Kapitalzinſen erheben, den Unter-

halt des Mündels beſtreiten, kurz alles Dasjenige, was

zur laufenden Verwaltung gehört, beſorgen können: aber

die vortheilhafteſten und nothwendigſten Rechtsgeſchäfte,

wie Mancipationen, Stipulationen, Kaufcontracte u. ſ. w.,

hätten zum großen Schaden des Unmündigen gänzlich un-

terbleiben müſſen. Wie war da zu helfen?

 

Zunächſt durch folgende Betrachtung. Der Grundſatz

der Pubertät, als Anfang und Bedingung der Handlungs-

fähigkeit, beruht auf der Vorausſetzung, von dieſem Zeit-

punkt an werde gewiß die nöthige Einſicht in die Natur

der vorkommenden Geſchäfte vorhanden ſeyn. Allein Nie-

mand kann annehmen, daß dieſe Einſicht mit jenem Zeit-

 

|0039 : 27|

§. 107. Altersſtufen. Infantes.

punkt plötzlich entſtehe. Sie wird alſo wohl auch ſchon

einige Zeit vorher (prope pubertatem) vorhanden ſeyn,

und es hat kein Bedenken, auch ſchon in dieſer Zeit den

Unmündigen, der jetzt proximus pubertati iſt, ſelbſt han-

deln zu laſſen, wenn nur dafür geſorgt wird, daß er da-

bey nicht zu Schaden komme. Dieſe Gefahr aber wird

ſicher verhütet, wenn man den Unmündigen nur diejeni-

gen Geſchäfte, bey welchen nichts zu verlieren iſt (wie

das Stipulari), allein vornehmen läßt, bey bedenklichen

Geſchäften aber (wie das Promittere) die Genehmigung

des Tutors erfordert. Darin lag dann eine ganz unge-

fährliche Erleichterung des Verkehrs, in Beziehung auf die

oben dargeſtellte Schwierigkeit, und dieſe Erleichterung ha-

ben die Roͤmer wirklich anerkannt, wobey wohl zu bemer-

ken iſt, daß ſie Dieſes nicht als eine Abweichung von all-

gemeinen Grundſätzen anſehen, ſondern als Etwas, das

ſich eigentlich von ſelbſt verſtehe.

Allein genügend war dieſe Abhülfe nicht, da ſie nur

einen ſo kurzen Zeitraum umfaßte. Man that alſo einen

zweyten und wichtigeren Schritt, indem man annahm, der

Unmündige ſolle auch ſchon früher, alſo noch ehe man ihm

Geſchäftseinſicht zuſchreiben konnte, dennoch ſelbſt handeln

dürfen: verſteht ſich mit den ſchon erwähnten ſchützenden

Maasregeln, ſo daß er allein handeln ſollte nur wo kein

Verluſt möglich war, ſonſt aber ſtets mit Genehmigung

ſeines Tutors. Es iſt wohl zu bemerken, daß die Römer

dieſen zweyten, wichtigeren Schritt als Etwas anſahen,

 

|0040 : 28|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

das ſich nicht von ſelbſt verſtehe, vielmehr als eine ganz

poſitive, zur Erleichterung des Rechtsverkehrs getroffene

Einrichtung, als benigna interpretatio, utilitatis causa

recepta (a), folglich als ein jus singulare (§ 16). Das

Beſondere dabey lag aber nach ihrer Anſicht darin, daß

(unter dem Schutz der erwähnten Vorſichtsmaasregeln) auch

Derjenige handeln kann, der von dem Geſchäft noch Nichts

verſteht: eben darum aber betrachteten ſie die Fähigkeit

des proximus pubertati vielmehr als etwas Natürliches.

Jedoch ſollte auch dieſe wichtige Erleichterung wieder

eine beſtimmte Gränze haben, damit nicht mit Rechtsge-

ſchäften ein bloßes Spiel getrieben würde. Sie ſollte erſt

anfangen mit dem Ende der Infantia. Und ſo iſt alſo die

praktiſche Bedeutung der Infantia dieſe: ſie iſt der Lebens-

abſchnitt, mit deſſen Ablauf der Menſch zu Rechtsge-

 

(a) Am vollſtändigſten ausge-

drückt findet ſich dieſer Gang der

Gedanken in § 9. 10 J de inut.

stip. (3. 19.). „Pupillus omne

negotium recte gerit … Sed

quod diximus de pupillis, uti-

que de his verum est, qui jam

aliquem intellectum habent:

nam infans, et qui infanti pro-

ximus est … nullum intellectum

habent. Sed in proximis in-

fanti, propter utilitatem eo-

rum, benignior juris interpre-

tatio facta est, ut idem juris

habeant, quod pubertati proxi-

mi.” (iſt theils wörtlich über-

einſtimmend mit Gajus III. § 107.

109, theils aber beſtimmter und

unzweydeutiger; ohne Zweifel aus

einem anderen Urtext.) — L. 6

rem pupilli (46. 6.) „si (pupil-

lus) .. fari potest, etiamsi ejus

aetatis erit, ut non intelligat

quid agat: tamen propter uti-

litatem receptum est, recte eum

stipulari et agere.” — L. 1 § 13

de O. et A. (44. 7.). „Huic (fu-

rioso) proximus est, qui ejus

aetatis est, ut nondum intelli-

gat quid agatur. Sed quod ad

hunc, benignius acceptum est:

nam qui loqui potest, creditur

et stipulari et promittere recte

posse.” — „favorabiliter eis

praestatur.” L. 9 de adqu. vel

om. her. (29. 2.).

|0041 : 29|

§. 107. Altersſtufen. Infantes.

ſchäften (theils allein, theils mit dem Tutor) fähig

wird (b).

Welches iſt aber die Gränze der Infantia? Infans heißt

wörtlich ein Nichtſprechender, insbeſondere jedoch verſtand

man darunter Den, welcher noch nicht durch ſein Alter

zum Beſitz der Sprache gekommen iſt, da der durch orga-

niſche Mängel Sprachloſe mutus genannt wurde (c). Daß

man nun in der That den Ausdruck in ſeinem etymologi-

ſchen Sinn genommen hat, erhellt unwiderſprechlich aus

dem Umſtand, daß die Römer in vielen Stellen, mit ganz

willkührlicher Abwechslung, bald Infans, bald qui fari non

potest ſagen; und dieſes wird wieder am anſchaulichſten

in ſolchen Stellen, worin beide Ausdrücke unmittelbar

neben einander als gleichbedeutend gebraucht werden (d).

Alſo ſollen Diejenigen, und nur Diejenigen, Geſchäfte be-

treiben dürfen, welche ſchon ſprechen können. Allein

in dieſer Gränzbeſtimmung liegt noch eine unverkennbare

Zweydeutigkeit. Man kann nämlich den Ausdruck nehmen

in dem Sinn des gewöhnlichen Lebens, von der niederen

Fertigkeit, wodurch das Kind ſeine kindiſchen Vorſtellun-

 

(b) L. 70 de V. O. (45. 1.).

„Mulier .. fecerat .. promittere

dotem … Infanti … placebat

ex stipulatu actionem non esse,

quoniam qui fari non poterat,

stipulari non poterat.” L. 141

§ 2 eod. „Pupillus .. ex quo

fari coeperit, recte stipulari po-

test.” — Vgl. auch L. 5 de R. J.

(50. 17.), und die in der Note a

abgedruckte Stellen.

(c) In L. 65 § 3 ad Sc. Treb.

(36. 1.) wird neben dem Infans,

oder qui fari non potest, der

mutus als verſchieden genannt.

(d) L. 70 de V. O. (45. 1.),

ſ. o. Note b. — L. 65 § 3 ad Sc.

Treb. (36. 1.), L. 30 § 1. 2. 4 de

fid. lib. (40. 5.), L. 1 C. ad Sc.

Tert. (6. 56.).

|0042 : 30|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

gen in Tönen zu bezeichnen vermag, welches meiſt im

zweyten oder dritten Lebensjahr anfängt; oder in dem hö-

heren Sinn, nach welchem die Sprache ſchon ein zuſam-

menhängender Ausdruck verſtändiger Gedanken iſt, und

alſo zugleich einen Fortſchritt der Geiſtesentwicklung vor-

ausſetzt und anzeigt. Die Römer nun haben den Aus-

druck in dieſem letzten Sinn genommen, folglich auch der

Infantia eine weit größere Ausdehnung gegeben, als welche

aus dem erſten Sinn folgen würde (e). Daß ſie über-

haupt das fari posse als Gränzpunkt annahmen, hatte

ſeinen Grund in der uralten Sitte, alle wichtigen Ge-

ſchäfte in feyerliche Formeln mündlicher Rede einzuklei-

den (f). Nun war ihre Meynung gar nicht, juriſtiſche

Handlungen dadurch herabzuwürdigen, daß man ein Kind

hätte gedankenlos unverſtandene Worte nachſprechen laſ-

ſen, welches oft auch bey einem Blödſinnigen bewirkt wer-

den könnte; vielmehr ſollte der Knabe immer ſchon ver-

ſtehen, was er ſagte, alſo mit Bewußtſeyn ſprechen, wenn

ihm auch vielleicht das Geſchäft ſelbſt, nach ſeinen Grün-

(e) Die erſte Bedeutung der

Infantia (beſchränkt auf die aller-

erſten Lebensjahre) wird verthei-

digt in einer Abhandlung von

Unterholzner, Zeitſchrift für

geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 1

N. 3 S. 44—53. Eine gelehrte

Widerlegung findet ſich in einer

Recenſion dieſer Abhandlung, Hei-

delberger Jahrbücher Jahr 1815

S. 664—683.

(f) Das fari posse drückte alſo

zweyerley zugleich aus: diejenige

Verſtandesentwicklung, welche ſich

durch den verſtändigen Redege-

brauch kund giebt, und die Fä-

higkeit zu mündlichen Rechtsge-

ſchäften. Beides fällt zuſammen,

und daher war der Ausdruck auch

auf diejenigen Rechtsgeſchäfte an-

wendbar, wozu mündliche Rede

nicht gerade erfordert wurde, wie

die Conſenſualcontracte.

|0043 : 31|

§. 107. Altersſtufen. Infantes.

den und Zwecken, Vortheilen und Nachtheilen, noch unbe-

kannt ſeyn mochte. Dabey lag alſo zum Grunde die ſehr

natürliche Unterſcheidung folgender drey Zuſtände: I. Ein-

ſicht in das Geſchäft ſelbſt, worüber verhandelt wird,

II. Mangel dieſer (materiellen) Einſicht, neben (formaler)

Verſtandesentwicklung, das heißt neben dem Verſtändniß

der bey der Verhandlung auszuſprechenden Worte (g),

III. Mangel dieſes letzten Verſtändniſſes, obgleich vielleicht

die Worte vernehmlich, aber gedankenlos nachgeſprochen

(g) Dieſe Unterſcheidung von

zwey verſchiedenen Entwicklungs-

ſtufen, die in den Stellen der

Römiſchen Juriſten unverkennbar

zum Grunde liegt, würde darin

weniger überſehen worden ſeyn,

wenn die Römer dabey einen fe-

ſteren und beſtimmteren Sprach-

gebrauch durchgeführt hätten. Zu-

weilen allerdings finden ſich ſolche

Ausdrücke, welche denjenigen, die

noch nicht proximi pubertati ſind,

nur die Einſicht in den Gegen-

ſtand, alſo die materielle Ge-

ſchäftskenntniß, abſprechen (z. B.

L. 5 de R. J. „qui fari possunt,

quamvis actum rei non intelli-

gerent, eben ſo L. 1 § 13 de O.

et A. (Note a) „nondum intel-

ligat quid agatur,” und L. 9

de adqu. vel om. her. „ut cau-

sam adquirendae hereditatis

non intelligat”), während ſie ih-

nen das intelligere überhaupt,

d. h. das verſtändige Bewußtſeyn,

wohl zuſprechen (L. 14 de spons.,

abgedruckt eben im Text N. 4).

Dagegen ſind wieder andere Stel-

len, welche von jenen Unmündi-

gen ſchlechthin ſagen: nullum in-

tellectum habent (§ 10 J. de

inut. stip. 3. 19., ſ. o. Note a). —

Übrigens iſt die höhere Entwick-

lung (das actum rei intelligere)

relativ, und zwar nicht blos ab-

hängig von den individuellen An-

lagen, ſondern auch von der Na-

tur des Geſchäfts ſelbſt. Ein

Knabe z. B. wird früher lernen,

mit Sachkenntniß ein Kleidungs-

ſtück einzukaufen, als einen ver-

wickelten Societätscontract abzu-

ſchließen. — Der Gedanke iſt alſo

eigentlich der: Nach zurückgeleg-

ter Kindheit hat der Unmündige

hinreichend paſſiven Verſtand, um

das Denken und Wollen des aucto-

rirenden Tutors in ſich aufzu-

nehmen und zu dem ſeinigen zu

machen; ſteht er nahe an der

Mündigkeit, ſo darf ihm auch

ſchon ein ſelbſtthätiger, die Ge-

ſchäfte begreifender und verar-

beitender Verſtand zugeſchrieben

werden.

|0044 : 32|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

werden könnten. Bey dem erſten Zuſtand (Puberes und

pubertati proximi) verſteht ſich die Handlungsfähigkeit

von ſelbſt; bey dem zweyten (qui fari possunt) iſt ſie als

Erleichterung des Verkehrs nachgelaſſen worden; bey dem

dritten (Infantia) ſoll auch dieſe Erleichterung nicht ſtatt

finden.

Ehe aber dieſes Alles hiſtoriſch bewieſen werden kann,

muß an die ſchon oben erwähnte Schwierigkeit erinnert

werden, die für das praktiſche Leben aus der bey jedem

Einzelnen allmäligen, bey verſchiedenen Menſchen aber ſehr

ungleichen, Entwicklung der Sprachfähigkeit hervorgeht.

Hier war eine feſte und für Alle gleichförmige Gränze

praktiſch ſehr wünſchenswerth. Nun wurde den Römern

eine uralte Lehre griechiſcher Philoſophie bekannt, welche

der Zahl Sieben geheimnißvolle Kräfte, und den ſieben-

jährigen Lebensperioden eine beſondere Wichtigkeit beylegte.

Dieſe Lehre kam jenem praktiſchen Bedürfniß auf die will-

kommenſte Weiſe entgegen, und ſo geſchah es, daß die

Gränze der Kindheit gerade auf das Ende des ſiebenten

Jahres allgemein angeſetzt wurde, anſtatt daß wohl auch

Sechs oder Acht Jahre dafür angenommen werden konn-

ten (h). Nimmt man nun Sieben Jahre an, ſo folgt

 

(h) Es darf alſo nicht ſo ver-

ſtanden werden, als wäre dieſe

ganze Lehre von der Infantia erſt

durch griechiſche Philoſophie in

das Römiſche Recht gekommen;

nur die Fixirung auf ein beſtimm-

tes Jahr überhaupt, und gerade

auf Sieben Jahre, iſt daher ab-

zuleiten. Die Zeugniſſe für die

alte Philoſophenlehre ſind ſehr

gründlich zuſammengeſtellt in der

oben (Note e) angeführten Re-

cenſion S. 669 fg.

|0045 : 33|

§. 107. Altersſtufen. Infantes.

daraus zugleich unmittelbar die Beſtätigung der oben auf-

geſtellten Behauptung, daß das fari posse nicht in dem

gemeinen, ſondern in einem hoͤheren Sinn verſtanden wurde,

indem es kaum jemals vorkommen wird, daß ein Kind

vor dem achten Jahr gar nicht ſprechen lernen ſollte.

Die Richtigkeit dieſer Sätze beruht auf dem Beweiſe,

daß in der That die Infantia genau die erſten Sieben Le-

bensjahre ausfüllt, und dieſer Beweis ſoll nunmehr durch

Zuſammenſtellung folgender übereinſtimmenden Zeugniſſe ju-

riſtiſcher und nichtjuriſtiſcher Art geführt werden.

 

1) L. 1 § 2 de admin. (26. 7.). Der Tutor kann für

ſeinen Mündel, wenn dieſer verklagt wird, den Prozeß

führen. Dieſen Satz führt Ulpian in folgenden Worten

weiter aus:

licentia igitur erit, utrum malint ipsi suscipere judici-

um, an pupillum exhibere, ut ipsis auctoribus judici-

um suscipiatur: ita tamen, ut pro his qui fari non

possunt, vel absint, ipsi tutores judicium suscipiant:

pro his autem qui supra septimum annum aetatis sunt,

et praesto fuerint, auctoritatem praestent.

 

Das heißt: der Tutor hat die Wahl, ob er will allein

den Prozeß führen, oder dem prozeßführenden Mündel die

auctoritas geben. Freylich wenn der Mündel noch nicht

ſprechen kann, oder abweſend iſt, ſo kann nur der Tutor

allein handeln; das erwähnte gemeinſchaftliche Handeln

kann alſo nur eintreten, wenn der Mündel ſowohl das

ſiebente Jahr zurückgelegt hat, als auch anweſend iſt. —

 

III. 3

|0046 : 34|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Hier iſt alſo das fari posse als gleichbedeutend geſetzt mit

dem Ablauf des ſiebenten Lebensjahres, und die Schluß-

worte auctoritatem praestent müſſen in Gedanken ergänzt

werden durch si velint, ſo daß ſie blos die Wiederho-

lung bilden ſollen von den vorhergehenden Worten licen-

tia erit (i).

2) L. 8 C. Th. de maternis bonis (8. 18.). Wenn ei-

nem in vaͤterlicher Gewalt ſtehenden Sohn eine hereditas

oder bonorum possessio zufällt, ſo ſoll während der In-

fantia der Vater allein den Erwerb beſorgen, nach der

Kindheit, das heißt nach dem Ende des ſiebenten Lebens-

 

(i) Unterholzner (Note e)

nimmt in dieſer Stelle die Un-

terſcheidung von drey Lebensal-

tern an: 1) Kinder, die noch gar

nicht ſprechen, 2) Von da bis

Sieben Jahre, 3) Über Sieben

Jahre. Im erſten ſoll nur der

Tutor allein handeln, im zweyten

ſoll er die Wahl haben, im drit-

ten ſollen nur beide vereinigt han-

deln können. Zunächſt wird aber

durch dieſe Erklärung dem Ulpian

eine ſehr fehlerhafte Ausdrucks-

weiſe aufgebürdet, wie dieſes der

oben angeführte Recenſent S. 678

ausgeführt hat. Ganz entſchei-

dend aber gegen dieſe Erklärung

iſt Folgendes. Unter jenen drey

Sätzen wäre der wichtigſte der

dritte, durch welchen es dem Tu-

tor unterſagt ſeyn ſoll, für den

ſchon Siebenjährigen den Prozeß

allein zu führen. Allein dieſer

wichtigſte Satz iſt auch ganz ge-

wiß falſch. Für die active Pro-

zeßführung (im § 2 iſt von der

paſſiven die Rede) giebt der § 4

dem Tutor ohne alle Einſchrän-

kung die Befugniß, allein zu han-

deln. Beſonders aber hat dieſe

uneingeſchränkte Befugniß, ſo-

wohl bey der activen als bey der

paſſiven Prozeßführung, auch der

Curator eines Minderjährigen

(L. 1 cit. § 3. 4). Es iſt aber

völlig undenkbar, daß jemals die-

ſer Curator ſollte ein ausgedehn-

teres Recht gehabt haben, als der

Tutor eines Unmündigen über

Sieben Jahre. Nimmt man nun

aus dieſen Gründen an, daß der

am Ende ſtehende Ausdruck aucto-

ritatem praestent eben ſo wie

der vorhergehende licentia erit,

dem Tutor die Wahl läßt, ſo

unterſcheidet Ulpian überhaupt

nicht Drey Lebensalter, ſondern

nur Zwey.

|0047 : 35|

§. 107. Altersſtufen. Infantes.

jahres, der Sohn ſelbſt; auch ſoll dabey nicht auf die

frühere oder ſpätere Sprachentwicklung der Individuen ge-

ſehen werden.

.. infantis filii aetatem nostra auctoritate praescribi-

mus, ut sive maturius, sive tardius, filius fandi sumat

auspicia, intra septem annos aetatis ejus, pater .. im-

ploret .. hac vero aetate finita, filius Edicti beneficium

petat rel.

 

Stände dieſe Stelle allein, ſo könnte man glauben,

Arcadius habe die Sieben Jahre erfunden; die Verglei-

chung mit allen übrigen Stellen läßt keinen Zweifel, daß

dieſer Ausdruck nur dem Geſetzſtyl der ſpäteren Kaiſer zu-

zurechnen iſt. Eben deshalb iſt ſelbſt auf die Worte sive

maturius sive tardius nicht allzu viel Gewicht zu legen,

aus welchen man ſonſt wohl abnehmen könnte, nach einer

abweichenden Meynung mancher Juriſten hätte die indivi-

duelle Sprachfähigkeit unterſucht werden müſſen, und dieſe

Controverſe hätte jetzt der Kaiſer entſcheiden wollen. Un-

möglich iſt eine ſolche Controverſe nicht, aber jene Worte

können auch als ganz müßige Amplification, oder als Vor-

beugung gegen einen blos denkbaren Zweifel, daſtehen.

 

3) L. 18 pr. und § 4 C. de jure delib. (6. 30.).

Si infanti, id est minori septem annis, … hereditas

sit derelicta .... und nachher § 4: Si autem septem

annos aetatis pupillus excesserit rel.

 

4) L. 14 de sponsal. (23. 1.).

In sponsalibus contrahendis aetas contrahentium defi-

 

 

3*

|0048 : 36|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

nita non est … si modo id fieri ab utraque persona

intelligatur, id est si non sint minores quam septem

annis.

Hier iſt nicht geradezu geſagt, daß unter den minores

quam septem annis eben Diejenigen zu verſtehen ſind,

welche anderwärts Infantes heißen; aber die Meynung des

Juriſten war es ohne allen Zweifel, und die Veranlaſſung

zu dieſer Zeitbeſtimmung lag ganz einfach darin, daß in

der älteren Zeit die Verlobung durch eine Stipulation ge-

ſchloſſen zu werden pflegte (k).

 

5) Quinctilianus I. 1: Aut cur hoc usque ad septem

annos lucrum fastidiamus? … quantum in infantia prae-

sumptum est temporis, adolescentiae adquiritur.

 

Hier nimmt er offenbar Infantia und Alter unter Sie-

ben Jahren als völlig gleichbedeutend.

 

6) Macrobius in somu. Scip. I. 6: eodemque anno,

id est septimo, plene absolvitur integritas loquendi.

 

7) Isidori origines XI. 2. Prima aetas infantia est

… quae porrigitur in septem annis.

 

In dieſem Theil der Unterſuchung ſind bisher zwey

Ausdrücke ſtillſchweigend angewendet worden, welche nun

noch einer genaueren Feſtſtellung um ſo mehr bedürfen,

als darüber unſere Juriſten von jeher ſehr viel geſtritten

 

(k) L. 2 de sponsal. (23. 1.).

— „Sponsalia autem dicta sunt

a spondendo: nam moris fuit

veteribus stipulari, et spondere

sibi uxores futuras.”

|0049 : 37|

§. 107. Altersſtufen. Infantes.

haben; es ſind die Ausdrücke Pubertati und Infantiae pro-

ximus (l). Manche haben Dieſes von einer genauen Hal-

birung des Zeitraums zwiſchen der Kindheit und Pubertät

verſtanden, ſo daß, nach Verſchiedenheit der Geſchlechter,

10½ und 9½ Jahre den Graͤnzpunkt bilden wuͤrden (m).

Andere nehmen es ganz ſubjectiv, ſo daß ein frühreifer

Knabe ſchon im achten Jahr pubertati proximus heißen

könnte, ein ſehr unentwickelter noch im vierzehenten Jahr

infantiae proximus. Hält man ſich aber ganz einfach an

den Wortſinn, ſo muß man beide Erklärungen verwerfen,

und unter dem proximus denjenigen verſtehen, der dem ei-

nen oder anderen Gränzpunkte ſehr nahe ſteht. Dann

liegt zwiſchen beiden in der Mitte ein größerer Zeitraum,

der gar keinen Namen führt. Der praktiſche Sinn jener

Ausdrücke iſt aber ohne Zweifel der, daß eine gewiſſe Ge-

ſchäftskenntniß nahe an der Pubertät zu vermuthen, nahe

an der Kindheit nicht zu vermuthen iſt, wobey alſo die

Beurtheilung der unbeſtimmten Zwiſchenzeit ganz dem rich-

terlichen Ermeſſen überlaſſen bleibt, ja ſelbſt nicht ausge-

ſchloſſen wird von jener Vermuthung da abzuweichen, wo

eine ganz ungewöhnlich frühe oder ſpäte Entwicklung klar

(l) Über die Bedeutung dieſer

Ausdrücke finden ſich viele ältere

Meynungen zuſammengeſtellt in

J. Gothofredi Comm. in tit. de

reg. juris, L. 111 tit. cit. — Von

neueren Schriftſtellern ſind dar-

über zwey beſondere Abhandlun-

gen zu bemerken: Gensler im

Archiv für civiliſt. Praxis B. 4

N. 18, und Dirkſen im Rhei-

niſchen Muſeum B. 1 (Jurispru-

denz) S. 316—326.

(m) Dieſe Meynung hat ſchon

Accursius in L. Pupillum (111.)

de R. J.

|0050 : 38|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

vorliegt (n). Inſoferne liegt alſo auch in der zweyten,

oben verworfenen, Erklärung ein wahres Element, nur

daß ſie ganz ohne Noth den Worten Gewalt anthut. Bey

Rechtsgeſchäften hat nun dieſe ganze Unterſcheidung ihren

praktiſchen Werth völlig verloren, ſeitdem hier die oben

erwähnte benigna interpretatio (Note a) Alles ausgegli-

chen hat. Sie iſt daher nur noch bey Delicten erheblich

geblieben, wie dieſes im folgenden § bemerkt werden wird.

Zum Behuf der genauen Anwendung der zwey aufge-

ſtellten Vermuthungen kann man fragen, welches die eigent-

liche Gränze des proximus ſey. Darüber findet ſich keine

Beſtimmung. Will man indeſſen eine Gränze annehmen,

die doch auf einem allgemeinen Grunde, nicht auf bloßer

Willkühr, beruht, ſo kann man proximus Denjenigen nen-

 

(n) Dieſer praktiſche Sinn des

proximus infantiae und puber-

tati leuchtet deutlich genug aus

ſolchen Stellen hervor, worin das

ſo bezeichnete Alter als Kennzei-

chen des Daſeyns einer vollſtän-

digeren Urtheilsfähigkeit, das heißt

als Vermuthungsgrund dafür, an-

gegeben wird. § 10 J. de inut.

stip. (3. 19.) „infans et qui in-

fanti proximus est .. nullum

intellectum habent (Note a). —

§ 18 (al. 20) J. de oblig. ex del.

(4. 1.) „si proximus pubertati

sit et ob id intelligat se delin-

quere.” — L. 4 § 26 de doli exc.

(44. 4.) „doli pupillos, qui pro-

pe pubertatem sunt, capaces

esse.” — Mit dieſer Anſicht über-

einſtimmend iſt Dirken a. a. O.

Anders verfährt Gensler a. a.

O. Er meynt, die Halbirung des

Zeitraums (nach Accurſius) liege

zwar nicht in den Worten, aber

doch im Geiſte des R. R., und

zwar in folgendem Sinn. Bey

dem infantiae proximus ſey Do-

lus unmöglich, Culpa möglich,

aber erſt zu erweiſen; der pub.

prox. ſey des Dolus wie der Culpa

fähig, doch werde nur die Culpa

präſumirt, der Dolus müſſe er-

wieſen werden; neben beiden Prä-

ſumtionen aber gelte ſtets der

Gegenbeweis. Eine unrömiſchere

Behandlung der Sache läßt ſich

ſchwer anbringen.

|0051 : 39|

§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)

nen, der weniger als ein volles Jahr von dem einen oder

andern Gränzpunkt entfernt iſt. Dann wären durch jene

Ausdrücke die Zeiträume zwiſchen 7 und 8 Jahren und

zwiſchen 13 und 14 (oder 11 und 12 im weiblichen Ge-

ſchlecht) bezeichnet (o). Daß die Roͤmiſchen Juriſten es

nicht nöthig fanden, eine ſolche genauere Beſtimmung hin-

zuzufügen, erklärt ſich wohl aus der ſo eben bemerkten

geringen praktiſchen Wichtigkeit, welche dieſen Begriffen

übrig geblieben war.

§. 108.

II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe: A. Altersſtufen.

Infantes und Qui fari possunt. (Fortſetzung.)

Die im vorigen §. über den Einfluß der zurückgelegten

Kindheit aufgeſtellten Regeln ſollen nunmehr auf die wich-

tigſten einzelnen Rechtsverhältniſſe angewendet werden,

wobey zugleich noch einige merkwürdige Ausnahmen zur

Sprache kommen müſſen.

 

Der hier anzuwendende Grundſatz lautete aber alſo.

Das Kind iſt aller juriſtiſch wirkſamen Handlungen un-

fähig. Der Unmündige, der nicht mehr Kind iſt, kann

mit Genehmigung des Tutors alle Handlungen vorneh-

men: ohne Genehmigung nur diejenigen, welche blos Vor-

theil bringen ohne Nachtheil oder Gefahr. Dieſer letzte

Theil des Grundſatzes wird ſo ausgedrückt: meliorem qui-

 

(o) Auch dieſe Meynung iſt ſchon früher aufgeſtellt worden. Vgl.

J. Gothofredus l. c.

|0052 : 40|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

dem suam condicionem licere eis facere, etiam sine tu-

toris auctoritate, deteriorem vero non aliter quam tutore

auctore (a).

I. Bey den obligatoriſchen Verträgen zeigt ſich

jener Grundſatz am reinſten und vollſtändigſten.

 

Jeder Unmündige alſo, der nicht mehr Kind iſt, kann

auch ohne Tutor gültig ſtipuliren, nicht promittiren (b).

 

So bey einſeitigen Verträgen. Schließt er dagegen

allein einen zweyſeitigen Vertrag, worin ſtets Gewinn und

Verluſt gemiſcht iſt (wie Kauf und Miethe), ſo iſt der Ver-

trag für den Gegner bindend, für den Unmündigen nicht,

das heißt es ſteht in der Wahl des Tutors, ob er den

Vertrag ganz anerkennen oder verwerfen will (c).

 

Eine natürliche Beſchränkung erleiden dieſe Regeln bey

 

(a) pr. J. de auctor. (1. 21.),

L. 28 pr. de pactis (2. 14.). In

der Pandektenſtelle ſteht nur die

erſte Hälfte dieſer Regel, in den

Inſtitutionen ſtehen beide, obgleich

in manchen Handſchriften die

zweyte Hälfte gleichfalls fehlt.

Eine beſondere Anwendung der

zweyten Hälfte enthält L. 10 de

jur. et facti ign. (22. 6.). „Im-

puberes sine tutore agentes ni-

hil posse scire intelliguntur.”

So wie hier die Stelle in die

Digeſten aufgenommen iſt, er-

klärt ſie den Pupillen für unfähig,

durch ſein Bewußtſeyn in irgend

einen Nachtheil zu kommen, wo-

durch alſo jede Verpflichtung durch

Culpa ausgeſchloſſen ſeyn würde.

Zunächſt dachte aber Papinian an

den Verluſt durch verſäumte Friſt

der bonorum possessio, welches

daraus erhellt, daß die Stelle durch

ihre Inſeription mit L. 2 de suc-

cessorio ed. (38. 9.) zuſammen-

hängt, worin nicht von einem Pu-

pillen, ſondern von einem Min-

derjährigen die Rede iſt, der die

B. P. wirklich agnoſcirt, und dann

dagegen reſtituirt wird.

(b) pr. J. de auctor. (1. 21.),

§ 9 J. de inut. stip. (3. 19.). (Ga-

jus III. § 107), L. 9 pr. de auctor.

(26. 8.), L. 8 pr. de adqu. her.

(29. 2.), L. 41 de cond. ind. (12.

6.), L. 1 C. de inut. stip. (8. 39.).

(c) pr. J. de auctor. (1. 21.),

L. 5 § 1 de auctor. (26. 8.), L. 13

§ 29 de act. emti (19. 1.).

|0053 : 41|

§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)

dem Unmündigen, der noch unter väterlicher Gewalt ſteht,

und der auf keine Weiſe eine Schuld contrahiren kann (d).

Denn auch bey dem proximus pubertati paterfamilias grün-

dete ſich die Möglichkeit des Eintritts in ein Schuldver-

hältniß, wenngleich nicht wie bey einem jüngeren auf be-

nigna interpretatio (§ 107. a), dennoch auf die künſtliche

Anſtalt der auctoritas, und dieſe war nur eingeführt we-

gen des dringenden Bedürfniſſes bey einem mit eigenem

Vermoͤgen verſehenen Unmündigen (§ 107). Bey dem fili-

usfamilias, der kein Vermögen haben konnte, war dieſes

Bedürfniß nicht vorhanden, und darum war es ganz un-

nütz dem Vater eine ähnliche Macht wie die tutoris aucto-

ritas zu verleihen, blos damit der Sohn möchte Schuld-

ner werden können.

II. Bey den Obligationen aus Delicten gelten

andere Regeln. Delicte ſind nicht, wie die Rechtsge-

ſchäfte, Bedürfniß für den Verkehr, ſondern vielmehr nur

Stoͤrungen deſſelben. Daher iſt für ſie weder die benigna

interpretatio (§ 107. a) angewendet worden, noch auch

überhaupt die auctoritas, wodurch ja nur erlaubte Ge-

 

(d) § 10 J. de inut. stip. (3. 19.),

L. 141 § 2 de V. O. (45. 1.). —

Dieſer Satz bezieht ſich nur auf

das ältere Recht, nicht auf die

der neueren Zeit des R. R. an-

gehörenden ſogenannten Peculien.

Ein castrense kann der Unmün-

dige überhaupt noch nicht haben;

als aber das ſogenannte adven-

titium aufkam, war die Gewohn-

heit und das Bedürfniß der aucto-

ritas ſchon ſo vermindert, daß

man es wohl deswegen unter-

ließ, beſondere Vorkehrung für

dieſen Fall zu treffen. Nament-

lich für das ſogenannte extraor-

dinarium bekam der unmündige

Sohn keinen Tutor, ſondern ei-

nen Curator, der alſo zur aucto-

ritas unfähig war. L. 8 § 1 C.

de bon. quae lib. (6. 61.).

|0054 : 42|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſchäfte erleichtert werden ſollten. Wollte man aber dabey

ſtrenge ſtehen bleiben, ſo läge darin ein großes Unrecht

gegen den Verletzten, der gegen das Delict des Unmündi-

gen gar keine Hülfe gehabt hätte. Deshalb gilt hier fol-

gende Regel. So lange der Unmündige das in ſeiner

Handlung liegende Unrecht noch nicht begreift, entſteht

für ihn überhaupt keine Verpflichtung; iſt er fähig es zu

begreifen, ſo wird er durch ſeine einſeitige Handlung ver-

pflichtet, ſo daß alſo dieſe Art der Obligationen auf der

einen Seite ſchwerer, auf der andern aber leichter ent-

ſteht, als die Obligationen aus Verträgen. Daß er fähig

iſt das Unrecht zu begreifen, wird bey ihm vermuthet ſo-

bald er proximus pubertati iſt; hier alſo iſt der einzige

Fall, worin dieſer Begriff noch praktiſchen Einfluß hat (e).

Allein die individuelle Beurtheilung ſollte durch dieſe Ver-

muthung nicht ausgeſchloſſen ſeyn. Dieſe gründet ſich

nicht blos auf die größere oder geringere Entwicklung des

Unmündigen, ſondern auch auf die mehr oder weniger ein-

fache Natur der verbotenen Handlung; ſo z. B. wird ein

zwölfjähriger Knabe leicht wiſſen was er thut, wenn er

Geld ſtiehlt; aber er wird es vielleicht nicht begreifen,

wenn ihn ein Anderer zu einem künſtlich angelegten Be-

(e) In manchen Stellen wird

als Bedingung der Zurechnung

das proximus pubertati ausge-

drückt, in anderen das doli (oder

culpae) capax; mit ſo willkühr-

licher Abwechslung, daß Beides

nothwendig als gleichbedeutend ge-

dacht ſeyn muß. Am unverkenn-

barſten iſt es in den Stellen,

worin beide Bedingungen, als in

einem Cauſalzuſammenhang ſte-

hend, mit einander verbunden

werden, vgl. § 107. n.

|0055 : 43|

§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung).

trug als Werkzeug gebraucht (f). Dagegen würde es ganz

unrichtig ſeyn, hierin den Unterſchied zwiſchen culpoſen

und doloſen Delicten als entſcheidend anzuſehen, ſo daß

der Unmündige früher zu jenen als zu dieſen für fähig

zu halten wäre (g). — Dieſe Grundſätze werden nun in

vielen Delicten mit großer Conſequenz durchgeführt (h). —

Ganz dieſelben Grundſätze aber gelten auch bey ſolchen

Obligationen, deren erſte Entſtehung nicht in einem De-

lict, ſondern in einem Vertrag u. ſ. w., enthalten iſt, wo-

bey aber die einzelne Anwendung der Klage auf einen

(f) L. 13 § 1 L. 14 de dolo (4.

3.). Die erſte Stelle ſagt, auch die

doli actio könne gegen den pro-

ximus pubertati gehen; dieſes

führt die zweyte Stelle weiter aus

in folgenden Worten: Quid enim

si impetraverit a procuratore

petitoris ut absolveretur … vel

alia similia admisit, quae non

magnam machinationem exi-

gunt?” Noch deutlicher tritt

dieſe Anſicht bey der Frage wegen

der Zurechnung mancher öffentli-

chen Verbrechen hervor, von wel-

chen ſogleich die Rede ſeyn wird.

(Note k).

(g) Dieſen Unterſchied behaup-

tet Gensler (§ 107. n), ohne

Zweifel weil bey mehreren dolo-

ſen Delicten der proximus pu-

bertati ausgedrückt wird, bey cul-

poſen (die aber überhaupt nur

ſelten vorkommen) nicht, wie in

L. 5 § 2 ad L. Aquil. (9. 2.),

L. 23 de furtis (47. 2.). Allein

in eben ſo vielen Stellen wird

auch dort nur der doli capax

erwähnt, gerade ſo wie hier nur

der culpae capax. Ja in L. 23

cit. werden beide mit völlig gleich-

artigen Ausdrücken unmittelbar

neben einander genannt. — Sieht

man auf das Weſen der Sache,

ſo iſt es wohl einleuchtend, daß

man einem Knaben meiſt früher

einen Diebſtahl wird zurechnen

können, als die Unvorſichtigkeit

woraus gegen einen Erwachſenen

unfehlbar die actio legis Aqui-

liae entſtehen würde.

(h) So bey furtum, damnum

injuria datum, und injuria. § 18

(al. 20.) J. de oblig. ex del. (4.

1.), L. 23 de furtis (47. 2.), L. 5

§ 2 ad L. Aquil. (9. 2.), L. 111

pr. de R. J. (50. 17.), L. 3 § 4

de injur. (47. 10.). — Bey vi

bonorum raptorum. L. 2 § 19

vi bon. rapt. (47.8.). — Bey se-

pulchrum violatum. L. 3 § 1

de sep. viol. (47. 12.). — Bey

dolus. L. 13 § 1 L. 14 de dolo

|0056 : 44|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Dolus ſich gründet (i). — Und eben ſo werden dieſe Grund-

ſätze auch auf die Beſtrafung öffentlicher Verbrechen an-

gewendet, bey welchen ganz beſonders hervorgehoben wird,

daß die Zurechnung von der mehr oder weniger einfachen

und leicht einzuſehenden Natur des Verbrechens abhängig

ſeyn ſoll (k).

III. Bey der Auflöſung der Obligationen iſt

die Anwendung des Grundſatzes einfach und unbedenklich.

Der Unmündige kann einen Erlaßvertrag ſchließen: wenn

er Schuldner iſt für ſich allein, als Glaubiger aber nur

mit dem Tutor (l). — Zahlung leiſten würde er können,

weil er dadurch Befreyung erwirbt: dennoch kann er es

nicht ohne Tutor, weil es nicht geſchehen kann ohne Ver-

äußerung des Geldes. Ganz eben ſo verhält es ſich mit

dem Empfang einer Zahlung, wodurch er zwar Geld er-

wirbt, auf der andern Seite aber auch eine Forderung

verliert (m).

 

(4. 3.), L. 4 § 26 de doli except.

(44. 4.).

(i) L. 1 § 15 depos. (16. 3.),

L. 46 de O. et A. (44. 7.), L. 3

§ 2 de tribut. (14. 4.).

(k) So ſoll das Falſum nicht

leicht jemals bey Unmündigen an-

wendbar ſeyn. (L. 22 pr. ad

L. Corn. de falsis (48. 10.). Bey

dem Falſchmünzen wird ſonſt auch

das Mitwiſſen beſtraft, an den

Unmündigen nicht weil ſie es nicht

verſtehen. (L. 1 C. de falsa mon.

9. 24.). Beſonders lehrreich iſt

auch die feine Beurtheilung eines

einzelnen Falls in L. 14 de Sc.

Silan. (29. 5.). — Schon in den

zwölf Tafeln war für das fur-

tum manifestum und den Feld-

ſchaden beſtimmt, der Unmündige

ſolle praetoris arbitratu gepeitſcht

werden; dieſes Ermeſſen betraf

wohl weniger das Maas der Züch-

tigung, als die Zurechnung über-

haupt. Vgl. Dirkſen zwölf Ta-

feln S. 45. 577, und im Rhein.

Muſeum B. 1 S. 325.

(l) L. 28 pr. de pactis (2. 14.).

(m) § 2 J. quib. alienare (2.

|0057 : 45|

§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)

IV. Die Prozeßführung, der Unmündige mag nun

Kläger oder Beklagter ſeyn, iſt wegen des ungewiſſen

Ausgangs ſtets ein gefährliches Geſchäft; daher iſt dazu

der Unmündige fähig nur mit Genehmigung des Tutors (n).

 

V. Eigenthum erwerben kann der Unmündige auch

allein, weil er dadurch nur reicher wird. Veräußern

kann er nur mit dem Tutor, weil er dadurch ſein Ver-

mögen vermindert (o). — So konnte alſo namentlich die

Freylaſſung eines Sklaven von dem Unmündigen nur mit

dem Tutor gemeinſchaftlich vorgenommen werden (p).

 

VI. Sponſalien ſchließen kann der Unmündige für

ſich allein (q), welches ſo zu erklären iſt. Steht er in

väterlicher Gewalt, ſo iſt er ohnehin, auch unabhängig

von dem unreifen Alter, an des Vaters Einwilligung ſtreng

gebunden. Iſt er unabhängig, ſo konnte freylich die Ge-

nehmigung des Tutors nicht aushelfen, da dieſe ſich nur

auf das Vermögen bezieht, womit die Sponſalien nicht in

Verbindung ſtehen. Man möchte alſo, nach der Analogie

 

8.), L. 9 § 2 de auctor. (26. 8.),

L. 14 § 8 L. 15 de solut. (46. 3.).

(n) L. 1 § 2. 4 de admin. (26.

7.). Vgl. § 107. Num. 1.

(o) § 2 J. quib. alienare (2.

8.), L. 9 pr. § 2 de auctor. (26.

8.), L. 11 de adquir. rer. dom.

(41. 1.). — Die erſte Hälfte der

Regel kommt nicht leicht rein für

ſich zur Anwendung. Denn grün-

det ſich der Erwerb auf ein feyer-

liches Geſchäft, wie die Manci-

pation, ſo konnte wohl niemals

der Unmündige ohne Tutor da-

bey überhaupt auftreten, ſo daß

hierin Gewinn und Verluſt kei-

nen Unterſchied machte; entſteht

er aber durch Beſitz, wie bey der

Tradition, ſo kommen die etwas

modificirten Regeln vom Beſitz-

erwerb (ſ. u. Num. VIII.) zur An-

wendung.

(p) L. 24 de manum. vind.

(40. 2.), L. 30 § 1. 2. 3. 4 de fid.

lib. (40. 5.), L. 9 § 1 de auctor.

(26. 8.).

(q) L. 14 de sponsal. (23. 1.).

Vgl. oben § 107. Num. 4.

|0058 : 46|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

der Obligationen, erwarten, daß die Sponſalien in jenem

Alter vielmehr gänzlich unterbleiben müßten. Daß man

ſie dennoch, und zwar dem Unmündigen allein, geſtattete,

erklärt ſich wohl aus der ganz ungefährlichen Natur einer

Handlung, die durch einſeitige Willkühr jederzeit wieder

entkräftet werden kann. Die einzige Gefahr war etwa

die, daß vielleicht derſelbe Unmündige abermals Sponſa-

lien eingieng, ohne die erſten gekündigt zu haben, auf

welche Handlung allerdings die Infamie folgte (§ 77. IV.).

In den bisher abgehandelten Fällen (mit Ausnahme

der Delicte) kam unſer Grundſatz rein zur Anwendung;

in den folgenden Fällen ſind durch eigenthümliche Schwie-

rigkeiten einige Ausdehnungen der ſonſt geltenden Fähig-

keit veranlaßt worden.

 

VII. Erwerb einer Erbſchaft. Dieſer iſt ſtets

mit der Übernahme von Obligationen verbunden. Daher

kann der Unmündige nie allein dieſe Handlung vornehmen,

wohl aber (vom achten Lebensjahr an) ſtets mit dem Tu-

tor, ſelbſt wenn er ſo jung und unentwickelt iſt, daß er

die Wichtigkeit dieſer Handlung nicht begreift (r). Dieſes

Alles liegt in der reinen Anwendung unſres Grundſatzes.

 

(r) § 1 J. de auctor. (1. 21.),

L. 9 L. 8 pr. de adqu. her. (29.

2.), L. 9 § 3. 4 de auctor. (26.

8.), L. 1 C. ad Sc. Tert. (6. 56.):

„Licet liberi .. ita demum per

se heredes existant, si fari pos-

sint” rel. Hier heißt das per se

nicht etwa: für ſich allein — denn

ſo können es auch die älteren Un-

mündigen nicht; ſondern: durch

ihre Mitwirkung. Wahrſcheinlich

ſind die Worte eingeſchoben, um

die Stellen mit den ſogleich zu

erwähnenden ſpäteren Erleichte-

rungen in Einklang zu bringen.

|0059 : 47|

§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)

Allein damit war hier das praktiſche Bedürfniß noch

lange nicht befriedigt. Der Erwerb der Erbſchaft unter-

ſcheidet ſich von jedem andern Erwerb dadurch, daß er

ein höchſt perſoͤnliches Geſchäft iſt. Darum konnte zu kei-

ner Zeit ein Sklave die dem Herrn deferirte Erbſchaft für

dieſen erwerben, anſtatt daß er ihm durch Mancipation

oder Stipulation allerdings erwerben konnte. Eben ſo

konnte dieſer Erwerb niemals durch freye Mittelsperſonen

bewirkt werden, ſelbſt nachdem dieſe zu vielen anderen

Erwerbungen zugelaſſen worden waren. War alſo der

berufene Erbe noch in der Kindheit, ſo konnte für ihn

weder der Tutor durch eigenes Handeln, noch auch ein

Sklave, aushelfen, und dieſe wichtigſte unter allen Er-

werbungen hätte alſo überhaupt bey Kindern unterbleiben

müſſen, lediglich zu Ehren der ſtrengen Rechtsform. —

Dieſelbe Schwierigkeit trat ein bey denjenigen Infantes,

die noch in väterlicher Gewalt ſtanden, nur kam bey die-

ſen im älteren Recht der Anfall einer Erbſchaft ſeltner

vor; er wurde erſt häufig und wichtig ſeit dem Sc. Or-

phitianum und den neueren Kaiſergeſetzen (s). Wie war

nun in dieſen Fällen zu helfen?

 

Paulus ſchlägt eine Auskunft vor, die von folgender

 

(s) Nach Agnationsrecht näm-

lich konnte dem filiusfamilias

keine Erbſchaft zufallen, weil der

Vater dem Verſtorbenen ſtets um

einen Grad näher ſtand. Durch

Teſtament war es zwar möglich,

aber die Erbeinſetzung eines Kin-

des von Seiten eines Fremden

iſt wohl überhaupt nicht häufig;

vollends wenn dieſes Kind in vä-

terlicher Gewalt ſtand, war es

einfacher ſogleich den Vater ein-

zuſetzen.

|0060 : 48|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Betrachtung ausgeht. Die Erbſchaft könne überhaupt er-

worben werden durch ausgeſprochene Worte (cernendo

oder nuda voluntate) oder durch Handlungen (gerendo) (t).

Die erſte Art ſey freylich nicht möglich bey dem qui fari

non potest, wohl aber die zweyte, der Tutor könne alſo

das Kind Handlungen eines Erben vornehmen laſſen und

dazu die Genehmigung ertheilen (u). Hier geſtattet er alſo

die auctoritas während der Infantia, worin ſie ſonſt durch-

aus nicht zugelaſſen wird; offenbar nur aus Noth, und

indem er ſich zu dieſem Zweck hinter den Wortſinn von

Infans verſteckt, ſich alſo darüber hinwegſetzt, daß in allen

anderen Beziehungen nicht blos wegen der Sprachunfähig-

keit die Möglichkeit der auctoritas bey dem Infans ver-

neint wird, ſondern zugleich wegen des damit verbunde-

nen gänzlichen Mangels an intellectus (v).

(t) Gajus II. § 167.

(u) L. 65 § 3 ad Sc. Treb.

(36. 1.) „sive enim heres insti-

tutus esset, non dubie pro he-

rede, tutore auctore, gerere

posse videtur.” Er macht da-

von Anwendung auf den Empfang

eines Erbſchaftsfideicommiſſes, wo-

bey er nur unter der Voraus-

ſetzung einige Schwierigkeit fin-

det, daß der eingeſetzte Erbe zum

Antritt gezwungen werden muß;

eben dieſe Schwierigkeit beſeitigt

er in den angeführten Worten

durch die Analogie der heredi-

tas. — Bey der bonorum pos-

sessio, die als ein prätoriſches

Inſtitut viel freyer behandelt wur-

de, half man ſich einfacher. Der

Vater ſollte für das Kind, der

Tutor für den Mündel, ſelbſt

die B. P. erbitten dürfen, alſo

ganz ohne perſönliches Mitwir-

ken des berufenen bonorum pos-

sessor. L. 7. § 1 L. 8 L. 11 de

B. P. (37. 1.), L. 3 C. qui ad-

mitti (6. 9.). — Über die Be-

handlung der Erbſchaftsfideicom-

miſſe, die ein Unmündiger em-

pfangen oder reſtituiren ſoll, vgl.

außer der angeführten L. 65 § 3

ad Sc. Treb. auch L. 37 § 1 eod.

und L. 7 pr. C. eod. (6 49.).

(v) Vgl. oben § 107. f. Wäre

die Anſicht des Paulus durchgrei-

fend, und nicht blos ein Nothbe-

|0061 : 49|

§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)

Späterhin beſeitigte man die Schwierigkeit auf eine

durchgreifendere, weniger ſubtile Weiſe, durch Kaiſerge-

ſetze. Während der Kinderjahre des berufenen Erben ſollte

ihm ganz ohne eigenes Zuthun die hereditas erworben

werden können durch ſeinen Tutor, oder (wenn er noch

in väterlicher Gewalt ſtand) durch den Vater (w). Da-

durch war nun die Abweichung von den ſtrengen alten

Rechtsregeln auf eine andere Seite gelegt. Anſtatt daß

Paulus die auctoritas während der Kinderjahre zulaſſen

wollte, ließ man jetzt die Regel fallen, daß der berufene

Erbe nur in eigener Perſon die hereditas erwerben könne;

dadurch war aber auch jene frühere Auskunft ganz über-

flüſſig geworden, und ſie ſteht in den Digeſten nur noch

als eine Antiquität da.

 

VIII. Erwerb des Beſitzes.

 

Nach der Analogie der bisher abgehandelten Rechts-

inſtitute möchte man hier Folgendes erwarten. Erwerben

müßte der Unmündige den Beſitz auch für ſich allein, weil

darin reiner Gewinn liegt; aufgeben koͤnnte er ihn nur

mit dem Tutor, denn obgleich der Beſitz an ſich ſelbſt

kein Recht iſt, ſo ſind doch bedeutende rechtliche Vortheile

 

helf geweſen, ſo hätte man auch

die auctoritas neben dem Con-

ſenſualcontract eines Infans be-

haupten müſſen. Dieſes iſt jedoch

niemals verſucht worden, offen-

bar weil kein praktiſches Bedürf-

niß dazu trieb.

(w) L. 8 C. Th. de bonis mat.

(8. 18.), L. 18 pr. § 2. 4 C. de

j. delib. (6. 30.). — Praktiſch wich-

tig war dieſe Neuerung eben nicht,

da in allen Fällen einer ſolchen

hereditas auch ſchon durch Agni-

tion der bonorum possessio

(Note u) der Zweck des Vermögens-

erwerbs erreicht werden konnte.

III. 4

|0062 : 50|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

daran geknüpft worden. Dieſer letzte Theil der aufge-

ſtellten Sätze iſt denn auch im R. R. unbedenklich aner-

kannt (x).

Nicht ſo der erſte Theil der aufgeſtellten Regel. Hierin

zeigte ſich der Erwerb des Beſitzes ſchwieriger, als der

Erwerb der ſtrengen Rechtsverhältniſſe des alten Rechts.

Zwar der Erwerb mit Genehmigung des Tutors wird auch

für den Beſitz unbedenklich zugelaſſen (y). Dagegen ſoll

der allein handelnde Pupill ſchlechthin nur dann zu dieſem

Erwerb fähig ſeyn, wenn er perſönlich bereits Einſicht in

die Natur dieſes Geſchäfts (rei intellectum) haben kann;

fehlt es ihm hieran, ſo erwirbt er nicht, und die fuͤr den

Erwerb eigentlicher Rechte eingeführte benigna interpre-

tatio (§ 107. a) kommt ihm hier nicht zu gut (z). Der

 

(x) L. 11 de adqu. rer. dom.

(41. 1.). „Pupillus, quantum

ad adquirendum, non indiget

tutoris auctoritate: alienare

vero nullam rem potest, nisi

praesente tutore auctore, et ne

quidem possessionem quae est

naturalis” rel. Verlieren frey-

lich kann der Unmündige den Be-

ſitz auch allein, nämlich corpore.

L. 29 de adqu. poss. (41. 2.).

Das iſt aber nicht veräußern,

das heißt verlieren durch ſeinen

Willen, ſo daß die Handlung,

neben dem Verluſt des Beſitzes,

auch zugleich die Natur einer Suc-

ceſſion hat. Vergl. Savigny

Recht des Beſitzes, 6te Auflage,

S. 418. 419.

(y) L. 1 § 3. 11 de adqu. poss.

(41. 2.), L. 4 § 2 de usurp. (41. 3.).

(z) L. 1 § 3 de adqu. poss.

(41. 2.). „… Ofilius quidem et

Nerva filius, etiam sine tutoris

auctoritate possidere incipere

posse pupillum ajunt: eam enim

rem facti, non juris esse: quae

sententia recipi potest, si ejus

aetatis sint, ut intellectum ca-

piant.” Daß hier der rei intel-

lectus, alſo der Geſchäftsbegriff,

gemeynt iſt, ergiebt ſich theils aus

der Vergleichung mit dem be-

ſtimmteren Ausdruck einiger oben

(§ 107. g) angeführten Stellen,

theils aus L. 26 C. de don. (8.

54.). „aut habeat rei, quae sibi

donatur, adfectum.” Eben dar-

auf geht L. 4 § 2 de usurp. (41.

3.). „Pupillus .. si non tutore

|0063 : 51|

§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)

Grund liegt darin, daß der Beſitz ſeinem Weſen nach ein

faktiſches Verhältniß iſt, deſſen Grundbedingung, der ani-

mus possidendi, außerdem gänzlich fehlen würde. Bey

der auctoritas, die allerdings auch nur ein künſtliches Ver-

hältniß iſt, ließ man ſich durch dieſe Bedenklichkeit nicht

ſtören, weil in derſelben der Tutor mit dem Pupillen als

zu Einem Individuum verſchmolzen gedacht wird, ſo daß

in dieſer Vereinigung das Bewußtſeyn des Tutors zugleich

als Bewußtſeyn des Pupillen zu betrachten iſt. — Iſt nun

in dieſer Hinſicht der Erwerb des Beſitzes, verglichen mit

eigentlichen Rechten, dem Unmündigen erſchwert, ſo wird

er ihm auf der anderen Seite künſtlich erleichtert. Anſtatt

daß nämlich außerdem während der Kinderjahre keine aucto-

ritas zugelaſſen wird, ſo iſt dieſelbe hier, abweichend von

der Regel, und blos wegen der Bedürfniſſe des Verkehrs

(utilitatis causa), beſonders geſtattet (aa). Der Grund

auctore possideat, et animum

possidendi habeat, dicemus pos-

se eam usucapere;” das heißt,

wenn er, ſeiner Entwicklung nach,

ſchon fähig iſt, für dieſe Sache

einen wahren animus possidendi

zu faſſen. — Das Daſeyn dieſes

intellectus iſt nun hier, wie an-

derwärts (§ 107. g), nach der Be-

ſchaffenheit der Gegenſtände zu be-

urtheilen, ſo daß alſo derſelbe Un-

mündige vielleicht den Beſitz ei-

nes Geldſtücks oder eines Klei-

des wird erwerben können, dem

dieſe Fähigkeit bey einem Land-

gut abzuſprechen iſt. — Aus den

oben angeführten ſehr beſtimm-

ten Stellen ſind übrigens einige

unbeſtimmtere zu erklären. L. 1

§ 11 de adqu. poss. (41. 2.).

;, … pupillus, maxime tutore

auctore, adquirit possessionem”

(maxime, d. h. dann unbedingt,

ohne Tutor nicht immer). L. 32

§ 2 eod. „Pupillus tamen etiam

sine tutoris auctoritate posses-

sionem nancisci potest” (näm-

lich wenn er hinreichend entwik-

kelt iſt). Eben ſo auch L. 9 pr.

de auctor. (26. 8).

(aa) L. 32 § 2 de adqu. poss.

(41. 2.). „Infans possidere recte

4*

|0064 : 52|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

dieſer eigenthümlichen Abweichung iſt ſo zu erklären. Nach

dem älteren Recht konnte überhaupt Niemand durch freye

Mittelsperſonen Rechte erwerben, alſo auch nicht der Pu-

pill durch die Handlungen ſeines Tutors: bey dem Beſitz

insbeſondere, welcher freylich nicht wie ein Recht, ſondern

wie eine Thatſache entſteht, gehört zu dieſer Thatſache

weſentlich der Wille des Beſitzerwerbers, der aber nicht

vorhanden iſt, wenn blos der Tutor will. Daher konnte

denn im älteren Recht der Tutor ſeinem Pupillen eben ſo

wenig den Beſitz, als Eigenthum oder Obligationen, er-

werben. Allein bey dieſen eigentlichen Rechten half das

Sklavenverhältniß aus, indem jeder Sklave des Pupillen

durch Mancipation oder Stipulation ſeinen Herrn zum

Eigenthümer oder Glaubiger machte. Dieſe rein juriſti-

ſche Aushülfe fehlte bey dem Beſitz, der nur durch die

Thatſache des Willens, neben der körperlichen Herrſchaft

potest, si tutore auctore coe-

pit, nam judicium infantis sup-

pletur auctoritate tutoris: uti-

litatis enim causa hoc recep-

tum est” rel. — Vgl. über dieſe

Stelle Savigny Recht des Be-

ſitzes 6te Aufl. S. 285. — Es würde

ganz unrichtig ſeyn, wenn man

ſich dieſe utilitas ſo vorſtellen

wollte, als hätten dadurch die ei-

genen Speculationen der Kinder

begünſtigt werden ſollen; es kam

darauf an, den Erwerbungen

rechtliche Vollendung zu geben,

die ſich auf Rechtsgeſchäfte des

Tutors, oder auch des Erblaſſers

des Pupillen gründeten. Wie wich-

tig die Sache war, ergiebt ſich aus

der Betrachtung folgendes einfa-

chen und häufigen Falles. Wenn

ein Mann ſtarb und einen Sohn

unter Sieben Jahren als suus

heres hinterließ, ſo erwarb die-

ſer fogleich ipso jure das ganze

Vermögen, aber den Beſitz deſ-

ſelben, alſo auch den Interdicten-

ſchutz, konnte er nicht anders als

mit Hülfe jener anomaliſchen tu-

toris auctoritas erwerben. (Vgl.

Savigny Recht des Beſitzes

§ 28).

|0065 : 53|

§. 108. Altersſtufen. Infantes. (Fortſetzung.)

(corpore et animo), zu Stande kommen ſollte: daher konn-

ten Sklaven dem Pupillen zwar jedes Eigenthum durch

Mancipation aus eignem Entſchluß erwerben, den Beſitz

aber nicht anders als wenn ihnen der Pupill, tutore

auctore, dazu Befehl gegeben hatte (bb). Da nun in der

Regel einem Kinde keine auctoritas gegeben werden konnte,

ſo hätte für ein Kind auf keine Weiſe jemals Beſitz ent-

ſtehen können. Dieſem ſehr fühlbaren Nachtheil abzuhel-

fen, war das dringende Bedürfniß, oder die utilitas, um

derenwillen die Römer bey dem Beſitz ausnahmsweiſe die

auctoritas zur Ergänzung der Handlung eines Kindes zu-

ließen. Eine formelle Schwierigkeit fand ſich dabey nicht,

weil der Beſitzerwerb, eben ſo wie die pro herede gestio,

keiner mündlichen Rede bedarf, wozu gerade das fari

posse nöthig geweſen wäre (Note u. v).

Späterhin half man einfacher und durchgreifender da-

durch, daß man dem Tutor geſtattete, durch ſeine eigene

Handlung dem Pupillen Beſitz zu erwerben (cc), ſo daß

 

(bb) Eigenthum erwarb durch

einen Sklaven Jeder, er mochte

es wiſſen und wollen, oder nicht.

Den Beſitz dagegen erwarb man

durch den Sklaven nur entweder

vermittelſt des eigenen animus

possidendi, oder (was nicht hier-

her gehört) peculiariter, d. h.

wenn dieſer Erwerb nur zur Er-

weiterung eines ſchon ertheilten

peculii gehört. L. 1 § 5 de adqu.

poss. (41. 2.). Ganz conſequent

konnte daher ein Unmündiger durch

den Sklaven Beſitz erwerben nur

1) in Folge eines Befehls, den

er ſelbſt, tutore auctore, gege-

ben hatte (L. 1 § 11 eod.), 2) oder

peculiariter, welches letzte auch

bey der Infantia des Unmündigen

von ſelbſt anwendbar war (L. 32

§ 2 in f eod.).

(cc) L. 1 § 20 de adqu. poss.

(41. 2.), L. 13 § 1 de adqu. rer.

dom. (41. 1.), L. 11 § 6 de pign.

act. (13. 7.). Vgl. Savigny

Recht des Beſitzes 6te Aufl. S. 367.

|0066 : 54|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

man für dieſen Fall über den manglenden animus possi-

dendi des Beſitzers ganz hinwegſah. Dadurch verlor nun

freylich der anomaliſche Erwerb des Kindes, auctore tu-

tore, alle Wichtigkeit, und behielt eigentlich nur noch ein

Intereſſe für die Entwicklungsgeſchichte des ganzen Rechts-

inſtituts. Außerdem hätte er für das Juſtinianiſche Recht

ſogar noch eine weit groͤßere Wichtigkeit, als für das frü-

here, haben müſſen, da in jenem die Tradition (die ſich

immer auf Beſitzerwerb gründet) die einzige Form für die

Veräußerung des Eigenthums geworden iſt.

Im Anfang dieſes §. wurde die Regel aufgeſtellt, daß

der Unmündige ſolche Handlungen, woraus möglicherweiſe

Schaden entſtehen kann, für ſich allein vorzunehmen nicht

fähig iſt. Solche von ihm ausgehende Handlungen (wie

Verſchuldung, Veräußerung, Aufgeben einer Forderung)

ſind alſo ungültig. Allein dieſe Ungültigkeit muß nun noch

durch eine gemeinſame Ausnahme beſchränkt werden. Die

erwähnte Ungültigkeit hat nämlich nur den Zweck, Nach-

theil von dem Unmündigen abzuwehren, nicht ihn zu be-

reichern. Iſt er alſo in Folge jener Handlung zugleich

bleibend bereichert worden, ſo muß dieſe Bereicherung her-

ausgegeben oder angerechnet werden. So geſchicht es bey

Rechtsgeſchäften. Wenn z. B. ein Unmündiger Zahlung

von ſeinem Schuldner annimmt, ſo wird dadurch allein

der Schuldner nicht frey (Num. III.). Soweit aber das

Geld ſich noch vorfindet, iſt es allerdings als Tilgung

 

|0067 : 55|

§. 109. Altersſtufen. Impuberes.

der Schuld anzurechnen (dd). Eben ſo aber auch bey De-

licten. Wenn alſo der Unmündige eine delictartige Hand-

lung in einem Alter begeht, worin er des Dolus noch

nicht fähig iſt, ſo muß dennoch Dasjenige herausgezahlt

werden, was ſich in Folge jener Handlung in ſeinem Ver-

mögen befindet (ee).

§. 109.

II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. A. Altersſtu-

fen. Impuberes und Puberes (a).

An die Pubertät oder Geſchlechtsreife iſt nach dem älte-

ſten Recht der Genuß vollſtändiger Handlungsfähigkeit ge-

knüpft (§ 106). Dieſe Fähigkeit äußert ſich in drey wich-

tigen Beziehungen. Erſtlich hat der Mündige die eigene

Herrſchaft über ſein Vermoͤgen in der Gegenwart, womit

alſo nothwendig verbunden iſt das Ende der bisher beſte-

henden Tutel. Zweytens hat er dieſe Herrſchaft ſelbſt für

die Zeit nach ſeinem Tode, indem er nunmehr ein Teſta-

ment machen kann. Drittens hat derſelbe die Fähigkeit

zur Ehe. Dieſe drey wichtigen Wirkungen ſind im Juſti-

nianiſchen Recht unſtreitig an die Pubertät mit der nähe-

ren Beſtimmung geknüpft, daß das zurückgelegte vierze-

 

(dd) L. 5 pr. de auctor. (26.

8.), L. 4 § 4 de doli exc. (44

4.), L. 15 L. 47 pr. § 1 L. 66

de solut. (46. 3.).

(ee) L. 1 § 15 depositi (16. 3.),

L. 13 § 1 de dolo (4. 3.), L. 4

§ 26 de doli exc. (44. 4.).

(a) Vgl. A. G. Cramer progr.

de pubertatis termino Kiliae

1804. Rudorff Recht der Vor-

mundſchaft B. 3 § 202.

|0068 : 56|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

hente oder zwoͤlfte Jahr als Pubertät allgemein gelten ſoll,

ohne Beachtung individueller Zuſtände und Verſchieden-

heiten. Früher war dieſe einfache Beſtimmung von Vie-

len beſtritten, und zwar namentlich für die Vierzehen

Jahre des männlichen Geſchlechts. Es fragt ſich aber,

und iſt jetzt zu unterſuchen, ob dieſer Streit alle angege-

bene Wirkungen der Pubertät, oder etwa nur eine derſel-

ben, zum Gegenſtand hatte; ferner, ob er ſich auch auf

die Zwölf Jahre des weiblichen Geſchlechts erſtreckte. Was

nun dieſe letzte Frage betrifft, ſo kann gleich hier bemerkt

werden, daß wir durch kein altes Zeugniß zu der An-

nahme veranlaßt ſind, als wären hier die Zwölf Jahre,

als Gränze der Mündigkeit, jemals auch nur bezwei-

felt worden.

I. Ich betrachte nunmehr genauer die erſte und wich-

tigſte unter jenen drey Wirkungen, die eigene Herrſchaft

über das Vermögen, welche gleichbedeutend iſt mit der

Beendigung der Tutel; man kann dieſelbe auch als die

allgemeine Handlungsfähigkeit bezeichnen, im Gegenſatz der

beiden anderen, deren jede nur ein einzelnes Rechtsge-

ſchäft zum Gegenſtand hat.

 

Juſtinian ſagt uns, in Beziehung auf das männliche

Geſchlecht, die Alten hätten außer den Jahren auch die

Geſchlechtsreife der Einzelnen geprüft; dieſe Unterſuchung

unterſage er, als dem keuſchen Sinn ſeiner Zeit widerſtre-

bend, weshalb ohne Unterſchied der Individuen das Ende

des vierzehenten Lebensjahres als Zeitpunkt der Pubertät

 

|0069 : 57|

§. 109. Altersſtufen. Impuberes.

gelten ſolle (b). Genauere Nachricht über die früheren

Meynungen finden wir bey Gajus und Ulpian. Die Sa-

binianer forderten die individuelle Reife, die alſo unter-

ſucht werden müſſe, die Proculejaner nahmen 14 Jahre

an, (Javolenus) Priſcus meynte, es müſſe beides verei-

nigt ſeyn, das Alter von 14 Jahren und die individuell

feſtzuſtellende Reife (c). Eigentlich iſt wohl dieſe dritte

Meynung blos als die Ergänzung der Sabinianiſchen an-

zuſehen, indem Priſcus wohl nur ausſprach, was auch

Jene gedacht hatten, daß die körperliche Unterſuchung nur

nach Ablauf der 14 Jahre eintreten ſolle, daß ſie alſo die

Zeit der Impubertät nie verkürzen, wohl aber oft ver-

längern ſolle. — Wie ſtand es nun aber vor der Entſte-

hung jener Controverſe? Und wie wurde es neben der-

ſelben in der Praxis gehalten?

In der älteren Zeit iſt von einer Begränzung des Kna-

benalters die Rede, hergeleitet aus einer alten religiöſen

Lehre der Römer; die Natur hatte das Lebensziel des

Menſchen auf 120 Jahre beſtimmt, dieſes wurde durch

das Fatum auf 90 Jahre verkürzt, welche drey gleiche

Hauptabſchnitte des Lebens, jeden zu 30 Jahren, geben;

 

(b) pr. J. quib. mod. tut. (1.

22.), L. 3 C. quando tutores

(5. 60.). Die Inſtitutionenſtelle

iſt ausführlicher als die des Codex.

(c) Gajus I. § 196, Ulpian. XI.

§ 28. Die Stelle des Gajus iſt

lückenhafter als die des Ulpian,

worin die Angabe für das männ-

liche Geſchlecht vollſtändig ſteht;

eine Verſchiedenheit in den An-

gaben beider Schriftſteller erhellt

nicht. — Schilling Inſtitutio-

nen B. 2 § 35 Note m verwirft

die handſchriftliche Leſeart Pris-

cus, und emendirt: plerisque

visum est.

|0070 : 58|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

genau die erſte Hälfte des erſten Abſchnitts (alſo 15 Jahre)

bildet die Knabenzeit (d). — Daneben ſteht eine andere

rein praktiſche, die auf die Militärverfaſſung des Königs

Servius zurückgeführt wird; das Knabenalter dauert hier

17 Jahre, dann fängt die Kriegspflicht an (e). Inwie-

fern die zweyte Angabe durch Vorausſetzung ungenauer

Ausdrücke und hiſtoriſcher Irrthümer auf die erſte zurück-

geführt werden kann, mag hier dahin geſtellt bleiben (f).

Neuerlich iſt aber die Vermuthung aufgeſtellt worden, dieſe

politiſch-militäriſche Gränze des Knabenalters (mag es

nun 15, 16 oder 17 Jahre umfaſſen) ſey damals zugleich

im Privatrecht der Anfangspunkt der Handlungsfähigkeit

geweſen. Dieſe Annahme iſt nicht nur möglich, ſondern

(d) Censorinus de die natali

C. 14 (aus Varro). Servius ad

Virgil. Aen. IV. 653.

(e) Gellius X 28. „C. Tubero

in historiarum primo scripsit,

Servium Tullium … pueros

esse existimasse, qui minores

essent annis XVII., atque inde

ab anno XVII. .. milites scrip-

sisse” — Livius XXII. 57 (a. 538)

„juniores ab annis XVII. et quos-

dam praetextatos scribunt.” Die

natürliche Erklärung ſcheint mir

dieſe: Die Aushebung betraf (nach

der Schlacht bey Cannä) alle ju-

niores, d. h. die älter als 17 Jahre

waren (und dieſes war in der Re-

gel der Kriegsverfaſſung), dieſes-

mal aber auch manche, die noch

nicht dieſes Alter hatten, folglich

noch zu den praetextati gehörten.

(f) Niebuhr R. Geſch. B. 1

S. 492 ed. 3 erklärt die Angabe

des Tubero (Note e) von denje-

nigen, die noch nicht das 17te

Jahr angetreten hätten (was

wohl nicht den Worten gemäß iſt),

und fügt hinzu, Tubero habe doch

noch um ein Jahr geirrt, indem

das Knabenalter (nach Varro) mit

dem Anfang des 16ten Jahres auf-

gehört habe. Allein es ſcheint mir

durchaus keine innere Nothwen-

digkeit vorhanden, die alte, von

Varro und Servius erwähnte,

Lehre mit der praktiſchen Ein-

richtung des Kriegsdienſtes zu

identificiren. Die Stelle des Li-

vius iſt allerdings noch mehr, als

die des Tubero, verſchiedener Er-

klärungen empfänglich.

|0071 : 59|

§. 109. Altersſtufen. Impuberes.

auch natürlich, und darum nicht unwahrſcheinlich; aber

ein Zeugniß dafür haben wir nicht, und beſonders darf

nicht überſehen werden, daß dadurch in die ältere Zeit des

Privatrechts ein ganz neues Princip willkührlich hinein

getragen wird. Denn die Geſchlechtsreife und die körper-

liche Fähigkeit zum Kriegsdienſt ſind nicht nur den Be-

griffen nach verſchieden, ſondern ſie können auch praktiſch

aus einander liegen, indem mit früher Entwicklung der

Geſchlechtsreife ein ſchwächlicher Körperbau wohl verein-

bar iſt. Alle unſre Nachrichten aber knüpfen die privat-

rechtliche Fähigkeit unbedingt an die Pubertät; die Zwei-

fel und Streitigkeiten betreffen blos die Feſtſtellung der

Zeit der Pubertät, durchaus nicht die Berückſichtigung

irgend eines von der Pubertät ſelbſt verſchiedenen Princips.

Wir fragen alſo nun: wie wurde der Zeitpunkt der

Pubertät beſtimmt, ehe dieſe Beſtimmung in den beiden

Juriſtenſchulen ein Gegenſtand des Schulſtreites geworden

war? Und wir laſſen daneben ganz auf ſich beruhen die

weitere Frage, ob vielleicht in irgend einer Zeit, wovon

ſich gar keine Nachricht erhalten hat, die privatrechtliche

Fähigkeit durch ganz andere Gründe als die Pubertät be-

ſtimmt worden ſey.

 

Bey der älteſten Beſtimmung der Pubertät iſt es noth-

wendig, eine uralte Roͤmiſche Sitte zu erwähnen, die da-

mit unverkennbar in irgend einem Zuſammenhang ſtand.

Jeder Knabe nämlich unterſchied ſich von dem Jüngling

und Mann auf eine ſichtbare Weiſe durch die Kleidung,

 

|0072 : 60|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

indem er ein Kleid mit einem Purpurſaum (praetexta) trug,

anſtatt daß die toga virilis ohne einen ſolchen farbigen

Saum war. Die Anlegung dieſer männlichen Tracht aber

geſchah öffentlich, als eine feyerliche Handlung, und darin

lag augenſcheinlich die öffentliche Erklärung des Ein-

tritts in das Jünglingsalter. Das Alter nun, in wel-

chem dieſe Handlung vorgenommen wurde, war keines-

weges gleichförmig. Zunächſt ſchon deshalb nicht, weil

ſie in der Regel für alle Jünglinge auf einen und den-

ſelben Tag, den 17ten März, oder das Feſt der Libe-

ralien, geſetzt war (g), wodurch alſo, ſelbſt wenn man

ein beſtimmtes Lebensjahr zum Grund gelegt hätte, den-

noch unter den Einzelnen ein Unterſchied von beynahe

einem Jahr entſtehen konnte. Als eine ſolche Grundlage

galt nun wohl das Alter von Vierzehen Jahren, ſo daß

regelmäßig die männliche Toga an den nächſtfolgenden Li-

beralien, folglich im Laufe des funfzehenten Lebensjahres,

angelegt wurde (h). Jedoch band man ſich keinesweges

(g) Ovid. fasti III. v. 771—788.

— Daß man in einzelnen Fällen

auch wohl einen anderen Tag

wählte, ſteht damit nicht im Wi-

derſpruch. Wegen ſolcher ausge-

nommenen Fälle will Noris ce-

notaphia Pisana Diss. 2 C. 4

p. 113 die ganze Regel verwer-

fen, und die Stelle des Ovid ſo

erklären, daß an den Liberalien

jeder Knabe vorübergehend eine

weiße Toga getragen hätte. Dem

widerſpricht beſonders v. 777. 778:

„Sive, quod es Liber, vestis

quoque libera per te Sumitur,

et vitae liberioris iter.”

(h) Schol. in Juvenalem X.

99 p. 605 ed. Cramer: „Prae-

texta genus erat togae, qua

utebantur pueri, adhuc sub dis-

ciplina, usque ad XV. annum:

deinde togam virilem accipie-

bant.” Usque ad XV. annum

heißt, wenn es nicht ungenau ge-

braucht ſeyn ſoll: bis zum An-

fang des 15ten Jahres. Beſon-

|0073 : 61|

§. 109. Altersſtufen. Impuberes.

ſtreng an dieſe Regel, vielmehr ſcheint es, daß man oft

im einzelnen Fall die Zeit mit ziemlich freyer Willkühr

auswählte, hauptſächlich wohl mit Rückſicht auf die gei-

ſtige und leibliche Entwicklung der Individuen, jedoch ſo

daß auch manche äußere Convenienz Einfluß haben mochte.

Dieſes wird durch folgende ſichere Fälle beſtätigt. Auguſt

nahm die Toga im ſechzehenten Jahr (i); Caligula weit

ſpäter, nämlich (nach Verſchiedenheit der Leſearten) im

19ten, 20ſten oder 21ſten (k); Nero umgekehrt ſchon im

vierzehenten (k¹); Marc Aurel im funfzehenten, alſo auf

die regelmäßige Weiſe (l).

So lange nun kein Rechtsſtreit in irgend einem ein-

 

ders aber ſcheint mir für dieſen

Zeitpunkt entſcheidend die Mey-

nung der Proculejaner, deren

Entſtehung ja nicht anders un-

gezwungen erklärt werden kann,

als aus der ohnehin ſchon als

Regel geltenden Volksſitte. —

Noris l. c. p. 113—116 nimmt

die Zeit nach dem vollendeten 15ten

Jahr (alſo ein Jahr ſpäter) als

Regel an; allein theils muß er

doch wieder Ausnahmen daneben

zugeben, theils ſind mehrere von

ihm angeführte Fälle ſchwankend;

ſo p. 114 Cicero der Sohn ge-

boren 690, Toga 705: Virgil ge-

boren 684, Toga 699. Beide

Fälle können auf das 15te oder

das 16te Jahr bezogen werden,

da wir die Tage nicht kennen.

(i) Sueton. Augustus C. 8

„duodecimum annum agens avi-

am Juliam defunctam pro con-

cione laudavit. Quadriennio

post virili toga sumta” rel.

Vgl. Noris l. c. p. 115.

(k) Sueton. Caligula C. 10

„et inde vicesimo aetatis anno

… togam sumsit.” Andere Hand-

ſchriften leſen undevicesimo. Ou-

dendorp aber emendirt unetvice-

simo, weil er durch Berechnung

darthut, daß in der That damals

Caligula im 21ſten Lebensjahr

ſtand. Er war nämlich geboren

765, und die Erzählung des Sue-

ton fällt in 786. Vergl. Noris

l. c. p. 116.

(k¹) Er war geboren am 16.

December 790, und nahm die

Toga ſchon im Lauf des Jahres

804. Noris l. c. p. 115.

(l) Capitolini Marcus C. 4:

„Virilem togam sumsit XV. ae-

tatis anno.”

|0074 : 62|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

zelnen Fall entſtand, galt wohl in ganz Rom Jeder unbe-

denklich als impubes oder pubes, jenachdem er die Prä-

texta oder die männliche Toga trug. Und ſo werden bey

Juriſten und Nichtjuriſten die Ausdrücke praetextatus (oder

investis) und impubes, ſo wie vesticeps und pubes, als

ganz gleichbedeutend genommen (m). Die Folgen davon

waren dieſe. Der in väterlicher Gewalt ſtehende Sohn

war unfähig Schulden zu contrahiren, ſo lange er die

Prätexta trug, mit der männlichen Toga wurde er dazu

fähig (n). Weit wichtiger aber war die Folge bey dem

Unabhängigen. So lange dieſer die Prätexta trug, ſtand

er unter dem Tutor, wenn er die männliche Toga anlegte,

war die Tutel zu Ende (o). Dieſes konnte alſo bey ein-

(m) L. 3 § 6 de lib. exhib.

(43. 30). „In hoc interdicto,

donec res judicetur, feminam,

praetextatum, eumque qui pro-

xime praetextati aetatem ac-

cedet, interim apud matrem-

familias deponi Praetor jubet.

Proxime aetatem praetextati

accedere eum dicimus, qui pu-

berem aetatem nunc ingressus

est.“ Unbegreiflich haben dieſe

Stelle Manche mißverſtanden,

indem ſie meynten, accedere

müſſe heißen: ſich von unten an-

nähern, alſo im Begriffe ſtehen

hinein zu treten. Es bezeichnet

aber nur das Naheſtehen, und

zwar hier nachdem jene aetas

bereits überſchritten iſt, genau

ſo wie bei dem infantiae proxi-

mus. Der Prätor ſpricht alſo

1) von Unmündigen, 2) von de-

nen, die eben erſt puberes ge-

worden ſind, Jenen alſo noch ſehr

nahe ſtehen. — Festus: Vesti-

ceps puer, qui jam vestitus est

pubertate: econtra investis, qui

necdum pubertate vestitus est.“

— Ferner war es alte Rechts-

regel, (bis auf Hadrian und An-

tonin) daß nur puberes arrogirt

werden dürften. Gajus I. § 102.

Ulpian. VIII. § 5. Dieſe Regel

drückt aber Gellius V. 19 ſo aus:

„Sed arrogari non potest nisi

jam vesticeps.“

(n) S. o. § 108 d. und § 67. f.

(o) Daß das Ablegen der Prä-

texta und das Ende der Tutel

zuſammenfielen, folgt ſchon dar-

aus, daß Jenes und Dieſes iden-

tiſch war mit der eintretenden

|0075 : 63|

§. 109. Altersſtufen. Impuberes.

zelnen Pupillen bald früher bald ſpäter geſchehen, und ſo

lange der Tutor mit dem Pupillen darüber einverſtanden

war, hatte kein Dritter ein Intereſſe zu widerſprechen.

Vielmehr war es eine für die Rechtsſicherheit ſehr wohl-

thätige Einrichtung, daß man es jedem jungen Mann ſo-

gleich an der Kleidertracht anſehen konnte, ob er zu eige-

nen Geſchäften fähig ſey oder nicht; und wo in einzelnen

Fällen ein Irrthum über dieſen Punkt erwähnt wird (p),

da iſt wohl vorauszuſetzen, daß ein Pupill durch betrüg-

liche Anlegung einer männlichen Toga den Andern ge-

täuſcht hatte. — Nur wenn Beide nicht übereinſtimmten,

war eine richterliche Entſcheidung nöthig, und auf dieſen

Fall allein muß der Streit der Schulen bezogen werden.

Hier wollten die Proculejaner nach derjenigen Zahl von

Lebensjahren entſcheiden, die ohnehin von jeher als Grund-

lage der erwähnten Sitte gegolten hatte (Note h); die

Sabinianer wollten die Pubertät durch individuelle Unter-

ſuchung ausmitteln. Jetzt erklärt ſich auch leicht die Ent-

ſtehung dieſer zweyten Meynung. Der Zeitpunkt der Pu-

bertät war von jeher verſchieden geweſen, aber nach freyer

Wahl; im Fall eines Streites, wo dieſe freye Wahl nicht

Pubertät. Es giebt aber dafür

auch unmittelbare Andeutungen.

Dahin gehören die Worte des

Scholiaſten in Note h „adhuc

sub disciplina,” die zwar auch

die väterliche Zucht, aber gewiß

ebenſowohl die Abhängigkeit vom

Tutor bezeichnen. Ferner Festus:

„Bulla aurea insigne erat pue-

rorum praetextatorum … ut

significaretur eam aetatem al-

terius regendam consilio.”

(p) L. 2 § 15 pro emtore

(41. 4.) „si a pupillo emero

sine tutoris auctoritate, quem

puberem esse putem” rel.

|0076 : 64|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

gelten konnte, weil die Betheiligten uneinig waren, woll-

ten die Sabinianer die individuelle Verſchiedenheit, die ja

auch außer dem Fall des Streites galt, beybehalten,

und nur der eigenen freyen Wahl des Zeitpunktes die kör-

perliche Unterſuchung ſubſtituiren. Der Fall eines ſolchen

Streites aber kam wohl nur ſelten vor. Er ſetzt voraus

einen Pupillen, der nach Unabhängigkeit ſtrebt, und einen

Tutor, der die Herrſchaft nicht aufgeben will. Aber die-

ſer Fall war gewiß ſelten, weil die Führung der Pupil-

lartutel, wie wir aus den ſehr ausgebildeten Excuſationen

wiſſen, faſt immer als unerwünſcht galt, indem ſie Mühe

ohne Lohn, und gefährliche Verantwortung mit ſich führte.

Aus dieſer Seltenheit eines ſolchen Rechtsſtreits erklärt es

ſich auch wohl, warum die ganze Frage, die auf den

erſten Blick eine ſolche praktiſche Wichtigkeit für das täg-

liche Leben zu haben ſcheint, dennoch erſt zur Zeit der

zwey Schulen angeregt wurde, und ſich in dieſen Schulen

lange als theoretiſcher Streit erhalten konnte, ohne durch

feſte Praxis oder Geſetzgebung beſeitigt zu werden.

Dieſe letzte Betrachtung hat nun auch Einfluß auf Das,

was wir über den ſpäteren Zuſtand der Sache anzuneh-

men haben. Es mag ſeyn, daß hie und da einmal die

Frage vor Gericht gebracht worden iſt (q), ſelten genug

geſchah Dieſes gewiß, und zu der Annahme, daß jemals

 

(q) Quinctilian. Inst. or. IV.

2 „cum .. de jure quaeritur

apud centumviros … pubertas

annis an habitu corporis aesti-

metur.”

|0077 : 65|

§. 109. Altersſtufen. Impuberes.

die Beſichtigung der bisherigen Pupillen herrſchende Sitte

geworden wäre, haben wir durchaus keinen Grund. Viel-

mehr ſprechen alle zuverläſſigen Zeugniſſe der nachfolgen-

den Zeit für die ſtete Anerkennung der Vierzehen Jahre

als des unzweifelhaften Zeitpunktes der Pubertät (r). Da-

gegen ſind die wenigen Zeugniſſe, die für eine entgegenge-

ſetzte Praxis etwa angeführt werden könnten, von der un-

zuverläſſigſten Beſchaffenheit (s). Ja es läßt ſich aus fol-

(r) Ulpian. XVI. § 1 „.. aut

XIV. annorum filium vel filiam

XII. amiserint … at intra an-

num tamen et sex menses etiam

.. impubes amissus solidi ca-

piendi jus praestat.” (Hier iſt

offenbar 14 und 12 Jahre der

Gegenſatz von impubes). — L.

11 pr. quod falso (27. 6.). —

L. un. § 1 C. Th. de his qui

ven. (2. 17.) „feminas .. qua-

rum aetas biennio viros prae-

cedit”). — Ferner von Nicht-

juriſten: Seneca consol. ad Mar-

ciam C. 24 „pupillus relictus

sub tutorum cura usque ad

XIV. annum fuit: sub matris

tutela semper.” — Macrobius

in somn. Scip. I. 6. „.. tutela

.. de qua tamen feminae .. ma-

turius biennio legibus liberan-

tur.” Macrobius Saturn. VII.

7 „secundum jura publica duo-

decimus annus in femina et

quartusdecimus in puero defi-

nit pubertatis aetatem.” — Fe-

stus v. pubes. — Isidori orig.

XI. 2.

(s) Servius in Virg. ecl. VIII.

39 „cum annis recte jungit ha-

bitum corporis, nam pubertas

de jure ex utroque colligitur.”

— Servius in Virg. Aen. VII.

53 „secundum jus locutus est,

in quo et ex annorum ratione,

et ex habitu corporis aetas

probatur.” Daß dieſes bloße

Büchergelehrſamkeit iſt, und zwar

wenig verſtandene, erhellt beſon-

ders aus der zweyten Stelle, die

ſich auf das Alter einer Jung-

frau bezieht, da doch bey dem

weiblichen Geſchlecht nie auf die

körperliche Beſchaffenheit, ſondern

ſtets nur auf die Jahre geſehen

wurde. — Isodori orig. XI. 2.

welche Stelle aufgenommen iſt

in C. 3. X. de despons. impub.

(4. 2.): „Quidam autem ex an-

nis pubertatem existimant: id

est eum puberem esse qui XIV.

annos expleverit, quamvis tar-

dissime pubescat. Certissimum

autem (Decr. Certum autem

est eum) puberum esse, qui et

(deest et in Decr.) ex habitu

corporis pubertatem ostendat

et generare jam possit.“ Auch

III. 5

|0078 : 66|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

gendem Grunde annehmen, daß ſchon frühe unter den

Kaiſern die Vierzehen Jahre eine weit allgemeinere Anwen-

dung erhielten, als ſie zur Zeit der Republik gehabt hatten.

Denn in der älteren Zeit kamen in der That die Vierzehen

Jahre rein zur Anwendung nur in den nicht häufigen

Streitfällen, außerdem entſchied der mit ziemlicher Willkühr

behandelte Wechſel der Toga. Unter den Kaiſern aber

fieng man an, den früheren Reiſerock (paenula) auch in

der Stadt zu tragen (t), der dann nach einiger Zeit die

Toga gänzlich verdrängte. Eine Folge dieſer Revolution

in der Kleidertracht war es nun ohne Zweifel, daß auch

die feyerliche Anlegung der männlichen Toga als Natio-

nalſitte ganz wegfiel, da eine ſolche alte Sitte auf das

neue, ohnehin nur allmälig eingeführte Kleid gewiß nicht

übertragen wurde (u). Dann hatte man, auch außer dem

ſeltenen Fall eines Rechtsſtreites, nur noch die Wahl zwi-

ſchen den Vierzehen Jahren und der körperlichen Beſichti-

gung, und es erklärt ſich hieraus, warum die angeführten

Stellen (Note r) ſo unbedingt die Vierzehen Jahre als

wirklichen Zeitpunkt erwähnen, wie es bey Schriftſtellern

aus der Zeit der Republik ſchwerlich geſchehen ſeyn würde.

dieſe Anführung und Billigung

der Sabinianiſchen Meynung

ſieht bloßer Buchgelehrſamkeit

ähnlich, wie das Meiſte in die-

ſem Schriftſteller.

(t) Schon zur Zeit des Taci-

tus wurde die Pänula ſelbſt in

Gerichten getragen. Dial. de

caussis corruptae eloquentiae

C. 39.

(u) Daneben iſt es allerdings

nicht unwahrſcheinlich, daß in ein-

zelnen vornehmen Familien, na-

mentlich bey dem Sohn eines

Kaiſers, die alte Feyerlichkeit den-

noch beobachtet wurde.

|0079 : 67|

§. 109. Altersſtufen. Impuberes.

— Iſt nun dieſe ganze Anſicht der Sache richtig, ſo war

auch zu Juſtinians Zeit in der Praxis ſchon längſt nur

von Vierzehen Jahren die Rede, und an eine Beſichtigung

dachte Niemand mehr. Juſtinians Geſetz ſollte alſo, wie

gewiß auch manches andere, nicht den praktiſchen Zuſtand

des Rechts ändern, ſondern eine in Büchern vorgefundene

alte Streitfrage entſcheiden. Die gewöhnliche Meynung

freylich iſt Dieſes nicht, vielmehr pflegt man anzunehmen,

die Meynung des Priſcus habe bleibend die Oberhand be-

halten, und zur Zeit von Juſtinian ſey ſtets wirklich be-

ſichtigt worden (v). Dieſe Annahme erklärt ſich leicht aus

der ſittlichen Entrüſtung, womit die beiden Juſtinianiſchen

Geſetzſtellen offenbar abgefaßt ſind, und die aus einem

wahrgenommenen ſcandalöſen Gebrauch herzurühren ſcheint.

Indeſſen hindert uns Nichts, dabey auch ein blos theore-

tiſches Scandal vorauszuſetzen, und daß auch über ein

ſolches Juſtinian in Affect gerathen konnte, iſt gewiß dem

rhetoriſchen Styl ſeiner Geſetze ganz angemeſſen. Ja ſo-

gar findet ſich bey ihm ein Ausdruck, der auf dieſen Zu-

ſtand der Sache geradezu hindeutet. In den Inſtitutionen

heißt es nämlich: Pubertatem .. veteres .. ex habitu cor-

poris in masculis aestimari volebant. So konnte man

ſprechen, wenn Das was getadelt wurde blos in alten

Büchern ſtand, aber der Ausdruck wäre ſehr unpaſſend

geweſen, wenn die Praxis der Gegenwart mit jener ge-

tadelten Lehrmeynung übereingeſtimmt hätte. — Wie kam

(v) Cramer l. c. p. 16.

5*

|0080 : 68|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

man aber überhaupt auf das Alter von Vierzehen Jahren

als Zeitpunkt der Pubertät? Dieſes könnte zuſammenhän-

gen mit der alten Lehre griechiſcher Philoſophen von der

Wichtigkeit der Zahl Sieben, ſo daß die Jahre der Im-

pubertät genau den doppelten Zeitraum der Kindheit aus-

füllen ſollten (w). Dennoch glaube ich dieſe Erklärung ver-

werfen zu müſſen. Erſtlich weil, wenn man blos auf den

Werth der Zahlen ſehen wollte, die altrömiſche Zahl 15

(Note d) mehr Anſpruch auf Beachtung gehabt hätte.

Zweytens weil daneben die Zwölf Jahre für Frauen vor-

kommen, die in dieſes Zahlenſyſtem gar nicht paſſen. Drit-

tens weil ſich für die Erklärung der 14 und 12 ein an-

derer, weit einfacherer und natürlicherer, Weg darbietet.

Man hatte nämlich als Erfahrungsſatz, angemeſſen der

Einwirkung des Italieniſchen Himmels, feſtgeſtellt, die Ge-

ſchlechtsreife trete wirklich in den meiſten Fällen alſo im

Durchſchnitt, mit 14 und 12 Jahren ein.

Die ganze bisherige Unterſuchung betraf lediglich das

männliche Geſchlecht, und es bleibt nur noch die Frage

übrig, wie in dem weiblichen die Pubertät, in Beziehung

auf das Ende der Pupillartutel, beſtimmt wurde. Hier-

über nun ſtimmen die alten Zeugniſſe überein, daß ſtets

der Ablauf von Zwölf Lebensjahren angenommen wurde,

ohne Streit der Schulen, und ohne Anſpruch auf Beſich-

 

(w) S. oben § 107. h. — So

nimmt es auch Macrobius in

somn. Scip. I. 6. „Post annos

autem bis septem … pubescit.”

Eben ſo auch Censorinus de die

nat. C. 14 aus Hippokrates.

|0081 : 69|

§. 109. Altersſtufen. Impuberes.

tigung (x). Die Gründe der verſchiedenen Behandlung

beider Geſchlechter waren folgende. Zuerſt in der That

die Rückſicht auf das durch ein entgegengeſetztes Verfah-

ren verletzte weibliche Zartgefühl, welchen Grund Juſti-

nian allein ausdrückt. Dazu kam aber ferner der Um-

ſtand, daß bey den Jungfrauen keine ähnliche Veranlaſ-

ſung zu individuellen Schwankungen, wie bey den Kna-

ben durch die Anlegung der männlichen Toga eintrat: denn

die Prätexta trugen ſie beſtändig bis zur Ehe (y), ſo daß

bey ihnen gar Nichts geſchah, wodurch ein Abſchnitt des

Alters auf ſichtbare Weiſe ausgedrückt worden wäre. End-

lich kam auch noch hinzu, daß hier das Ende der Tutel

weniger wichtig und merklich wurde, indem nur die Ge-

ſchlechtstutel an die Stelle der pupillariſchen trat, und

ganz gewöhnlich auch in der Perſon deſſelben Tutors fort-

dauerte. Die Zahl der Zwölf Jahre aber gründete ſich

ohne Zweifel auf uraltes Herkommen, und wir haben kei-

nen Grund anzunehmen, daß ſie durch Geſetze eingeführt,

oder auch nur beſtätigt worden wäre (z).

(x) So ſagt es ausdrücklich

Juſtinian in den Inſtitutionen

und im Codex. Ulpian. XI. 28

iſt bey den Frauen lückenhaft, aber

die Art des Ausdrucks zeigt au-

genſcheinlich, daß beide Geſchlech-

ter völlig verſchieden behandelt

wurden. Ferner gehören hierher

die in der Note r für das männliche

Geſchlecht angeführten Stellen.

(y) Die Stellen ſind geſam-

melt bey Pitiscus v. Praetexta

Num. 3.

(z) Cramer p. 9. 17 nimmt

eine geſetzliche Beſtätigung an we-

gen des Ausdrucks legitima uxor

in L. 4 de ritu nupt. (23. 2.).

Allein dieſer Ausdruck iſt wohl

ganz gleichbedeutend mit dem ſonſt

gewöhnlicheren justa uxor oder

civiliter nupta (z. B. in L. 28

§ 3 de lib. et posth. 28. 2.), ge-

rade ſo wie auch legitime oder

|0082 : 70|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

§. 110.

II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. A. Altersſtu-

fen. Impuberes und Puberes. (Fortſetzung.)

II. Einfacher und leichter ſtellt ſich die Frage nach

der Beſtimmung der Pubertät in Beziehung auf die Te-

ſtamentsmündigkeit. Hier ſagen mehrere Stellen des Ju-

ſtinianiſchen Rechts unbedingt, und ohne Hindeutung auf

einen Schulſtreit, daß Alles auf das zurückgelegte zwölfte

oder vierzehente Jahr ankomme (a). Dieſe Stellen könnte

man noch etwa für interpolirt halten. Allein jeder Zwei-

fel dieſer Art wird beſeitigt durch die ganz übereinſtim-

menden Zeugniſſe des Gajus und des Paulus (b). — Es

läßt ſich aber auch natürlich erklären, warum es die Sa-

binianer ohne Inconſequenz unterlaſſen konnten, in dieſer

Anwendung die Forderung individueller Unterſuchung gel-

tend zu machen. Wenn Derjenige, welcher Vierzehen Jahre

alt war, deſſen wirkliche Pubertät aber bezweifelt werden

 

illegitime concepti (Gajus I.

§ 89) nur auf jus civile über-

haupt, nicht auf eine einzelne lex

geht. — Macrobius ſagt einmal

legibus liberantur, ein anderes-

mal secundum jura publica

(Note r); auch dieſe beiden Aus-

drücke ſcheinen gleichbedeutend, ſo

daß legibus nicht mehr heißt als

jure oder jure civili.

(a) L. 5 qui test. (28. 1.), L. 2

pr. L. 15 de vulg. (28 6.), L. 4

C. qui test. (6. 22.). In der letz-

ten Stelle findet ſich ſogar eine

Hinweiſung darauf, daß hier von

der individuellen Entwicklung gar

nicht die Rede ſeyn könne: „Nam

si hanc aetatem egressus, licet

vigoris nondum emersissent ve-

stigia” rel.

(b) Gajus II. § 113 „mascu-

lus minor XIV. annorum testa-

mentum facere non potest …

femina vero post XII. annum

testamenti faciendi jus nancis-

citur.” — Paulus III. 4 A. § 1.

„Testamentum facere possunt

masculi post completum quar-

tum decimum annum, feminae

post duodecimum.”

|0083 : 71|

§. 110. Altersſtufen. Impuberes. (Fortſetzung.)

konnte, ein Teſtament machte, ſo war für den Augenblick

Niemand vorhanden, der die Pubertät beſtreiten, und die

Unterſuchung veranlaſſen konnte. Vor Gericht kommen

konnte die Frage erſt nach dem Tode, im Rechtsſtreit zwi-

ſchen dem Teſtamentserben und dem Inteſtaterben; dann

aber war es augenſcheinlich zu ſpät, durch Unterſuchung

auszumitteln, ob der Erblaſſer zur Zeit des errichteten

Teſtaments die Pubertät erreicht haben möchte. Daher

ließen für dieſen Fall die Sabinianer ihre Behauptung,

die hier ganz unpraktiſch geweſen wäre, fallen. Zugleich

iſt aber dieſer Umſtand wichtig, indem er beweiſt, daß

von allen Seiten das Alter von Vierzehen Jahren als

Zeitpunkt präſumtiver Pubertät unbedenklich anerkannt

wurde, und daß die Sabinianer nur noch ſicherer gehen

wollten, indem ſie, ſo weit es ausführbar war, Gewiß-

heit durch Unterſuchung an die Stelle der auch von ihnen

nicht bezweifelten Präſumtion zu ſetzen verſuchten.

III. Es bleibt übrig die Feſtſtellung der Pubertät in

Beziehung auf die Möglichkeit der Ehe. — Für das weib-

liche Geſchlecht werden auch hier wieder Zwölf Jahre als

unzweifelhaft angegeben (c). Dagegen wird für die Män-

ner lediglich die Pubertät erfordert (d), ohne irgend eine

Hinweiſung, ob dieſelbe durch Jahre oder durch Unterſu-

chung ermittelt werden ſolle. Dieſes Stillſchweigen er-

 

(c) L. 9 de sponsal. (23. 1.),

L. 4 de ritu nupt. (23. 2.), L. 32

§ 27 de don. int. v. et ux. (24. 1.),

L. 17 § 1 de reb. auct. jud. (42.

5.), L. 11 § 3. 4 quod falso (27. 6.).

(d) pr. J. de nupt. (1. 10.).

|0084 : 72|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

klärt ſich wohl aus dem an ſich zufälligen Umſtand, daß

das Unternehmen einer ungewoͤhnlich frühen Ehe weit oͤfter

im weiblichen als im männlichen Geſchlecht vorkommen

wird, weshalb bey dieſem weniger Veranlaſſung zu ge-

nauen Beſtimmungen vorhanden war. Wie haben wir

aber jenes Stillſchweigen zu deuten? Daß dem Sinn des

Juſtinianiſchen Geſetzes in dieſer, wie jeder anderen Be-

ziehung die Beſichtigung entgegen ſeyn würde, bezweifelt

Niemand; dagegen nehmen Manche ein ſolches Verfahren

für das ältere Recht an (e), und nicht ohne Schein, da

die Pubertät in der That eine unmittelbarere Beziehung

zu der Ehe hat, als zu der Tutel oder zu den Teſtamen-

ten. Dennoch halte ich dieſe Meynung bey der Ehe aus

demſelben inneren Grunde für verwerflich, welcher ſchon

bey den Teſtamenten geltend gemacht worden iſt. Zu der

Zeit nämlich, wo eine ſolche Ehe von einem Vierzehen-

jährigen, deſſen wirkliche Pubertät bezweifelt werden könnte,

geſchloſſen wird, iſt wieder Niemand vorhanden, der durch

ſeinen Widerſpruch die gerichtliche Einmiſchung und die

Unterſuchung veranlaſſen koͤnnte. Wäre nun auch die Ehe

einſtweilen noch ungültig, ſo würde ſie mit eintretender

Pubertät eben ſo von ſelbſt und ſtillſchweigend gültig wer-

den, wie z. B. unſtreitig die ungültige Ehe einer elfjähri-

gen Frau am Ende des zwölften Lebensjahres von ſelbſt

gültig wird (f). Nun koͤnnte allerdings hinterher einmal

(e) Zimmern Rechtsgeſch. I. § 120 S. 428.

(f) L. 4 de ritu nupt. (23. 2.).

|0085 : 73|

§. 110. Altersſtufen. Impuberes. (Fortſetzung.)

Streit darüber entſtehen, ob an irgend einem beſtimmten

Tage die Ehe ſchon gültig geweſen ſey oder nicht, wel-

ches z. B. auf die Gültigkeit einer an dieſem Tage ge-

machten Schenkung Einfluß haben könnte; allein dann iſt

es auch nicht mehr möglich, durch Unterſuchung den kör-

perlichen Zuſtand feſtzuſtellen, der an einem vielleicht längſt

vergangnen Tage beſtanden hat. Der einzige Fall, worin

etwa die Unterſuchung ſtattfinden konnte, war der, wenn

bald nach dem Anfang einer ſolchen zweydeutigen Ehe ein

Theil die Scheidung ausſprach, oder auch die Nichtigkeit

behauptete, und nun die Frage entſtand, ob bis jetzt eine

Ehe beſtanden habe; für einen ſo ſeltenen, vielleicht nie

eingetretenen Fall haben aber ſchwerlich die Sabinianer,

aus bloßer Liebe zur Conſequenz, die Anwendung ihres

Princips behauptet. Höchſt wahrſcheinlich alſo hat man

auch in Anwendung auf die Ehe die Vierzehen Jahre ſtets

ohne Streit gelten laſſen (g).

(g) Die einzige Stelle, worin

die Unterſuchung in Beziehung auf

Ehe erwähnt wird, iſt Quincti-

lian. declam. 279. Der Fall iſt

dieſer. Ein Vater hat ſeinen un-

reifen Knaben verheurathet; die-

ſer findet einen Ehebrecher bey

der Frau und läßt ſich von ihm

mit Geld abfinden; deswegen will

ihn der Vater abdiciren, und ge-

gen die Rechtmäßigkeit dieſer ab-

dicatio iſt die ganze Rede gerich-

tet. Der Redner behauptet nun

unter andern, es ſey noch gar

keine wahre Ehe geweſen, und

will es deshalb auf eine Beſich-

tigung des Knaben ankommen

laſſen. Allein ſchon an ſich kön-

nen ſolche romanhafte Einfälle

Nichts für das Daſeyn eines

Rechtsſatzes beweiſen; vollends

aber in dieſer Rede, deren gan-

zer Gegenſtand die abdicatio iſt,

welches Inſtitut dem Römiſchen

Recht gar nicht angehört.

|0086 : 74|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Nach eingetretener Pubertät, und vor der Volljährig-

keit, werden noch manche Mittelſtufen des Alters behaup-

tet, die auch juriſtiſche Bedeutung haben ſollen. Inſofern

ſich dieſe auf ganz einzelne Rechtsgeſchäfte beziehen, ha-

ben ſie mit der allgemeinen Betrachtung der durch das

Alter bedingten Handlungsfähigkeit Nichts zu ſchaffen, viel-

mehr gehören ſie dann blos jenen einzelnen Inſtituten an,

und ſind als Elemente derſelben zu betrachten. So ver-

hält es ſich mit folgenden Rechtsregeln. Siebenzehen Jahre

werden erfordert, um poſtuliren zu koͤnnen (h); Achtzehen

zur Ausübung des (altrömiſchen) Richteramts (i). Wer

Zwanzig Jahre alt iſt, und ſich betrüglich als Sklaven

verkaufen läßt, wird in der That Sklave zur Strafe dieſes

Betrugs (k). Zwanzig Jahre alt ſollte ein Herr ſeyn, um

einen Sklaven ohne obrigkeitliche Prüfung frey laſſen zu

können: welches Juſtinian auf Siebenzehen Jahre herunter

geſetzt hat (l).

 

Etwas mehr Zuſammenhang mit der Pubertät hat fol-

gende Beſtimmung. Trajan hatte vielen Knaben und Mäd-

chen Alimente ausgeſetzt, welche bis zur Pubertät (14 und

12 Jahre) ausgezahlt wurden; Hadrian dehnte dieſelben

bis zu 18 und 14 Jahren aus. Darin lag eine freyge-

bige Willkühr, ohne alle Beziehung auf Pubertät; eine

ſolche Beziehung entſtand erſt durch die Anwendung, die

 

(h) L. 1 § 3 de postul. (3. 1.).

(i) L. 57 de re jud. (42. 1.).

(k) § 4 J. de j. pers. (1. 3.).

(l) Ulpian. I. § 13, Gajus I.

§ 38, § 7 J. qui et quib. ex cau-

sis (1. 6.).

|0087 : 75|

§. 110. Altersſtufen. Impuberes. (Fortſetzung)

davon im Privatrecht gemacht wurde; wenn in einem Te-

ſtament Alimente ausgeſetzt werden bis zur Pubertät, ſo

ſoll das in dieſem Fall, nach der Analogie jener kaiſerli-

chen Freygebigkeit, ſo ausgelegt werden, als wären die

Alimente bis zu 18 und 14 Jahren ausgeſetzt (m). — Eine

andere, nur dem Namen nach ähnliche, Beſtimmung iſt

dieſe. Bey der Adoption war es noch zur Zeit des Ga-

jus beſtritten, ob der Adoptivvater nothwendig älter ſeyn

müſſe, als das Adoptivkind (n). Später aber wurde als

feſte Regel angenommen, der Adoptivvater müſſe wenig-

ſtens Achtzehen Jahre älter ſeyn, und dieſe Differenz des

Alters nannte man die plena pubertas, wodurch alſo die-

ſer Rechtsſatz wenigſtens durch den Namen mit der Pu-

bertät in Verbindung geſetzt wird (o). Mehr als dieſes

läßt ſich über die plena pubertas nicht behaupten, und es

iſt ganz ohne Grund, wenn um dieſes Namens willen

neuere Schriftſteller hieraus ein eigenes Rechtsinſtitut, ähn-

lich der Pubertät ſelbſt, machen wollen.

Zuletzt iſt noch eine Schwierigkeit zu erwähnen, die in

Folge der Meynung der Sabinianer entſtehen mußte. Dieſe

wollten die individuelle Pubertät der jungen Männer be-

 

(m) L. 14 § 1 de alim. leg.

(34. 1.). Vgl. über dieſe merk-

würdige Stelle Cramer l. c. p. 20.

(n) Gajus I. § 106.

(o) L. 40 § 1 de adopt. (1. 7.)

von Modeſtin, § 4 J. de adopt.

(1. 11.). Modeſtin ſagt: „major

esse debet eo, quem .. filium

facit: et utique plenae puber-

tatis, id est decem et octo an-

nis eum praecedere debet.” Die

Inſtitutionen ſagen plena puber-

tate praecedere.

|0088 : 76|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

achtet wiſſen; wie aber wenn ſie Spadonen waren, alſo

niemals zur Pubertät kamen? Ja ſelbſt bey den Procu-

lejanern wäre es nicht gerade inconſequent geweſen, die-

ſen Fall abweichend von anderen Fällen zu behandeln;

denn wenn überhaupt eine innere Verbindung zwiſchen Ge-

ſchlechtsreife und Geſchäftsfähigkeit angenommen wird, wie

ſie die Römer unſtreitig annehmen, ſo wäre es nicht un-

natürlich, Denjenigen, der niemals zur Pubertät kommt,

auch zu Geſchäften ſpäter als Andere zuzulaſſen.

Wir betrachten dieſe Frage zuerſt in Anwendung auf

die Teſtamentsfähigkeit. Hier ſagt Paulus III. 4 A. § 2

ausdrücklich: Spadones eo tempore testamentum facere

possunt, quo plerique pubescunt, id est anno decimo

octavo. Nach dieſer Stelle ſcheinen alſo beide Schulen

darin übereingeſtimmt zu haben, daß bey den Spadonen

ein feſtes Lebensjahr angenommen werden müſſe, aber ein

ſpäteres als bey Anderen; und dieſes erhält eine nicht ge-

ringe Unterſtützung durch die oben erwähnte plena puber-

tas der Achtzehenjährigen; man muß dann zu decimo oc-

tavo hinzudenken completo, oder noch beſſer die Leſeart

(wie es ſcheint, der meiſten Handſchriften) annehmen: an-

norum decem et octo. Dabey liegt zum Grunde folgende

ſehr natürliche Betrachtung. Mit Vierzehen Jahren tritt

die Pubertät im Durchſchnitt ein, alſo bey den Meiſten;

bey Einigen verzögert ſie ſich bis zum Ende des achtzehen-

ten Jahres (plena pubertas), und es iſt natürlich, daß

man dieſen ſpäteren Zeitpunkt auf die Spadonen anwen-

 

|0089 : 77|

§. 110. Altersſtufen. Impuberes. (Fortſetzung.)

det (p). Man muß dann unter plerique nicht die Mei-

ſten verſtehen, ſondern gerade umgekehrt Einige, alſo

gerade die Wenigſten, die Spätreifen; auch iſt dieſe Er-

klärung durch den Sprachgebrauch anderer Schriftſteller

beſtätigt (q). — Manche verwerfen den Zuſatz von Acht-

zehen Jahren als einen eingeſchobenen Zuſatz der Abſchrei-

ber (r); andere wollen emendiren decimo quarto (s). Beide

Vorſchläge haben alle Handſchriften gegen ſich: durch den

erſten wird außerdem die Stelle ganz unverſtändlich: durch

den zweyten wird ſie unnütz, da es nicht der Mühe lohnte

die Spadonen zu erwähnen, wenn ſie ganz daſſelbe Recht

wie Andere haben ſollten. — Eine Conſtitution von Con-

ſtantin ſtellt bey der Abfaſſung der Teſtamente die Eunu-

chen (alſo die unterſte Klaſſe der Spadonen) den übrigen

Menſchen gleich (t); dieſe Vorſchrift ſcheint als Aufhebung

(p) So verſteht es auch Cuja-

cius in L. 1 D. de minoribus

(Opp. I. p. 988): „Sed in eis

causis (bey der Adoption) non

ideo dicitur plena, quod is sit

pubertatis finis, sed quod fri-

gidiores, qui tardius pubescunt,

ea fere aetate puberes fiant, ut

Paulus significat lib. 3 Sent.

tit. 4.”

(q) Tacitus hist. IV. 84. „De-

um ipsum multi Aesculapium

… quidam Osirin … plerique

Jovem … plurimi Ditem pa-

trem … conjectant.” Eben ſo

bezeichnet plerumque in L. 25

§ 2 L. 26 de pactis (2. 14.) den

ſeltneren, ausgenommenen Fall,

im Gegenſatz des regelmäßigen.

Vgl. auch L. 32 § 10 de don. int,

v. et ux. (24. 1.), und Brisso-

nius v. plerumque. — In unſrer

Stelle des Paulus laſſen einige

Handſchriften das plerique weg,

wodurch aber der Sinn zerſtört

wird.

(r) Dirkſen Beiträge S. 53,

und Frühere in den Noten von

Schulting.

(s) So die Note 3 der Bon-

ner Quartausgabe.

(t) L. 4 C. qui test. (6. 22.).

„Eunuchis liceat facere testa-

mentum, componere postremas

exemplo omnium voluntates”

|0090 : 78|

Buch. II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

der früheren Regel der Achtzehen Jahre gemeynt, die alſo

dadurch wiederum eine indirecte Beſtätigung erhält.

Noch wichtiger war die Frage, wann die Spadonen

von der Tutel frey werden ſollten. Darüber ſagt Gajus

(I. 196) Folgendes. Die Sabinianer nehmen juriſtiſch als

pubes an Denjenigen qui generare potest; sed in his,

qui pubescere non possunt, quales sunt spadones, eam

aetatem esse spectandam, cujus aetatis puberes fiunt.

Das puberes fiunt kann nicht auf die Spadonen gehen,

von welchen er ſelbſt ſo eben bemerkt hatte, daß ſie nie-

mals pubeſcirten; es muß alſo heißen: in welchem Alter

Andere die Pubertät erlangen. Hätte er damit die Vier-

zehen Jahre gemeynt, die gleich nachher als Meynung

der Proculejaner vorkommen, ſo hätte er ohne Zweifel die

Zahl ausgedrückt; der umſtändliche, umſchreibende Aus-

druck deutet auf eine abweichende Beſtimmung, und wenn

man ihn mit der Stelle des Paulus über die Teſtamente

vergleicht, ſo ſcheint es natürlich, ſo zu erklären: in wel-

chem Alter auch noch Einige (die Spätreifen) die Puber-

tät erlangen. Dann wäre das puberes fiunt des Gajus

gleichbedeutend mit dem plerique pubescunt des Paulus.

Vielleicht hat aber auch Gajus wirklich geſchrieben pleri-

que puberes fiunt, und das plerique iſt dann in unſrer

Handſchrift eben ſo ausgefallen, wie es in einigen Hand-

ſchriften des Paulus in der That ausgefallen iſt.

 

Es ſcheint ſonderbar, daß auch für die Möglichkeit

 

rel. — Die Stelle bekommt den das exemplo omnium auf das

beſtimmteſten Sinn, wenn man Alter bezieht.

|0091 : 79|

§. 111. Altersſtufen. Minores.

der Ehe den Spadonen ein Zeitpunkt vorgeſchrieben ſeyn

ſollte; und doch konnte von einem ſolchen die Rede ſeyn,

da denſelben (nur mit Ausnahme der Eunuchen) die Ehe

überhaupt geſtattet iſt (u). Indeſſen iſt eine ſolche Ehe

ſchon an ſich ſo ſelten, daß es ſich leicht erklärt, wenn

ihr noch ſeltneres Zuſammentreffen mit ſehr früher Jugend

nirgend erwähnt wird. Wäre es überhaupt vorgekommen,

ſo würde man vielleicht auch hier Achtzehen Jahre gefor-

dert haben.

Im Juſtinianiſchen Recht kann von dieſen eigenthümli-

chen Beſtimmungen für die Spadonen nicht mehr die Rede

ſeyn; vielmehr muß die Regel der Vierzehen Jahre in je-

der Beziehung auch auf ſie angewendet werden, weil be-

ſondere Ausnahmen für Dieſelben nicht anerkannt ſind. Es

iſt nur zufällig, daß dieſe Behauptung lediglich in Anſe-

hung der Teſtamente (Note t) eine ausdrückliche Beſtäti-

gung gefunden hat.

 

§. 111.

II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. A. Altersſtu-

fen. Minores und Majores (a).

Die urſprünglich vollſtändige Freyheit aller Mündigen

in der Beherrſchung ihres Vermögens erſchien ſchon fruͤhe

als gefährlich, und machte daher neue künſtliche Anſtalten

 

(u) L. 39 § 1 de j. dot. (23. 3.).

(a) Vgl. Savigny von dem

Schutz der Minderjährigen im

Römiſchen Recht und insbeſon-

dere von der Lex Plaetoria, in

den Abhandlungen der Berliner

Akademie von 1833 S. 1—39.

|0092 : 80|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

nöthig, die bis zu Ende des fünf und zwanzigſten Lebens-

jahres reichen ſollten. Dadurch wurde die letzte juriſti-

ſche Altersgränze herbeygeführt, die der früheren Zeit ganz

fremd geweſen war. Auf dieſes neue Bedürfniß führte

die ſteigende Ausdehnung des Staats, verbunden mit dem

zunehmenden Reichthum und Luxus der Einzelnen; in Folge

derſelben auf der einen Seite das einreißende Sittenver-

derben, auf der andern Seite eine größere Verwicklung

der Geſchäfte, auf welche die der älteren Zeit wohl an-

gemeſſene Vorausſetzung der Geſchäftsfähigkeit aller Mün-

digen nicht mehr paßte (§ 107. g).

Der künſtliche Schutz für die Minderjährigen wurde

aber nur allmälig, und zwar in folgenden Abſtufungen,

eingerichtet.

 

Zuerſt wurde um die Mitte des ſechſten Jahrhunderts

der Stadt eine Lex Plaetoria gegeben, die den früher un-

bekannten Zeitpunkt von Fünf und zwanzig Jahren ein-

führte (b), weshalb auch dieſes Alter, und nicht die wich-

tigere und früher anerkannte Pubertät, den Namen legi-

tima aetas erhielt (c). Das Geſetz aber ſuchte nur auf

indirecte Weiſe die Minderjährigen zu ſchützen, indem es

Diejenigen, die mit ihnen betrügliche Geſchäfte eingehen

würden, mit einer Criminalanklage bedrohte.

 

(b) Der unmittelbarſte Beweis

liegt in der L. 2 C. Th. de don.

(8. 12.). Bey Plautus heißt da-

her das Geſetz Lex quinavice-

naria. Pseudolus I. 3. 69.

(c) L. 2 C. Th. cit., L. un. § 3

C. Th. de his qui ven. (2. 17.),

L. 28 in f. de appell. (49. 1.).

Vergl. Brissonius v. legitimus.

|0093 : 81|

§. 111. Altersſtufen. Minores

Darauf folgte der viel wichtigere und durchgreifendere

Schutz des prätoriſchen Edicts, welches den Minderjähri-

gen eine allgemeine Reſtitution gegen alle nachtheilige

Handlungen oder Unterlaſſungen ankündigte.

 

Endlich kam noch hinzu die Verordnung von K. Marc

Aurel, welche alle Minderjährige, zur Erhaltung ihres

bereits vorhandenen Vermögens, unter Curatoren ſtellte.

 

Alle dieſe Anſtalten, innerhalb der letzten Altersſtufe,

betrafen alſo weniger unmittelbar, als die niederen Stu-

fen, die Handlungsfähigkeit der Minderjährigen ſelbſt. Ihre

genauere Darſtellung gehört daher anderen Theilen des

Rechtsſyſtems an (d), und die gegenwärtige allgemeine Uber-

ſicht iſt hier nur deshalb gegeben worden, um den Zuſam-

menhang ſämmtlicher Altersſtufen anſchaulich zu machen.

 

Am Schluß dieſer Lehre von den Altersſtufen iſt nun

noch anzugeben, welche Theile derſelben im heutigen Rechte

fortbeſtehend ſind.

 

Die Römiſche Lehre von der Infantia hat ihren prak-

tiſchen Werth größtentheils verloren, weil ſie ſich haupt-

ſächlich auf die tutoris auctoritas bezog, deren unprakti-

ſche Natur erſt im Zuſammenhang der ganzen Vormund-

ſchaft vollſtändig dargeſtellt werden kann. Es iſt alſo nur

 

(d) Die Lex Plaetoria iſt ſchon

frühe aus dem praktiſchen Recht

verſchwunden (Savigny a. a. O.

S. 18). Die Reſtitution wird im

folgenden Kapitel des zweyten

Buchs (unter den Mitteln zum

Schutz der Rechte) dargeſtellt wer-

den. Endlich die Curatoren der

Minderjährigen gehören in das

Recht der Vormundſchaft, alſo

zu dem ſpeciellen Theil des Sy-

ſtems.

III. 6

|0094 : 82|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

noch als praktiſches Recht zu betrachten die Regel, daß

der Siebenjährige theils Sponſalien ſchließen, theils ſolche

Handlungen, die reinen Gewinn bringen, gültig vorneh-

men kann.

Die Pubertät als Anfang freyer Vermögensherrſchaft,

folglich als Ende der Tutel, hat durch die der Vormund-

ſchaft im heutigen Recht gegebene neue Geſtalt ganz auf-

gehoͤrt. — Die Pubertät als Anfang der Teſtamentsfä-

higkeit hat ſich am reinſten erhalten. — Die Pubertät von

14 und 12 Jahren als Anfang möglicher Ehe iſt auch

noch im canoniſchen Recht beſtimmt anerkannt (e). Unſe-

ren Sitten iſt dieſe Zeitbeſtimmung völlig fremd, und

neuere Geſetzgebung hat ſie in den meiſten Ländern aus-

drücklich und ſtark abgeändert.

 

Endlich iſt die Minderjährigkeit als Grund einer Re-

ſtitution auch im heutigen Recht unverändert beybehalten.

Als Grund einer eigenthümlichen Curatel aber kann ſie

nicht mehr gelten, weil dieſe Curatel mit der alten Tutel

der Unmündigen verſchmolzen worden iſt.

 

(e) C. 6. 10. 11. 14 X. de de-

spons. impub. (4. 2.). — Nur

darin findet ſich eine kleine Ab-

weichung vom R. R., daß, wenn

vor den 14 oder 12 Jahren den-

noch wirklich der Beyſchlaf ſtatt

findet, dadurch die Ehe gültig

und folglich auch unauflöslich

wird. C. 6. 8. 9. 11 X. eod. C. un.

eod, in VI. (4. 2.). Um dieſer

Modification willen wurde denn

auch die Stelle des Iſidor als

C. 3 X. eod. aufgenommen, wel-

che die zwey Meynungen der Rö-

miſchen Juriſtenſchulen anführt,

und der Sabinianiſchen den Vor-

zug giebt (§ 709. s). — Vgl. über-

haupt Glück Pandekten B. 23

§ 1203 und Eichhorn Kirchen-

recht B. 2 S. 339 fg.

|0095 : 83|

§. 112. Vernunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen.

§. 112.

II. Freye Handlungen. — Hinderniſſe. B. Vernunft-

loſe. C. Interdicirte. D. Juriſtiſche Perſonen.

B. Die Vernunftloſigkeit oder der Wahn-

ſinn iſt ein natürliches und unzweifelhaftes Hinderniß

für freye Handlungen und ihre Folgen. Die Beurthei-

lung iſt hier theilweiſe weniger ſchwierig als bey dem

unreifen Alter, indem die Veränderung nicht wie bey

dem Alter durch lang dauernde, unmerkliche Entwick-

lungsſtufen hindurchgeht, ſondern oft ganz plötzlich, au-

ßerdem wenigſtens in raſchen Übergängen, erfolgt. Da-

gegen kann auch hier eine Schwierigkeit entſtehen durch

zweifelhafte Gränzen der Zuſtände; dieſe Schwierigkeit

aber iſt nicht, wie bey dem Alter, durch poſitiv durchgrei-

fende Regeln zu beſeitigen möglich, auch liegt ſie weniger

auf dem Gebiet des Richters, als auf dem des Sachver-

ſtändigen, an deſſen Urtheil der Richter hier meiſt gebun-

den ſeyn wird.

 

Die äußere Erſcheinung dieſes Zuſtandes iſt verſchie-

den, je nachdem er von heftigen Ausbrüchen begleitet iſt

oder nicht. Die Römer haben zwey Ausdrücke, furiosus

und demens, die ſie auf verſchiedene Weiſe gebrauchen:

bald mit ganz willkührlicher Abwechſlung, als völlig gleich-

bedeutende Bezeichnung der Vernunftloſigkeit überhaupt (a);

bald als beſondere Benennung der zwey erwähnten Er-

 

(a) Cicero tusc. quaest. III. 5, L. 7 § 1 de cur. fur. (27. 10.),

L. 14 de off. praes. (1. 18.).

6*

|0096 : 84|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſcheinungsformen (b). Dieſe Unſicherheit des Sprachge-

brauchs iſt jedoch ohne allen Nachtheil, da die juriſtiſche

Beurtheilung beider Zuſtände völlig dieſelbe iſt (c).

Die Vernunftloſen nun ſind eben ſo rechtsfähig als

Andere; nicht blos ihr Vermögen bleibt unverändert, ſon-

dern auch jedes Familienverhältniß, wie Ehe und väter-

liche Gewalt (d). Nur ihre Handlungsfähigkeit iſt völlig

ruhend. Alles alſo, Was durch ſie geſchieht, kann nur

den täuſchenden Schein einer Handlung an ſich tragen,

die rechtlichen Folgen einer Handlung entſtehen daraus

niemals (e). Dieſer wichtige Satz gilt in den mannichfal-

tigſten Anwendungen. Er gilt bey Rechtsgeſchäften, als

Verträgen, Teſtamenten, Eheſcheidung, Beſitzerwerbung (f).

Er gilt aber auch eben ſo entſchieden bey Verbrechen und

Delicten (g), ſo daß alſo die von dem Vernunftloſen aus-

 

(b) L. 25 C. de nupt. (5. 4.),

L. 8 § 1 de tut. et cur. (26. 5.).

— Im Deutſchen gebrauchen wir

als beſondere Bezeichnungen: Ra-

ſende und Blödſinnige.

(c) Ausdrücklich anerkannt iſt

dieſe praktiſche Gleichheit in L. 25

C. de nupt. (5. 4.).

(d) L. 8 pr. de his qui sui

(1. 6.).

(e) L. 40 L. 5 de R. J. (50.

17.), § 8 J. de inut. stip. (3. 19.).

— Nur den Schein einer Aus-

nahme hat der in L. 8 pr. de

his qui sui (1. 6.) aufgeſtellte

Satz, daß ungeachtet des Wahn-

ſinns eines Ehegatten oder auch

beider, das in dieſem Zuſtand er-

zeugte Kind dennoch in väterliche

Gewalt kommt. Denn die Er-

zeugung (verſchieden von dem Bey-

ſchlaf) gilt nicht als freye Hand-

lung, ſondern als ein von dem

Willen unabhängiges Naturer-

eigniß.

(f) L. 2 C. de contr. emt. (4.

38.), L. 2 de inoff. (5. 2.), L. 17

qui test. (28. 1.), L. 22 § 7 sol.

matr. (24. 3.), L. 1 § 12 de O.

et A. (44. 7.), L. 18 § 1 de adqu.

poss. (41. 2.).

(g) L. 14 de off. praes. (1. 18),

L. 5 § 2 ad L. Aqu. (9. 2.).

|0097 : 85|

§. 112. Vernunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen.

gehende Verletzung fremder Vermögensſtücke durchaus keine

Verpflichtung erzeugt.

Nur wo der Zuſtand des Vernunftloſen abwechſlend mit

vernünftigem Zuſtand vorkommt, iſt jede in ſolchen lichten

Zwiſchenzeiten vorgenommene Handlung ganz eben ſo wirk-

ſam, wie wenn vor und nach derſelben keine Vernunftlo-

ſigkeit vorhanden wäre (h).

 

Wohl zu unterſcheiden aber von der Vernunftloſigkeit

iſt die bloße Geiſtesſchwäche (i). Dieſe macht keinesweges

unfähig zu freyen Handlungen, wohl aber kann ſie, wenn

ſie einen hohen Grad erreicht, eine außerordentliche obrig-

keitliche Vorſorge durch Anordnung einer Curatel veran-

laſſen (k).

 

Was nun hier über den Fall des Wahnſinns beſtimmt

worden iſt, darf nicht auf dieſen allein beſchränkt wer-

den, indem es vielmehr auch auf jeden völlig gleichar-

tigen Zuſtand eben ſo angewendet werden muß. Gleich-

artig aber iſt jeder Zuſtand eines Menſchen, worin dem-

ſelben der Vernunftgebrauch fehlt, während der äußere

Schein einer menſchlichen Thätigkeit allerdings vorhanden

 

(h) L. 6 C. de cur. fur. (5.

70.), L. 9 C. qui test. (6. 22.),

L. 14 de off. praes. (1. 18.),

L. 2 C. de contr. emt. (4. 38.).

(i) Die Römiſchen Ausdrücke

ſind: Stultus, fatuus, insanus.

§ 4 J. de curat. (1. 23.), L. 25

C. de nupt. (5. 4.). — Zweydeu-

tig iſt der Ausdruck mente cap-

tus, welcher bald den Wahnſin-

nigen, bald blos den Geiſtes-

ſchwachen bezeichnet, alſo überall,

wo er vorkommt, eine beſonders

vorſichtige Erklärung nöthig macht.

(k) § 4 J. de curat. (1. 23.),

L. 2 de cur. fur. (27. 10.), L. 2

de postul. (3. 1.).

|0098 : 86|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

iſt (l). Dahin gehört das fieberhafte Delirium (m), das

Nachtwandeln, und der durch magnetiſche Behandlung er-

regte Somnambulismus. Wenn alſo in einem dieſer Zu-

ſtände der Menſch dahin gebracht wird, die einen Ver-

trag enthaltenden Worte bewußtlos nachzuſprechen, oder

eine Urkunde zu unterzeichnen, ſo entſteht durchaus nicht

die einer freyen Handlung zukommende Wirkung; eben ſo

auch entſteht keine Delictsobligation, wenngleich der Menſch

in ſolchen Zuſtänden (was noch leichter eintreten kann als

der Schein eines Rechtsgeſchäfts) das Vermögen eines An-

deren beſchädigt.

Zweifelhafterer Natur ſind folgende Zuſtände. Zuerſt

ein hoher Grad der Trunkenheit. In Anſehung der Rechts-

geſchäfte muß hier daſſelbe wie bey dem Wahnſinn be-

hauptet werden, wenn etwa der Trunkene (was wohl zu-

weilen geſchehen kann) zum bewußtloſen Nachſprechen von

Worten, oder zur Unterſchrift ſeines Namens gebracht wird.

Anders verhält es ſich bey Verbrechen und Delicten. Zwar

ein Dolus wird auch in dieſer Beziehung dem völlig Be-

trunkenen nicht zugeſchrieben werden können. Da jedoch

nicht leicht Jemand ohne ſeine Schuld in dieſen Zuſtand

 

(l) Für diejenigen Zuſtände alſo

iſt dieſe Rechtsregel unnütz und

unanwendbar, in welchen, neben

dem fehlenden gegenwärtigen Ver-

nunftgebrauch, auch nicht einmal

der Schein einer Thätigkeit vor-

handen iſt, wie Schlaf, Ohnmacht,

Starrſucht, Scheintod.

(m) Vom fieberhaften Zuſtand

ſprechen L 60 de re jud. (42.

1.), L. 113 de V. S. (50. 16.),

aber nicht in der Beziehung, in

welcher hier die Rede davon iſt,

ſondern in Beziehung auf die Fra-

ge, ob das Fieber als ein voll-

gültiges Hinderniß der Anweſen-

heit im Gericht betrachtet wer-

den könne.

|0099 : 87|

§. 112. Vernunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen.

gerathen kann, ſo wird bey Verbrechen eine öffentliche

Strafe, bey Delicten aber eine Verbindlichkeit zur Ent-

ſchädigung behauptet werden müſſen, weil der Trunkene,

indem er ſich berauſchte, die culpoſe Urſache der ſpäter

erfolgenden Verletzung wurde (n). — Etwas Ähnliches iſt

auch von dem höchſten Grad des Zornes behauptet wor-

den, aber ohne Grund. Von Rechtsgeſchäften kann in ei-

nem ſolchen Zuſtand kaum die Rede ſeyn. Bey Verbre-

chen und Delicten aber kann durch denſelben der Dolus

keinesweges ausgeſchloſſen werden. Ein Zweifel hieran iſt

veranlaßt worden durch die Regel des Römiſchen Rechts,

daß eine in der Aufwallung des Zorns ausgeſprochene Ehe-

ſcheidung wirkungslos ſeyn ſoll (o). Dieſes betrifft aber

nur das juriſtiſche Weſen der zu einer wahren Eheſchei-

dung tauglichen Handlung. Dahin gehören ſoll nicht je-

der Ausſpruch der bey der Scheidung üblichen Worte,

ſondern nur ein Ausſpruch mit ruhiger, beſonnener Über-

legung; ein ſolcher freylich wird durch einen hohen Grad

des Zornes allerdings ausgeſchloſſen.

C. Die Interdiction wegen Verſchwendung wird

 

(n) Dieſe Beurtheilung der

Trunkenheit wird als die richtige

anerkannt in c. 7. C. 15. q. 1.

(o) L. 48 de R. J. (50. 17.),

L. 3 de divort. (24. 2.). — Recht

praktiſche Bedeutung hatte dieſe

Regel wohl nur im früheren R. R.

Denn ſeit der von Auguſt für die

Scheidung eingeführten feyerli-

chen Form (L. 9 de divort.)

konnte eine Scheidung in erſter

Aufwallung des Zornes kaum noch

vorkommen; in den oben ange-

führten Stellen ſcheinen daher die

alten Juriſten eine traditionelle

Regel aus früherer Zeit vorzu-

tragen.

|0100 : 88|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

einmal dem Wahnſinn gleich geſtellt und als völlige Wil-

lenloſigkeit bezeichnet (p). Andere Stellen aber beſtimmen

das Verhältniß genauer ſo, daß man den Interdicirten

völlig gleich ſtellen darf dem impubes pubertati proximus.

Er kann nämlich durch Stipulation eine Forderung erwer-

ben, aber nicht ſich als Schuldner durch Vertrag verpflich-

ten (q). Er kann Nichts veräußern (r), und hat über-

haupt nicht die Verwaltung ſeines Vermögens, die ſtets

unter einem beſondern Curator ſteht (s). Eine Novation

kann er vornehmen, inſofern er dadurch ſeinen Zuſtand

verbeſſert (t). Eine ihm deferirte Erbſchaft kann er gültig

antreten, was jedoch unter der ſo eben bey der Novation

(p) L. 40 de R. J. (50. 17.).

(Pomp. lib. 34 ad Sab.) „Fu-

riosi, vel ejus cui bonis inter-

dictum est, nulla voluntas est.”

Die ſcheinbare Allgemeinheit die-

ſer Stelle iſt ſehr gut aus der

Inſcription erklärt von J. Go-

thofred., Comm. in tit. de R.

J., L. 40 cit. Die Stelle ſteht

nämlich, ihrem Inhalt nach, in

Verbindung mit L. 19. 20 de aqua

pluv. (39. 3.) (der Inſcription

nach nur mit L. 20 cit.), welche

ſo lauten: „Labeo ait, si pa-

tiente vicino opus faciam, ex

quo ei aqua pluvia noceat, non

teneri me actione aquae plu-

viae arcendae. — Sed hoc ita,

si non per errorem aut impe-

ritiam deceptus fuerit: nulla

enim voluntas errantis est.”

Daran ſchloß ſich nun der aus

demſelben Buch des Pomponius

(34 ad Sab.) herrührende Satz

der L. 40 cit. an, welcher in die-

ſer Beziehung auch dem In-

terdicirten die voluntas abſpricht:

nämlich weil er ſich durch ſein

wiſſentliches Dulden, das als ſtill-

ſchweigende Einwilligung gilt,

ſchaden würde, wozu er eben

keine Fähigkeit hat.

(q) L. 6 de V. O. (45. 1.),

L. 9 § 7 de reb. cred. (12. 1.).

(r) L. 10 pr. de cur. fur. (27.

10.), L. 6 de V. O. (45. 1.), L. 26

de contr. emt. (18. 1.), L. 11 de

reb. eor. (27. 9.). Daher kann

er auch nicht gültige Zahlung lei-

ſten, indem der Curator das Geld

vindiciren kann. L. 29 de cond.

indeb. (12. 6.).

(s) L. 1 pr. de cur. fur. (27.

10.).

(t) L. 3 de novat. (46. 2.).

|0101 : 89|

§. 112. Vernunftloſe. Interdicirte. Juriſtiſche Perſonen.

bemerkten Einſchränkung gedacht werden muß (u). Er kann

kein Teſtament machen (v). Da er aber augenſcheinlich

des Dolus fähig iſt, ſo muß er auch durch ſeine Delicte

eben ſo, wie ein der Pubertät nahe ſtehender Unmündiger,

verpflichtet werden (w).

D. Endlich ſind alle juriſtiſche Perſonen ihrer

Natur nach, und für immer, handlungsunfähig (§ 90. 96),

weil jede Handlung die menſchliche Thätigkeit des Den-

kens und Wollens vorausſetzt, welche in der juriſtiſchen

Perſon, als einer bloßen Fiction, nicht gedacht werden kann.

 

Vergleichen wir die hier dargeſtellten Fälle der Hand-

lungsunfähigkeit mit einander, ſo findet ſich unter ihnen

folgende Ahnlichkeit und Unähnlichkeit. Die drey erſten

Fälle (unreifes Alter, Wahnſinn und Interdiction) haben

einen zufälligen Character, indem ſie auf individuellen Un-

 

(u) L. 5 § 1 de adqu. her.

(29. 2.). „Eum, cui lege bonis

interdicitur, heredem institutum

posse adire hereditatem con-

stat.” Nach der gewöhnlichen

Meynung iſt der Conſens des Cu-

rators nöthig. Vgl. die ausführ-

liche Abhandlung von Reinold.

Var. Cap. 1. Betrachtet man die

Form der Handlung (die gerade

bey dem Erbſchaftsantritt ſo viele

Schwierigkeit macht), ſo iſt da-

zu der Interdicirte fähig, und

wenn er es nicht wäre, ſo würde

von dieſer Seite der consensus,

der niemals die Kraft einer aucto-

ritas hat, Nichts helfen. Aber

materiell kann die Handlung un-

gültig ſeyn, wenn die Erbſchaft

Nachtheil bringt; daß nun dieſes

nicht der Fall iſt, kann durch den

Conſens des Curators feſtgeſtellt

werden.

(v) L. 18 pr. qui test. (28. 1.),

§ 2 J. quib. non est perm. (2.

12.), Ulpian. XX. 13. — Nicht

einmal Zeuge bey einem fremden

Teſtament kann er ſeyn (§ 6 J.

de test. ord. 2. 10.), gerade wie

jeder Unmündige, auch ſelbſt der

pubertati proximus.

(w) J. Gothofrfdus l. c.

|0102 : 90|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

vollkommenheiten beruhen, jedoch mit dem Unterſchied, daß

das unreife Alter eine regelmäßige, in jedem menſchlichen

Leben nothwendig vorkommende, aber vorübergehende Un-

vollkommenheit iſt, anſtatt daß der Wahnſinn und die In-

terdiction als ungewöhnliche und krankhafte Zuſtände zu

betrachten ſind. Dagegen beruht die Unfähigkeit der juri-

ſtiſchen Perſonen überhaupt gar nicht auf einer individu-

ellen Unvollkommenheit, ſondern auf dem allgemeinen und

bleibenden Weſen dieſer Klaſſe von Perſonen.

§. 113.

II. Freye Handlungen. — Erweiterung durch Stell-

vertreter.

Die natürliche Fähigkeit der Perſon, durch ihre freye

Handlungen Veränderungen im Rechtszuſtand hervorzubrin-

gen, kann nach zwey Seiten hin poſitiv modificirt wer-

den: erſtlich einſchränkend, indem gewiſſe Perſonen ganz

oder theilweiſe für unfähig erklärt werden, durch ihre

Handlungen auf den Rechtszuſtand einzuwirken (§ 106 —

112); zweytens erweiternd, indem eine Stellvertre-

tung in juriſtiſchen Handlungen geſtattet wird. — Dieſe

Stellvertretung, welche jetzt genauer zu betrachten iſt, greift

auf zweyerley Weiſe, als wichtige Förderung, in den ge-

ſammten Rechtsverkehr ein. Zunächſt als bloße Erleich-

terung, indem dadurch die juriſtiſchen Organe eines Je-

den dergeſtalt gleichſam vervielfältigt werden, daß auf

dieſem Wege Rechtsgeſchäfte zu Stande kommen, welche

 

|0103 : 91|

§. 113. Handlungen durch Stellvertreter.

außerdem aus faktiſchen Gründen vielleicht gar nicht, viel-

leicht nur mit größerer Schwierigkeit entſtehen könnten.

Außerdem aber dient die Stellvertretung auch als Erſatz

für die nach den aufgeſtellten Regeln fehlende eigene Hand-

lungsfähigkeit, und in dieſer Anwendung zeigt ſie ſich noch

weit wichtiger als in der erſten. Denn durch ſie wird es

möglich, die Rechtsverhältniſſe des Unmündigen, des Wahn-

ſinnigen, des Interdicirten, ſo wie die der juriſtiſchen Per-

ſonen, durch freye Handlungen neu zu geſtalten, welches

ohne Stellvertretung meiſt ganz unmöglich ſeyn würde.

Ehe aber die Regeln ſelbſt über die Stellvertretung

aufgeſtellt werden, iſt es nöthig, das Gebiet, worin ſie

wirkſam iſt, zu bezeichnen. Dieſes Gebiet iſt das Ver-

moͤgen, ſo weit daſſelbe Gegenſtand des lebendigen Rechts-

verkehrs unter den Zeitgenoſſen iſt. — Daher findet die

Stellvertretung nur unbedeutende Anwendung innerhalb des

Familienrechts (a). Eben ſo auch im Erbrecht, welches die

Vermögensverhältniſſe nicht zwiſchen Zeitgenoſſen, ſondern

im Übergang von einem Geſchlecht auf das andere zum

Gegenſtand hat (b). Endlich auch in den Obligationen,

 

(a) So kann eine Ehe oder

Adoption nur in eigener Perſon,

nie durch Stellvertreter, geſchloſ-

ſen werden; eben ſo iſt es bey

der Emancipation, und bey der

Freylaſſung der Sklaven. Ge-

wiſſermaßen konnte es als Stell-

vertretung gelten, wenn der fili-

usfamilias eine Ehe durch con-

farreatio oder coemtio ſchloß,

und dadurch dem Vater das Recht

der manus über die Schwieger-

tochter erwarb.

(b) So kann Niemand durch

Stellvertreter ein Teſtament ma-

chen, oder eine ihm ſelbſt ange-

fallene Erbſchaft antreten. An-

ders iſt es, wenn der filiusfami-

lias oder der Sklave eine ihm

angefallene Erbſchaft antritt, und

dadurch dem Vater oder Herrn

das Erbrecht erwirbt.

|0104 : 92|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſo weit dieſe nicht auf dem Rechtsverkehr beruhen, das

heißt auf der rechtmäßigen Wechſelwirkung zwiſchen Per-

ſon und Perſon, ſondern auf der nothwendigen Ausglei-

chung der Rechtsverletzungen (c).

Die Rechtsregeln ſelbſt haben ſich in folgender Weiſe

entwickelt. — Urſprünglich beſtand der ſtrenge, für den

Rechtsverkehr ſehr beſchwerliche Grundſatz, daß eine Ver-

tretung nur gelte durch die von unſrer juriſtiſchen Gewalt

abhängenden Menſchen, und auch durch dieſe nur zum Er-

werben, nicht zur Verminderung des Vermögens.

 

Nach dieſem urſprünglichen Grundſatz alſo konnten Kin-

der und Sklaven, ſo wie Die welche in manu oder in

mancipio ſtanden, dem Familienhaupt gültigerweiſe erwer-

ben, und zwar ſowohl Eigenthum und jura in re, als

Schuldforderungen: dieſes konnte geſchehen ſelbſt durch

ſolche Rechtsgeſchäfte, welche unter den ſtrengen Regeln

und Formen des alten jus civile ſtanden, wie Mancipa-

tion und Stipulation. Dieſe Wirkung war ſelbſt unab-

hängig von dem Willen des Vertretenen und des Vertreters;

das heißt es konnte nicht blos der Vater zu ſeiner Be-

quemlichkeit dem Sohne den Auftrag geben, für ihn zu

ſtipuliren oder eine Mancipation zu empfangen, ſondern

auch wenn dieſe Handlungen von dem Sohn ohne Wiſſen

des Vaters vorgenommen wurden, kam dennoch das ſo

erworbene Recht unmittelbar in des Vaters Vermoͤ-

 

(c) So können Verträge durch

Stellvertreter geſchloſſen werden;

bey Delicten iſt das Verhältniß

der Stellvertretung unanwendbar.

|0105 : 93|

§. 113. Handlungen durch Stellvertreter.

gen (d). Es waren demnach alle in ſolcher Abhängigkeit

ſtehende Menſchen allgemeine Erwerbsinſtrumente des ge-

meinſamen Familienhauptes.

Dagegen konnte vermittelſt dieſer Vertretung das Ver-

mögen des Familienhauptes auf keine Weiſe vermindert

werden. Wenn alſo der Sohn durch Stipulation etwas

verſprach, ſo wurde der Vater nicht Schuldner: wenn er

eine Sache des Vaters mancipirte, ſo gieng auf den Em-

pfänger kein Eigenthum über (e). Auch in dieſer Hinſicht

war wieder der Wille des Vaters gleichgültig, ſo daß zu

ſolchen Zwecken der Vater zu ſeiner Bequemlichkeit den

Sohn nicht als Inſtrument gebrauchen konnte (f).

 

(d) Gajus II. § 86—96, III.

§ 163—167. Ulpian. XIX. § 18

— 21, tit. J. per quas pers. nob.

adqu. (2. 9.), tit. J. per quas

pers. nob. obl. adqu. (3. 28.),

L. 3 C. per quas pers. (4. 27.).

— Nur die in jure cessio konnte

durch dieſe Vertretung nicht be-

wirkt werden, weil der Sohn und

der Sklave nicht die Worte aus-

ſprechen konnten: hanc rem

meam esse ajo ex jure Quiri-

tium (Gajus II. § 96); bey dem

Sklaven auch ſchon deswegen nicht,

weil er niemals vor Gericht auf-

treten durfte.

(e) L. 133 de R. J. (50. 17.).

„Melior conditio nostra per ser-

vos fieri potest, deterior fieri

non potest.” L. 27 § 1 ad Sc.

Vell. (16. 1.), L. 3 C. de pactis

(2. 3.), L. 12 C. de adqu. poss.

(7. 32.). — Es iſt ganz zufällig,

daß in dieſen Stellen nur die

Sklaven erwähnt werden; der

Satz iſt gleich wahr bey allen an-

deren Arten der Abhängigkeit. —

Werden die von uns Abhängigen

zu Erben eingeſetzt, ſo können ſie

nur mit unſrem Willen die Erb-

ſchaft antreten, weil dieſe inſol-

vent ſeyn, alſo Schaden bringen

kann; haben ſie ſo angetreten, ſo

kommt dadurch das Erbrecht auf

uns, ganz als ob wir ſelbſt zu

Erben eingeſetzt wären. Gajus II.

§ 87, Ulpian. XIX. § 19.

(f) Wenn alſo der Herr dem

Sklaven befahl, für ihn eine

Schuld zu contrahiren, ſo wurde

dennoch der Herr nach altem

Recht nicht Schuldner; deswegen

führte hier der Prätor eine ei-

gene Klage ein, quod jussu.

Eben ſo verhält es ſich mit den

anderen, allmälig eingeführten,

|0106 : 94|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Unabhängige Menſchen endlich konnten nach keiner Seite

hin eine wirkſame Vertretung übernehmen, ſo daß es ganz

unmöglich war, durch die juriſtiſchen Handlungen fremder

oder freyer Menſchen (g) Rechte zu erwerben, Rechte auf-

zugeben, oder Verpflichtungen zu übernehmen, ſelbſt wenn

alle dabey betheiligte Perſonen über dieſe Vertretung ein-

verſtanden waren (h).

 

Ein ſo beſchränkender Grundſatz konnte ſich nicht er-

halten, ſobald der Verkehr lebendiger und vielſeitiger wurde.

Man fieng daher an, in einzelnen Fällen auch eine freye

Stellvertretung zuzulaſſen. Zuerſt geſchah dieſes bey dem

Erwerb des Beſitzes, und bey den auf den Beſitz gegrün-

deten Erwerbungsarten des Eigenthums, wie Tradition

und Occupation (i). Sehr natürlich wurde dann auch bey

der Veräußerung durch Tradition, eben ſo wie bey der

Erwerbung durch dieſelbe, die Vertretung zugelaſſen, die

dabey durch eigene Sklaven und Kinder eben ſowohl als

durch freye Menſchen bewirkt werden konnte (k). Nun

 

indirecten Verpflichtungen durch

Kinder und Sklaven: actio de

peculio, tributoria, de in rem

verso.

(g) Derjenige, welcher von uns

unabhängig, und deshalb zu un-

ſrer Vertretung nach altem Recht

unfähig iſt, heißt extranea oder

auch libera persona (Gajus II.

§ 95); libera bezeichnet alſo hier

den Gegenſatz nicht blos (wie ſonſt

gewöhnlich) der dominica pote-

stas, ſondern jeder Abhängigkeit

von potestas, manus, manci-

pium.

(h) Gajus II. §. 95, § 5 J. per

quas pers. nob. adqu. (2. 9.).

(i) §. 5. J. per quas pers.

(2. 9.), L. 1 C. de adqu. poss.

(7. 32.), L. 20 § 2 de adqu.

rer. dom. (11. 1.), L. 1 C. per

quas pers. (4. 27.), L. 11 § 6

de pign. act. (13. 7.), Paulus

V. 2 § 2. — Vgl. Savigny,

Recht des Beſitzes § 26.

(k) 42, 43 J. de rer. div.

|0107 : 95|

§. 113. Handlungen durch Stellvertreter.

alſo war im Verkehr des Eigenthums die freye Vertre-

tung nur noch für diejenigen Formen ausgeſchloſſen, die

dem alten Civilrecht angehörten, das heißt für die Man-

cipation und die in jure cessio. — Eine ähnliche Erleich-

terung des Verkehrs wurde dann auch bey den Obliga-

tionen geſtattet, nur daß man hier die Veränderung mehr

allmälig und zögernd, als bey dem Eigenthum, eintreten

ließ (l). Man ließ es alſo zu, daß bey Contracten, wie

Kauf und Miethe, durch Stellvertreter Forderungen er-

worben und Schulden übernommen würden; als vermitt-

lende Rechtsform wurde dabey die Ertheilung von utiles

actiones angewendet. Contracte aber, die auf der ſtren-

gen Form des alten Civilrechts beruhten, das heißt die

Stipulationen, ſollten ſtets nur in eigener Perſon, nicht

durch freye Stellvertreter, geſchloſſen werden, und dieſe

Regel iſt noch im Juſtinianiſchen Recht anerkannt (m).

Nur wurde auch dabey noch eine praktiſche Milderung zu-

gelaſſen. Für eine einzelne Stipulation zwar ſollte kein

Stellvertreter zugelaſſen werden. Wenn aber während

einer allgemeineren Verwaltung fremder Geſchäfte unter

andern auch Stipulationen, als einzelne Stücke der Ge-

ſchäftsführung, geſchloſſen werden mußten, ſo ſollten die

Klagen aus dieſen nicht für und wider den Geſchäftsfüh-

(2. 1.), L. 9 §. 4 de adqu. rer.

dom. (41. 1.), L. 41 § 1 de rei

vind. (6. 1.)

(l) Die genauere quellenmä-

ßige Ausführung dieſes Punktes

iſt nur im Zuſammenhange des

Obligationenrechts möglich.

(m) L. 3 C. de contr. stip.

(8. 38.), L. 1 C. per quas pers.

(4. 27.), § 4 J. de inut. stip.

(3. 17.), L. 126 § 2 de V. O.

(45. 1.)

|0108 : 96|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

rer, ſondern für und wider den Herrn des Geſchäfts, ge-

geben werden. So bey dem Vormund (n), und eben ſo

bey dem Prozeßprocurator (o), wenn jener in den vor-

mundſchaftlichen Geſchäften, dieſer im Lauf des Prozeſſes,

Stipulationen abzuſchließen veranlaßt wurde.

Aus dieſen einzelnen Fällen bildete ſich denn endlich die

allgemeine Regel, die im Juſtinianiſchen Recht nur in fol-

gender Stelle zu allgemeiner Anerkennung gekommen iſt.

 

L. 53 de adqu. rer. dom. (41. 1.) (aus Modestin. lib. 14

ad Q. Mucium): „Ea, quae civiliter adquiruntur, per

eos qui in potestate nostra sunt adquirimus, veluti

stipulationem: quod naturaliter adquiritur, sicuti est

possessio, per quemlibet volentibus nobis possidere

adquirimus.”

Das Reſultat, welches hieraus für das Juſtinianiſche

Recht hervorgeht, läßt ſich in folgenden Sätzen darſtellen:

 

1) Civile Handlungen ſtehen noch jetzt unter den oben

dargeſtellten Regeln des alten Rechts; bey ihnen gilt alſo

nur Vertretung im Erwerb, und nur durch die vom Er-

werber abhängigen Menſchen.

 

Civile Handlungen aber ſind im Juſtinianiſchen Recht

(innerhalb der oben beſtimmten Gränzen, alſo mit Aus-

ſchluß des Erbrechts und des Familienrechts) nur noch die

Stipulationen.

 

(n) L. 2 pr. de admin. (26. 7.),

L. 5. 6. 7. 8. quando ex facto

tut. (26. 9.)

(o) L. 5 de stip. praetor.

(46. 5.)

|0109 : 97|

§. 113. Handlungen durch Stellvertreter.

2) Naturale Handlungen laſſen jede Vertretung zu:

durch abhängige, und durch freye Menſchen: wir mögen

durch die Handlung erwerben oder verlieren.

 

Dahin alſo gehören bey weitem die meiſten und wich-

tigſten Geſchäfte des Juſtinianiſchen Rechts, ſo daß die-

ſer Theil der Regel nunmehr von überwiegender Bedeu-

tung iſt (p).

 

3) Die Vertretung ſelbſt iſt nun von zweyerley Art:

 

a) Die ſchon im alten Recht gegründete nothwendige

Vertretung gilt nur für den Erwerb (geſchehe dieſer durch

civile oder durch naturale Handlungen), hier aber unab-

hängig vom Bewußtſeyn und Willen des Herrn. Sie

kommt aber faſt nur noch vor bey Sklaven; denn manus

und mancipium ſind ganz verſchwunden, und Kinder in

väterlicher Gewalt erwerben in der Regel nicht mehr für

den Vater, ſondern für ſich ſelbſt (q).

 

(p) Mehrere Stellen des Ju-

ſtinianiſchen Rechts ſcheinen damit

im Widerſpruch zu ſtehen, z. B.

§ 5 J. per quas pers. (2. 9.) und

L. 1 C. per quas pers. (4. 27.),

nach welchen man glauben könnte,

der Erwerb durch Beſitz ſey der

einzige Fall, worin ausnahms-

weiſe eine Vertretung durch freye

Menſchen gelte (wodurch damals,

als jene Stellen geſchrieben wur-

den, beſonders die Mancipation

ausgeſchloſſen werden ſollte); eben

ſo andere Stellen, worin noch die

freye Vertretung bey naturalen

Contracten als zweifelhaft er-

ſcheint. Alle dieſe Stellen kön-

nen nun im Zuſammenhang des

Juſtinianiſchen Rechts nur ſo an-

geſehen werden, daß ſie die Ent-

wicklungsgeſchichte der Regel dar-

ſtellen, die in ihrer unzweifelhaf-

ten neueſten und allein gültigen

Geſtalt, durch die im Text ab-

gedruckte L. 53 de a. r. d. aus-

geſprochen wird.

(q) Das heißt, wenn ein fili-

usfamilias Etwas erwirbt, ohne

dabey des Vaters zu erwähnen,

ſo wird er ſelbſt Eigenthümer,

anſtatt daß hier vor Juſtinian

der Vater das Eigenthum er-

warb. Will aber der Vater Et-

was erwerben, ſo verſteht es ſich

III. 7

|0110 : 98|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

b) Die freye Vertretung kann auf zweyerley Weiſe

begründet werden.

 

In der Regel geſchieht es durch den Willen Desjeni-

gen, deſſen Rechte entſtehen oder untergehen ſollen.

 

Iſt aber Dieſer ſelbſt handlungsunfähig, ſo geſchieht

es durch ein allgemeines, jenen Willen erſetzendes, Rechts-

verhältniß: in den Fällen des unreifen Alters, des Wahn-

ſinns, und der Interdiction, durch die Vormundſchaft;

bey juriſtiſchen Perſonen durch die in ihrer beſonderen

Verfaſſung dazu beſtimmten Perſonen.

 

Was iſt nun von dieſem Juſtinianiſchen Syſtem der

Vertretung noch übrig in unſrem heutigen Recht? Wir

haben keine Stipulationen und keine Sklaven mehr. Da-

her beſteht für uns nur noch:

die unbeſchränkte Zulaſſung der freyen Vertretung,

 

indem in unſrem Recht alle Handlungen naturale ſind,

und indem die nothwendige Vertretung durch Sklaven

nicht mehr vorkommen kann.

 

§. 114.

III. Willenserklärungen. — Zwang und Irrthum.

Unter Willenserklärungen oder Rechtsgeſchäften ſind

diejenigen juriſtiſchen Thatſachen zu verſtehen, die nicht

 

von ſelbſt, daß dazu der Sohn,

eben ſo wie jeder Fremde, als

Mittelsperſon dienen kann; ge-

rade ſo, wie er auch zu Veräu-

ßerungen vom Vater als Mit-

telsperſon gebraucht werden darf.

|0111 : 99|

§. 114. Zwang und Irrthum.

nur freye Handlungen ſind, ſondern in welchen zugleich

der Wille des Handelnden auf die Entſtehung oder Auf-

löſung eines Rechtsverhältniſſes unmittelbar gerichtet iſt

(§ 104).

Drey Momente derſelben ſind hier einzeln zu erwägen:

der Wille ſelbſt, die Erklärung des Willens, und die

Übereinſtimmung des Willens mit der Erklärung.

 

Der Wille ſelbſt bedarf nach zwey Seiten hin einer

genaueren Beſtimmung:

 

1) Das Daſeyn deſſelben kann zweifelhaft werden

durch entgegen wirkende Thatſachen, deren Einfluß unter-

ſucht und feſtgeſtellt werden muß. Dieſe Thatſachen ſind:

Zwang und Irrthum.

 

2) Der Umfang des Willens kann modificirt werden

durch Beſchränkungen, die er ſich ſelbſt giebt. Dieſe mög-

liche Selbſtbeſchränkungen ſind: Bedingung, Zeit, Modus.

 

Das Daſeyn des Willens ſcheint durch Zwang und

Irrthum ausgeſchloſſen zu werden nach folgender Betrach-

tung. Zwang iſt der Gegenſatz der Freyheit. Wenn alſo

Zwang als Beweggrund auf den Willen eingewirkt hat,

ſo iſt kein freyer, alſo kein wirklicher Wille vorhanden,

ſondern nur der Schein des Willens. — Wenn ferner ein

Irrthum als Beweggrund auf den Willen einwirkt, ſo iſt

der Wollende ohne wahres (mit der Wirklichkeit überein-

ſtimmendes) Bewußtſeyn, folglich eben ſo wenig einer wirk-

 

7*

|0112 : 100|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſamen Willenserklärung fähig, als der Unmündige oder

Vernunftloſe.

Die genauere Ergründung beider Fälle wird die in

dieſen Behauptungen enthaltene Täuſchung darlegen. Je-

doch muß ſchon jetzt auf das wahre Element hingewieſen

werden, welches bey dieſer Täuſchung im Hintergrund

ſteht. Es findet ſich nämlich hier die wichtige Einwirkung

ſittlicher, dem Rechtszuſtand weſentlich verwandter, Mo-

mente. Der Zwang an ſich hebt das Daſeyn und die

Wirkſamkeit des Willens nicht auf; aber die in demſelben

enthaltene, in das Rechtsgebiet ſtörend eingreifende, Un-

ſittlichkeit macht eine poſitive Gegenwirkung nothwendig.

— Eben ſo hebt der Irrthum an ſich das Bewußtſeyn,

und mit dieſem den Willen, nicht auf; aber es kann da-

bey eine ähnliche, das Rechtsgebiet ſtörende, Unſittlichkeit

vorkommen, und dann iſt die gleiche Nothwendigkeit poſi-

tiver Gegenwirkung vorhanden. — Nunmehr ſind dieſe bei-

den Fälle abgeſondert darzuſtellen.

 

Zwang oder Gewalt (vis) bezeichnet zwey ganz ver-

ſchiedene Arten der Einwirkung eines Menſchen auf einen

andern.

 

1) Überwältigung durch körperliche Übermacht, ſo daß

ſich der Gezwungene blos leidend verhält. Von dieſer kann

hier, bey Willenserklärungen, die in geiſtiger Thätigkeit

beſtehen, gar nicht die Rede ſeyn. Denn wenn z. B. Ei-

ner dem Andern mit Gewalt die Hand zur Unterſchrift

einer Urkunde führt, ſo liegt darin, eben ſo wie bey der

 

|0113 : 101|

§. 114. Zwang und Irrthum.

von einem Anderen nachgemachten Unterſchrift, gar keine

Einwilligung, ſondern höchſtens der täuſchende Schein ei-

ner ſolchen. — Negativ freylich kann dieſe Art des Zwangs

bey Willenserklärungen wohl vorkommen, nämlich um die-

ſelben unmöglich zu machen; wenn z. B. Einer durch Ein-

ſperren verhindert wird, einen Vertrag zu ſchließen, oder

ein Teſtament zu machen. — Die Neueren nennen dieſe

Art der Gewalt vis absoluta.

2) Einwirkung auf den Willen des Handelnden durch

Drohung, alſo durch die zu dieſem Zweck in ihm abſicht-

lich erregte Furcht, bey den Neueren vis compulsiva ge-

nannt (a). Von dieſer allein, als von einer Einwirkung

auf den Willen des Andern, kann hier die Rede ſeyn.

Eigentlich wäre es daher beſſer, in dieſer Unterſuchung

nur von Furcht, nicht von Zwang zu ſprechen, wie es

auch bey den Römern in der That geſchieht (b); dennoch

iſt hier der Ausdruck Zwang gebraucht worden, theils

weil er bey neueren Schriftſtellern der üblichere iſt, theils

weil aus ihm allein der Schein begreiflich wird, als ob

gar kein Wille vorhanden wäre: dieſer Schein aber iſt es,

 

(a) Der Gegenſatz beider Ar-

ten der Gewalt wird beſonders

anſchaulich bey dem Verluſt des

Beſitzes; dieſer kann ſowohl durch

abſolute Gewalt bewirkt werden,

als durch compulſive; im erſten

Fall iſt es eine Dejection, im

zweyten eine erzwungene Tradi-

tion; im erſten Fall iſt das in-

terdictum de vi begründet, im

zweyten die actio quod metus

causa. Vgl. L. 9 pr. quod me-

tus (4. 2.), L. 5 de vi (43. 16.)

(b) Das Edict lautete urſprüng-

lich ſo: quod vi metusque causa

gestum erit, ſpäterhin wurde die

Erwähnung der vis weggelaſſen,

ſo daß es nun blos heißt: quod

metus causa gestum erit. L. 1

quod metus (4. 2.).

|0114 : 102|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

auf deſſen Vernichtung es in dieſer Unterſuchung vorzugs-

weiſe ankommt.

Allerdings liegt es ſehr nahe, Zwang und Freyheit

als einander ausſchließende Zuſtände anzuſehen, mithin die

Freyheit ſchlechthin zu verneinen, da wo Zwang vorhan-

den iſt. Dennoch müſſen wir bey genauerer Betrachtung

dieſe Anſicht gänzlich aufgeben. Mit den ſpeculativen

Schwierigkeiten des Freyheitsbegriffs haben wir im Rechts-

gebiet Nichts zu ſchaffen; uns berührt blos die Freyheit

in der Erſcheinung, das heißt die Fähigkeit, unter meh-

reren denkbaren Entſchlüſſen eine Wahl zu treffen. Daß

aber dieſe Fähigkeit bey dem Gezwungnen, das heißt bey

dem Bedrohten, wahrhaft vorhanden iſt, kann nicht be-

zweifelt werden. Er hat die Wahl ſogar zwiſchen Drey

möglichen Entſchlüſſen: die Handlung vorzunehmen, wozu

ihn der Drohende beſtimmen will; das gedrohte Übel durch

Widerſtand abzuwehren; oder endlich dieſes Übel zu er-

dulden. Hat er nun den erſten dieſer drey Wege erwählt,

ſo iſt die Freyheit der Wahl, alſo ſeines Wollens, wahr-

haft vorhanden, und wir müſſen das wirkliche, nicht blos

ſcheinbare, Daſeyn einer Willenserklärung, z. B. eines

Vertrags, mit allen daran geknüpften Rechtswirkungen,

unbedenklich anerkennen.

 

Dieſe Anſicht iſt denn auch die des Römiſchen Rechts

in ſo klaren, entſcheidenden Stellen (c), daß ſelbſt die

 

(c) L. 21 § 5 quod metus (4.

2.). „Si metu coactus adii he-

reditatem, puto me heredem

effici, quia, quamvis si liberum

|0115 : 103|

§. 114. Zwang und Irrthum.

ſcheinbar entgegenſtehenden Zeugniſſe keinen erheblichen

Zweifel erregen können (d). Ganz vorzüglich aber iſt die

unzweifelhafte praktiſche Behandlung dieſes Falles, von

welcher ſogleich die Rede ſeyn wird, nur unter Voraus-

ſetzung jener Grundregel begreiflich.

Obgleich nun der Zwang zu einer Willenserklärung

die Freyheit des Handelnden an ſich nicht aufhebt, folg-

lich der natürlichen Wirkſamkeit der Erklärung nicht im

Wege ſteht, ſo ſteht er dennoch im geraden Widerſpruch

mit dem Zweck alles Rechts, welcher auf die ſichere und

ſelbſtſtändige Entwicklung der Perſönlichkeit gerichtet iſt

 

esset noluissem, tamen coactus

volui: sed per Praetorem re-

stituendus sum, ut abstinendi

mihi potestas tribuatur.” —

L. 21. 22 de ritu nupt. (23. 2.).

„.. Si patre cogente ducit uxo-

rem, quam non duceret si sui

arbitrii esset … maluisse hoc

videtur.” Es iſt kein Grund vor-

handen, unter dem allgemeinen

Ausdruck dieſer letzten Stelle, wie

Manche wollen, etwas Anderes

als den eigentlichen Zwang, näm-

lich die ehrfurchtsvolle Nachgie-

bigkeit gegen den ernſten Willen

des Vaters (metus reverentia-

lis) zu verſtehen.

(d) L. 6 § 7 de adqu. vel om.

her. (29. 2.). „Celsus .. scripsit,

eum qui metu … coactus, fal-

lens adierit hereditatem .. he-

redem non fieri” etc. Fallens

ſteht für simulans, er hatte alſo

nur zum Schein etwa Handlun-

gen eines Erben (als gestio) aus

Furcht vorgenommen, folglich gar

nicht wirklich angetreten (fallens

adierit für simulaverit se adire).

Die Emendation pallens für fal-

lens iſt verwerflich. Vgl. über

die Stelle, außer der Gloſſe,

auch Cujacius in L. 21 quod me-

tus Opp. I. 971. Marckart in-

terpret. II. 13. — L. 9 pr. qui

et a quib. manum. (40. 9.). In

der hier erwähnten erzwungnen

Handlung liegt gar keine Manu-

miſſion, ſondern blos die an ſich

unwirkſame ſchriftliche Anerken-

nung der Freyheit. L. 17 pr.

eod. ſpricht von einem poſitiven,

polizeylichen Verbot der durch

Volksgewalt erzwungenen Frey-

laſſungen; das Bedürfniß eines

ſolchen Verbots beweiſt gerade,

daß die Handlung ohne daſſelbe

gültig geweſen wäre.

|0116 : 104|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

(§ 52). Demnach liegt in dem Zwang eine in das Rechts-

gebiet ſtörend eingreifende Unſittlichkeit; ſie iſt dem Un-

recht verwandt, wenngleich kein wirkliches, unmittelbares

Unrecht (e). Es iſt die Aufgabe des poſitiven Rechts,

dieſe Unſittlichkeit, durch poſitive Gegenwirkung, von dem

Rechtsgebiet abzuwehren, und genau dieſe Aufgabe findet

ſich im Römiſchen Recht deutlich anerkannt (f). Die ſehr

mannichfaltigen Mittel zu dieſer Abwehr koͤnnen nur in

den einzelnen Theilen des Syſtems ganz deutlich gemacht

werden; hier muß eine allgemeine Überſicht genügen. Es

dient zu dieſem Zweck erſtlich eine beſondere Klage; ferner

eine Exception gegen die Klage jedes Andern; endlich,

wenn dieſe regelmäßigen Mittel nicht genügen, die Wie-

derherſtellung des veränderten Rechtszuſtandes auf dem

Wege einer Reſtitution (g).

(e) Der Zwang oder die Dro-

hung enthält nicht einmal noth-

wendig ein beabſichtigtes, vorbe-

reitetes Unrecht, da der Drohende

feſt entſchloſſen ſeyn kann, die

Drohung nicht zu vollziehen. Für

die rechtliche Wirkung macht Die-

ſes keinen Unterſchied, da die un-

gehörige Einwirkung auf den frem-

den Willen ſtets dieſelbe bleibt.

(f) L. 116 pr. de R. J. (50.

17.). „Nihil consensui tam con-

trarium est, qui bonae fidei ju-

dicia sustinet, quam vis atque

metus: quem comprobare, con-

tra bonos mores est.” Anſtatt

qui bonae fidei lieſt die Floren-

tina qui ac b. f., mehrere Hand-

ſchriften leſen qui et b. f. Die

hier angenommene beſſere Leſe-

art beruht gleichfalls auf Hand-

ſchriften. — L. 3 § 1 quod me-

tus (4. 2.). „.. vim accipimus

… quae adversus bonos mores

fiat.” — L. 1 eod. „Ait Prae-

tor: Quod metus causa gestum

erit, ratum non habebo.” —

L. 21 § 5 eod. (ſ. o. Note c).

(g) Die Behandlung dieſes Ge-

genſtandes iſt in Beziehung auf

dingliche Rechte und Obligatio-

nen großentheils unzweifelhaft.

Mehr beſtritten iſt die Wirkung

ſolcher Drohungen, wodurch ein

letzter Wille veranlaßt wird. Vgl.

Glück B. 33 S. 426. Mühlen-

|0117 : 105|

§. 114. Zwang und Irrthum.

Die Bedingungen aber, unter welchen allein der Zwang

dieſe wichtige Wirkung haben kann, ſind gleich hier voll-

ſtändig zuſammen zu ſtellen.

 

1) Es iſt noͤthig die Furcht vor einem bedeutenden

Übel, das heißt die Bedrohung des Lebens, oder des Lei-

bes (h), oder der Freyheit. Dieſes letzte gilt in einem

doppelten Sinn: ſowohl für die factiſche Entziehung der

Freyheit durch Gefängniß oder Ketten (i), als auch für

den wirklichen Sklavenſtand (k), wenn etwa die Drohung

darauf geht, eine vindicatio in servitutem durch Unter-

drückung von Urkunden verderblich zu machen (l), oder

wenn es in der Macht des Drohenden ſteht, den Freyen

in einen Sklaven zu verwandeln (m). In allen dieſen

 

bruch § 643. — Bey der Ehe

hatte das ältere R. R., wegen der

freyen Scheidung, kein Bedürf-

niß einer beſonderen Abhülfe; die

bey Obligationen angewendeten

Mittel paßten hier nicht. Das

neueſte Recht, welches die Schei-

dung ſo ſehr erſchwert, hat hier

eine Lücke gelaſſen. Das cano-

niſche Recht nimmt ganz conſe-

quent Nichtigkeit der Ehe an. C. 15.

28 X. de spons. (4. 1.), C. 2 X.

de eo qui dux. (4. 7.). Böhmer

§ 348. Eichhorn II. S. 351.

(h) L. 3 § 1 L. 7 § 1 L. 8 pr.

§ 2 quod metus (4. 2.), L. 3 ex

quib. causis majores (4. 6.), L. 13

C. de transact. (2. 4.), L. 7 C.

de his quae vi (2. 20.).

(i) L. 7 § 1 L. 22 L. 23 § 1.

2 quod metus (4. 2.).

(k) L. 4 quod metus (4. 2.).

„Ego puto etiam servitutis ti-

morem, similiumque admitten-

dum.” Die Similia ſind nun eben

die in Note i angeführten Dro-

hungen: Gefängniß oder Feſſeln.

(l) L. 8 § 1 quod metus (4. 2.).

(m) So z. B. die mit einem

fremden Sklaven verheirathete

freye Frau, nach dem Sc. Clau-

dianum. Eben ſo den undank-

baren Freygelaſſenen. Wenn in

dieſem letzten Fall die Anwend-

barkeit des Edicts verneint wird

(L. 21 pr. quod metus 4. 2.),

ſo geſchieht dieſes nicht deswe-

gen, weil die revocatio in ser-

vitutem kein hinreichendes Übel

wäre, ſondern weil in dem durch

die angeführte Stelle vorausge-

ſetzten Fall die Furcht gar nicht

|0118 : 106|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Fällen iſt es gleichgültig, ob dem Handelnden für ſich

ſelbſt, oder für ſeine Kinder, die Gefahr angedroht

wird (n). — Auf dieſe Fälle aber beſchränkt ſich jene wich-

tige Wirkung der Drohungen, weshalb folgende Fälle ohne

Einfluß ſind: Bedrohung des guten Rufs (o), oder auch

des Vermögens. Insbeſondere iſt die Bedrohung mit Pro-

zeſſen, ſeyen es Civilklagen oder Criminalanklagen, dazu

nicht hinreichend (p). — Man kann alſo ſagen, daß die-

jenigen Übel, deren Androhung jene Wirkung hervorbrin-

gen ſoll, faſt immer wahre Rechtsverletzungen enthalten

müſſen (q): umgekehrt aber würde die Drohung einer blos

durch eine Drohung des Patrons,

ſondern nur durch das böſe Ge-

wiſſen der Freygelaſſenen ſelbſt,

entſtanden war.

(n) L. 8 § 3 quod metus (4. 2.).

(o) L. 7 pr. quod metus (4. 2.).

„Nec timorem infamiae hoc

edicto contineri.” Der Ausdruck

iſt zweydeutig. Er kann auf Zu-

ziehung wahrer Infamie gehen (z.

B. wenn der Drohende es in ſei-

ner Macht hat, durch doli oder

furti actio die Ehre wirklich zu

entziehen), oder auch auf Gefähr-

dung des guten Rufs durch üble

Nachreden. In beiden Bedeutun-

gen muß der Satz für wahr ge-

halten werden.

(p) L. 7 pr. quod metus (4. 2)

„neque alicujus vexationis ti-

morem per hoc edictum resti-

tui.” — L. 10 C. de his quae vi

(2. 20.). „Accusationis institu-

tae vel futurae metu alienatio-

nem seu promissionem factam

rescindi postulantis, improbum

est desiderium.” — Damit iſt

nicht geſagt, daß gegen die Dro-

hung einer Klage, um Geld oder

Geldeswerth zu erpreſſen, kein

Schutz zu finden wäre; vielmehr

bezieht ſich darauf das Edict de

calumniatoribus (Dig. III. 6),

welches jedoch andere Regeln hat,

als die actio quod metus causa.

(q) Ich ſage: fa ſt immer, denn

wenn die freye Frau eines Skla-

ven, oder der undankbare Frey-

gelaſſene, in Sklaven verwandelt

werden, ſo iſt das keine Rechts-

verletzung. Dieſe ſcheinbare In-

conſequenz erklärt ſich daraus, daß

der zum Sklaven Gemachte recht-

los wird, ſo daß von nun an ge-

gen ſeine Perſon Alles möglich und

erlaubt iſt, was außerdem Rechts-

verletzung geweſen wäre.

|0119 : 107|

§. 114. Zwang und Irrthum.

auf das Vermögen gerichteten Rechtsverletzung zu jener

Wirkung gewiß nicht hinreichen (r).

2) Es iſt ferner nöthig eine gegründete Furcht, alſo

ein wahrſcheinliches Übel, welchem ſchwer zu widerſtehen

iſt, ſo daß der Characterſchwäche oder der leeren Einbil-

dung kein Schutz verheißen ſeyn ſoll (s).

 

3) Endlich aber, und was das Wichtigſte iſt, es ge-

nügt nicht das bloße Daſeyn der Furcht, ſondern die Furcht

muß auf einer Drohung beruhen, das heißt ſie muß von

irgend einem Menſchen abſichtlich erregt worden ſeyn, um

dieſe Handlung zu bewirken (t). War dieſes der Fall, ſo

beſchränkt ſich allerdings die Wirkung nicht auf den Ur-

heber allein, ſondern ſie erſtreckt ſich auch auf andere,

ſchuldloſe Perſonen, das heißt ſie geht in rem (u).

 

Faſſen wir das hier Geſagte, und im Einzelnen Be-

wieſene, zu einer kurzen Überſicht zuſammen, ſo ergiebt

ſich daraus die Beſtätigung des oben aufgeſtellten Grund-

 

(r) Auch hier wieder (wie in

Note p) muß gegen das Mis-

verſtändniß gewarnt werden, als

ob gegen ſolche Drohungen jegli-

cher Schutz fehlte. Hier kann die

condictio ob turpem causam

helfen (L. 2 pr. L. 4 § 2 de cond.

ob turp. 12. 5.), die nur andere

Regeln hat, als die actio quod

metus causa. Der durchgrei-

fendſte praktiſche Unterſchied liegt

darin, daß die actio quod me-

tus causa gegen jeden Dritten

wirkt, anſtatt daß die erwähnten

anderen Rechtsmittel (Note p und

r) nur gegen den Thäter gehen.

(s) L. 6 quod metus (4. 2.).

„Metum autem non vani homi-

nis, sed qui merito et in ho-

mine constantissimo cadat, ad

hoc edictum pertinere constat.”

L. 7 pr. L. 9 pr. eod. L. 184 de

R. J. (50. 17.).

(t) L. 14 § 3 quod metus (4.

2.) „sufficit enim hoc docere,

metum sibi illatum.” L. 9 § 1

L. 21 pr. eod.

(u) L. 9 § 8 quod metus (4.

2.), L. 4 § 33 de doli except.

(44. 4.).

|0120 : 108|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſatzes: der Zwang ſchließt nicht die Freiheit aus, ſo daß

neben ihm die Willenserklärung dennoch beſteht und wirkt.

Ihre natürlichen Folgen aber werden durch eine poſitive

Gegenwirkung gehemmt, deren Grund in der Unſittlichkeit

liegt, wodurch der Zwang das Rechtsgebiet ſtört.

In dieſer Verbindung aber tritt die Wahrheit der

Grundregel, daß der Zwang die Freyheit nicht ausſchließt,

noch deutlicher hervor. Erſtlich wegen der nöthig gefun-

denen poſitiven Gegenanſtalten. Wenn ein Unmündiger

oder ein Wahnſinniger ſolche Worte ausſpricht, wodurch

ein Handlungsfähiger, welcher ſie ausſpräche, verpflichtet

werden würde, ſo wird nicht daran gedacht, ihm dagegen

einen künſtlichen Schutz zu bereiten, z. B. durch eine Ex-

ception gegen die Contractsklage des Gegners; es iſt ju-

riſtiſch gar Nichts geſchehen, das iſt genug. Ganz ſo

müßte es auch ſeyn bey Demjenigen, welcher durch Dro-

hungen zu einer Willenserklärung beſtimmt wird, wenn

wirklich der Zwang die Willensfreyheit ausſchlöſſe; da es

hier nicht ſo iſt, ſo muß wohl Freyheit als vorhanden

vorausgeſetzt ſeyn. — Zweytens, wenn die Freyheit durch

Furcht ausgeſchloſſen würde, ſo müßte es ganz gleichgül-

tig ſeyn, ob dieſe Furcht durch das bloße Denken des

Fürchtenden allein, oder durch fremde Drohung entſtanden

wäre, da in beiden Fällen der Seelenzuſtand des Fürch-

tenden derſelbe iſt. Da nun aber jener Rechtsſchutz nie

der bloßen Furcht allein, ſondern lediglich der durch Dro-

hung erzeugten Furcht gewährt wird, ſo muß der Grund

 

|0121 : 109|

§. 114. Zwang und Irrthum.

dieſes Rechtsſchutzes nicht in die mangelnde Willensfrey-

heit des Fürchtenden, ſondern in die rechtswidrige Unſitt-

lichkeit des Drohenden, geſetzt werden.

Um die hier bekämpfte Meynung, nach welcher der

Zwang das Daſeyn des freyen Wollens ausſchließen ſoll,

völlig zu beſeitigen, iſt es nöthig, zum Schluß noch eine

mögliche Geſtalt derſelben zu erwähnen, welche mehreren

ihrer Vertheidiger, wenn auch nicht ganz deutlich gedacht,

vorgeſchwebt zu haben ſcheint. Man kann ſich nämlich

den durch die Drohung erzeugten Seelenzuſtand in Gedan-

ken ſo ſteigern, daß er dem Wahnſinn oder der äußerſten

Trunkenheit gleichartig wird, in welchem Fall der ſo Ge-

ängſtete in der That nicht mehr weiß was er thut oder

redet, alſo wirklich bewußtlos iſt. In dieſem Fall iſt nun

in Wahrheit gar kein Wille vorhanden (§ 112), und kein

Richter wird darüber im Zweifel ſeyn. Dabey iſt es auch

ganz gleichgültig, ob dieſe Art der Bewußtloſigkeit durch

menſchlichen böſen Willen, oder durch Naturereigniſſe, viel-

leicht blos durch die Einbildungskraft eines höchſt furcht-

ſamen Menſchen, hervorgebracht worden iſt. Das Roͤ-

miſche Recht denkt entſchieden gar nicht an dieſen Fall,

theils weil in demſelben gewiß Alles ipso jure nichtig ſeyn

würde, theils weil die Drohung als Grund der Furcht

dabey gleichgültig iſt, die doch das Roͤmiſche Recht als

unerläßliche Bedingung ſeiner indirecten Schutzanſtalten

fordert. Dieſer Fall iſt aber auch praktiſch eben ſo un-

 

|0122 : 110|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

wichtig, als deſſen Behandlung unzweifelhaft iſt. Er iſt

unwichtig, weil er nur höchſt ſelten vorkommen kann.

Denn wo die Angſt dieſen höchſten Grad erreicht, in wel-

chem ſie den Menſchen wahrhaft bewußtlos macht, da

wird meiſt auch nicht die Möglichkeit einer ſcheinbaren

Thätigkeit zurück bleiben; es wird vielmehr eine Ohn-

macht erfolgen, oder wenigſtens die gänzliche Unfähigkeit

zu jeder Aeßerung, die als eine Willenserklärung fälſch-

lich ausgelegt werden könnte.

Die ganze Frage übrigens, die hier für das Privat-

recht aufgeworfen und beantwortet worden iſt, kommt

auch im Criminalrecht vor, und hat auch hier ähnliche

Schickſale gehabt, wie im Privatrecht. Das Princip iſt

auch hier daſſelbe. Wer durch Drohungen beſtimmt wird,

ein Verbrechen zu begehen, handelt frey, und iſt zurech-

nungsfähig, mit Ausnahme der ſeltenen Fälle, worin die

Angſt zur wahren Bewußtloſigkeit wird. Allein die prak-

tiſche Behandlung wird hier eine ganz andere. Von einer

indirecten Ungültigkeit (per exceptionem) kann im Crimi-

nalrecht natürlich nicht die Rede ſeyn; dagegen wird hier

die Drohung zuweilen Grund einer Milderung oder ſelbſt

der Strafloſigkeit ſeyn. Die genauere Ausführung dieſer

Frage kann hier nicht unternommen werden.

 

|0123 : 111|

§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)

§. 115.

III. Willenserklärungen. — Zwang und Irrthum.

(Fortſetzung.)

Es bleibt übrig die Betrachtung des Irrthums als

eines denkbaren Hinderniſſes für das Daſeyn einer wahren,

wirkſamen Willenserklärung.

 

Irrthum überhaupt iſt der Zuſtand des Bewußtſeyns, in

welchem die wahre Vorſtellung eines Gegenſtandes von ei-

ner unwahren verdeckt und verdrängt wird. Das Weſentliche

jedoch in dieſem Zuſtand iſt blos der Mangel der wahren

Vorſtellung, welcher ſich auch in der Geſtalt bloßer Be-

wußtloſigkeit über dieſen Gegenſtand zeigen kann, ohne

daß eine beſtimmte andere Vorſtellung an die Stelle der

wahren tritt. Hierin liegt der innere Unterſchied zwiſchen

Irrthum und Unwiſſenheit (error und ignorantia), welche

jedoch juriſtiſch einander völlig gleich ſtehen. Es wäre

genauer und erſchöpfender, überall von Unwiſſenheit zu

reden, da dieſer Ausdruck das Weſen jenes mangelhaften

Zuſtandes des Bewußtſeyns am allgemeinſten bezeichnet.

Dennoch iſt bei unſren Schriftſtellern häufiger von Irr-

thum die Rede, ohne Zweifel weil dieſe Geſtalt des er-

wähnten Zuſtandes die häufigere und darum praktiſch

wichtigere iſt; auch iſt dieſer Sprachgebrauch ohne alles

Bedenken, ſobald man ſich voraus darüber verſtändigt

hat, Alles, was über den Irrthum geſagt wird, auch für

die bloße Unwiſſenheit gelten zu laſſen.

 

|0124 : 112|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Der Irrthum nun kommt als ein wichtiges Moment

in ſo mancherley juriſtiſchen Beziehungen vor, daß es

unmöglich iſt, dieſelben an einer einzelnen Stelle des Rechts-

ſyſtems zu erſchöpfen. Dennoch iſt es für die Vollſtän-

digkeit der Einſicht wichtig, dieſe verſchiedenen Beziehungen

zu einer gemeinſamen Ueberſicht zu verbinden. Dieſe zu-

ſammenhängende Darſtellung des Irrthums in ſeinen ver-

ſchiedenen Beziehungen auf Rechtsverhältniſſe habe ich in

einer abgeſonderten Abhandlung zu geben verſucht (Bey-

lage VIII.).

 

Gegenwärtig faſſen wir den Irrthum blos in der Be-

ziehung auf, da er als Beweggrund zu einer Wil-

lenserklärung erſcheint. Bey dieſer Beziehung wird

faſt immer ein eigentlicher Irrthum zum Grunde liegen,

da die reine Unwiſſenheit gewöhnlich nur Unterlaſſungen

zur Folge haben wird. — Wir fragen nun in dieſer Be-

ziehung, ob wohl der aus Irrthum entſprungene Wille

als ein eigentlicher und wirkſamer Wille zu betrachten

ſeyn möge? Der ſchon oben angedeutete Schein für die

Verneinung dieſer Frage liegt in einer gewiſſen Aehnlich-

keit des Irrthums mit der Bewußtloſigkeit. So wie näm-

lich der Unmündige oder Wahnſinnige, könnte man ſagen,

zu Willenserklärungen unfähig ſind wegen ihres allge-

meinen Mangels an Bewußtſeyn überhaupt (§. 106.), ſo

muß dazu auch Derjenige unfähig ſeyn, welchem ein rich-

tiges Bewußtſeyn in beſonderer Beziehung auf die den

Willen beſtimmenden Thatſachen mangelt. Es finden ſich

 

|0125 : 113|

§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)

ſogar einige ſehr allgemein lautende Stellen des Römi-

ſchen Rechts, wodurch man verſuchen könnte, dieſe Ver-

gleichung zu unterſtützen (a).

Allein bey genauerer Betrachtung muß dennoch dieſe

Gleichſtellung gänzlich aufgegeben werden. Wenn wir

ſagen, die irrige Vorſtellung habe den Willen beſtimmt,

ſo iſt dieſes nur in einem ſehr uneigentlichen Sinne anzu-

nehmen. Immer war es der Handelnde ſelbſt, der dem

Irrthum dieſe beſtimmende Kraft einräumte. Die Frey-

heit ſeiner Wahl zwiſchen entgegengeſetzten Entſchlüſſen

war unbeſchränkt; welche Vortheile ihm der Irrthum auch

vorſpiegeln mochte, er konnte ſie verwerfen, und durch

den Einfluß jener irrigen Vorſtellungen iſt daher das

Daſeyn der freyen Willenserklärung keinesweges aufge-

hoben. Die richtige Auffaſſung der Frage beruht alſo

auf der ſcharfen Unterſcheidung des Wollens ſelbſt, von

Demjenigen was ihm in der Seele des Wollenden vor-

herging; das Wollen iſt eine ſelbſtſtändige Thatſache, die

allein für die Bildung der Rechtsverhältniſſe von Wich-

tigkeit iſt, und es iſt ganz willkührlich und grundlos, wenn

wir mit dieſer Thatſache jenen vorbereitenden Prozeß ſo

verbinden, als ob derſelbe ein Beſtandtheil ihres Weſens

wäre. Auch iſt hier der Schein für eine entgegengeſetzte

Anſicht weit geringer, als im Fall des Zwanges; ſie hat

 

(a) L. 20 de aqua et aq. pluv.

(39. 3.) „nulla enim voluntas

errantis est.” Eben ſo mehrere

andere Stellen. Vgl. Beyl. VIII.

Num. VII.

III. 8

|0126 : 114|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

in dieſer Allgemeinheit keine Vertheidiger gefunden, und

die in dieſer Lehre häufig vorkommenden Misverſtändniſſe

haben ſich mehr an einzelne Momente, als an die allge-

meine Betrachtung dieſes Falles überhaupt, angeknüpft.

Dieſe Grundanſicht des Irrthums führt nun zu fol-

genden Sätzen des römiſchen Rechts, die, für die hier

vorliegende Anwendung (auf die Wirkſamkeit der Wil-

lenserklärungen), ſo wie für alle anderen, Gültigkeit haben.

 

Der Irrthum an ſich hat in der Regel gar keine Wir-

kung, und es iſt überall nur durch beſondere Ausnahme,

wo ihm eine Einwirkung eingeräumt wird (b).

 

Auch in dieſen ausgenommenen Fällen wird ſeine Wir-

kung ausgeſchloſſen, wenn dem Irrenden eine beſondere

Verſchuldung zur Laſt fällt, das heißt wenn der Irrthum

leicht zu vermeiden war.

 

Eine ſolche Verſchuldung wird in der Regel angenom-

men, wenn der Irrthum nicht Thatſachen zum Gegenſtand

hat (facti error s. ignorantia), ſondern Rechtsregeln (ju-

ris error s. ignorantia). Doch kann unter beſonderen Um-

ſtänden, und vorzüglich nach dem heutigen Rechtszuſtand,

auch dieſer Rechtsirrthum ein ſchuldloſer, und daher wirk-

ſamer, ſeyn (c).

 

Bey Willenserklärungen insbeſondere gilt die hier auf-

geſtellte Regel (d): neben ihr finden ſich zwey Ausnah-

 

(b) Beylage VIII. Num. VI. —

Es iſt alſo falſch, wenn das Prin-

cip aufgeſtellt wird, um Schaden

abzuwenden gelte jeder Irrthum,

um Gewinn zu ziehen gelte der

factiſche, nicht der Rechtsirrthum.

Beylage VIII. Num. VIII. XL.

(c) Beylage VIII. Num. III. IV.

(d) Beylage VIII. Num. X.

|0127 : 115|

§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)

men, in welchen der unverſchuldete Irrthum eigene Kla-

gen erzeugt, um die Willenserklärungen hinterher zu ent-

kräften: die aͤdiliciſchen Klagen, und die auf irrige causa

gegründeten Condictionen, insbeſondere die wichtigſte der-

ſelben, die condictio indebiti (e).

Allein alle dieſe Sätze finden doch nur da Anwendung,

wo der Irrthum für ſich allein in Betracht kommt; denn

er kann, eben ſo wie die Furcht, eine andere Natur

annehmen, wenn eine beſondere Entſtehungsweiſe hinzuge-

dacht wird. Iſt nämlich der Irrthum hervorgebracht durch

den unredlichen Willen eines Andern, das heißt durch Be-

trug, ſo hat dieſer Fall eine unverkennbare Ähnlichkeit mit

dem des Zwanges. In beiden Fällen findet ſich gleiche

Unſittlichkeit in der Einwirkung auf Andere; auch wird in

beiden recht eigentlich das Rechtsgebiet durch dieſe Unſitt-

lichkeit geſtoͤrt. Denn das Weſen des Rechts geht auf

ſelbſtſtändige Entwicklung der Einzelnen in lebendiger Ge-

meinſchaft und Wechſelwirkung. Die nothwendige Bedin-

gung aller Gemeinſchaft aber iſt Wahrhaftigkeit und das

durch ſie begruͤndete Vertrauen. So wie nun die Selbſt-

ſtändigkeit beeinträchtigt wird durch den Zwang, ſo das

Vertrauen durch den Betrug. Daher kommen beide Arten

der Einwirkung auf Andere — Zwang und Betrug — in

folgenden Stücken überein. Beide haben eine unſittliche

Natur. Beide enthalten an ſich kein Unrecht, aber ſie grei-

 

(e) Beylage VIII. Num. XI.

8*

|0128 : 116|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

fen ſtoͤrend ein in die nothwendigen Bedingungen menſch-

licher Lebensgemeinſchaft, die in dem Rechtsgebiet Regel

und Schutz empfängt. Beide alſo verdienen gleicherweiſe,

durch das poſitive Recht als Unrecht anerkannt, verfolgt

und bekämpft zu werden.

Auf den erſten Blick möchte man geneigt ſeyn, einen

Unterſchied zwiſchen beiden Fällen darin zu ſetzen, daß

der Zwang unbedingt verwerflich iſt und eine juriſtiſche

Gegenwirkung hervorruft, anſtatt daß der Irrthum in der

Regel ganz gleichgültig iſt, und nur durch die Verbindung

mit Betrug einen hemmenden Einfluß auf die Willenser-

klärung erhält. Allein der Schein dieſer Verſchiedenheit

entſteht nur aus dem zufälligen Umſtand, daß man von

dem Begriff des Zwanges auszugehen pflegt, anſtatt von

dem der Furcht (§ 114). In jedem der beiden Fälle muß

gleich ſorgfältig unterſchieden werden Dasjenige, was in

dem Innern des Handelnden vorgeht, von dem was durch

die unſittliche Einwirkung eines Andern hinzutritt. Im

Innern des Handelnden finden wir dort die Furcht, hier

den Irrthum; beide ſind für das Daſeyn wahrer Willens-

erklärung ganz gleichgültig, und ohne Einfluß auf deren

Wirkſamkeit. Aber beide koͤnnen eine beſondere Natur an-

nehmen, wenn ſie in einer unſittlichen Einwirkung von au-

ßen ihre Entſtehung haben. Dann erſcheint die Furcht als

Zwang, der Irrthum als Betrug. Hier iſt alſo überall

der vollſtändigſte Parallelismus wahrzunehmen.

 

Bey dem Betrug, wie bey dem Zwang, kann die ge-

 

|0129 : 117|

§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)

naue Darſtellung der dagegen geltenden Rechtsmittel nur

in dem ſpeciellen Theil des Rechtsſyſtems ihre Stelle fin-

den. Im Allgemeinen laſſen ſich dieſe Rechtsmittel auf

dieſelben Klaſſen, wie oben bey dem Zwang, zurückführen:

dem Betrogenen wird nach Umſtaͤnden durch Klage, Ex-

ception, oder Reſtitution geholfen, wie er es gerade be-

darf (f). Der durchgreifendſte Unterſchied zwiſchen Zwang

und Betrug liegt darin, daß die dem Gezwungenen ge-

währte Hülfe auch gegen fremde, ſchuldloſe Perſonen

wirkt (in rem), die des Betrogenen nur gegen den Be-

trüger und deſſen Succeſſoren (in personam) (g). Dabey

liegt alſo die Anſicht zum Grunde, daß in dem Zwang

die ſchlimmere, gefährlichere Störung des Rechtszuſtandes

enthalten iſt, vergleichungsweiſe mit dem Betrug.

So wie es oben (§ 114) bey dem Zwang geſchehen

iſt, müſſen auch bey dem Betrug die Bedingungen gleich

hier angegeben werden, unter welchen er dem Irrenden

Anſpruch auf Schutz gegen die Folgen der Willenserklä-

rung geben kann.

 

Der Ausdruck dolus bezeichnet überall eine unſittliche

Verletzung desjenigen Zutrauens, worauf aller menſchliche

 

(f) Bey der Ehe gilt für den

Betrug weſentlich daſſelbe, was

oben (§ 114. g) für den Zwang

bemerkt worden iſt, nur mit dem

Unterſchied, daß in jedem Fall

der weſentliche Betrug vom un-

weſentlichen unterſchieden werden

muß, ſo daß nur der weſentliche

die Ehe vernichtet. Vergl. G. L.

Böhmer jus can. § 348. Eich-

horn Kirchenrecht II. S. 355.

Pufendorf I. obs. 161.

(g) Nämlich gegen die Erben

allgemein, gegen die Singular-

ſucceſſoren nur mit Einſchrän-

kung. Dieſes gehört zur genaue-

ren Ausführung.

|0130 : 118|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Verkehr beruht. Dieſer umfaſſende Begriff nun kommt in

ſehr verſchiedener Weiſe vor. Zuerſt in verſchiedener Abſtu-

fung, ſo daß er bald den härteſten Tadel in ſich ſchließt (h),

bald nur eine mäßige Misbilligung (i). Ferner in verſchie-

dener Anwendung. Die beſtimmteſten und einflußreichſten

Anwendungen des Begriffs ſind dieſe: 1) Abſichtliches Zu-

widerhandeln eines Schuldners gegen den Inhalt ſeiner

Verpflichtung; dieſes iſt der dolus in Obligationen, wo

er als Gegenſatz von culpa und casus erſcheint. 2) Ab-

ſichtliche Erzeugung eines Irrthums, wodurch der Irrende

zu einer Willenserklärung beſtimmt wird; von dieſer An-

wendung allein iſt hier die Rede.

In dieſer Anwendung alſo heißt dolus Verfälſchung

der Wahrheit, und ſo iſt der Ausdruck gleichbedeutend mit

fraus (k). Es muß aber noch hinzugedacht werden die

böſe Abſicht, das heißt die welche auf des Gegners Nach-

theil gerichtet iſt, ohne Unterſchied ob zugleich eigener Vor-

theil bezweckt wird oder nicht (l). Dieſen Zuſatz bezeich-

nen die Römiſchen Juriſten durch den Ausdruck dolus ma-

lus, im Gegenſatz eines denkbaren dolus bonus in ſolchen

 

(h) Beſonders ſichtbar tritt die-

ſes hervor in den vielen Fällen,

worin der in Privatrechtsverhält-

niſſen begangene dolus die In-

famie zur Folge hat (§ 77).

(i) So in vielen Fällen der

doli exceptio, wo das Unred-

liche oft nur in der hartnäckigen

Rechtsverfolgung liegt, während

den Kläger für ſeine bisherigen

Handlungen gar kein Tadel trifft.

L. 2 § 5 de doli exc. (44. 4.)

„petendo facit dolose.” L. 36

de V. O. (45. 1.) „hoc ipso dolo

facit quod petit.”

(k) L. 1 § 2 de dolo (4. 2.),

L. 7 § 9. 10 de pactis (2. 14.),

L. 43 § 2 de contr. emt. (18 1.).

(l) L. 39. 40 de dolo (4. 3.).

|0131 : 119|

§. 115. Zwang und Irrthum. (Fortſetzung.)

Fällen, worin ſelbſt Gewalt als Selbſtvertheidigung er-

laubt ſeyn würde, worin alſo augenblicklich ein Rechts-

verhältniß gar nicht vorhanden iſt (m).

In der Regel wird der Betrug durch poſitive Thätig-

keit verübt. Er iſt aber auch denkbar durch ein blos lei-

dendes Verhalten, alſo durch wiſſentliches, ſtillſchweigen-

des Dulden des fremden Irrthums, den wir nicht ſelbſt

hervorgebracht haben. Dieſes letzte jedoch nur unter Vor-

ausſetzung eines ſolchen Vertragsverhältniſſes, worin der

Andere von uns Offenheit zu erwarten berechtigt iſt, ſo

daß hier Schweigen und Reden als ein untrennbares

Ganze betrachtet werden muß (n).

 

Die Begriffe von Zwang und Betrug, deren Verſchie-

denheit und Verwandtſchaft hier nur in Beziehung auf die

Gültigkeit der Willenserklärungen unterſucht worden iſt,

kommen auch anderwärts in wichtigen und ausgedehnten

Anwendungen vor. So in der ſehr alten Zuſammenſtel-

lung von vi, clam, precario in der Lehre vom Beſitz (o).

Ganz vorzüglich aber bey den aus Delicten entſpringen-

den Obligationen, welche großentheils auf jenen Begriffen

beruhen, und nur vermittelſt der ſcharfen Auffaſſung der-

ſelben richtig verſtanden werden können. Allerdings iſt in

dieſen anderen Anwendungen weit mehr von abſolutem,

 

(m) L. 1 § 2. 3 de dolo (4. 3.)

„sicuti faciunt qui … tuentur

vel sua vel aliena” … „maxi-

me, si adversus hostem latro-

nemve quis machinetur.”

(n) L. 43 § 2 L. 35 § 8 de

contr. emt. (18. 1.), L. 11 § 5

de act. emti (19. 1.).

(o) Nämlich clam und preca-

rio ſind nur äußerlich verſchie-

dene Anwendungen des dolus bey

Entziehung des Beſitzes.

|0132 : 120|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

als von compulſivem Zwang die Rede. Allein dieſe bei-

den Formen des Zwangs oder der Gewalt ſind in ihrer

unſittlichen Natur und in ihrer Gefährlichkeit für das

Rechtsgebiet gar nicht verſchieden. Wenn aber in der

gegenwärtigen Unterſuchung die Rückſicht auf die abſolute

Gewalt abgelehnt worden iſt (§ 114), ſo geſchah dieſes

nicht wegen einer weſentlich verſchiedenen Natur dieſer Art

der Gewalt ſelbſt, ſondern nur weil ſie als Veranlaſſung

von Willenserklärungen (von welchen allein hier die Frage

war) gar nicht vorkommen kann. Darin iſt allerdings

zwiſchen beiden Arten der Gewalt ein Unterſchied, daß

die abſolute meiſt ſchon an ſich eine unmittelbare Rechts-

verletzung in ſich ſchließt, die durch die Gewaltſamkeit oft

nur noch eine erhöhte Wirkung erhält, anſtatt daß die

compulſive Gewalt erſt durch das poſitive Recht zu einer

Rechtsverletzung geſtaltet wird.

§. 116.

III. Willenserklärungen. — Bedingung. Begriff.

In der Willenserklärung kann der Wille einen eigen-

thümlichen Character dadurch annehmen, daß er ſich ſelbſt

beſchränkt, und ſo den Umfang, den er außerdem haben

würde, vermindert. Dieſes geſchieht durch Hinzufügung

von Bedingung, Zeit, oder Modus (§ 114). Ge-

meinſchaftliche Quellen für dieſe Zuſätze einer Willenser-

klärung finden ſich in folgenden Titeln:

 

|0133 : 121|

§. 116. Bedingung. Begriff.

Dig. XXVIII. 7, XXXV. 1.

Cod. VI. 25. 45. 46, VIII. 55.

Schriftſteller:

 

Balduinus de conditionibus (Heineccii Jurispr. Rom.

et Att. T. 1).

Donellus VIII. 30 — 34 (Legate), XV. 8 — 12

(Verträge).

Die wichtigſten Anwendungen ſind die auf Verträge

und Teſtamente, deren jede ihre Eigenthümlichkeiten hat (a).

An dieſer Stelle wird von ſolchen beſonderen Anwendun-

gen nur Dasjenige ausgehoben werden, welches zur voll-

ſtändigen Einſicht in die gemeinſame Natur dieſer Beſtim-

mungen nöthig iſt.

 

Bedingung (conditio) heiſt der Zuſatz einer Willens-

erklärung, welcher das Daſeyn eines Rechtsverhältniſſes

von einem künftigen, ungewiſſen Ereigniß auf willkührliche

Weiſe abhängig macht. Die einzelnen Momente dieſes

 

(a) Ich gebrauche hier der Kürze

und Anſchaulichkeit wegen, den

Ausdruck Teſtament als Re-

präſentanten jeder Art des letz-

ten Willens, ſo daß alſo ſtets auch

der Codicill darunter mit begrif-

fen iſt. Übrigens iſt die Anwen-

dung der Bedingungen auf den

letzten Willen häufiger und man-

nichfaltiger, als auf die Verträge,

und daher auch mehr von den

alten Juriſten ausgebildet. — Noch

weit weniger bedarf es einer Er-

klärung und Rechtfertigung dar-

über, daß ich den concreten Aus-

druck Vertrag gebrauche, an-

ſtatt abſtracter von Rechtsgeſchäf-

ten unter Lebenden zu reden;

denn bey Quaſicontracten können

Bedingungen nicht leicht vorkom-

men, Pollicitationen aber, ohne-

hin ſelten und wenig wichtig, wer-

den hier vielmehr den Legaten ähn-

lich behandelt. L. 13 § 1 de pol-

lic. (50. 12.). Sell Verſuche II.

107. 110.

|0134 : 122|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Begriffs werden durch die Betrachtung ſolcher Fälle an-

ſchaulich werden, worin eine Bedingung nur dem Schein,

nicht dem Weſen nach, vorhanden iſt, weil es an einem

jener Momente fehlt (b).

Es iſt alſo keine wahre Bedingung, wenn der Eintritt

des Ereigniſſes nicht ungewiß iſt, ſondern entweder ſicher

Statt findet, oder ſicher unterbleibt (nothwendige oder un-

mögliche Bedingung). Die Behandlung dieſer Fälle wird

unten, bey den Wirkungen der Bedingung, angegeben

werden (c).

 

Eben ſo iſt es keine wahre Bedingung, wenn das als

Bedingung Ausgedrückte ohnehin ſchon nothwendige Vor-

ausſetzung des Rechtsverhältniſſes war, ſo daß die Noth-

wendigkeit nicht erſt auf willkührliche Weiſe hervorgebracht

worden iſt. Solche Bedingungen heißen conditiones taci-

tae, oder quae insunt, tacite insunt, extrinsecus veniunt (d).

Beyſpiele ſind folgende: Erbeinſetzung unter der Bedingung,

 

(b) Die unmittelbare Folge iſt

freylich meiſt dieſelbe, wir mö-

gen es nun als eine Scheinbe-

dingung anſehen, oder als eine

wirkliche, aber erfüllte Bedin-

gung. Im Einzelnen aber wird

oft der Unterſchied wichtig, na-

mentlich da wo überhaupt Be-

dingungen verboten ſind. Aus

jener gewöhnlichen Gleichgültig-

keit erklärt es ſich, wenn unſre

Rechtsquellen ſich zuweilen ſo aus-

drücken, als wäre es eine wirk-

liche und erfüllte Bedingung; ſol-

che Ausdrücke finden ſich in man-

chen der in Note o angeführten

Stellen.

(c) Vgl. § 121 — 124.

(d) L. 1 § 3 de cond. (35. 1.),

L. 99 eod., L. 25 § 1 quando

dies (36. 2.), L. 68 de j. dot.

(23. 3.). Man kann die Natur

dieſes Falles auch ſo ausdrücken,

daß darin die conditio juris zu-

gleich zu einer conditio facti ge-

macht wird (L. 21 de cond. 35.

1.). — Über dieſen Gegenſtand iſt

zu vergleichen Donellus III. 32

§ 2 — 4.

|0135 : 123|

§. 116. Bedingung. Begriff.

daß der Erbe den Teſtator überlebt; Erbeinſetzung eines

extraneus unter der Bedingung, wenn er Erbe ſeyn will;

Legat unter der Bedingung, daß der eingeſetzte Erbe die

Erbſchaft antrete; Legat der Früchte eines Landguts, wenn

ſolche entſtehen ſollten; Legat unter derſelben Bedingung,

woran auch ſchon die ganze Erbeinſetzung geknüpft iſt

(weil durch deren Nichterfüllung die Erbeinſetzung, mit

dieſer das Teſtament, und mit dieſem das Legat, ohnehin

zerfällt); Verſprechen einer Dos unter der Bedingung, daß

die Ehe zu Stande kommen wird. — Im Allgemeinen ſind

ſolche Bedingungen blos überflüſſige Wiederholungen Des-

jenigen, was ohnehin gilt, alſo unſchädlich, aber auch

unnütz und wirkungslos (e). In den meiſten Anwendungen

wird dabey nicht einmal ein Zweifel möglich ſeyn. Von

Erheblichkeit iſt der Satz nur bey Legaten, bey welchen

der Zeitpunkt wichtig iſt, den der Legatar erlebt haben

muß, damit das Legat auf ſeine Erben übergehen könne

(dies legati cedit). Dieſer Zeitpunkt iſt in der Regel der

Tod des Teſtators, bey bedingten Legaten aber die Er-

füllung der Bedingung (f). Da jedoch die hier erwähnten

Bedingungen gar nicht wahre Bedingungen ſind, ſo wird

durch ſie das Legat nicht zu einem bedingten, ſo daß un-

geachtet derſelben der unwiderrufliche Erwerb ſchon mit

dem Todestag des Teſtators eintritt (g). Darin liegt alſo

(e) „frustra adduntur.” L. 12

de cond. inst. (28. 7.), L. 47 de

cond. (35. 1.).

(f) L. 1 § 1. 8 C. de caducis

toll. (6. 51.).

(g) L. 99. 107 de cond. (35.

1.), L. 21 § 1 L. 22 § 1 L. 25

§ 1 quando dies (36. 2.). — An-

|0136 : 124|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

zwar auch nur eine Anerkennung der aufgeſtellten allge-

meinen Regel; ſie iſt aber inſofern erheblich, als dieſe ein-

zelne Anwendung leicht verkannt werden könnte. — Anders

verhält es ſich nur bey denjenigen Willenserklärungen, für

welche der Zuſatz einer Bedingung durch eine poſitive Rechts-

regel unterſagt iſt. Hier ſind auch jene Bedingungen nicht

als wirkungslos anzuſehen, vielmehr vernichten ſie die

ganze Beſtimmung, welcher ſie als Zuſätze beygefügt ſind,

ſo daß alſo in dieſer Beziehung die ganz poſitive Regel

gilt: Expressa nocent, non expressa non nocent (h).

Beyſpiele ſind dieſe. Der Vater hat die Wahl, ſeinen

Sohn einzuſetzen oder zu enterben, nur darf die Enterbung

keine bedingte ſeyn (i); wenn nun der Vater den Sohn

enterbt, unter der Bedingung, daß der eingeſetzte einzige

Erbe die Erbſchaft antrete, ſo ſagt er eigentlich etwas

Überflüſſiges (da bey dem Nichtantritt das ganze Teſtament

zerfällt), dennoch iſt eine ſolche Enterbung ungültig (k).

ders iſt es z. B. bey einem Legat

unter der Bedingung: si volet le-

gatarius, weil nun eine Willens-

erklärung des Legatars erfordert

wird, die ſich nicht von ſelbſt ver-

ſteht, da vielmehr andere Legate

ohne Zuthun des Legatars er-

worben werden. L. 65 § 1 de

leg. 1 (30. 1.), L. 69 de cond.

(35. 1.). Hier iſt alſo jener Zu-

ſatz eine wahre und wirkſame Be-

dingung. Nicht ſo in der ſchein-

bar ähnlichen Beſtimmung bey ei-

nem Fideicommiß „cum ipsi pe-

tissent sine ulla juris cavilla-

tione,” welches nur als Einſchär-

fung der unverzüglichen, unwei-

gerlichen Entrichtung, nicht als

Bedingung gemeynt iſt. L. 85

de cond. (35. 1.), ſ. § 117. b.

(h) L. 195 de R. J. (50. 17.),

L. 68 de her. inst. (28. 5.), L. 47

in f. de cond. (35. 1.).

(i) L. 3 § 1 de lib. et posth.

(28. 2). Der Grund liegt darin,

daß der Sohn für den der Be-

dingung entgegengeſetzten Fall

präterirt ſeyn würde.

(k) L. 68 de her. inst. (28. 5.).

|0137 : 125|

§. 116. Bedingung. Begriff.

Die Acceptilation kann bey einer bedingten Stipulation

natürlich nur dann wirken, wenn die Bedingung eintritt,

weil ſonſt gar keine Schuld vorhanden iſt (l); die Accep-

tilation ſelbſt aber darf durch keine Bedingung beſchränkt

werden (m). Wenn nun der Acceptilation dieſelbe Bedin-

gung hinzugefügt wird, die auch ſchon in der Stipulation

ſtand, ſo iſt das eigentlich nur eine müßige Wiederholung

des ohnehin Gültigen; dennoch iſt eine ſo gefaßte Accep-

tilation ſchlechthin ungültig (n). — Dieſe letzte Beſtimmung

iſt unſtreitig ſehr ſubtil, und opfert unverkennbar das We-

ſen der Form auf; im heutigen Recht wird dazu bey Ver-

trägen ohnehin keine Anwendung moͤglich ſeyn, da wir

keine Acceptilation in Römiſcher Form haben; und auch

bey Enterbungen möchten gegen die Anwendbarkeit Beden-

ken eintreten, die jedoch hier noch nicht klar gemacht wer-

den koͤnnen.

Ferner iſt es keine wahre Bedingung, wenn das Er-

eigniß ſchon nach dem gebrauchten Ausdruck nicht in die

Zukunft, ſondern in die Vergangenheit oder Gegenwart

fällt (in praeteritum vel praesens collata, relata, concepta

conditio), z. B. wenn Titius im vorigen Jahr Conſul war,

oder: wenn Titius gegenwärtig Conſul iſt. Eine ſolche

Beſtimmung iſt ſtets wirkſam, und zwar im Ganzen auf

dieſelbe Weiſe, wie wenn es eine Bedingung wäre, ſo daß

alſo die Gültigkeit des Rechtsgeſchäfts ganz von dem Da-

 

(l) L. 12 de acceptil. (46. 4.).

(m) L. 4 de acceptil. (46. 4.).

(n) L. 77 de R. J. (50. 17.).

|0138 : 126|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſeyn oder Nichtdaſeyn der als Bedingung ausgedrückten

Thatſache abhängt. Dennoch iſt es durchaus nicht Be-

dingung, ſondern das Rechtsgeſchäft iſt ein unbedingtes,

da alle Ungewißheit nur für das Bewußtſeyn des Urhebers

beſteht, in der Sache ſelbſt aber Alles bereits völlig ent-

ſchieden iſt, und als ſolches auch durch den gebrauchten

Ausdruck anerkannt wird (o). Praktiſch wichtig iſt die

Unterſcheidung dieſes Falles von dem Fall wahrer Bedin-

gung in zwey Beziehungen. Erſtlich wird dadurch die

Gültigkeit derjenigen Geſchäfte, in welchen Bedingungen

überhaupt verboten ſind, nicht gefährdet (p). Zweytens

wenn eine ſolche Beſtimmung einer Erbeinſetzung oder

einem Legat hinzugefügt wird, und ſich nun als deficirend

erweiſt, könnte man geneigt ſeyn, ſie einer unmöglichen

Bedingung zu vergleichen, und deshalb als nicht geſchrie-

ben zu behandeln; dieſes darf jedoch nicht gelten, eben

deswegen, weil es überhaupt keine Bedingung iſt (§ 121. p).

Von dieſem Fall iſt aber noch der zu unterſcheiden,

da das Ereigniß als ein künftiges gedacht und ausgedrückt

wird, jedoch zur Zeit des Rechtsgeſchäfts ohne Wiſſen

 

(o) L. 16 de injusto (28. 3.).,

L. 3 § 13 de bonis lib. (38. 2.),

L. 10 § 1 de cond. inst. (28. 7.)

(bey Teſtamenten). — § 6 J. de

verb. oblig. (3. 15.), L. 37. 38.

39 de reb. cred. (12. 1.), L. 100.

120 de verb. oblig. (45. 1.) (bey

Verträgen).

(p) Wenn alſo ein Vater ſei-

nen Suus unter der Bedingung,

wenn jetzt Titius Conſul iſt, zum

Erben einſetzt, und Titius iſt

wirklich Conſul, ſo iſt die Erb-

einſetzung gültig, obgleich es

ſcheinbar eine nichtpoteſtative Be-

dingung war. Iſt freylich Titius

nicht Conſul, ſo iſt der Sohn

präterirt, und das Teſtament iſt

nichtig.

|0139 : 127|

§. 117. Bedingung. Arten.

des Urhebers deſſelben, bereits eingetreten oder vereitelt iſt.

Dieſer Fall unterſcheidet ſich von dem vorigen durch die

Abſicht des Urhebers, die auf eine wahre Bedingung ge-

richtet iſt. Iſt das Ereigniß eingetreten, ſo wird dadurch

dennoch dasjenige Rechtsgeſchäft, in welchem Bedingungen

verboten ſind, ungültig: iſt es dagegen vereitelt, und iſt

das Rechtsgeſchäft eine teſtamentariſche Verfügung, ſo gilt

die Bedingung einer unmöglichen gleich, folglich als nicht

geſchrieben (§ 121.).

§. 117.

III. Willenserklärungen. — Bedingung. Arten.

Es ſind jetzt die verſchiedenen Gegenſätze zu betrachten,

die mit dem allgemeinen Begriff der Bedingung vereinbar

ſind, das heiſt die Eintheilungen dieſes Gattungsbegriffs.

 

A. Sehen wir auf die logiſche Form der bedingenden

Thatſache, ſo beſteht dieſe entweder in einem Seyn oder

Nichtſeyn (poſitive, negative Bedingung).

 

B. Die Urſache ferner, wovon der Eintritt der Be-

dingung abhängt, kann enthalten ſeyn in der menſchlichen

Freyheit oder der Natur; und, wenn wir dieſen Gegenſatz

mit dem vorigen in Verbindung ſetzen, ſo können alle Be-

dingungen beſtehen in einem Handeln oder Unterlaſſen, ſo

wie in dem Eintreten oder Unterbleiben eines zufälligen,

von menſchlichem Willen unabhängigen, Ereigniſſes. —

Dieſe Unterſcheidung wird eben ſo von den Römiſchen

 

|0140 : 128|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Juriſten anerkannt. Nur waren ſie von jeher gewohnt,

die freyen Handlungen in zwey Klaſſen, dare und facere,

zu ſondern, und ſo nehmen ſie, durch Zuziehung dieſes

untergeordneten Gegenſatzes, drey Arten der Bedingun-

gen an (a).

Die in der Freyheit beruhenden Bedingungen bedürfen

jedoch noch einer genaueren Betrachtung. Es kann näm-

lich die Erfüllung abhängen von der freyen Handlung

Desjenigen, der in dieſem Rechtsverhältniß lediglich als

Berechtigter erſcheint; oder Desjenigen, der darin Ver-

pflichteter iſt (mag er auch daneben, in anderer Hinſicht,

berechtigt ſeyn); oder endlich von der freyen Handlung

eines unbetheiligten Dritten.

 

1) Beruht die Erfüllung auf der Freyheit des in die-

ſem Rechtsverhältniß ausſchließend Berechtigten, z. B. des

Stipulators, des ernannten Erben oder Legatars, ſo wird

dadurch niemals das Rechtsverhältniß ſelbſt ungültig.

Allerdings iſt oft die Bedingung ſelbſt überflüſſig und wir-

kungslos, wenn ſie nämlich auf ein bloßes Wollen gerich-

tet iſt (si velit), und es ſich ohnehin von ſelbſt verſteht,

daß das Recht nur durch den Willen erworben oder aus-

geübt werden kann. So z. B. iſt die Erbeinſetzung eines

freywilligen Erben (extraneus) unter der Bedingung si

 

(a) L. 60 pr. de cond. (35. 1.).

„In facto consistentes condi-

tiones varietatem habent, et

quasi tripartitam recipiunt di-

visionem, ut quid detur, ut quid

fiat, ut quid obtingat: vel retro

ne detur, ne fiat, ne obtingat:

Ex his dandi faciendique con-

ditiones in personas collocan-

tur aut ipsorum, quibus quid

relinquitur, aut aliorum; tertia

species in eventu ponetur.”

|0141 : 129|

§. 117. Bedingung. Arten.

velit in der That eine unbedingte (§ 116); eben ſo die

Stipulation mit dem Zuſatz cum petiero, da es ſich ohne-

hin von ſelbſt verſteht, daß es von der Willkühr des

Stipulators abhängt, ſein Recht geltend zu machen oder

nicht (b).

Anders iſt es bey ſolchen Rechten, die außerdem ihrer

Natur nach ohne Willenserklärung erworben werden, und

deren Erwerbung daher durch die Bedingung si velit aller-

dings modificirt wird; dahin gehört die Erwerbung von

Legaten (§ 116. g.), ſo wie die Erwerbung der Erbſchaft

von Seiten eines eingeſetzten unfreywilligen Erben, z. B.

eines Suus (c).

 

Eben ſo iſt es anders, ohne Unterſchied der Rechte

und ihrer regelmäßigen Erwerbung, wenn die Bedingung

nicht auf den bloßen Willen an ſich ſelbſt (si velit) geſtellt

iſt, ſondern auf irgend eine äußere Handlung, z. B. si

Capitolium ascenderit. Denn wenngleich dieſe Handlung

ganz von dem Willen abhängig ſeyn kann, auch vielleicht

als ganz gleichgültig erſcheint, ſo daß man geneigt ſeyn

könnte, ſie blos als einen veränderten Ausdruck des si

velit anzuſehen, ſo iſt dabey doch immer ein materielles

 

(b) L. 48 de verb. oblig. (45.

1.). Es iſt, den Worten nach,

ein dies, der nur der Ungewiß-

heit wegen zu einer Bedingung

wird (§ 125). Hier hat ihn aber

der Stipulator nicht als Bedin-

gung gemeynt, ſondern er wollte

die augenblickliche Leiſtung, ſo-

bald nur gefordert würde, ein-

ſchärfen. Wäre es eine auf die

perſönliche Handlung des Stipu-

lators geſtellte Bedingung, ſo

würde dieſe durch den Tod des

Stipulators vereitelt werden, wel-

ches nun nicht geſchieht. Vergl.

§ 116. g.

(c) L. 86 de her. inst. (28. 5.),

L. 12 de cond. inst. (28. 7.).

III. 9

|0142 : 130|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Intereſſe der Betheiligten wenigſtens denkbar, und ſie gilt

und wirkt daher ſtets als wahre Bedingung (d).

Für dieſe Art der Bedingungen, die ganz auf der Frey-

heit des künftigen Berechtigten beruhen, kommt in der be-

ſondern Anwendung auf Legate der Ausdruck potestativae

vor, ſo daß hiernach alle Bedingungen in dieſer Anwen-

dung eingetheilt werden in casuales, potestativae, mixtae (e).

Wichtig iſt der Begriff ſolcher Poteſtativbedingungen bey

der Erbeinſetzung des Suus filius, die nur unter einer rei-

nen Poteſtativbedingung gültig geſchehen kann (f). Dabey

wird nun die nähere Beſtimmung gegeben, es ſolle die

Natur der Poteſtativbedingung aus den beſonderen Um-

ſtänden jedes einzelnen Falles beurtheilt werden (g).

 

(d) Bey Teſtamenten liegt das

Intereſſe ſchon darin, daß der

Erbe oder Legatar durch Erfül-

lung der Bedingung ſeinen Ge-

horſam gegen den Willen des Te-

ſtators beweiſt.

(e) L. un. § 7 C. de caducis

toll. (6. 51.). In anderen Stel-

len heißt es ſtets conditio quae

est in potestate ipsius. Auch

außer den Rechtsquellen ſcheint

das Wort potestativus nur in

einer einzigen Stelle bey Tertul-

lian vorzukommen. — Das Fran-

zöſiſche Geſetzbuch hat dieſe Ter-

minologie auch, giebt ihr aber

eine abweichende Bedeutung. Art.

1169 — 1171.

(f) L. 4 pr. de her. inst. (28.

5.), L. 4 C. de inst. et subst.

(6. 25.).

(g) L. 4 § 1 L. 5 de her. inst.

(28. 5.), L. 28 de cond. inst.

(28. 7.), L. 4 C. de inst. et subst.

(6. 25.). — Aus dieſen Stellen

erhellt, daß auch ſchon die unge-

wöhnliche Schwierigkeit und Ge-

fährlichkeit der Erfüllung der Na-

tur einer Poteſtativbedingung im

Wege ſteht (ganz nach der in L. 137

§ 2 de V. O. 45. 1 angewende-

ten Anſicht), ſo daß es alſo nur

darauf ankommt, ob der gute,

kräftige Wille eines beſonnenen

Menſchen die Erfüllung bewirken

konnte. Ohnehin iſt eigentlich nur

eine negative Bedingung ſchlecht-

hin poteſtativ, da den Entſchloſ-

ſenen keine menſchliche Gewalt

zum Handeln zwingen kann. Die

leichteſte poſitive Handlung dage-

gen (z. B. si Capitolium ascen-

|0143 : 131|

§. 117. Bedingung. Arten.

2) Beruht die Erfüllung auf einer freyen Handlung

Desjenigen, der in dieſem Rechtsverhältniß als verpflichtet

erſcheint (mag er nun auch von ſeiner Seite Rechte haben

oder nicht), ſo gelten folgende Regeln.

 

Iſt die Bedingung geſtellt auf das bloße Wollen an

ſich (si velit), ſo wird dadurch das Daſeyn eines Rechts-

verhältniſſes überhaupt gänzlich ausgeſchloſſen. Dieſes

gilt zunächſt bey einſeitigen Verpflichtungen, wenn in einer

Stipulation der Schuldner unter jener Bedingung Etwas

verſpricht (h). Eben ſo aber auch, wenn bey einem Kauf

der Käufer oder der Verkäufer dieſe reine Willkühr ſich

vorbehält; denn er ſelbſt iſt dann ja zu gar Nichts ver-

pflichtet, woraus aber, wegen der in dieſem Vertrag lie-

genden Gegenſeitigkeit, nothwendig folgt, daß auch der

Gegner nicht verpflichtet ſeyn kann (i). Auch verhält es

ſich nicht anders mit einem Legat, welches dem Erben un-

ter der Bedingung ſeiner Einwilligung auferlegt wird (k).

 

derit) kann wenigſtens durch

fremde Gegenwirkung unmöglich

gemacht werden, z. B. wenn der

ſo eingeſetzte Erbe gefangen ge-

halten wird.

(h) L. 17 L. 46 § 3 L. 108

§ 1 de verb. oblig. (45. 1.), L. 7

pr. de contr. emt. (18. 1.). —

Das Preußiſche A. L. R. Th. 1

Tit. 4 § 108 hat weſentlich den-

ſelben Satz. Der Franzöſiſche

Code civil art. 1174 giebt dem-

ſelben einen viel zu weit gehen-

den Ausdruck, wodurch nament-

lich alle Conventionalſtrafen aus-

geſchloſſen ſeyn würden.

(i) L. 7 pr. de contr. emt. (18.

1.), L. 13 C. eod. (4. 38.) — Es

iſt eine ganz einzelne Ausnahme

dieſer Regel, daß der Kauf ad

gustum, alſo auf einſeitige (je-

doch nur die Güte der Sache be-

treffende) Willkühr des Käufers

geſchloſſen werden kann. L. 34

§ 5 de contr. emt. (18. 1.), § 4

J. de emtione (3. 23.).

(k) L. 43 § 2 de leg. 1 (30.

un.). „Legatum in aliena vo-

luntate poni potest, in heredis

non potest.” (Vgl. jedoch unten

9*

|0144 : 132|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Anders wenn die Bedingung auf eine äußere Handlung

des Verpflichteten geſtellt iſt, wenngleich dieſe ganz von

der Willkühr abhängen mag. So waren alſo zu allen

Zeiten die höchſt wichtigen Conventionalſtrafen gültig, deren

Wirkſamkeit lediglich auf dieſem Grunde ruht. Das le-

gatum poenae nomine freylich war im älteren Recht nicht

gültig (l), und erſt Juſtinian hat daſſelbe zugelaſſen (m).

Das lag aber nicht an der allgemeinen Natur einer Be-

dingung von der oben beſchriebenen Art, ſondern daran,

daß man es für unwürdig hielt, den Schein der Liberali-

tät (die ja das Weſen des Legats ausmacht) anzunehmen,

da wo blos auf den Willen des Erben durch die Drohung

eines Geldverluſtes gewirkt werden ſollte (n). Daher wäre

es ganz irrig, jede von dem bloßen Willen des Erben

abhängige Bedingung ſtets für ein legatum poenae nomine

zu halten. Dieſes hieng vielmehr ganz von der indivi-

duellen Prüfung der Abſicht ab (o), und fand es ſich, daß

 

Note t). L. 11 § 7 de leg. 3

(32. un.). — Waren unbeſtimmtere

Ausdrücke gebraucht, z. B. si ae-

stimaverit, si justum putaverit,

ſo legte man dieſe als nichtsſa-

gende Höflichkeit gegen den Er-

ben aus (nicht als Bedingung),

und erhielt ſo das Legat aufrecht.

L. 75 pr. de leg. 1 (30. un.),

L. 11 § 7 de leg. 3 (32. un.).

Noch leichter wurde es hierin mit

den Fideicommiſſen genommen.

L. 46 pr. § 3. 4 de fideic. lib.

(40. 5.), deren Ausdrücke aller-

dings etwas ſchwankend ſind.

(l) Gajus Lib. 2 § 235, Ul-

pian. XXIV. 17, XXV. 13.

(m) L. un. C. de his quae poe-

nae (6. 41.), § 35. 36 J. de leg a-

tis (2. 20.).

(n) Göschen observ. jur. Rom.

Berolini 1811. 8. p. 52 — 59.

(o) L. 2 de his quae poenae

(34. 6.). „Poenam a conditione

voluntas testatoris separat, et

an poena, an conditio .. sit, ex

voluntate defuncti apparet.”.

|0145 : 133|

§. 117. Bedingung. Arten.

dieſe Abſicht nicht vorzugsweiſe auf eine Bedrohung des

Erben gieng, ſo war die von dem Willen des Erben ab-

hängige Bedingung auch ſchon nach dem älteren Rechte

gültig (p).

3) Beruht endlich die Erfüllung der Bedingung auf

der freyen Handlung eines Dritten, ſo ſind die Verträge

von den Teſtamenten zu unterſcheiden.

 

Die Gültigkeit eines Vertrags von der bloßen Ein-

willigung eines Dritten abhängig zu machen, hat nicht

das geringſte Bedenken, da Derſelbe ein mögliches Intereſſe

haben kann, den Vertrag zu verhindern, welches beide

Theile zu ſchonen geneigt ſeyn möchten.

 

Anders bey Erbeinſetzungen und Legaten, in welchen

der Teſtator gewiſſermaßen als Geſetzgeber auftritt (q).

Dieſer ſoll aus eigner Ueberzeugung von der Würdigkeit

der durch ihn bedachten Perſonen verfügen, und nicht frem-

den Willen walten laſſen. Daher iſt die Erbeinſetzung und

das Legat ungültig, wenn dieſelben von dem bloßen Wil-

len eines Dritten abhängig gemacht werden (r). Bey Fi-

deicommiſſen fällt jener, in der formellen Stellung des

Teſtators liegende Grund weg, und daher koͤnnen ſie auch

 

(p) L. 3 de leg. 2 (31. un.),

in welcher daher keine Interpo-

lation vorauszuſetzen iſt, wie denn

auch keine Spur einer ſolchen er-

ſcheint.

(q) Ulpian. XXI. und XXIV. 1.

(r) L. 68 de her. inst. (28. 5.),

L. 52 de cond. (35. 1.). — Man-

che glauben, dieſe Regel ſey auf-

gehoben in C. 13 X. de test. (3.

26.). Dieſe Meynung iſt aber

gründlich widerlegt in der Anmer-

kung von Böhmer zu dieſer

Stelle. Vergl. Sell Verſu-

che II. 290.

|0146 : 134|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

geradezu von dem Willen eines Dritten abhängig gemacht

werden (s). — Beſteht dagegen die Bedingung in einer

materiellen Handlung jenes Dritten, ſo iſt ſowohl die Erb-

einſetzung oder das Legat ſelbſt, als auch die hinzugefügte

Bedingung, voͤllig gültig (t).

Faſſen wir alle dieſe Beſtimmungen in einem gemein-

ſamen Ueberblick zuſammen, ſo ergiebt ſich, daß in den

meiſten Fällen die auf den bloßen Willen (eines Betheilig-

ten oder eines Dritten) geſtellte Bedingung entweder ſelbſt

wirkungslos iſt, oder das ganze Rechtsgeſchäft ungültig

macht. Dagegen iſt, wiederum in den meiſten Fällen, die

Bedingung gültig und wirkſam, wenn ſie auf eine mate-

rielle Handlung gerichtet iſt, mag auch dieſe lediglich von

der Willkühr der Perſon abhängen, und vielleicht nur dazu

dienen, jene beſchränkende Rechtsregel zu umgehen (Note t).

Auch in dieſer Beziehung alſo gilt der oben (§ 116) in

 

(s) L. 46 § 2 de fid. lib. (40.

5.). Conſequent wäre es gewe-

ſen, dieſes freye Recht der Fidei-

commiſſe auch auf die Erbein-

ſetzung auszudehnen, nach L. 15

C. de test. (6. 23.), allein die in

die Digeſten aufgenommenen Stel-

len (Note r) ſtehen entgegen. Da-

gegen müſſen wir es wohl auf

Legate anwenden, weil zwiſchen

dieſen und Fideicommiſſen aller

Unterſchied gänzlich aufgehoben iſt.

(t) L. 68 de her. inst. (28. 5.),

L. 52 de cond. (35. 1.). We-

ſentlich daſſelbe ſagt auch L. 1 pr.

de leg. 2 (31. un.), die nur dar-

auf aufmerkſam macht, daß der

Teſtator durch eine ſolche indi-

recte Form das geſetzliche Ver-

bot leicht umgehen könne. Das

war aber unvermeidlich, wenn

nicht über Gebühr die Willens-

freyheit beſchränkt werden ſollte,

da der als Bedingung vorgeſchrie-

benen Handlung des Dritten nie

mit Sicherheit anzuſehen iſt, ob

ſie um eines materiellen Intereſſe

willen, oder zum Zweck jener Um-

gehung, gewählt wurde.

|0147 : 135|

§. 118. Bedingung. Regelmäßige Erfüllung.

einem andern Sinn gebrauchte Ausſpruch: Expressa no-

cent, non expressa non nocent (u).

C. Die wichtigſte Eintheilung der Bedingungen betrifft

die Art der Einwirkung, die ſie auf das Rechtsverhältniß

haben ſollen; es iſt die Eintheilung in ſuspenſive und

reſolutive, welche weiter unten (§ 120) dargeſtellt wer-

den wird.

 

§. 118.

III. Willenserklärungen. — Bedingung. Regelmäßige

Erfüllung.

Bey der Unterſuchung, wie eine Bedingung gemeynt

ſey, worin alſo regelmäßig ihre Erfüllung beſtehen müſſe,

iſt überall auf die Abſicht des Urhebers der Bedingung,

mehr als auf den wörtlichen Ausdruck, zu ſehen (a).

 

(u) L. 52 de cond. (35. 1.),

L. 195 de R. J. (50. 17.) (die

aus jener Stelle excerpirt iſt),

L. 68 de her. inst. (28. 5.). —

Am meiſten Gleichförmigkeit fin-

det ſich hierin bey den Teſtamen-

ten, in welchen (mit Ausnahme

des alten Verbots der legata

poenae nomine) Nichts darauf

ankommt, ob die Bedingung auf

die freye Handlung des Berech-

tigten, des Verpflichteten, oder

eines Dritten geht. In dieſen

drey Fällen nämlich iſt der als

Bedingung ausgedrückte bloße

Wille meiſt entweder wirkungs-

los, oder für die Verfügung ſelbſt

vernichtend. Dagegen iſt die ma-

terielle freye Handlung als Be-

dingung wirkſam. Dieſer behaup-

teten Gleichheit der drey Fälle

ſcheint zu widerſprechen L. 43

§ 2 de leg. 1 (30. un.), ſ. oben

Note k. Ohne Zweifel entſteht

dieſer Schein aus der Weglaſ-

ſung eines urſprünglichen Theils

der Stelle, welche durch das ver-

änderte Recht der legata poe-

nae nomine veranlaßt ſeyn dürfte.

(a) L. 19 pr. de cond. (35. 1.),

L. 101 pr. eod. „… cum in con-

ditionibus testamentorum vo-

luntatem potius quam verba

considerari oporteat” … Was

hier von Teſtamenten geſagt iſt,

ſoll gewiß auch von Verträgen

|0148 : 136|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Bey poſitiven Bedingungen (§ 117. A.) kann die Na-

tur des darin geforderten Ereigniſſes verſchieden ſeyn. Iſt

dieſes von ſolcher Art, daß es ſich nicht oft und leicht

wiederholt, ſo iſt es genug, daß es irgend einmal geſchehe,

alſo bey Teſtamenten auch wenn es während des Lebens

des Teſtators geſchieht, z. B. „wenn der Erbe heurathet,“

„wenn er Conſul wird“. Nur wenn es ſchon vor dem

Teſtament geſchah, und der Teſtator dieſes weiß, iſt eine

ſpätere Wiederholung erforderlich. — Bey ſolchen Ereig-

niſſen dagegen, deren Natur eine öftere und willkührliche

Wiederholung zuläßt, z. B. Zahlung einer beſtimmten Summe

an eine beſtimmte Perſon (conditio promiscua), iſt die Voll-

ziehung der Handlung nach des Teſtators Tod (als Be-

weis des Gehorſams) nöthig, ſelbſt wenn dieſelbe Hand-

lung zufällig ſchon früher einmal geſchehen ſeyn ſollte (b).

 

Bey Verträgen iſt es gleichgültig, ob die Erfüllung

vor oder nach dem Tode des Glaubigers eintritt, ſo daß

das bedingte Recht ſtets auf die Erben übergeht (c). An-

ders bey Teſtamenten, wegen der hoͤchſt perſönlichen Natur

der darin enthaltenen Succeſſionen, ſo daß der bedingte

Erbe oder Legatar die Erfüllung der Bedingung erleben

muß, wenn dieſe überhaupt Etwas wirken ſoll (d).

 

gelten, nur mit Ausnahme der

Stipulation, die wir aber nicht

mehr haben.

(b) L. 11 pr. § 1 de cond.

(35. 1.), L. 45 § 2 de leg. 2

(31. un.), L. 7 C. de inst. et

subst. (6. 25.).

(c) § 4 J. de verb. oblig. (3. 15.).

(d) L. 1 § 1. 2 de cond. (35.

1.), L. un. § 7 C. de caducis

toll. (6. 51.). Darum eben iſt

es ſo wichtig, die wahren von

den Scheinbedingungen zu unter-

ſcheiden (§ 116). — Sogar wird

|0149 : 137|

§. 119. Bedingung. Regelmäßige Erfüllung.

Negative Bedingungen (§ 117. A.) können auf folgende

verſchiedene Arten in Erfüllung gehen.

 

Zuerſt (wenn ſie auf eine beſtimmte Zeit beſchränkt

ſind), ſobald dieſe Zeit abgelaufen iſt, ohne daß darin das

Ereigniß eingetreten war.

 

Ferner dadurch, daß das Ereigniß unmöglich wird,

z. B. indem der Sklave ſtirbt, deſſen Nichtfreylaſſung die

Bedingung eines Rechts war.

 

Endlich durch den Tod des Berechtigten, ohne daß

Derſelbe die ihm durch die Bedingung unterſagte Hand-

lung vorgenommen hat (e). Zur Erleichterung der Erben

und Legatare, deren Recht an eine negative Bedingung

gebunden iſt, wird die Muciana cautio zugelaſſen, wodurch

ſie ſogleich in den Genuß der ihnen zugedachten Rechte

durch Stellung einer Caution gelangen können, indem dieſe

die Rückgabe des Empfangenen für den Fall künftiger Ver-

letzung der Bedingung ſichert (f).

 

einmal die Benennung creditor

dem bedingten Legatar abgeſpro-

chen, dem bedingten Stipulator

beygelegt (L. 42 pr. de O. et A.

44. 7.); jedoch iſt ſie auch bey die-

ſem letzten nur in beſchränkten

Beziehungen zuzulaſſen.

(e) Gewöhnlich alſo hat eine

negative Bedingung dieſelbe Wir-

kung, wie wenn es hieße: zur

Zeit des Todes. § 4 J. de verb.

oblig. (3. 15.), L. 73 de cond.

(35. 1.). — Vgl. L. 103 de cond.

(35. 1.), L. 61 pr. de manum.

test. (40. 4.).

(f) L. 7 L. 73 de cond. (35. 1.).

|0150 : 138|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

§. 119.

III. Willenserklärungen. — Bedingung. Fingirte

Erfüllung (a).

In drey Fällen wird, vermittelſt einer Fiction, die un-

erfüllte Bedingung als erfüllt angeſehen und behandelt;

der Grund dieſer Fiction liegt wiederum in der ſchon oben

(§ 118. a.) erwähnten Regel einer freyen, auf Billigkeit

gegründeten, Auslegung und Anwendung der Bedingungen.

Zwey dieſer Fälle werden ſchon in den Rechtsquellen aus

urſprünglichen und natürlichen Regeln abgeleitet; ſie ſind

auf Verträge und Teſtamente gleich anwendbar, wiewohl

die häufigſte Anwendung allerdings bey Teſtamenten vor-

kommt. Die Fiction für den dritten Fall wird dagegen

als eine ganz poſitive Rechtsregel dargeſtellt, ſie iſt ent-

ſprungen aus der Begünſtigung der Freylaſſungen, und

nur anwendbar bey Teſtamenten. Es iſt wichtig, die drey

Regeln über dieſe Fictionen gerade in dem hier angegebe-

nen Verhältniß zu einander aufzufaſſen, welches von neue-

ren Schriftſtellern öfter vernachläſſigt worden iſt.

 

A. Die Bedingung gilt als erfüllt, wenn Derjenige,

auf deſſen Vortheil die Erfüllung berechnet iſt, darauf frey-

willig verzichtet. Man kann dieſes ſo ausdrücken: quo-

tiens per eum, cujus interest conditionem impleri, fit quo

minus impleatur (b). Dieſer Satz wird dem jus commune

 

(a) Vgl. Donellus VIII. 34.

(b) L. 5 § 5 quando dies (36.

2.), L. 78 pr. de cond. (35. 1.),

L. 14. 31 eod., L. 23 de cond.

inst. (28. 7.), L. 11 eod., L. 34

§ 4 de leg. 2 (31. un.), L. 1 C.

de his quae sub modo (6. 45.),

Ulpian. II. § 6 „.. si is, cui jus-

|0151 : 139|

§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.

zugeſchrieben, und er gründet ſich offenbar darauf, daß

der Zweck erreicht iſt, die in der Bedingung vorgeſchriebene

Handlung mag wirklich geſchehen, oder von jener Perſon,

auf welche dabey allein geſehen war, erlaſſen, alſo für

überflüſſig erklärt werden. Beſonders einleuchtend iſt Die-

ſes bey einer auf ein Geben gerichteten Bedingung; denn

wollte man hier auch auf der buchſtäblichen Vollziehung,

ungeachtet des Verzichts, beſtehen, ſo würde doch den

Empfänger Nichts abhalten koͤnnen, das empfangene Geld

ſogleich wieder zurück zu geben. Allein der Satz iſt keines-

weges auf dieſen, beſonders unzweifelhaften, Fall einge-

ſchränkt; vielmehr gilt er auch bey der Bedingung, eine

beſtimmte Frau zu heurathen, wenn Dieſe die Ehe aus-

ſchlägt (c): eben ſo bey der Bedingung der Arrogation,

die der zu Arrogirende verweigert (d), oder der öffentlichen

Aufſtellung von Bildſäulen, die von der Stadtgemeinde

nicht zugelaſſen wird (e).

Überall wird alſo bey dieſer Fiction eine mixta con-

ditio (§ 117. e.) vorausgeſetzt, deren Erfüllung durch den

Willen einer beſtimmten Perſon (nicht durch zufällige Um-

ſtände) verhindert wird (f). Unter dieſer Vorausſetzung

 

sus est dare .. nollet accipere.”

— Das Preußiſche A. L. R., Th. 1

Tit. 4 § 112. 113 beſtimmt gerade

das Gegentheil von dieſer Regel.

(c) L. 23 de cond. inst. (28.

7.), L. 31 de cond. (35. 1.), L. 1

C. de his quae sub modo (6. 45.).

(d) L. 11 de cond. inst. (28. 7.).

(e) L. 14 de cond. (35. 1.).

(f) Wenn alſo die Bedingung

der Ehe mit einer beſtimmten Frau

deswegen unerfüllt bleibt, weil

dieſe Frau die Ehe verſagt, ſo

gilt ſie als erfüllt: wenn dage-

gen durch den früheren Tod der

Frau die Ehe unmöglich iſt, ſo

tritt die Fiction nicht ein, und

das Legat iſt verloren. Eben ſo in

|0152 : 140|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

aber muß der Satz bey Verträgen ebenſowohl gelten, als

bey Teſtamenten, und es iſt daher als ganz zufällig an-

zuſehen, daß in unſeren Rechtsquellen nur bei Teſtamenten

Erwähnung davon geſchieht; dieſes mag daher entſtehen,

daß bey Verträgen dieſe Fiction faſt immer mit der fol-

genden zweyten zuſammen fallen wird, ſo daß ſie dann

in ihrer Eigenthümlichkeit nicht wahrzunehmen iſt.

B. Die Bedingung gilt ferner als erfüllt, wenn Der-

jenige die Erfüllung verhindert, der aus der Nichterfüllung

Vortheil zieht. Unſre Rechtsquellen ſelbſt drücken dieſen

Satz ſo aus: Jure civili receptum est, quotiens per eum,

cujus interest conditionem non impleri, fiat, quo minus

impleatur, perinde haberi, ac si impleta conditio fuisset (g).

 

anderen, ähnlichen Fällen. L. 31

L. 94 pr. de cond (35. 1.), L. 23

§ 2 ad L. Aquil. (9. 2.), L. 72

§ 7 de cond. (35. 1.), L. 4 C.

de cond. (6. 46.).

(g) L. 161 de R. J. (50. 17.),

L. 24 de cond. (35. 1.), L. 85

§ 7 de verb. oblig. (45. 1.), L. 50

de contr. emt. (18. 1.) — L. 5

§ 5 quando dies (36. 2.), L. 66.

81. 110 de cond. (35. 1.). L 3,

L. 4 § 4, L. 20, L. 23 § 1, L. 34

§ 1 de statulib. (40. 7.), L. 3

§ 9 de cond. causa data (12. 4.).

— Ulpian. II. § 5, Festus v. Sta-

tuliberi. — Die zwey erſten un-

ter den hier angeführten Stellen

ſind faſt ganz wörtlich gleichlau-

tend. In der erſten iſt die Leſe-

art non impleri ſicher, in der

zweyten (L. 24. de cond.) leſen

die Handſchriften theils non im-

pleri, theils (wie die Flor.) im-

pleri (ohne non). Nach dieſer letz-

ten Leſeart würde die Stelle nicht

auf die zweyte, ſondern auf die

erſte Fiction gehen, und ihr Inhalt

wäre dann ein anderer, aber nicht

minder wahr und gewiß. Jedoch

entſcheidet für die Leſeart non

impleri nicht nur die übrigens

wörtliche Übereinſtimmung beider

Stellen, ſondern auch das am

Schluß angeführte Beyſpiel von

dem die Erfüllung verhindernden

promissor; denn dieſes Beyſpiel

paßt nur zu non impleri, das

heißt zu der zweyten Fiction, da

man von dem promissor nur ſa-

gen kann, daß er durch die Nicht-

erfüllung allgemein Vortheil habe

(nämlich nicht Schuldner werde),

anſtatt daß er durch die Erfül-

lung gar nicht immer Vortheil

|0153 : 141|

§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.

Auch dieſe Fiction wird als eine natürliche Regel be-

trachtet. Der Grund derſelben liegt in dem Dolus Des-

jenigen, der aus Eigennutz den durch die Willenserklärung

in die Bedingung gelegten Charakter der Zufälligkeit und

Ungewißheit aufhebt; dieſer Dolus ſoll ihm keinen Vortheil

bringen (h).

 

Sie gilt nicht blos bey Bedingungen, die auf freyen

Handlungen beruhen, ſondern auch bey der casualis con-

ditio, da bey dieſer ein poſitives Entgegenwirken durch

menſchliche Willkühr wohl denkbar iſt.

 

Die Perſon, durch deren hindernde Einwirkung die

Fiction begründet wird, iſt oft dieſelbe, welche in der er-

ſten Fiction erwähnt war (i), oft auch eine andere (k).

 

hat, ſondern nur in dem beſon-

deren Fall, da die Bedingung ge-

rade in einer an ihn zu entrich-

tenden Leiſtung beſteht. — Der-

ſelbe Rechtsſatz findet ſich auch in

dem Franzöſiſchen Code civil art.

1178, und in dem Preußiſchen

A. L. R. Th. 1 Tit. 4 § 104—107

(doch hier mit Beſchränkungen).

(h) Die hierauf gerichtete Ab-

ſicht alſo iſt das Entſcheidende.

L. 38 de statulib. (40. 7.). „Non

omne ab heredis persona in-

terveniens impedimentum sta-

tulibero pro expleta condi-

tione cedit: sed id dumtaxat,

quod impediendae libertatis

(causa) factum est.” Das Wort

causa fehlt zwar in der Flor.,

ſteht aber in allen anderen Hand-

ſchriften, und iſt ſchon durch die

Conſtruction ganz unentbehrlich.

— In vielen Fällen wird von ei-

nem ſolchen Dolus gar nicht die

Rede ſeyn können, und dann wird

auch nicht die Erfüllung fingirt.

So z. B. wenn Einer unter ei-

ner Conventionalſtrafe eine Un-

terlaſſung verſpricht, und nun

wirklich unterläßt, ſo iſt blos ſein

freyer Wille Urſache der vereitel-

ten Bedingung der Strafe; den-

noch braucht er nicht die Strafe

zu zahlen, weil ſein Unterlaſſen

gerade der Zweck des Vertrags

war.

(i) So z. B. wenn der Teſta-

tor einen Sklaven frey läßt, un-

ter der Bedingung dem Erben

100 zu zahlen. Verweigert der

Erbe die Annahme, weil er dem

Sklaven die Summe erlaſſen will,

ſo tritt die erſte Fiction ein: ver-

weigert er die Annahme, um die

Freyheit zu hindern, die zweyte.

(k) So z. B. wenn die Bedin-

|0154 : 142|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Dieſe Fiction endlich gilt nicht nur bey Teſtamenten,

ſondern auch bey Verträgen, und dieſe zweyte Art der

Anwendung wird hier in unſren Rechtsquellen ausdrücklich

erwähnt (l).

 

C. Eine ganz andere Natur hat die dritte Fiction,

welche nicht auf einer, aus allgemeineren Grundſätzen ab-

geleiteten, Rechtsregel beruht, ſondern auf der bloßen Be-

günſtigung der Freyheit, folglich auch den Charakter eines

ganz poſitiven Rechtsſatzes, eines jus constitutum oder

singulare (§ 16. q.) an ſich trägt. Wenn nämlich ein

Sklave durch letzten Willen, direct oder fideikommiſſariſch,

freygelaſſen wird unter einer mixta conditio, und wenn

derſelbe von ſeiner Seite zur Erfüllung bereit iſt, auch

alle von ihm erwartete Mittel zur Erfüllung in Bereit-

ſchaft hat, nun aber die Erfüllung durch eine äußere Ur-

ſache verhindert wird, ſo gilt die Bedingung dennoch als

erfüllt, und der Sklave wird frey (m). Dieſes geſchieht

alſo namentlich in dem Fall, wenn der Sklave einer be-

 

gung der Freyheit darin beſteht,

daß der Sklave einem Dritten

100 zahle. Hier tritt die erſte

Fiction ein, wenn der Dritte die

Annahme verweigert: die zweyte,

wenn der Erbe dem Sklaren die

Zahlung verbietet. L. 3 § 2 de

statulib. (40 7.). Vgl. L. 3 § 9

de cond. causa data (12. 4.).

(l) Vgl. die vier erſten unter

den in Note g angeführten Stellen.

(m) L. 20 § 3. 4, L. 19, L. 3

pr. § 8. 10. 11, L. 4 § 2. 5, L. 5

pr., L. 28 pr. de statulib. (40.

7.), L. 55 pr. § 1. 2 de manum.

test. (40. 4.), L. 94 pr. § 1 de

cond. (35. 1.). — Ulpian. II. § 6

„si paratus sit dare, et is cui

jussus est dare … moriatur.”

Ulpian hat in den §§ 5 und 6 un-

ſre drey Fictionen neben einan-

der (ſ. o. Note b und g), ohne ſie

genau zu unterſcheiden, was auch

in dem Fall des statuliber, von

welchem allein er hier ſpricht, gar

nicht nöthig war.

|0155 : 143|

§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.

ſtimmten Perſon Geld zahlen ſollte, und Dieſe vor dem

Empfang ſtarb, der Sklave aber das Geld bereit hatte (n).

Es wird aber in unſren Rechtsquellen die hierin liegende

poſitive Begünſtigung der Freyheit ausdrücklich bemerkt,

und zwar gerade im Gegenſatz der Legate. Wenn alſo

demſelben Sklaven, unter derſelben mixta conditio, ſowohl

die Freyheit, als ein Legat hinterlaſſen iſt, ſo wird er in

dem oben bezeichneten Fall zwar frey, bekommt aber den-

noch das Legat nicht (o).

Aber ſelbſt dieſe Begünſtigung der Freyheit ſollte doch

nur innerhalb der hier bezeichneten Gränzen eintreten. Ge-

ſetzt alſo der Sklave kann die Mittel zur Erfüllung nicht

herbeyſchaffen, ſo wird er nicht frey, ſelbſt wenn ihm da-

bey keine Verſchuldung zur Laſt fällt (p). Eben ſo darf

die Begünſtigung nicht ausgedehnt werden auf die casualis

conditio, wobey ja von einer Bereitſchaft des Sklaven

gar nicht die Rede ſeyn kann (q).

 

(n) Auch hierin wurde die Be-

günſtigung allmälig erweitert. An-

fangs ſollte es nur gelten, wenn

jene Perſon den Teſtator über-

lebte; dann ließ man es auch zu,

wenn ſie vor dem Teſtator ver-

ſtorben war. L. 39 § 4 de sta-

tulib. (40. 7.). (Starb ſie ſelbſt

vor Abfaſſung des Teſtaments, ſo

war die Bedingung unmöglich,

alſo wie nicht geſchrieben. Vgl.

§ 121).

(o) L. 20 § 3 de statulib. (40.

7.).

(p) L. 3 § 5. 8, L. 4 § 6, L. 5

§ 1 de statulib. (40. 7.). — Et-

was beſonderes iſt ſpäterhin be-

ſtimmt worden für den Fall, da

er das Geld überbringt, aber auf

dem Wege durch Räubergewalt

verliert. Hier wird er ſogleich

frey, und die Bedingung wird in

einen Modus verwandelt, ſo daß

er ſie nachträglich erfüllen muß.

L. 7 C. de cond. insertis (6. 46.).

(q) L. 4 § 7 de statulib. (40.

7.), L. 96 pr. de cond. (35. 1.).

— Beſteht die caſuelle Bedingung

|0156 : 144|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Dieſe letzte Fiction iſt an ſich ſelbſt für das heutige

Recht gleichgültig; ſie iſt aber wichtig, weil ſie zur Be-

ſeitigung der mancherley Irrthümer dienen kann, die von

den Neueren in dieſe Lehre eingemiſcht werden. So neh-

men Manche an, das zufällige Hinderniß der Erfüllung

ſchade nicht, wenn es vor dem Tode des Teſtators ein-

trete. Andere, es ſchade nicht, wenn es eine Poteſtativ-

bedingung betreffe, ſondern nur wenn eine gemiſchte da-

durch unerfüllt bleibe. Alles ohne Grund, und der wahren

Natur der Bedingungen ganz entgegen. Dieſe Irrthümer

ſind entſtanden, indem man theils die ganz ſinguläre Be-

günſtigung der Freylaſſung auf Erbeinſetzungen und Legate

willkührlich übertragen, theils indem man die in den Rechts-

quellen, für dieſe Begünſtigung ſelbſt, gezogenen ſcharfen

Gränzen verkannt hat. Allen dieſen Irrthümern liegt die

mehr oder weniger dunkle Vorausſetzung zum Grunde, es

komme bey der potestativa und mixta conditio nur auf die

Bereitwilligkeit und Schuldloſigkeit des Handelnden an,

 

darin, daß der Verpflichtete, oder

daß ein Dritter ein gewiſſes Le-

bensjahr erreiche, und ſtirbt Der-

ſelbe vor dieſem Jahr, ſo wird,

durch begünſtigende Interpreta-

tion, die conditio in einen dies

certus verwandelt, und der Sklave

wird frey an dem Tage, an wel-

chem Jener, bey fortdauerndem

Leben, das beſtimmte Jahr er-

reicht haben würde. L. 16 de

manum test. (40. 4.), L. 19 de

statulib. (40. 7.), L. 23 § 3, L. 41

§ 10 de fideic. lib. (40. 5.), L. 10

C. eod. (7. 4.). Für Legate gilt

dieſes nicht. Vgl. unten § 125. —

Wiederum etwas Beſonderes gilt

für den Fall, wenn der Sklave

pure zum Erben eingeſetzt, und

unter einer caſuellen Bedingung,

die deficirt, freygelaſſen iſt. Hier

wird er ſogleich frey, bekommt

aber die Erbſchaft nur wenn ſie

inſolvent iſt. L. 6 C. de neces-

sariis (6. 27.).

|0157 : 145|

§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.

und äußere Hinderniſſe der Erfüllung ſchadeten nicht. Die-

ſes iſt ausnahmsweiſe wahr in den Fällen der oben dar-

geſtellten drey Fictionen, in allen anderen Fällen iſt es

nicht wahr, und es iſt grundfalſch, es in irgend einer Ge-

ſtalt zur Regel erheben zu wollen.

Ich will aber noch einige einzelne Beſtimmungen an-

führen, welche, durch Misverſtändniß über ihre wahre Na-

tur, zur Befeſtigung jener Irrthümer beygetragen haben.

 

1) Wenn ein Teſtament die Erfüllung einer Bedingung

vor einem beſtimmten Tage vorſchreibt, der Erbe oder

Legatar aber die Erfüllung unterläßt, weil wegen des Sc.

Silaniani das Teſtament vor jenem Tage gar nicht eröffnet

wurde, ſo bekommt er Reſtitution gegen dieſe Verſäumniß (r).

Dieſer Fall gehört unter die (nicht häufigen) Reſtitutionen

wegen Unwiſſenheit, und gerade daß eine ſolche Reſtitution

möglich und nöthig gefunden wird, iſt ein Beweis dafür,

daß die regelmäßige Natur der Bedingung auf einen ent-

gegengeſetzten Erfolg führen mußte. Die einleuchtende

Rechtfertigung der Reſtitution liegt aber darin, daß die

Unwiſſenheit eine nothwendige Folge der Befolgung einer

geſetzlichen Vorſchrift war.

 

2) Werden Alimente oder Jahrgelder hinterlaſſen unter

der Bedingung, daß der Legatar ſeinen ſteten Aufenthalt

in der Nähe einer beſtimmten Perſon habe, und ſtirbt

dieſe Perſon, ſo dauert dennoch das Legat fort bis zum

 

(r) L. 3 § 31 de Sc. Silan. (29. 5.). Vgl. Beylage VIII. Num. XXIX.

am Ende.

III. 10

|0158 : 146|

Buch. II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Tode des Legatars, obgleich er die Bedingung nicht mehr

erfüllen kann (s). Dieſes beruht auf einer begünſtigenden

Auslegung ſolcher Legate, als ob der Bedingung des Auf-

enthalts die Worte hinzugefügt wären: „ſo lange dieſe

Perſon lebt“. Dieſes gehört alſo zur Interpretation der

Legate, und zwar in einem Fall, deſſen Natur ohnehin zu

einer Behandlung nach Milde und Billigkeit auffordert:

die Natur der Bedingungen und ihrer Erfüllung hat damit

Nichts zu ſchaffen.

3) Wird ein Legat gegeben unter der Bedingung, daß

der Legatar nach dem Gutfinden des Titius heurathe, und

ſtirbt Titius vor dem Teſtator, ſo iſt dennoch das Legat

gültig, obgleich die Bedingung unerfüllt bleiben muß. Al-

lein dieſe Bedingung ſoll, als unſittlich, ohnehin nicht be-

achtet werden, ſelbſt wenn Titius noch lebte; alſo kann

natürlich auch deſſen Tod hierin Nichts ändern (t).

 

4) Das Legat unter der Bedingung eines Eides, den

Sklaven Stichus zu manumittiren, iſt gültig, auch wenn

die Manumiſſion durch den Tod dieſes Sklaven unmöglich

wird. Das gründet ſich aber darauf, daß die Bedingung

des eidlichen Verſprechens einer Handlung überhaupt nicht

als Bedingung gelten ſoll; vielmehr wird dann die Hand-

lung ſelbſt als Modus behandelt, und durch deſſen Un-

 

(s) L. 20 pr. de annuis (33.

1.), L. 20 § 3 de alim. (34. 1.),

L. 84 de cond. (35. 1.), L. 1 C.

de leg. (6. 37.). — Vergl. auch

L. 18 § 2 de alim. (34. 1.).

(t) L. 72 § 4 L. 28 pr. de

cond. (35. 1.), L. 54 § 1 de leg. 1

(30. un.) (ſ. u. § 123. c).

|0159 : 147|

§. 119. Bedingung. Fingirte Erfüllung.

möglichkeit kann niemals die Gültigkeit des Legats gehin-

dert werden (u).

5) Zwey Brüder werden zu Erben eingeſetzt, ſo daß

Derjenige, welchen die Seja zum Ehegatten erwählt, Zwey

Drittheile, der Andere Ein Drittheil der Erbſchaft erhalten

ſoll. Stirbt Seja vor der Wahl, ſo ſind dennoch Beide

Erben, und zwar Jeder zur Hälfte (v). Allein hier war

die Erbeinſetzung ſelbſt unbedingt, und nur die Ungleich-

heit der Portionen bedingt. Da die Bedingung unerfüllt

blieb, ſo fällt dieſe Ungleichheit weg, und es bleibt bey

der regelmäßigen Gleichheit, wie wenn gar keine Portio-

nen ausgedrückt wären.

 

6) Das Cap. 66 de Reg. juris in VI. iſt ſo allgemein

und unbeſtimmt gefaßt, daß es offenbar nicht dazu dienen

kann, die Regeln des Römiſchen Rechts abzuändern, ſon-

dern nur in Erinnerung zu bringen. Es muß daher dieſe

Stelle als eine, nur etwas zu allgemein ausgedrückte, An-

erkennung der erſten und zweyten oben dargeſtellten Fiction

angeſehen werden. Dieſe Auffaſſung iſt dem allgemeinen

Charakter des ganzen Titels angemeſſen, worin ſich jene

einzelne Stelle befindet.

 

7) Die bedenklichſte Stelle endlich, und die vorzüglich

 

(u) L. 8 § 7 de cond. inst.

(28. 7.), vgl. mit § 8 eod. und

mit L. 26 pr. de cond. (35. 1.),

ſo daß alſo nur der Ausdruck

conditio in dem § 7 (ſo wie in

gar manchen anderen Stellen)

uneigentlich gebraucht iſt. Vgl.

Donellus VIII. 34 § 7. Avera-

nius Interpr. II. 24 Num. 28. 29.

— Vgl. auch unten § 123. s.

(v) L. 24 de cond. inst. (28. 7.).

10*

|0160 : 148|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

zu den oben gerügten Irrthümern beygetragen hat, iſt

L. 54 § 2 de leg. 1. (30. un.).

Sed et si servi mors impedisset manumissionem, cum

tibi legatum esset, si eum manumisisses: nihilo minus

debetur tibi legatum, quia per te non stetit quo minus

perveniat ad libertatem.

 

Sollte nun wohl dieſe einzige Stelle Dasjenige zweifel-

haft machen können, was in ſo vielen anderen einſtimmig

anerkannt iſt? Dann wäre ja die oben dargeſtellte dritte

Fiction keine ſinguläre Begünſtigung der Freyheit, und es

beſtände nicht in dieſer Hinſicht der Gegenſatz zwiſchen

Legat und Freylaſſung, der doch von mehreren alten Ju-

riſten ſo ſcharf und beſtimmt hervorgehoben wird (Note m.

und o.). Durch die geringe Veränderung eines einzigen

Buchſtabens ließe ſich der Widerſpruch heben, wenn an-

ſtatt mors geleſen würde mora, ſo daß die servi mora,

das heißt das aus ſeinem widerſtrebenden Willen hervor-

gehende Hinderniß (z. B. indem er ſich verſteckte oder ent-

fernte) der wirklichen Erfüllung im Wege ſtände. Nun

würde die Bedingung als erfüllt gelten müſſen, weil die

erſte unter den drey dargeſtellten Fictionen anwendbar

wäre (w).

 

(w) Die Art, wie Donellus

VIII. 34 § 9 dieſen Fall als ein-

zelne Ausnahme zu beſeitigen ſucht,

ſcheint mir gezwungen und will-

kührlich. — Sell Verſuche im

Gebiete des Civilrechts Th. 2

S. 228. 232 nimmt an, bey rei-

nen Poteſtativbedingungen ſchade

die Nichterfüllung wegen eines

äußeren Hinderniſſes nicht, die

Bedingung si Stichum manumi-

serit ſey aber eine ſolche. Schon

der aufgeſtellte Grundſatz ſelbſt

gehört in die Reihe der oben ge-

|0161 : 149|

§. 120. Bedingung. Regelmäßige Wirkung.

§. 120.

III. Willenserklärungen. — Bedingung. Regel-

mäßige Wirkung.

Indem nunmehr die regelmäßige Wirkung der Bedin-

gungen darzuſtellen iſt, muß die ſchon oben (§ 117) an-

gedeutete wichtigſte Eintheilung in Erinnerung gebracht,

und jetzt genau dargeſtellt werden. Das allgemeine We-

ſen der Bedingungen wurde in die Abhängigkeit eines

Rechtsverhältniſſes von einem ungewiſſen Ereigniß geſetzt

(§ 116). Dieſe Abhängigkeit aber läßt ſich auf zwiefache

Weiſe denken, indem durch das Ereigniß entweder der

Anfang oder das Ende des Rechtsverhältniſſes beſtimmt

werden ſoll. Unſere Juriſten nennen die Bedingung im

erſten Fall eine ſuspenſive (aufſchiebende), im zweyten

eine reſolutive (auflöſende); in unſren Rechtsquellen

finden ſich Kunſtausdrücke für dieſe Begriffe nicht. Der

erſte Fall iſt übrigens ſo ſehr der häufigere und darum

wichtigere, daß überall, wo von conditio ohne nähere Be-

ſtimmung geredet wird, zunächſt an die ſuspenſive zu den-

ken iſt.

 

Das unter einer ſuspenſiven Bedingung ſtehende

Rechtsverhältniß kann in drey verſchiedenen Zuſtänden ge-

dacht werden. Zunächſt in dem Zuſtand der Unentſchie-

 

rügten willkührlichen Behauptun-

gen; ferner iſt Das, was von

außen verhindert werden kann,

eben darum nicht mehr rein po-

teſtativ; endlich iſt beſonders die

angeführte Bedingung gar nicht

poteſtativ, weil, wenn auch nicht

die Einwilligung des Sklaven,

doch deſſen Gegenwart zur Ma-

numiſſion nöthig iſt, ſo daß er

dieſe durch die Flucht wohl hin-

der n kann.

|0162 : 150|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

denheit, der aus dem Weſen der Bedingung hervorgeht

(pendet conditio). Hier iſt ein Recht noch gar nicht vor-

handen, und es iſt nur das künftige Daſeyn deſſelben von

der Willkühr der Betheiligten mehr oder weniger unabhän-

gig gemacht. — Dieſer Zuſtand kann ſich in Gewißheit

verwandeln auf zweyerley entgegengeſetzte Weiſe. Erſtlich

indem das Ereigniß wirklich eintritt (erfüllte Bedingung,

impleta oder expleta conditio), wodurch das Rechtsver-

hältniß völlig zu Stande kommt, wie wenn es ohne Be-

dingung geweſen wäre (a). Zweytens indem umgekehrt

gewiß wird, daß das Ereigniß nicht eintritt (vereitelte

Bedingung, deficit conditio), wodurch nun die Erwartung

eines Rechtsverhältniſſes ſpurlos verſchwindet.

Die erfüllte Bedingung alſo begründet das Rechts-

verhältniß gerade ſo, wie wenn es unbedingt geweſen wäre,

und für die künftige Zeit iſt dieſe Wirkung unzweifelhaft.

Es fragt ſich aber, ob dieſe Wirkung auch rückwärts, auf

die Zwiſchenzeit zwiſchen dem eingegangenen Rechtsgeſchäft

und der erfüllten Bedingung, zu beziehen iſt? Im Allge-

 

(a) L. 26 de cond. inst. (28.

7.). „… conditione expleta, pro

eo est, quasi pure ei hereditas

vel legatum relictum sit.” Jetzt

alſo kann man erſt ſagen: cessit

dies, das Recht ſelbſt iſt in das

Vermögen gekommen, welches

pendente conditione noch nicht

behauptet werden konnte. L. 213

pr. de verb. sign. (50. 16.). In-

deſſen iſt doch dieſer Begriff und

Kunſtausdruck nicht bey allen

Anwendungen von Erheblichkeit,

worin Bedingungen vorkommen

können, ſondern nur bey Teſta-

menten, und zwar insbeſondere

bey Legaten, deren Übergang auf

die Erben des Legatars davon

abhängt, daß der Legatar den

dies cedens erlebt (§. 116).

|0163 : 151|

§. 120. Bedingung. Regelmäßige Wirkung.

meinen kann dieſe Frage bejaht werden (b), jedoch ſind

dabey manche Beſchränkungen zu bemerken.

1) Iſt eine Sache bedingungsweiſe tradirt, ſo bleibt

ſie einſtweilen im Eigenthum des Schuldners, der ſie alſo

auch ferner verpfänden oder mit Servituten beſchweren

kann. Sobald aber die Bedingung erfüllt wird, ſind alle

dieſe Veräußerungen der Zwiſchenzeit vernichtet. Eben ſo

wird die Priorität eines bedingungsweiſe gegebenen Pfand-

rechts nicht nach der Zeit der Erfüllung, ſondern nach der

Zeit des Pfandvertrags, beſtimmt (c). — Dieſes leidet je-

doch eine Ausnahme, wenn die Erfüllung der Bedingung

in einer von der Willkühr des Schuldners abhängenden

Handlung beſteht (d); und zwar nicht als ob dieſes keine

 

(b) Vgl. im Allgemeinen: W.

Sell über bedingte Traditionen

Zürich 1839 S. 100 fg. Man

kann Das ſo ausdrücken: retro-

trahitur impleta conditio ad

conventionis diem. Zwar kommt

der Ausdruck in dieſer Verbin-

dung nicht vor; aber bey der Ra-

tihabition eines in fremdem Na-

men geſchloſſenen Vertrags ge-

braucht ihn Juſtinian in der That,

und ganz in demſelben Sinn. L. 7

C. ad Sc. Maced. (4. 28.). Eben

ſo ſagt Marcian in L. 15 pr. de

reb. dubiis (34. 5.) „ex post

facto retro ducitur,” von einer

legirten Sache, die der Erbe ver-

äußert, wenn ſpäterhin der Le-

gatar das Legat entweder an-

nimmt oder ausſchlägt. Eben ſo

Ulpian in L. 17 § 1 L. 35 ad

L. Aquil. (9. 2.) „retro adcre-

visse dominium.” — In L. 11

§ 2. 9 de don. int. vir. (24. 1.)

ſteht retro agi, in L. 40 de m.

c. don. (39. 6.) reducitur, in

L. 25 C. de don. int. vir. (5.

16.) referatur und reduci. Vgl.

über dieſe letzte Stellen, und über

ihre Verbindung mit der Lehre

von den Bedingungen, § 170.

(c) L. 8 pr. de peric. (18. 6.),

L. 9 § 1 L. 11 § 1 qui pot. (20.

4.). Sell bedingte Traditionen

S. 157 fg.

(d) L. 16 § 7 de pign. (20.

1.), L. 4 quae res pign. (20. 3.),

L. 9 § 1 L. 11 pr. § 2 qui pot.

(20. 4.). So z. B. bey einer Ver-

pfändung unter der Bedingung,

daß der Schuldner ein Darlehen

empfangen, oder daß er Mobi-

|0164 : 152|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

wahre Bedingung wäre, welches doch in der That anzu-

nehmen iſt (§ 117), ſondern weil der Schuldner, der die

Entſtehung des ganzen Rechts ſeines Gegners verhindern

kann, auch dauernd wirkſame Beſchränkungen deſſelben muß

hervorbringen können.

2) Ob die Früchte, welche in der Zwiſchenzeit entſtan-

den ſind, mit der Sache ſelbſt herausgegeben werden müſ-

ſen, iſt ſtreitig; conſequenterweiſe muß im Allgemeinen

dieſe Frage bejaht werden, jedoch mit ſteter Rückſicht auf

die wahrſcheinliche Abſicht in einzelnen Fällen (e).

 

3) Bey einer bedingten Erbeinſetzung muß die Frage

in jeder denkbaren Beziehung bejaht werden, und zwar

ſchon aus dem Grunde, weil jeder Verſtorbene von dem

Augenblick ſeines Todes an beerbt ſeyn muß, ſo daß das

Recht des Erben zwar lange Zeit ungewiß ſeyn kann,

ſobald es aber gewiß iſt, auf die Todeszeit zurück bezogen

werden muß (f).

 

4) Bey bedingten Legaten tritt allerdings dieſer Grund

 

lien in ein Haus hereinbringen

wird, die dann als Pfand gelten

ſollen. Denn er kann es willkühr-

lich unterlaſſen, das Darlehen an-

zunehmen, oder Mobilien in das

Haus zu bringen. Vgl. Sell

bedingte Traditionen S. 166.

(e) Vergl. Thibaut civiliſt.

Abhandlungen S. 363; Sell be-

dingte Traditionen S. 144; da-

gegen iſt, was die Regel betrifft,

Vangerow Pandekten I. 116.

Durch die hier (im Text) hinzu-

gefügte Einſchränkung verſchwin-

det großentheils die praktiſche Be-

deutung der Streitfrage. — Hier

und bey den folgenden Sätzen

konnte es nicht die Abſicht ſeyn,

in das theilweiſe ſehr weit füh-

rende Detail einzugehen. Viel-

mehr ſollte nur eine überſichtliche

Zuſammenſtellung der verſchiede-

nen Anwendungen gegeben wer-

den, worin ſich die Wirkung der

erfüllten Bedingung zeigt.

(f) S. o. § 102, und beſon-

ders die in der Note b dieſes §

angeführte Stellen.

|0165 : 153|

§. 120. Bedingung. Regelmäßige Wirkung.

nicht ein. Dennoch ſind auch hier, wie bey den Verträgen,

alle Veräußerungen der Zwiſchenzeit vernichtet, ſobald die

Bedingung erfüllt wird (g).

5) Dagegen gilt bey bedingten Legaten ein anderes

Recht in Anſehung der Früchte der Zwiſchenzeit. Man

nimmt nämlich an, daß der Teſtator die Bedingung zu-

gleich als Zeitbeſtimmung gedacht habe (h), und daß daher

der Fruchtgenuß der Zwiſchenzeit dem Erben verbleiben

ſolle, auch nachdem durch die eingetretene Erfüllung alle

Ungewißheit aufgehört hat (i). Dieſes iſt jedoch nur In-

terpretation des Willens, und es muß daher anders gehal-

ten werden, wenn der Teſtator ausdrücklich verordnet, daß

bey eintretender Erfüllung das Legat von der Todeszeit

an zu entrichten ſey, das heiſt, daß die in der Zwiſchen-

zeit entſtandenen Früchte dem Legatar herausgegeben wer-

den ſollten (k).

 

(g) L. 11 § 1 quemadm. serv.

(8. 4.), L. 105 de cond. (35. 1.),

L. 3 § 3 C. comm. de leg. (6.

43.). — Die Proculejaner nahmen

an, die per vindicationem legirte

Sache ſey einſtweilen herrenlos,

die Sabinianer ſahen den Erben

als Eigenthümer an, ſo lange

die Erfüllung nicht eingetreten

war. Gajus II. § 200. Juſtinian

hat die Sabinianiſche Meynung

(für alle Legate) anerkannt, und

nur unter dieſer Vorausſetzung hat

auch der im Text aufgeſtellte Satz

Sinn. L. 66 de rei vind. (6. 1.),

L. 12 § 5 de usufr. (7. 1.), L. 12

§ 2 fam. herc. (10. 2.), L. 29 § 1

qui et a quib. manum. (40. 9.),

und mehrere andere Stellen.

(h) L. 22 pr. quando dies (36.

2.). „… per conditionem tem-

pus demonstratur” …

(i) L. 15 § 6 L. 24 § 1 L. 88

§ 3 ad L. Falc. (35. 2.), L. 18

pr. L. 33 L. 57 pr. ad Sc. Tre-

bell. (36. 1.).

(k) Darauf wohl iſt zu bezie-

hen das praeposterum, wovon

Juſtinian ſagt, es ſey früher all-

gemein ungültig geweſen, K. Leo

habe es bey der Dos zugelaſſen,

er ſelbſt geſtatte es allgemein, bey

Stipulationen und Teſtamenten.

L. 25 C. de testam. (6. 23.), § 14

|0166 : 154|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Das unter einer reſolutiven Bedingung ſtehende

Rechtsverhältniß hat eine viel einfachere Natur. Zunächſt

iſt es einem unbedingten völlig gleich. Tritt aber die Be-

dingung ein, ſo iſt es dadurch völlig vernichtet, als wenn

es nie vorhanden geweſen wäre: es iſt eine pura conven-

tio, quae resolvitur sub conditione(l). Das Eigenthum

kehrt daher von ſelbſt zurück, ohne neue Tradition, und

alle in der Zwiſchenzeit vorgenommene Veräußerungen, die

bis dahin allerdings gültig waren, ſind augenblicklich ver-

nichtet (m).

 

Der letzte Zweck einer ſolchen Reſolutivbedingung kann

auch unter zwey anderen Rechtsformen erreicht werden,

die ihr alſo verwandt ſind, aber nicht mit ihr verwechſelt

 

(13) J. de inut. stip. (3. 19.).

Dahin würde z. B. dieſes Legat

gehören: Si Consul factus erit

Titius, a die mortis meae fun-

dum ei heres dato. Der Sinn

und Erfolg war nun der, daß

Titius die Früchte der Zwiſchen-

zeit bekam. Auch lag in der Sache

nichts Anſtößiges, denn dieſe Be-

ſtimmung über die Früchte konnte

unbedenklich zu allen Zeiten in

Stipulationen und in Teſtamen-

ten getroffen werden. Vgl. L. 18

pr. ad Sc. Trebell. (36. 1.). Das

Anſtößige lag nur in dem Aus-

druck, weil wörtlich etwas Un-

mögliches und Widerſinniges vor-

geſchrieben war, nämlich die Voll-

ziehung einer Handlung in einer

bereits vergangnen Zeit. Dieſe

Unvollkommenheit der wörtlichen

Faſſung ſollte nicht mehr ſchaden,

die unzweifelhafte Abſicht ſollte

zur Ausführung kommen.

(l) L. 3 de contr. emt. (18.

1.), L. 2 de in diem addict.

(18. 2), L. 1 de L. Commiss.

(18. 3.), L. 4 C. de pactis inter

emt. (4. 54.). — L. 29 de mor-

tis causa don. (39. 6.). — Man

kann alſo die Reſolutivbedingung

auch auffaſſen als eine ſuspen-

ſive für die Vernichtung des Rechts-

geſchäfts; nur nicht als eine Sus-

penſivbedingung für ein neues

Rechtsgeſchäft von umgekehrtem

Inhalt und Zweck.

(m) L. 41 pr. de rei vind.

(6. 1.). — L. 4 § 3 de in diem

addict. (18. 2.), L. 3 quib. mod.

pign. (20. 6.). — Vgl. Sell be-

dingte Traditionen S. 219 fg.

|0167 : 155|

§. 120. Bedingung. Regelmäßige Wirkung.

werden duͤrfen, da ſie ſich in einzelnen Folgen ſehr von

ihr unterſcheiden. Es kann nämlich:

1) die umgekehrte Thatſache als Suspenſivbedingung

ausgedrückt ſeyn, da denn die oben angegebenen Wirkun-

gen eintreten (n);

 

2) die Wiederherſtellung des urſprünglichen Zuſtandes

zum Gegenſtand eines eigenen Nebenvertrages unter ſus-

penſiver Bedingung gemacht ſeyn. Dann entſteht aus die-

ſem ein blos obligatoriſcher Anſpruch, das Eigenthum kehrt

nicht von ſelbſt zurück, und die Veräußerungen der Zwi-

ſchenzeit bleiben gültig (o).

 

(n) Es iſt mithin in ſolchen

Fällen eine factiſche Frage, wel-

che von beiden Arten der Bedin-

gungen die Parteyen gemeynt ha-

ben. L. 2 de in diem addict.

(18. 2.), L. 1 de L. commiss.

(18. 3.).

(o) L. 12 pr. de praescr. ver-

bis. (19. 5.), L. 2 C. de pactis

inter emt. (4. 54.). — Thibaut

civiliſt. Abhandl. S. 361 überſieht

dieſe Unterſchiede, indem er blos

darauf Rückſicht nimmt, wer am

Ende die Sache bekommen und

behalten ſoll, weshalb er den we-

ſentlichen Unterſchied zwiſchen ſus-

penſiven und reſolutiven Bedin-

gungen ohne Grund verneint.

(Vgl. Sell S. 183). In einem

anderen Sinn freylich läßt ſich

allerdings die Reſolutivbedingung

auf eine ſuspenſive zurückführen

(Note l). — Auch hier alſo iſt es

eine factiſche Frage, ob die Par-

teyen nur die erſte Veräußerung

durch Bedingungen einſchränken

wollten, oder ob ſie vielmehr ei-

nen zweyten Vertrag über be-

dingte Rückübertragung zur Ab-

ſicht gehabt haben. Nun fragt

es ſich ferner, woran der Richter

dieſe Abſicht erkennen ſoll. Die

Römer haben, ächt praktiſch, für

beſtimmte einzelne Geſchäfte Prä-

ſumtionen aufgeſtellt: ſo enthält

die in diem addictio und die lex

commissoria eine bedingte Ver-

äußerung, die retrovenditio ei-

nen zweyten Vertrag auf Rück-

veräußerung. Weniger praktiſch

haben viele neuere Juriſten die

Entſcheidung davon abhängig ge-

macht, ob die Parteyen verba

directa oder obliqua gebraucht

haben; Andere haben, auf noch

bedenklichere Weiſe, eine durch-

greifende Präſumtion für alle

Fälle, und zwar gerade für einen

|0168 : 156|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Dieſes iſt die Natur der Reſolutivbedingung, da wo

ſie überhaupt gültig und wirkſam iſt. Für welche Rechts-

geſchäfte aber dieſes zu behaupten iſt, kann erſt weiter

unten, in Verbindung mit den gleichartigen Zeitbeſtim-

mungen, (§ 127) unterſucht werden.

 

Eine eigenthümliche Natur haben hierin die Schen-

kungen auf den Todesfall (§ 170). Bey ihnen hat der

Geber die Wahl zwiſchen der ſuspenſiven und reſolutiven

Bedingung, und zwar ſo daß im Zweifel die letzte anzu-

nehmen iſt. Eben daher aber wird die ſuspenſive, wenn

er ihr den Vorzug giebt, nicht retrotrahirt in Beziehung

auf die Veräußerungen der Zwiſchenzeit; wohl aber behält

der Beſchenkte die Früchte der Zwiſchenzeit. Geſchieht eine

ſolche Schenkung unter Ehegatten, ſo iſt die augenblickliche

Übertragung des Eigenthums (mit Reſolutivbedingung)

unmöglich; daher bekommt aber nun die allein moͤgliche

Suspenſivbedingung in der Regel eine retroactive Wirkung.

 

§. 121.

III. Willenserklärungen. — Bedingung. Nothwen-

dige und unmögliche(a).

Außer der regelmäßigen Wirkung der Bedingungen

(§ 120) muß nun auch die großentheils anomaliſche Wir-

 

zweyten Vertrag, aufzuſtellen ver-

ſucht. Vergl. über die neueſten,

dieſe Frage betreffenden, Äuße-

rungen: Vangerow Pandek-

ten I. S. 117. Sell bedingte

Traditionen S. 220 fg.

(a) Vgl. Donellus VIII. 32

§ 5—24. W. Sell Verſuche im

|0169 : 157|

§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche.

kung dargeſtellt werden, welche im Fall der nothwendi-

gen und der unmöglichen Bedingungen ſtattfindet. So

nennt man nämlich, mit etwas abgekürztem Ausdruck, die-

jenigen Bedingungen, deren Erfüllung nothwendig oder

unmöglich eintritt.

Daß dieſe keine wahren Bedingungen ſind, indem in

ihnen die Ungewißheit des Erfolgs, alſo das Weſen der

Bedingung, fehlt, iſt ſchon oben bemerkt worden (§ 116).

Um aber deutlich machen zu können, welche Wirkung eine

ſolche irrig angewendete Form der Willenserklärung auf

das Rechtsgeſchäft ſelbſt hat, iſt es nöthig, zuvor die hier

angedeuteten Fälle ſelbſt, nach den verſchiedenen Geſtalten,

deren ſie empfänglich ſind, genau ins Auge zu faſſen.

 

Zuvörderſt iſt es einleuchtend, daß jene ſogenannte Be-

dingungen ſowohl poſitiv als negativ ſeyn können (§ 117).

Sehen wir ferner auf den Grund der vorhandenen Noth-

wendigkeit und Unmöglichkeit, ſo kann derſelbe bald in

einem Naturgeſetz liegen, bald in einer Rechtsregel, und

wir können daher eine phyſiſche und eine juriſtiſche Noth-

wendigkeit oder Unmöglichkeit unterſcheiden, die jedoch völ-

lig gleiches Recht haben (b).

 

Hieraus ergeben ſich nun folgende mögliche Combina-

 

Gebiete des Civilrechts Th. 2

Gieſſen 1834. Arndts Beiträge

zu verſchiedenen Lehren des Ci-

vilrechts. Heft 1. Bonn 1837.

Num. IV.

(b) Die Gleichheit phyſiſcher und

juriſtiſcher Unmöglichkeit der Be-

dingung iſt ausdrücklich anerkannt

in L. 137 § 6 de verb. obl. (45.

1.). Eben ſo auch da, wo nicht

von Bedingungen die Rede iſt,

nämlich bey der Unmöglichkeit der

Handlung ſelbſt, vgl. L. 35 pr.

eod.

|0170 : 158|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

tionen, die überall durch Beyſpiele anſchaulich gemacht

werden ſollen:

I. Nothwendig:

A. poſitiv:

a) phyſiſch nothwendig.

Wenn den Tag nach meinem Tode die Sonne

aufgehen ſollte; oder: wenn ich jemals ſterben

ſollte.

b) juriſtiſch.

Wenn Titius überhaupt rechtsfähig ſeyn ſollte (c).

B. negativ (d):

a) phyſiſch nothwendig.

Wenn Titius unterläßt, den Mond zu erſteigen.

(c) Weil nämlich wir eine gänz-

liche Rechtsunfähigkeit nicht ken-

nen. Bey den Römern hätte

dieſe Bedingung den Sinn ge-

habt: „wenn Titius ein freyer

Menſch iſt“ (welches ja zweifel-

haft ſeyn konnte), und ſie wäre

nicht nothwendig geweſen.

(d) Die Neueren nennen irrig

eine ſolche Bedingung: negativ

unmöglich, da ſie doch in der

That nothwendig (und daneben

zugleich negativ) iſt; da nämlich

der Gegenſtand des Unterlaſſens

unmöglich iſt, (welches eben den

falſchen Ausdruck veranlaßt hat),

ſo iſt die Bedingung ſelbſt, d. h.

die Erfüllung, nothwendig. Al-

lerdings hat jenen unrichtigen

Sprachgebrauch ſchon Ulpian in

L. 50 § 1 de her. inst. (28. 5.).

„Si in non faciendo impossibi-

lis conditio institutione here-

dis sit expressa, secundum om-

nium sententiam heres erit, pe-

rinde ac si pure institutus es-

set.” Man könnte glauben, Ul-

pian habe nicht an dieſen Fall ge-

dacht, ſondern an den, welchen ich

mit II. B. bezeichnet habe, wobey

ſein Ausdruck richtig ſeyn würde.

Das kann aber nicht angenom-

men werden, weil gerade dieſer

Fall ſtreitig war, ſo daß er von

ihm nicht ſagen konnte: secun-

dum omnium sententiam. Der-

ſelbe Sprachgebrauch liegt zum

Grunde in L. 7 de verb. oblig.

(45. 1.), und L. 20 pr. de cond.

inst. (28. 7.). Dieſe ganze Be-

merkung iſt gut ausgeführt von

Arndts S. 162—169.

|0171 : 159|

§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche.

b) juriſtiſch.

Wenn Titius, mein einziger Erbe, das was ich

ihm ſchuldig bin nach meinem Tode nicht ein-

fordern wird (e).

Wenn Titius unterläßt, vor ſeiner Mündigkeit

ein gültiges Teſtament zu machen; oder das Ei-

genthum der Kirchen meines Wohnorts zu er-

werben.

II. Unmöglich:

A. poſitiv:

a) phyſiſch unmöglich.

Wenn Titius den Mond erſteigt.

 

Eben dahin gehören, ihrem Begriffe nach, die einen

inneren Widerſpruch in ſich ſchließende Bedingungen (con-

ditiones perplexae) (f).

b) juriſtiſch.

Wenn Titius vor ſeiner Mündigkeit ein gültiges

Teſtament macht; oder: wenn er das Eigenthum

der Kirchen meines Wohnorts erwirbt.

B. negativ:

a) phyſiſch unmöglich.

Wenn Titius niemals ſterben ſollte.

(e) L. 20 pr. in f. de cond.

inst. (28. 7.). Er muß dieſe

Schuld wohl uneingeklagt laſſen,

da vor der Antretung Niemand

vorhanden iſt, gegen den er kla-

gen könnte, durch die Antretung

aber Confuſion eintritt, alſo die

Forderung untergeht.

(f) Sie ſind nämlich unmög-

lich durch das in der menſchlichen

Natur gegründete logiſche Geſetz.

— Vgl. Sell S. 267. Beyſpiele

kommen vor in L. 16 de cond.

inst. (28. 7.), L. 39 de man. test.

|0172 : 160|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

b) juriſtiſch.

Wenn der jetzt vierzehenjährige Titius bey mei-

nem Tod noch nicht mündig ſeyn ſollte; oder:

wenn Titius zur Zeit meines Todes gar nicht

rechtsfähig ſeyn ſollte.

Dieſe Fälle ſind nun nach folgenden Regeln zu be-

urtheilen.

 

Nothwendige Bedingungen ſind gar nicht als Be-

dingungen zu betrachten, vielmehr gilt das Rechtsgeſchäft,

dem ſie hinzugefügt ſind, als ein unbedingtes (g). Im

Ganzen dieſelbe Wirkung würde auch eintreten, wenn man

ſie als wahre Bedingungen betrachtete, die bereits in Er-

füllung gegangen wären. Dennoch iſt es nicht einerley,

ob man ſie nach jenem oder nach dieſem Grundſatz be-

handelt. Denn wären ſie wahre Bedingungen, ſo würden

durch ihre Hinzufügung diejenigen Rechtsgeſchäfte, in wel-

chen alle Bedingungen überhaupt unterſagt ſind, ungültig

werden (§ 116). Da aber das Geſchäft, neben welchem

ſie ſich ausgedrückt finden, als ein unbedingtes angeſehen

 

(40. 4.), L. 88 pr. ad L. Falc.

(35. 2.). — Ihre praktiſche Be-

handlung aber iſt abweichend

(Note m).

(g) L. 9 § 1 de nov. (46. 2.).

„Qui sub conditione stipulatur,

quae omnimodo exstitura est,

pure videtur stipulari.” L. 7.

8 de verb. oblig. (45. 1.), L. 17.

18 de cond. indeb. (12. 6.) (von

Verträgen). — L. 50 § 1 de her.

inst. (28. 5.). „.... heres erit,

perinde ac si pure institutus

esset” (von Teſtamenten). Über

dieſe letzte Stelle vgl. Note d. —

Eine merkwürdige Ausnahme (bey

dem legatum poenae nomine)

wird am Ende des § 124 er-

wähnt werden. Eine andere,

weit willkührlichere, findet ſich in

L. 13 quando dies (36. 2.).

|0173 : 161|

§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche.

wird, ſo kann auch durch ſie deſſen Gültigkeit nicht ge-

fährdet werden.

Ähnlichkeit hat mit ihnen diejenige, an ſich zufällige,

Bedingung, die zur Zeit des vorgenommenen Rechtsgeſchäfts

bereits in Erfüllung gegangen war, ohne daß der Urheber

des Geſchäfts dieſes wußte. Jedoch gilt bey dieſen das

Geſchäft nicht als unbedingt, ſondern vielmehr als ein

ſolches, deſſen wahre Bedingung in Erfüllung gegangen

iſt (h). Daher aber muß conſequenterweiſe angenommen

werden, daß ein Geſchäft, in welchem Bedingungen ver-

boten ſind, durch eine ſolche Bedingung ungültig werde.

Wenn alſo z. B. ein Vater ſeinen Suus unter einer caſuel-

len Bedingung, die ohne ſein Wiſſen bereits erfüllt iſt,

zum Erben einſetzt, ſo iſt das Teſtament dennoch nichtig (i).

Auch hat Dieſes ſeinen guten Grund darin, daß es der

Urheber als eine wahre Bedingung dachte, alſo dem Ge-

ſchäft eine nach ſeinem Wiſſen unrechtliche Form gab.

Eben daher muß aber auch das Gegentheil gelten, wenn

 

(h) L. 10 § 1 L. 11 pr. de

cond. (35. 1.). „Si sic legatum

sit: si navis ex Asia venerit,

et ignorante testatore navis ve-

nerit testamenti facti tempore:

dicendum, pro impleta haberi”

..... Der Zuſatz ignorante te-

statore bekommt nur dadurch

Sinn, daß man den Gegenſatz

hinzudenkt: wenn es der Teſta-

tor wußte, ſo war nicht von einer

erfüllten Bedingung, ſondern von

einem unbedingten Legat die Rede.

(i) Dieſes iſt der einzige erheb-

liche Unterſchied des erwähnten

Falles von dem Fall nothwendi-

ger Bedingung. Für den dies

cedens eines Legats iſt gar kein

Unterſchied, denn auch in dem

eben erwähnten Fall iſt dafür der

Todestag anzunehmen, da es hier-

bey überhaupt nur auf den Ein-

tritt des Ereigniſſes ſelbſt an-

kommt, nicht auf das Bewußt-

ſeyn des Legatars.

III. 11

|0174 : 162|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

der Urheber die ſchon eingetretene Erfüllung wußte (Note h),

in welchem Fall die eben beſchriebene Bedingung der noth-

wendigen vollkommen gleich ſteht.

Unmögliche Bedingungen ſollten, nach allgemeiner

Betrachtung, noch weniger Zweifel erregen können, als

die nothwendigen. Es ſcheint nämlich, daß ſchon durch

ihren Inhalt das ganze Rechtsgeſchäft völlig entkräftet

ſeyn müßte, wodurch dann zugleich alle mögliche Neben-

fragen erledigt ſeyn würden. Allein unſer poſitives Recht

hat es großentheils anders gewollt.

 

Zwar bey den Verträgen iſt jene natürliche Behand-

lung allerdings anerkannt worden. Eine unmögliche Be-

dingung alſo ſoll ſie völlig wirkungslos machen, und zwar

ohne Unterſchied, ob es Stipulationen oder Conſenſual-

contracte ſind (k).

 

Aber ein Anderes iſt vorgeſchrieben für die teſtamen-

tariſchen Verfügungen. Bey dieſen wollten nur die Pro-

culejaner jene natürliche Anſicht gelten laſſen, die Sabi-

nianer dagegen ſahen die Bedingung ſelbſt als nicht ge-

ſchrieben an, wodurch ſich die Verfügung des Teſtators

in eine unbedingte verwandelte (l). Und dieſe Meynung

der Sabinianer iſt denn auch in das Juſtinianiſche Recht

aufgenommen worden (m); wahrſcheinlich nachdem ſie ſchon

 

(k) Gajus III. § 98, § 11 J.

de inut. stip. (3. 19.), L. 7 L. 137

§ 6 de verb. oblig. (45. 1.), L. 1

§ 11 L. 31 de oblig. et act.

(44. 7.), L. 9 § 6 de reb. cred.

(12. 1.), L. 29 de fidejuss. (46. 1.).

(l) Gajus III. § 98.

(m) § 10 J. de her inst. (2.

14.), L. 3 L. 6 § 1 de cond. (35.

1.), L. 1 L. 6 L. 20 pr. de cond.

inst. (28. 7.), L. 16 de injusto

(28. 3.) (am Ende der Stelle),

|0175 : 163|

§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche

lange zuvor in der Praxis entſchiedenes Übergewicht er-

halten hatte (n). — Ehe ich von dem Grund dieſer etwas

auffallenden Beſtimmung rede, will ich die Conſequenzen

derſelben bemerklich machen.

Iſt die an ſich moͤgliche Bedingung ſchon vor Abfaſ-

ſung des Teſtaments vereitelt worden, ſo gilt ſie, auch

wenn der Teſtator dieſes nicht wußte, der unmöglichen

gleich, folglich als nicht geſchrieben (o); woraus denn von

ſelbſt folgt, daß ihre Aufnahme in eine Verfügung, die

keine Bedingungen enthalten darf, dennoch der Gültigkeit

nicht ſchadet. Allerdings liegt darin eine Abweichung von

dem Princip, welches oben bey den bereits früher erfüll-

ten angewendet wurde (Note h); allein dieſe Verſchieden-

heit iſt eine conſequente Folge der eigenthümlichen und

ganz poſitiven Behandlung, welcher die unmoͤglichen Be-

dingungen unterworfen worden ſind.

 

Ganz anders verhält es ſich mit der Bedingung, welche

der Teſtator ſelbſt als in der Vergangenheit oder Gegen-

 

L. 104 § 1 de leg. 1 (30. un.),

L. 5 § 4 quando dies (36. 2.).

— Nur bey den perplexen Be-

dingungen gilt ein anderes Recht.

Hier wird die Bedingung als un-

zertrennlich verbunden mit der

Verfügung ſelbſt angeſehen, und

darum iſt nun dieſe letzte nichtig.

Vergl. die in der Note f ange-

führte Stellen.

(n) Paulus III. 4 B. § 1, L. 3

de cond. (35. 1.). „Obtinuit,

impossibiles conditiones testa-

mento adscriptas pro nullis ha-

bendas.” Dieſe Stelle des Ul-

pian trägt keine Spur einer In-

terpolation an ſich, ſcheint viel-

mehr für die entſchiedene Praxis

zur Zeit ihres Verfaſſers Zeug-

niß zu geben.

(o) L. 6 § 1 de cond. (35. 1.),

woraus zugleich erhellt, daß auch

dieſe einzelne Anwendung erſt

nach und nach, und nicht ohne

Widerſpruch, geltend wurde.

11*

|0176 : 164|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

wart liegend ausgedrückt hat (§ 116). Zeigt ſich eine

ſolche hinterher als vereitelt, wenngleich der Teſtator dar-

über wirklich in Ungewißheit war, ſo iſt die daran ge-

knüpfte Verfügung entkräftet (p). Auf dieſen Fall iſt alſo

die Regel, nach welcher die unmögliche Bedingung als

nicht geſchrieben gelten ſoll, gar nicht anzuwenden, und

der Grund der Unanwendbarkeit liegt darin, daß eine ſolche

Beſtimmung überhaupt gar nicht Bedingung iſt, ſondern

nur den äußeren Schein einer Bedingung an ſich trägt.

Iſt die Bedingung theilweiſe möglich, theilweiſe un-

möglich, ſo gilt der unmögliche Theil als nicht geſchrieben,

der mögliche beſteht als gültige Bedingung (q).

 

Die aufgeſtellte Regel gilt ferner nicht nur bey ſolchen

Ereigniſſen, die nach Naturgeſetzen an ſich nicht vorkom-

men können (abſolut unmoͤgliche), ſondern auch bey denen,

deren Erfüllung durch zufällige Umſtände ausgeſchloſſen

wird, anſtatt daß ſie unter anderen Umſtänden möglich

ſeyn würden (relativ unmögliche). So z. B. Zahlung an

eine individuell bezeichnete Perſon, oder Freylaſſung be-

ſtimmter Sklaven, wenn dieſe entweder nie gelebt haben,

oder zur Zeit des Rechtsgeſchäfts ſchon geſtorben waren;

Tilgung einer Schuld, wenn dieſe gar nicht vorhanden

iſt (r). — Ja auch diejenigen Ereigniſſe ſind als unmög-

 

(p) L. 16 de injusto (28. 3.),

deren größter Theil von dieſem

Fall handelt, und worin nur am

Schluß auf die entgegengeſetzte

Behandlung der wirklichen, aber

unmöglichen, Bedingungen über-

gegangen wird.

(q) L. 45 de her. inst. (28.

5.), L. 6 § 1 de cond. (35. 1.).

(r) L. 72 § 7, L. 6 § 1 de

cond. (35. 1.), L. 45 de her. inst.

(28. 5.), L. 26 § 1 de statulib.

|0177 : 165|

§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche.

liche zu betrachten, deren Bewirkung, nach allen gewöhn-

lichen Verhältniſſen zwiſchen Mittel und Erfolg, für un-

erreichbar gelten muß; man könnte ſie unerſchwingliche

Bedingungen nennen. Der Grund dieſer Unerreichbarkeit

muß daher in allgemeinen Verhältniſſen liegen, nicht in

den beſonderen einer einzelnen Perſon, indem eine ſolche

ſubjective Unmöglichkeit gar nicht beachtet wird (s). Übri-

gens kann die Gränze zwiſchen dieſer Unerreichbarkeit und

der bloßen Schwierigkeit, welche von der Erfüllung keines-

weges befreyt, freylich nicht durch allgemeine Regeln, ſon-

dern nur in jedem einzelnen Fall durch richterliches Er-

meſſen beſtimmt werden. Daß aber in der That dieſer

Fall dem Fall der wahren Unmöglichkeit gleich ſteht, wird

in folgenden Anwendungen anerkannt. Die Bedingung,

dem Teſtator binnen drey Tagen nach ſeinem Tode ein

Denkmal zu errichten, gilt als eine unmögliche; und doch

war die Erfüllung nicht völlig undenkbar, wenn etwa der

ſo eingeſetzte Erbe die Bedingung vor dem Tode erfuhr,

alle Baumaterialien zubereiten und beyfahren ließ, auch

eine große Zahl von Arbeitern voraus beſtellte. An ein

ſo höchſt ungewöhnliches Zuſammentreffen von Umſtänden

wird hier, wie billig, nicht gedacht. Eben ſo gilt es als

unmöglich, wenn die Freylaſſung eines Sklaven an die

(40. 7.). — In der erſten dieſer

Stellen wird eine ſolche Bedin-

gung falsa conditio genannt,

ſehr paſſend, da die Unmöglich-

keit nur auf falſchen factiſchen

Vorausſetzungen beruht.

(s) So z. B. wenn Einer 100

zahlen ſoll, und dieſe aus Armuth

nicht aufbringen kann. Vgl. L. 137

§ 4 de verb. oblig. (45. 1.).

|0178 : 166|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Bedingung geknüpft wird, dem Erben Fünf Millionen

Thaler unſres Geldes zu zahlen; dennoch wäre es nicht

undenkbar, daß irgend ein Reicher dieſe ungeheure Summe

für die Freyheit des Sklaven aufopfern wollte (t).

Nur diejenige Unmoͤglichkeit aber kann als ſolche gel-

ten, welche eine bleibende Natur hat, alſo nicht von dem

Wechſel der Zeit und der Umſtände abhängt. Iſt daher

ein Ereigniß zur Zeit des Rechtsgeſchäfts möglich, ſo wird

es bey ſpäter eintretender Unmöglichkeit keinesweges in

eine unmögliche Bedingung verwandelt (welche neben einer

teſtamentariſchen Verfügung als nicht geſchrieben gelten

würde), ſondern vielmehr in eine vereitelte, ſo daß dadurch

die Erbeinſetzung oder das Legat ſelbſt entkräftet werden (u).

Eben ſo wird auch im umgekehrten Fall die zur Zeit des

 

(t) L. 6 de cond. inst. (26. 7.),

L. 4 § 1 de statulib. (40. 7.).

„… aut si tam difficilem, im-

mo pene impossibilem conditio-

nem adjecerit, ut aliunde ea

libertas obtingere non possit,

veluti si heredi millies dedis-

set” .... Die Vulgata lieſt mille

(könnte heißen 50 Thaler, oder

auch 50000, je nachdem man kleine

oder große Seſterze hinzudenkt),

was in dieſem Zuſammenhang

keinen befriedigenden Sinn giebt.

Die Florentiniſche Leſeart miles

führt auf die ſehr nahe liegende

Emendation milies für millies.

Dieſes aber heißt tauſendmal

100,000 Seſterze, oder Fünf Mil-

lionen Thaler, welches offenbar

das Richtige iſt. — Übrigens iſt

hier nur von der Gleichſtellung

der unerſchwinglich hohen Summe

mit der Unmöglichkeit die Rede;

die in dieſer Stelle enthaltene Ent-

ſcheidung des Falles ſelbſt wird wei-

ter unten erklärt werden (§ 124. h).

(u) L. 94 pr. de cond. (35.

1.), L. 19 L. 20 § 3 de statulib.

(40. 7.), L. 23 § 2 ad L. Aquil.

(9. 2). — So z. B. wenn ein Le-

gat an die Bedingung geknüpft

wird, daß der Legatar dem Ti-

tius Hundert gebe; ſtirbt Titius

nach gemachtem Teſtament, ſo iſt

die Bedingung vereitelt, und das

Legat iſt ungültig. Anders bey

der Freylaſſung unter gleicher Be-

dingung, weil dieſe hierin eine

beſondere Begünſtigung genießt.

Vgl. § 119. m und Sell S. 55.

|0179 : 167|

§. 121. Bedingung. Nothwendige und unmögliche

Rechtsgeſchäfts unmögliche Bedingung, wenn die Unmoͤg-

lichkeit eine veränderliche Natur hat, als wahre und gül-

tige Bedingung behandelt, bey deren Hinzufügung der Ur-

heber gerade an die vielleicht ſpäter eintretende Möglichkeit

gedacht haben wird. So z. B. iſt gültig das einer Skla-

vin unter der Bedingung ihrer künftigen Ehe hinterlaſſene

Legat, obgleich ſie zur Zeit des Teſtaments als Sklavin

einer Ehe unfähig iſt; man muß nämlich abwarten, ob ſie

künftig freygelaſſen werde, und dann eine Ehe ſchließe (v).

Nur muß freylich die Veränderung, wodurch die Möglich-

keit herbeygeführt werden kann, von der Art ſeyn, daß

man ſie als ein gewöhnliches und nicht unwahrſcheinliches

Ereigniß wohl erwarten kann (wie z. B. die Freylaſſung

eines Sklaven); außerdem wäre die Rückſicht auf ſie nicht

natürlich, nach Umſtänden ſogar tadelnswerth, und die

Bedingung müßte als eine ſchlechthin unmögliche behandelt

werden. Dahin gehören z. B. die Bedingungen, wenn ein

freyer Menſch Sklave werden, oder wenn eine res sacra

zur profana gemacht werden ſollte (w). — Aber ganz daſ-

ſelbe muß auch bey Verträgen gelten. Wenn alſo Einer

(v) L. 58 de cond. (35. 1.).

(w) L. 83 § 5 de verb. oblig.

(45. 1.). „… ut ne haec qui-

dem stipulatio de homine li-

bero probanda sit: illum cum

servus erit dare spondes? item:

eum locum, cum ex sacro re-

ligiosove profanus esse coepe-

rit, dari? quia .. ea duntaxat,

quae natura sui possibilia sunt,

deducuntur in obligationem …

et casum adversamque fortu-

nam spectari hominis liberi,

neque civile, neque naturale

est.” … L. 34 § 1 de contr. emt.

(18. 1.) „nec enim fas est, ejus-

modi casus exspectare.” Vgl.

§ 2 J. de inut. stip. (3. 20.). —

Eben ſo gilt es als etwas Na-

türliches und Gewöhnliches, daß

|0180 : 168|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

dem Andern fuͤr die künftige Ehe der unmündigen Tochter

deſſelben eine Brautgabe verſpricht, ſo iſt dieſes Verſpechen

gewiß gültig, obgleich zur Zeit des Vertrags die Tochter

eben ſo unfähig zur Ehe iſt, wie jene Sklavin zur Zeit

des gemachten Teſtaments. Denn gerade die Beachtung

veränderlicher Umſtände iſt ja der Natur der auf eine

unbeſtimmte Zukunft gerichteten Bedingungen im höchſten

Grade angemeſſen. Eben darum verhält es ſich anders,

wenn die vertragsweiſe unbedingt verſprochene Handlung

ſelbſt eine verbotene Natur hat; hier iſt der Vertrag un-

gültig, ſelbſt wenn die Handlung ſpäter durch veränderte

Umſtände einen erlaubten Character annehmen könnte (x).

Denn die aus dem Vertrag entſpringende Obligation iſt

nicht, wie eine Bedingung, auf unbeſtimmte Zukunft be-

rechnet, ſondern auf die Gegenwart, und wenn ſie in dieſer

einen unerlaubten Character hat, ſo iſt der Vertrag ſchlecht-

hin ungültig (y). Endlich iſt auch bey den Bedingungen

nur diejenige Veränderlichkeit zu beachten, die aus den

faktiſchen Zuſtänden hervorgeht, nicht die welche eine Ver-

änderung geſetzlicher Vorſchriften vorausſetzt. Wenn alſo

Etwas verſprochen wird unter der Bedingung, daß eine

ein Deportirter, aber nicht daß

ein servus poenae, begnadigt

werde und die Civität wieder er-

lange. L. 59 § 1. 2 de cond.

(35. 1.).

(x) So z. B. wenn eine Ehe

zwiſchen Adoptivgeſchwiſtern durch

Vertrag verabredet wird, obgleich

dieſe Ehe durch ſpätere Emanci-

pation des einen Theils zuläſſig

werden kann. L. 35 § 1 de verb.

oblig. (45. 1.).

(y) Darauf alſo, und nicht auf

die Beurtheilung der Bedingun-

gen, iſt zu beziehen L. 144 § 1

de R. J. (50. 17.). „In stipula-

tionibus id tempus spectatur,

quo contrahimus.”

|0181 : 169|

§. 122. Bedingung. Unſittliche.

res sacra oder religiosa veräußert werde, ſo iſt der Ver-

trag ſchlechthin ungültig, obgleich es denkbar wäre, daß

durch ein neues Geſetz auch dieſe Sachen dem freyen Ver-

kehr überlaſſen würden (z); denn auf die Veränderlichkeit

der factiſchen Zuſtände zu rechnen, liegt in der Natur der

Bedingungen, aber nicht auf die Veränderlichkeit der Rechts-

regeln.

§. 122.

III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unſittliche.

Nach der Lehre neuerer Schriftſteller giebt es eine drey-

fache Unmöglichkeit der Bedingungen: phyſiſche, juriſtiſche,

moraliſche, je nachdem in den Geſetzen der Natur, des

Rechts, oder der Sittlichkeit, der Grund der Unmöglichkeit

 

(z) L. 137 § 6 de verb. oblig.

(45. 1.). „… nec ad rem per-

tinet, quod jus mutari potest,

et id quod nunc impossibile

est, postea possibile fieri: non

enim secundum futuri tempo-

ris jus, sed secundum praesen-

tis, aestimari debet stipulatio.”

(Allerdings könnte man die Stelle

auch beziehen auf die in der Note w

erwähnten Veränderungen, doch

ſcheint mir die hier angenommene

Erklärung natürlicher. Gleich

wahr ſind ohnehin beide denkbare

Bedeutungen, denn auch eine Ver-

änderung der geſetzlichen Regel

gehört nicht zu den gewöhnlichen

Ereigniſſen, auf deren Erwartung

man Rechtsgeſchäfte einzurichten

pflegt). Ganz daſſelbe muß aber

in dieſer Hinſicht auch von Erb-

einſetzungen und Legaten gelten.

— Sell S. 47. 51 überſieht die

weſentliche Verſchiedenheit des In-

halts der in den vorhergehenden

Noten benutzten Stellen, und be-

hauptet deshalb mit Unrecht, ei-

nen Unterſchied zwiſchen Verträ-

gen und Teſtamenten; der Ver-

trag ſoll nämlich ungültig ſeyn

und bleiben, wenn die Bedin-

gung zur Zeit des Abſchluſſes eine

unmögliche war, mag ſie auch

durch ſpätere Veränderung der

Umſtände möglich werden.

|0182 : 170|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

enthalten iſt (a). Die Auffaſſung iſt darum zu verwerfen,

weil ſie die verſchiedenſten Begriffe als gleichartig behan-

delt, da doch höchſtens von einer Gleichſtellung in der

Wirkung die Rede ſeyn kann; und weil ſie eben deshalb

genöthigt iſt, in der Wirkung vollkommene Gleichheit an-

zunehmen, anſtatt daß nur eine beſchränkte behauptet wer-

den darf (b).

Das Weſen der unmöglichen Bedingungen beſteht darin,

daß ihnen der Grundcharacter wahrer Bedingungen, die

Ungewißheit des Erfolgs, gänzlich fehlt, daß alſo bey ih-

nen weder der menſchlichen Freyheit, noch dem Zufall,

irgend ein Spielraum übrig bleibt. Mit dieſen nun wer-

den in jener Lehre als gleichartig zuſammengeſtellt die-

jenigen Handlungen, welche entweder durch Rechtsregeln

oder durch Regeln der Sittlichkeit misbilligt werden. Dieſe

ſind aber völlig frey, bey ihnen iſt es ganz ungewiß, ob

ſie geſchehen oder nicht geſchehen werden, und ſie ſind da-

her dem Grundcharacter der Bedingungen, welchem die

unmöglichen widerſprechen, ganz angemeſſen. Die größte

Verwirrung der Begriffe aber entſteht in jener Lehre da-

durch, daß durch den Namen der juriſtiſchen Unmöglichkeit

zwey völlig verſchiedene Fälle zuſammen geworfen werden:

 

(a) Sehr vollſtändig iſt dieſe

herrſchende Anſicht dargeſtellt von

Sell S. 19 fg. — Conſequenter-

weiſe mußte man nun auch von

einer dreyfachen Nothwendigkeit

ſprechen; daß dieſes gewöhnlich

nicht geſchah, erklärt ſich wohl

aus der geringeren Erheblichkeit,

die überhaupt die Betrachtung der

nothwendigen Bedingungen hat.

(b) Sehr treffend iſt dieſes be-

reits bemerkt von Arndts

S. 172 fg. S. 182. 183.

|0183 : 171|

§. 122. Bedingung. Unſittliche.

das Teſtament oder die Ehe eines Unmündigen iſt juriſtiſch

unmöglich, der Diebſtahl dagegen iſt durchaus möglich;

aber durch Rechtsregeln unterſagt; von jenen Handlungen

alſo wiſſen wir gewiß, daß ſie nicht eintreten werden, bey

dem Diebſtahl bleibt dieſes ungewiß.

Wir haben alſo hier vielmehr diejenigen Bedingungen

zu betrachten, die entweder widerrechtlich (c), oder nur

unſittlich ſind; da jedoch das Widerrechtliche ſtets zugleich

unſittlich iſt, ſo iſt es völlig genügend, wenn wir den ein-

fachen Ausdruck unſittlicher Bedingungen gebrauchen, und

darunter diejenigen verſtehen, deren Inhalt eine unſittliche

Handlung oder Unterlaſſung iſt.

 

Dieſe unſittlichen Bedingungen nun werden in der Wir-

kung den unmoͤglichen gleichgeſtellt. Zwar wörtlich findet

ſich dieſe Gleichſtellung in der dafür gewöhnlich angeführ-

ten Hauptſtelle nur beyläufig und indirect, indem nur aus-

geſprochen wird, daß die unſittliche Bedingung als eine

nichtpoteſtative anzuſehen ſey, ſo daß man Keinem

vorhalten dürfe, es ſtehe in ſeiner Macht eine Handlung

vorzunehmen, ſobald dieſe Handlung ſittlich verwerflich

ſey (d). Allein der Sache nach läßt ſich jene Gleichſtel-

 

(c) Alſo gegen Leges, Sena-

tusconsulta, Kaiſerconſtitutionen,

das Edict u. ſ. w. L. 14. 15 de

cond. inst. (28. 7.). Wo dieſes

zweifelhaft war, konnte vom Kai-

ſer eine Aufhebung der Bedin-

gung erbeten werden, L. 2 § 44

ad Sc. Tert. (38. 17.). — Das

in fraudem legis ſteht hier, wie

überall, dem contra legem gleich.

L. 64 § 1, L. 79 § 4 de cond.

(35. 1.), L. 7 de cond. inst. (28.

7.). — Auch was der publica uti-

litas entgegen iſt, gehört dahin.

L. 13 § 1 de pollic. (50. 12.).

(d) L. 15 de cond. inst. (28.

7.). „Filius qui fuit in pote-

state, sub conditione scriptus

|0184 : 172|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

lung nicht bezweifeln, da ſich hier derſelbe charakteriſtiſche

Unterſchied zwiſchen Verträgen und teſtamentariſchen Ver-

fügungen findet, wie bey den unmöglichen Bedingungen:

Verträge werden durch ſie entkräftet, Erbeinſetzungen und

Legate werden in unbedingte verwandelt.

Das Wichtigſte jedoch beſteht darin, daß jene Gleich-

ſtellung keinesweges allgemein gilt, ſondern nur inſofern

ſie zur Aufrechthaltung der Sittlichkeit unentbehrlich iſt,

das heißt nur

inſofern durch die Wirkſamkeit einer ſolchen Bedingung

das Schlechte befördert werden würde.

 

Dieſe Beziehung allein iſt es, woraus wir mit Sicher-

heit beurtheilen können, in welchen Fällen eine anomaliſche

Behandlung ſolcher Bedingungen eintreten oder nicht ein-

treten müſſe; die Fiction, daß dem Menſchen, vermöge

ſeiner ſittlichen Natur, das Schlechte unmöglich ſey, iſt

zu dieſer ſicheren Beurtheilung keinesweges ausreichend,

ſie dient nur dazu, den allgemeinen Zuſammenhang der

Gedanken anzugeben, unter welchen dieſe Bedingungen ge-

bracht werden.

 

Der Hauptfall, in welchem jener Grundſatz zur An-

 

heres quam Senatus aut Prin-

ceps improbant, testamentum

infirmat patris, ac si conditio

non esset in ejus potestate:

nam quae facta laedunt pieta-

tem, existimationem, verecun-

diam nostram, et ut generali-

ter dixerim, contra bonos mo-

res fiunt: nec facere nos posse

credendum est.” Die Stelle iſt

von Papinian, aus deſſen Munde

dieſe Worte beſonders wohl klin-

gen, da er ihnen durch ſeinen Tod

treu geblieben iſt. — Unmittelba-

rer iſt die Gleichſtellung anerkannt

in L. 137 § 6 de verb. oblig.

(45. 1.), ſ. die folgende Note.

|0185 : 173|

§. 122. Bedingung. Unſittliche.

wendung kommt, iſt der, wenn die Bedingung ſelbſt eine

ſchlechte Handlung Desjenigen, der ein Recht erwerben

ſoll, enthält, ſo daß eben dieſe Handlung, durch die Aus-

ſicht auf den daran geknüpften Gewinn, bewirkt werden

ſoll. Geſchieht dieſes in einem Vertrag, ſo iſt der ganze

Vertrag ungültig (e): geſchieht es in einem Teſtament, ſo

gilt die Bedingung als nicht geſchrieben, und die Erbein-

ſetzung oder das Legat werden unbedingt (f); beides völlig

ſo, wie wenn die in der Bedingung ausgedrückte Handlung

unmöglich geweſen wäre.

Außerdem gilt jene Gleichſtellung auch noch in folgen-

dem Fall, aber mit umgekehrter Wirkung. Wenn ein

Vater ſeinen Suus unter einer unſittlichen Bedingung zum

Erben einſetzt, ſo konnte der ſittliche Zweck dadurch erreicht

werden, daß die Bedingung als nicht geſchrieben, folglich

die Erbeinſetzung als unbedingt, und daher als gültig be-

 

(e) L. 123 de verb. oblig. (45.

1.). „Si flagitii faciendi vel

facti causa concepta sit stipu-

latio, ab initio non valet.” Fla-

gitii faciendi causa, das iſt eben

der Fall einer unwürdigen Hand-

lung, unter deren Bedingung ein

Lohn verſprochen wird, die alſo

durch dieſes Verſprechen bewirkt

werden ſoll. — L. 137 § 6 eod.

„Cum quis sub hac conditione

stipulatus sit … ubi .. id fa-

cere ei non liceat: nullius mo-

menti fore stipulationem, proin-

de ac si ea conditio, quae na-

tura impossibilis est, inserta

esset” … Der größte Theil der

Stelle geht auf ſolche Bedingun-

gen, die wirklich unmöglich ſind,

aber aus juriſtiſchen Gründen

(§ 121).

(f) L. 9 de cond. inst. (28.

7.) „remittendae sunt,” L. 14

eod. „… pro non scriptis ha-

bentur, et perinde ac si con-

ditio hereditati sive legato ad-

jecta non esset, capitur here-

ditas, legatumve.” L. 27 pr.

eod., L. 5 C. de institut. (6. 25.),

Paulus III. 4 B. § 2 „nullius

sunt momenti.”

|0186 : 174|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

handelt würde. Hier ſoll es aber vielmehr bey jener

Gleichſtellung bleiben: die Handlung gilt als unmöglich,

die Bedingung iſt daher nichtpoteſtativ, folglich fehlt es

an einer Erbeinſetzung des Suus in geſetzlicher Form, das

ganze Teſtament iſt nichtig, und der Sohn wird Inteſtat-

erbe (Note d). Hier wird alſo der ſittliche Zweck durch

Vernichtung der ganzen Verfügung erreicht, immer aber

indem die Gleichſtellung des Unſittlichen mit dem Unmög-

lichen feſtgehalten wird.

Dagegen kann von jener Gleichſtellung nicht die Rede

ſeyn, überall wo der ſittliche Zweck ſie nicht nöthig macht,

oder ſogar durch ſie gefährdet werden würde. Hier wird

ſtets Dasjenige angenommen, was zu jenem Zwecke führt,

und es findet ſich keine ähnliche Fiction, wie die bisher

betrachtete, wodurch ein gleichförmiger Geſichtspunkt ge-

wonnen werden könnte. Dieſes wird in folgenden Fällen

anſchaulich werden.

 

Wenn Einer eine Conventionalſtrafe verſpricht, unter

der Bedingung, daß er eine unſittliche Handlung begehen

werde, ſo iſt dieſer Vertrag völlig gültig, da durch den-

ſelben dem Schlechten geradezu entgegen gearbeitet wird (g).

 

(g) L. 1. 2 C. si mancipium

(4. 56.), L. 121 § 1 de verb. oblig.

(45. 1.). Die letzte Stelle ſagt:

wenn ein Mann ſeiner Frau eine

Conventionalſtrafe verſpricht für

den Fall, daß er künftig wieder

mit einer früheren Concubine le-

ben werde, ſo iſt dieſe Stipula-

tion „quae ex bonis moribus

concepta fuerat” gültig. — Zwei-

fel könnte erregen L 19 de verb.

oblig. (45. 1.): wenn ein Ehe-

gatte für die durch ſeine Schuld

bewirkte Eheſcheidung eine Geld-

ſtrafe verſpricht, ſo iſt das un-

gültig „quia contenti esse de-

bemus poenis legum compre-

hensis.” Man könnte nämlich

|0187 : 175|

§. 122. Bedingung. Unſittliche.

Wollte man hier das Unſittliche als unmöglich anſehen,

ſo wäre das Verſprechen ungültig (§ 121. k.). — Eben

ſo, wenn der Teſtator ſeinem Erben ein Legat auflegt,

für den Fall, daß der Erbe eine ſchlechte Handlung be-

gienge; das Legat muß bezahlt werden, ſobald die Hand-

lung geſchieht, außerdem nicht (h). Stände dieſe Bedin-

gung einer unmöglichen gleich, ſo müßte ſie als nicht ge-

ſchrieben behandelt werden (§ 121. m.). — Eben ſo end-

lich iſt in Verträgen und Teſtamenten die auf die ſchlechte

Handlung eines Dritten geſtellte Bedingung in der Regel

erlaubt und wirkſam. Ergiebt es ſich aus den beſonderen

Umſtänden, daß dieſe Bedingung das Schlechte zu befoͤr-

dern dient, ſo müßte ſie allerdings die Natur einer unſitt-

lichen Bedingung annehmen. Allein die abſolute Gleich-

ſtellung würde auch hier mit Unrecht dahin führen, ſelbſt

da wo dieſer beſondere Umſtand nicht vorhanden wäre,

dieſe Worte als ein allgemeines

Verbot jeder vertragsmäßigen

Strafanſtalt, neben der in den

Strafgeſetzen des Staats enthal-

tenen, anſehen. So ſind ſie aber

nicht zu verſtehen, ſie gehen blos

auf den Fall der Ehe, und ent-

halten den auch ſonſt unzweifel-

haften Rechtsſatz, daß die Frey-

heit der Eingehung und Fort-

ſetzung einer Ehe nicht durch Pri-

vatwillkühr, alſo auch nicht durch

Conventionalſtrafen, eingeſchränkt

werden dürfe. L. 134 pr. de verb.

oblig. (45. 1.), L. 2 C. de inut.

stip. (8. 39.). Vgl. § 123. e.

(h) Das ältere Recht verbot

alle legata poenae nomine, der

Teſtator mochte dadurch gleich-

gültige oder pflichtmäßige Hand-

lungen oder Unterlaſſungen des

Erben erzwingen wollen; Juſti-

nian läßt ſie im Allgemeinen zu,

alſo auch für den Fall, daß der

Erbe genöthigt werden ſollte, ein

Verbrechen zu unterlaſſen, oder

eine Pflicht zu erfüllen (§ 117

Note l. m. n). Der einzige Fall,

worin ſie unzuläſſig ſind, wird

in der folgenden Note angegeben.

|0188 : 176|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

eine ſolche Bedingung ſchlechthin als eine unmögliche zu

behandeln.

Wenn Jemand eine Conventionalſtrafe verſpricht, für

den Fall, daß er ein Verbrechen unterlaſſen, oder eine

Pflicht erfüllen werde, ſo iſt die Ungültigkeit des Vertrags

nicht zu bezweifeln, wenn auch keine Stelle in unſren Rechts-

quellen dieſen Fall namentlich erwähnen ſollte. Wollte man

die Gleichſtellung des ſittlichen Gebots mit dem Naturgeſetz

auch hier anwenden, ſo müßte man die Bedingung als

eine nothwendige, folglich den Vertrag als unbedingt gül-

tig behandeln (§ 121. g.). — Ganz eben ſo verhält es

ſich, wenn der Teſtator ſeinem Erben ein Legat als Straf-

drohung für den Fall auflegt, wenn derſelbe ein Verbre-

chen unterlaſſen, oder eine Pflicht erfüllen würde. Jene

Gleichſtellung würde auch hier darauf führen, die Bedin-

gung als nothwendig und das Legat als unbedingt an-

zuſehen; hier aber hat Juſtinian ausdrücklich die Ungültig-

keit des Legats verordnet, die auch gewiß dem ſittlichen

Zweck am meiſten entſpricht (i).

 

Wenn ſich Jemand Geld verſprechen läßt, unter der

Bedingung ein Verbrechen zu unterlaſſen, oder eine Pflicht

zu erfüllen, ſo würde wiederum jene Gleichſtellung darauf

führen, die Bedingung als nothwendig, folglich den Ver-

trag als unbedingt und gültig zu betrachten; dennoch iſt

 

(i) § 36 J. de legatis (2. 20.),

L. un. C. de his quae poenae

(6. 41.), am Ende beider Stel-

len. Es iſt dieſes der einzige

Fall, worin das alte Verbot der

legata poenae nomine noch jetzt

fortdauert (Note h).

|0189 : 177|

§. 122. Bedingung. Unſittliche.

dieſer Vertrag ſchlechthin ungültig (k), ſo daß alſo dabey

jene Gleichſtellung ganz ohne Anwendung bleibt. Dieſe

Vorſchrift iſt deswegen räthſelhaft, weil ja durch den er-

wähnten Vertrag der ſittliche Zweck vielmehr gefördert

erſcheint. Man könnte den Grund darin ſuchen, daß durch

den verſprochnen Lohn die Reinheit der ſittlichen Trieb-

feder gefährdet würde, indem nun aus Eigennutz unter-

bliebe, was aus Pflichtgefühl unterbleiben ſollte; allein

dieſe, für den Rechtsverkehr allzu feine, Rückſicht kann

nicht gelten, denn ſonſt dürfte auch nicht eine Conventio-

nalſtrafe für den Fall einer Unſittlichkeit verſprochen wer-

den, die jedoch zuläſſig iſt (l). Der wahre Grund liegt

vielmehr darin, daß ein ſolcher Vertrag leicht zur unwür-

digſten Speculation misbraucht werden kann, indem ein

gedrohtes Verbrechen, oder eine verweigerte Schuldigkeit,

den Andern, dem der Weg gerichtlicher Klage zu beſchwer-

lich oder unſicher ſcheint, bewegen kann, den böſen Willen

(k) L. 7 § 3 de pactis (2. 14.).

„Si ob maleficium, ne fiat, pro-

missum sit, nulla est obligatio

ex hac conventione;” das heißt,

wenn ich einem Andern Geld ver-

ſpreche unter der Bedingung, daß

er ein Verbrechen unterlaſſen

werde. — Den Worten nach könnte

die Stelle auch bezogen werden

auf eine Conventionalſtrafe unter

der Bedingung, daß der promis-

sor ein Verbrechen begehe; dann

würde ſie aber mit den in der

Note g angeführten Stellen in

geradem Widerſpruch ſtehen.

(l) S. o. Note g. — Manche

ſuchen das turpe darin, daß es

überhaupt der Ehre zuwider ſey,

für eine Pflichtübung einen Geld-

vortheil anzunehmen. Man kommt

leicht dahin, ſich in ſolche mora-

liſche Übertreibungen hinein zu

reden. Niemand hält es für an-

ſtößig, wenn einem Beamten für

angeſtrengte Dienſtleiſtung eine

Gratification bewilligt, oder wenn

Dem, der mit eigner Gefahr ei-

nem Andern das Leben rettet, ein

Ehrengeſchenk gereicht wird.

III. 12

|0190 : 178|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

durch verſprochnen Lohn zu überwinden. Dieſe Gefahr

iſt nicht vorhanden bey der Conventionalſtrafe für den

Fall eines Verbrechens, die daher ganz zuläſſig iſt (Note g.).

Sie iſt auch nicht vorhanden, wenn ein Teſtator die Erb-

einſetzung oder das Legat an die Bedingung knüpft, daß

der Erbe oder Legatar das Schlechte unterlaſſe, oder eine

Pflicht erfülle; hier iſt von einem ſolchen Verbot der Be-

dingung in unſren Rechtsquellen gar nicht die Rede, wel-

ches aus dem angeführten Grunde des Unterſchieds nicht

als eine zufällige Auslaſſung angeſehen werden darf. —

Es iſt aber noch beſonders zu bemerken, daß die ange-

führte Rechtsregel in folgendem größeren Zuſammenhang

aufgefaßt werden muß, durch welchen jeder Zweifel über

den hier entwickelten Grund verſchwindet. Wenn nämlich

für die Unterlaſſung eines Verbrechens oder die Erfüllung

einer Pflicht Geld nicht blos verſprochen, ſondern baar

bezahlt wird, ſo kann dieſes gezahlte Geld mit der con-

dictio ob turpem causam zurückgefordert werden (m). Dar-

aus aber folgt von ſelbſt das geringere Recht, ein bloßes

Verſprechen der Zahlung als ungültig zu behandeln (n).

(m) L. 2 pr. § 1. 2, L. 4 § 2,

L. 9 pr. § 1. 2 de cond. ob tur-

pem (12. 5.), L. 6. 7 C. eod.

(4. 7.).

(n) L. 1 C. de cond. ob tur-

pem (4. 7.). — Nämlich aus dem

Recht auf die condictio, folgt

überall das auf die exceptio,

aber nicht umgekehrt. Wenn z. B.

einem Richter Geld verſprochen

wird unter der Bedingung eines

ungerechten Urtheils, ſo iſt das

Verſprechen, wegen der unſittli-

chen Bedingung nicht bindend;

iſt das Geld aber ſchon gezahlt,

ſo kann es der Geber nicht zu-

rückfordern, weil auch ihn der

ſittliche Tadel trifft. L. 3 de cond.

ob turp. (12. 5.).

|0191 : 179|

§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)

Allein es folgt zugleich aus dieſer Zuſammenſtellung,

daß überall die Ungültigkeit nur inſoweit behauptet wer-

den kann, als dabey Derjenige, welcher gab oder verſprach,

durch Furcht oder Hoffnung beſtimmt ſeyn konnte. Auch

beziehen ſich alle angeführte Stellen (Note k. m. n.) auf

ſolche Fälle, worin ein eigenes Intereſſe des Gebers ent-

weder augenſcheinlich iſt, oder als vorausgeſetzt leicht hin-

zugedacht werden kann. Wenn dagegen Jemand einem

Trunkenbold, um deſſen Beſſerung zu befördern, eine Geld-

ſumme verſpricht unter der Bedingung, daß derſelbe ein

ganzes Jahr lang die Trunkenheit vermeide, ſo iſt das

Verſprechen gültig, weil der Verſprechende kein perſön-

liches Intereſſe bey Erfüllung der Bedingung hat, alſo

auch nicht zu befürchten iſt, daß der Andere durch die

Drohung, das Laſter fortzuſetzen, in unzuläſſiger Weiſe

auf den Willen des Verſprechenden einwirken werde.

 

§. 123.

III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unſittliche.

(Fortſetzung.)

Bisher war von ſolchen Bedingungen die Rede, deren

Gegenſtand eine an ſich ſelbſt unſittliche Handlung iſt.

Es giebt aber auch mehrere Fälle, in welchen die an ſich

tadelloſe Handlung nur dadurch einen unſittlichen Cha-

racter annimmt, daß ſie eben zur Bedingung eines Rechts-

 

12*

|0192 : 180|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

geſchäfts gemacht wird. Bey einigen derſelben finden ſich

bedeutende Abweichungen von den über die unſittlichen Be-

dingungen im Allgemeinen (§ 122) aufgeſtellten Regeln.

I. In Beziehung auf Ehe ſind folgende Bedingungen

unterſagt.

 

A. Die Bedingung der gänzlichen Eheloſigkeit, und

zwar dieſe durch eine ausdrückliche Beſtimmung der Lex

Julia (a). Dieſe Beſtimmung war ſehr natürlich in einem

Geſetz, welches durch eine Reihe von Belohnungen und

Strafen die Ehe auf alle Weiſe zu befördern ſuchte.

 

B. Die Eheſcheidung, wenn ſie eben ſo, wie dort die

Eheloſigkeit, zur Bedingung eines Vermögensvortheils ge-

macht wird (b). Denn auch die Römer ſahen die Schei-

dung ſtets als ein Übel an, wozu der Entſchluß nur durch

ſittliche Nothwendigkeit gerechtfertigt werden könne; die

Einladung dazu durch Gründe des Eigennutzes mußte da-

her als unſittlich erſcheinen.

 

C. Unterwerfung unter fremdes Gutdünken bey der

 

(a) L. 22, L. 63 § 1, L. 72

§ 5, L. 74, L. 77 § 2, L. 100 de

cond. (35. 1.), L. 65 § 1 ad Sc.

Treb. (36. 1.), Paulus III. 4 B.

§ 2. — Auch indirect, wenn un-

ter dieſer Bedingung dem Vater

oder dem Sohn Desjenigen, der

ehelos bleiben ſoll, ein Legat zu-

gewendet wird. L. 79 § 4 de

cond. (35. 1.). Auch das Verbot

der Ehe mit einer beſtimmten

Perſon, wenn dieſe in einer Lage

iſt, dann keine Ehe zu finden,

alſo ehelos bleiben zu müſſen.

L. 64 § 1 de cond. (35. 1.). —

Ganz eigene Schickſale hat die

Bedingung des Wittwenſtandes

gehabt, d. h. der Eheloſigkeit nach

einer früheren, durch den Tod

aufgelöſten Ehe; dieſe Bedingung

hat zuletzt Juſtinian als wirkſam

zugelaſſen. Vgl. Sell S. 178.

(b) L. 8 § 1 de usu (7. 8.),

L. 5. C. de inst. (6. 25.).

|0193 : 181|

§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)

Wahl eines Ehegatten, als Bedingung eines Vermoͤgens-

vortheils (c).

D. Conventionalſtrafe, wodurch auf irgend eine Weiſe

der freye Wille in Eheſachen gefährdet wird. Alſo Strafe

für den Fall der Unterlaſſung einer beſtimmten Ehe (d),

eben ſo aber auch Strafe für den Fall der Scheidung (e).

 

Nach dem Ausdruck mancher der hier angeführten

Stellen könnte man glauben, es wäre jede Bedingung

unſittlich, wodurch irgend ein Einfluß des Eigennutzes auf

ſolche Entſchlüſſe herbeygeführt werden koͤnnte; ſo iſt es

jedoch nicht. Vielmehr werden folgende Bedingungen aus-

drücklich als gültig und wirkſam anerkannt. Am unbe-

denklichſten gültig iſt die Erbeinſetzung oder das Legat un-

ter der Bedingung, wenn der Honorirte überhaupt heu-

rathe (f). Aber es gilt auch die Bedingung, eine be-

 

(c) L. 28 pr., L. 72 § 4 de

cond. (35. 1.), und zwar, nach

dieſer letzten Stelle, hauptſächlich

deswegen, weil dieſes zu gänzli-

cher Eheloſigkeit führen konnte:

„eamque legis sententiam vi-

deri, ne quod omnino nuptiis

impedimentum inferatur.” Vgl.

oben § 119. t.

(d) L. 71 § 1 de cond. (35.

1.), L. 134 pr. de verb. oblig.

(45. 1.). „… quia inhonestum

visum est, vinculo poenae ma-

trimonia obstringi, sive futu-

ra, sive jam contracta.” In dem

Fall der letzten Stelle ſollte nicht

einmal von der Frau ſelbſt, die

nicht heurathen wollte, ſondern

von den Erben ihres Vaters, der

den Vertrag geſchloſſen hatte, die

Strafe bezahlt werden; ſelbſt dieſe

Beſtimmung des Vertrags wird

für ungültig erklärt.

(e) L. 2 C. de inut. stip. (8.

39.) (der Grund iſt: „Libera ma-

trimonia esse antiquitus pla-

cuit”). L. 134 pr. de verb. oblig.

(45. 1.) verb. „sive jam con-

tracta” (Note d). L. 19 eod.

(ſ. § 122. g).

(f) Sell S. 162. Die Zu-

läſſigkeit folgt ohnehin ſchon aus

der folgenden Bedingung, worin

auch dieſe mit enthalten iſt, nur

mit weit größerer Beſchränkung

der Freyheit.

|0194 : 182|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſtimmte Perſon zu heurathen (g), oder nicht zu heura-

then (h), welches letzte beſonders zweifelhaft ſcheinen konnte.

Ja ſogar iſt es an ſich gültig, und nur nach individuellen

Umſtänden ungültig, wenn ein Mann einer Frau (oder

umgekehrt) Geld verſpricht, unter der Bedingung, daß ſie

ihn heurathe (i). Denkt man nämlich dieſen Fall ſo, daß

der Entſchluß bezahlt, der Widerwille abgekauft werde,

ſo iſt gewiß der Vertrag unwürdig und ungültig; aber er

kann auch einen ganz andern und tadelloſen Sinn haben.

(g) L. 63 § 1, L. 71 pr. § 1

de cond. (35. 1.), L. 2 C. de inst.

(6. 25.). — Iſt freylich die Ehe

mit jener Perſon unanſtändig, ſo

iſt die Bedingung ungültig, nicht

blos weil überhaupt dem Hono-

rirten etwas Unanſtändiges zuge-

muthet wird, ſondern auch weil

darin die indirecte Bedingung

liegt, nun überhaupt gar nicht zu

heurathen. L. 63 § 1 cit. —

Schlägt die bezeichnete Perſon die

Ehe aus, ſo gilt die Bedingung

als erfüllt (§ 119. c). — Eine be-

ſondere Geſtalt dieſes erlaubten

Falles liegt in dem Legat an zwey

Perſonen, unter der Bedingung,

daß dieſe unter ſich eine Ehe ein-

gehen. L. 31 de cond. (35 1.).

(h) L. 63 pr. L. 64 pr. de

cond. (35. 1.), mit Ausnahme des

in der Note a berührten Falles

aus L. 64 § 1 eod.

(i) L. 97 § 2 de verb. oblig.

(45. 1.). „Si tibi nupsero, decem

dare spondes? causa cognita

actionem denegandam puto:

nec raro probabilis causa ejus-

modi stipulationis est. Item si

vir a muliere eo modo non in

dotem stipulatus est.” Sell

S. 175 hat dieſe Stelle mehrfach

misverſtanden. Zuerſt indem er

die negative Kraft überſieht, die

das causa cognita (hier wie in

vielen anderen Stellen) hat; es

heißt: nonnisi causa cognita,

nur unter beſonderen, aus der Un-

terſuchung hervorgehenden, Um-

ſtänden. Dann indem er die ver-

botene Schenkung unter Ehegat-

ten mit hereinzieht, von der die-

ſer Fall gar nicht berührt wird,

da es ein datum ob causam iſt.

Bey dem Mann ſoll es ſich eben

ſo verhalten wie bey der Frau

(item), alſo auch causa cognita

und nec raro. Das non in do-

tem geht darauf, daß die dotis

stipulatio ein höchſt gewöhnlicher,

ja auf alle Weiſe gepflegter und

begünſtigter Vertrag war, bey

dem es widerſinnig geweſen wäre,

die Gültigkeit auch nur zu be-

zweifeln, oder von einer causae

cognitio abhängig zu machen.

|0195 : 183|

§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)

Wenn die Frau bisher ihre armen Eltern durch Arbeit er-

nährte, und nun durch die verſprochene Summe verſorgen

will, wenn ſie das Geld dem Mann als Dos zurückge-

ben will, um für den Fall des Wittwenſtandes ihren Un-

terhalt zu ſichern, ſo iſt gegen die Abſicht eines ſolchen

Vertrags Nichts einzuwenden.

Vergleicht man dieſe erlaubten Fälle mit den uner-

laubten, ſo ergiebt ſich Folgendes. Conventionalſtrafen

ſind ungültig, wenn ſie auf irgend eine Weiſe die Ent-

ſchlüſſe in Eheſachen zu leiten beſtimmt ſind. Vermögens-

vortheile können in der Regel auch an ſolche Entſchlüſſe,

als gültige Bedingungen, geknüpft werden. Schlechthin

verboten, als ſolche Bedingungen, ſind: Eheloſigkeit, Ehe-

ſcheidung, Unterwerfung des Entſchluſſes unter fremde

Willkühr. In anderen Fällen kann nur durch die beſon-

deren Umſtände die Bedingung als eine unſittliche erſchei-

nen. — Im Ganzen alſo hat hier die Anſicht eingewirkt,

daß Strafen meiſt gefährlicher für die Willensfreyheit

ſeyen, als angebotene Vortheile. Dieſe Anſicht aber fin-

det ihre Rechtfertigung nicht nur in der Natur der menſch-

lichen Empfindung überhaupt, ſondern auch noch in fol-

gendem Umſtand. Vermögensvortheile ſind gar nicht im-

mer (ſo wie Conventionalſtrafen) dazu beſtimmt, als ei-

gennützige Reizmittel auf den Willen einzuwirken, ſondern

ſie können auch dazu dienen, dem ohnehin vorhandenen

tadelloſen Willen die Ausführung möglich zu machen.

Wenn z. B. die Tochter eines armen oder geizigen Vaters

 

|0196 : 184|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

einen armen Mann zu heurathen, oder einen ihr wider-

wärtigen Reichen auszuſchlagen geneigt iſt, ſo kann ihr

ein wohldenkender Teſtator zu Hülfe kommen, indem er

ihr ein anſehnliches Legat ausſetzt, unter der Bedingung

jenen Armen zu heurathen, oder dieſem Reichen die Ehe

zu verſagen.

II. Wegen übertriebener Beſchränkung der natürlichen

Freyheit iſt für unerlaubt erklärt die Bedingung, daß ein

Legatar ſeinen Aufenthalt nicht nach freyer Wahl be-

ſtimme, ſondern entweder ſtets an einem beſtimmten Ort

wohne, oder ſeinen Wohnſitz von dem eines Andern ab-

hängig mache (k). Ausnahmsweiſe jedoch konnte der Pa-

tron ſeinen Freygelaſſenen eine ſo beſchränkende Bedingung

gültig auferlegen (l).

 

III. Eben ſo gilt als unſittlich die Conventionalſtrafe,

die Einer unter der Bedingung zu zahlen verſpricht, wenn

er nicht den Andern zum Erben einſetzen werde (m). Es

wird nämlich für durchaus nothwendig erachtet, daß Je-

der bis zu ſeinem Tode ein völlig freyes Urtheil über das

den Umſtänden jeder Zeit angemeſſene Schickſal ſeines Ver-

mögens behalte.

 

IV. Unſittlich iſt ferner, nach der von Vielen aufge-

ſtellten, mit guten Gründen unterſtützten, Behauptung, die

auf Änderung oder Nichtänderung des Religionsbekennt-

 

(k) L. 71 § 2 de cond. (35.

1.). Vgl. Sell S. 189.

(l) L. 71 § 2, L. 13 § 1 de

cond. (35. 1.), L. 44 de manum.

test. (40. 4.), L. 18 § 1. 2 de

alim. (34. 1.), ferner die in § 119

Note s angeführte Stellen.

(m) L. 61 de verb. oblig. (45.1.).

|0197 : 185|

§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)

niſſes gerichtete Bedingung (n). Jeder dieſer Entſchlüſſe

nämlich iſt an ſich ſelbſt bloße Gewiſſensſache, und von

dem Standpunkt des Rechts aus tadellos. Allein der

Einfluß von Gewinn und Verluſt auf dieſe innerſte An-

gelegenheit des Menſchen iſt gewiß in hohem Grade be-

denklich, und wir verfahren daher ganz im Sinn der vom

Roͤmiſchen Recht für andere Fälle aufgeſtellten Grundſätze,

wenn wir dieſe Bedingung als unſittlich behandeln, ſo

daß durch die Aufnahme derſelben der Vertrag ſelbſt un-

gültig, die teſtamentariſche Verfügung dagegen unbe-

dingt wird.

Die bisher dargeſtellten Fälle hatten die gewöhnliche

Wirkung unſittlicher Bedingungen überhaupt (§ 122). Die

folgenden weichen davon in verſchiedener Weiſe ab; dieſe

beziehen ſich insgeſammt nur auf teſtamentariſche Verfü-

gungen, nicht auf Verträge.

 

V. Conditio jurisjurandi, das heißt die Bedingung,

daß der ernannte Erbe oder Legatar irgend eine künftige

Leiſtung (Geben oder Thun) zuvor eidlich verſpreche. Be-

trachten wir zuerſt, was geſchehen würde, wenn dieſe Be-

dingung nicht unterſagt worden wäre. Der Eid müßte

geſchworen werden, dann wäre die Bedingung vollkom-

men erfüllt, und von einer weiteren juriſtiſchen Folge

 

(n) Sell S. 142, wo dieſe

Frage ſehr befriedigend behandelt

iſt. Später hat ſich Vangerow

Pandekten I. 110 für die unbe-

ſchränkte Zuläſſigkeit dieſer Be-

dingung erklärt.

|0198 : 186|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

wäre nicht die Rede. Die Vollziehung der angelobten

Handlung ſelbſt bliebe dem Gewiſſen überlaſſen, ein Rechts-

ſchutz beſtände dafür nicht, weil ſich der Teſtator blos an

das Gewiſſen wenden wollte, anſtatt daß es bey ihm ge-

ſtanden hätte, nicht den Eid auf die Handlung, ſondern

die Handlung ſelbſt, als Bedingung auszudrücken (o). —

Daß nun dieſes ſo geſchehe, hat das Prätoriſche Edict

unterſagt, und zwar aus folgender Erwägung. Leichtſin-

nige Menſchen würden den Eid ſchwören, und dann un-

erfüllt laſſen; damit wäre die Religion verhöhnt, die Er-

wartung des Teſtators getäuſcht, und die unwürdigſte Ge-

ſinnung führte zu einem unverdienten Gewinn. Andere

würden aus übertriebener Angſtlichkeit lieber Alles aus-

ſchlagen, um nur nicht ſchwören zu müſſen (p), und auch

(o) So ſagt es wörtlich Ulpian

in L. 8 pr. de cond. inst. (28.

7.), am Schluß dieſer Stelle. Es

iſt alſo ganz irrig, wenn Manche

annehmen, nach dem Inhalt des

Teſtaments beſtehe eine doppelte,

rechtlich geſchützte Verpflichtung,

erſtlich zu ſchwören, und zwey-

tens die Handlung ſelbſt zu ver-

richten. Thibaut Pandekten

§ 954 Num. III. Sell S. 235.

— Die zweyte Verpflichtung iſt

nach dem Teſtament gar nicht vor-

handen, und entſteht erſt durch

die künſtliche Verwandlung, wo-

von ſogleich die Rede ſeyn wird.

(p) So erklärt es Ulpian in

L. 8 pr. de cond. inst. (28. 7.),

und dieſe Äußerung wird von

Walch opusc. I. 188 aus dem un-

begreiflichen Misverſtändniß be-

ſtritten, als ob Ulpian läugnen

wollte, daß es auch noch eine dritte

Klaſſe gebe, nämlich Menſchen von

verſtändiger Religioſität, die un-

bedenklich ſchwören, dann aber

auch den Eid gewiſſenhaft erfül-

len werden. Die Meynung iſt

aber die: wären alle Menſchen

verſtändig und religiös, ſo wäre

die conditio jurisjurandi unbe-

denklich, da aber auch jene beiden

Klaſſen exiſtiren, und der Hono-

rirte eben ſo wohl zu dieſen, als

zu den verſtändig Gewiſſenhaften

gehören kann, ſo iſt die Bedin-

gung nicht zuzulaſſen.

|0199 : 187|

§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)

dadurch würde die Erwartung des Teſtators getäuſcht

werden. Dieſe mögliche Verleitung zur Unſittlichkeit, ver-

bunden mit dem höchſt unvollkommnen Schutz für den Wil-

len des Verſtorbenen, hat das Verbot veranlaßt (q). Die

erſte Maasregel des Prätors beſteht nun darin, daß er

die Bedingung misbilligt und als nicht geſchrieben betrach-

tet (remittit Praetor conditionem) (r). Bliebe er dabey

ſtehen, ſo wäre der Wille des Verſtorbenen, der ja doch

nicht etwas an ſich Schlechtes verlangte, eigenmächtig

verändert. Man hätte nun die zu beſchwörende Hand-

lung ſelbſt unmittelbar als Bedingung behandeln können

(und das nehmen wirklich Manche an); damit aber wäre

man über den Willen weit hinaus gegangen, denn die

(q) Irrige Erklärungsgründe

ſind folgende. Nach Walch opusc.

I. 191 die Lehre der Stoiker, daß

der Eid zu heilig ſey, um wegen

irdiſcher Vortheile gebraucht zu

werden. Allein wie paßt dazu das

von den Römern ſo hoch gehal-

tene und ſo häufig angewendete

jusjurandum delatum, welches ja

auch ſtets des Vermögens wegen

gebraucht wird? — Sell S. 235

meynt, es ſey ſchimpflich für den

Honorirten geweſen, daß man ſich

nicht mit ſeiner ohnehin vorhan-

denen Obligation zu der Hand-

lung begnügen wollte, ſondern

noch daneben, aus Mistrauen,

einen Eid forderte. Allein eben

jene andere Obligation iſt gar

nicht vorhanden (Note o), und

wäre ſie da, ſo würde eine Be-

ſtärkung derſelben durch Eid eben

ſo wenig kränkend ſeyn, als eine

Beſtärkung durch Caution es iſt,

die doch gewiß der Teſtator nach

Belieben auflegen kann. Sell

iſt getäuſcht worden durch die

Ausdrücke turpis und turpiter

(L. 8 pr. de cond. inst., L. 20

de cond.); dieſe aber bedeuten

nicht nothwendig eine Beſchim-

pfung, ſondern auch Alles, wo-

durch ſittliche Intereſſen verletzt

oder gefährdet werden.

(r) L. 26 pr. L. 20 de cond.

(35. 1.), L. 8 pr. § 1—5 de cond.

inst. (28. 7.), L. 29 § 2 de test.

mil. (29. 1.), L. 14 § 1 de leg. 3

(31. un.). — Mit Unrecht wird

wohl darauf bezogen L. 112 § 4

de leg. 1 (30. un.), welche Stelle

eher auf einen von dem Teſtator

ſelbſt niedergeſchriebenen Eid zu

deuten iſt.

|0200 : 188|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Handlung hätte nun jedesmal vor dem Erwerb geſchehen

müſſen, was der Teſtator gar nicht verlangt hatte, und

dadurch wäre bey Legaten die neue Gefahr entſtanden,

das ganze Recht (wegen des ſpäteren dies cedens) zu

verlieren. Das geſchieht alſo nicht, vielmehr wird die

ganze Verfügung durchaus eine unbedingte (s). Allein

man zwingt nun hinterher den Erben oder Legatar, die

Handlung, die er hätte beſchwören ſollen, wirklich zu voll-

ziehen, oder mit anderen Worten, man verwandelt die

Bedingung in einen Modus (t). Dadurch iſt der Wille

des Teſtators viel mehr, als durch den Eid, geſichert,

und die oben erwähnte ſittliche Gefahr iſt gänzlich abge-

wendet.

(s) Dieſer Satz, den Manche

verkennen (Sell S. 253), iſt der

wichtigſte. Er liegt vor Allem

ſchon in der oft erwähnten re-

missa conditio; dann iſt er an-

erkannt in L. 26 pr. de cond.

(35. 1.), und in L. 8 § 7 de cond.

inst. (28. 7.) (vgl. § 119. u), am

deutlichſten aber in L. 8 § 8 eod.

Zwey Umſtände haben den Irr-

thum veranlaßt; erſtlich der in

§ 7 gebrauchte Ausdruck conditio,

der ſich daraus erklärt, daß das

Ganze urſprünglich als con-

ditio gefaßt war: zweytens L. 8

§ 6 eod., nach welchem der Erbe

in dieſem Fall die Klagen aus

der Erbſchaft nicht eher haben

ſoll, als bis er zuvor die Hand-

lung vollzogen hat. Allein dieſes

iſt bey einem Univerſalerben ge-

rade das eigentliche Mittel, einen

Modus zu erzwingen; auch un-

terſcheidet ſich die Einwirkung die-

ſer Zwangsmittel weſentlich von

der Einwirkung einer auf die-

ſelbe Handlung gerichteten Be-

dingung. Denn dem Erben wird

hier doch nur die Ausübung

gewiſſer erbſchaftlicher Rechte ent-

zogen; das Erbrecht ſelbſt iſt ihm

ſchon völlig erworben, und wird

bey ſeinem Tod auf ſeine Erben

übertragen. Iſt es dagegen Be-

dingung, und ſtirbt er vor deren

Erfüllung, ſo geht Nichts auf

ſeine Erben über.

(t) Vgl. die drey in der Note s

zuerſt angeführte Stellen. —

Hierin liegt nun eben die wich-

tige praktiſche Verſchiedenheit die-

ſes Falles von den eigentlich un-

ſittlichen Bedingungen, indem

dieſe ſpurlos vernichtet werden.

|0201 : 189|

§. 123. Bedingung. Unſittliche. (Fortſetzung.)

Jedoch iſt dieſes Alles nur als ein Recht des bedingt

Honorirten zu betrachten (remittit conditionem). Verbo-

ten iſt der Eid nicht, und leiſtet ihn der eingeſetzte Erbe

freywillig, ſo thut er damit nichts Unerlaubtes, vielmehr

liegt darin eine gültige pro herede gestio (u). Aber frey-

lich die Verwandlung in einen Modus bleibt daneben doch

beſtehen, ſonſt wäre die ganze Maasregel ohne Zweck

und Erfolg.

 

Die Bedingung des Eides aber iſt ausnahmsweiſe (v)

in folgenden Fällen gültig. Zuerſt wenn einer Stadtge-

meine unter der Bedingung eines Eides Etwas hinterlaſſen

iſt, ſo müſſen ihre Verwaltungsbeamte ſchwören (w). Der

Grund der Ausnahme liegt wohl darin, daß eine Stadt

weder leichtſinnig, noch abergläubiſch ſeyn kann, die Ge-

ſinnung der Beamten aber ungefährlich iſt, weil dieſe kein

eigenes Intereſſe haben. — Zweytens wenn ein Sklave

unter der Bedingung irgend eines eidlichen Verſprechens

freygelaſſen wurde (x). Der Grund liegt darin, daß die

meiſten Handlungen, die man einem Freyen als Bedin-

gung auflegen kann, von einem Sklaven wegen ſeiner

Rechtloſigkeit nicht vollzogen werden können. Nun war

 

(u) L. 62 pr. de adquir. her.

(29. 2.). Hier heißt es: si ju-

raverit, heres esto. Das ha-

ben Manche ſo verſtanden, als

wäre ein Eid ohne Inhalt vor-

geſchrieben geweſen. Offenbar hat

der Juriſt nur den (hier gleich-

gültigen) Inhalt weggelaſſen.

(v) L. 20 de cond. (35. 1.).

„Non dubitamus, quin turpes

conditiones remittendae sint:

quo in numero plerumque sunt

etiam jurisjurandi.” Das ple-

rumque deutet auf Ausnahmen.

(w) L. 97 de cond. (35. 1.),

ſ. o. § 92. n.

(x) L. 12 pr. § 1 de manum.

test. (40. 4.).

|0202 : 190|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

allerdings auch der vom Sklaven geleiſtete Eid nicht ju-

riſtiſch verpflichtend, ſondern nur der nach der Freylaſ-

ſung geleiſtete (y). Allein man rechnete darauf, der Sklave

werde, wenn er durch den erſten Eid frey geworden wäre,

aus Religioſität zu einer Wiederholung deſſelben ſich ent-

ſchließen, wodurch er dann klagbar verpflichtet wurde (z).

— Ohne Zweifel iſt von dieſem Fall die ganze Sitte aus-

gegangen, in Teſtamenten einen Eid als Bedingung vor-

zuſchreiben; manche Teſtatoren haben ſpäter dieſe Bedin-

gung auch Freyen auferlegt, und dadurch iſt das Verbot

im Edict veranlaßt worden.

Dieſe Unzuläſſigkeit der conditio jurisjurandi galt je-

doch nur in Teſtamenten, nicht in Verträgen (aa); ohne

Zweifel, weil ſich hier Jeder leicht die Überzeugung ver-

ſchaffen kann, daß ſein Gegner diejenige Geſinnung wirk-

lich habe, wodurch eine ſolche Bedingung unbedenklich wird.

 

VI. Ungültig iſt diejenige Bedingung, wodurch die te-

ſtamentariſche Verfügung zu einer captatoriſchen wird.

 

(y) L. 36 de man. test. (40.

4.), L. 7 pr. § 1. 2 de op. lib.

(38. 1.). Es war gleichgültig, ob

der durch Teſtament Freygelaſ-

ſene früher oder ſpäter den Eid

leiſtete (L. 7 § 2 cit.); bey der

manumissio vindicta mußte es

incontinenti geſchehen, wenn es

verpflichten ſollte. L. 44 pr. de

lib. causa (40. 12.).

(z) Dieſe Vorſicht wurde näm-

lich angewendet bey der manu-

missio vindicta, wobey man auch

ſchon zuvor den Sklaven ſchwö-

ren ließ. L. 44 pr. de lib. causa

(40. 12.). Dieſelbe Berechnung

aber lag augenſcheinlich auch der

eonditio jurisjurandi in Teſta-

menten zum Grunde.

(aa) L. 19 § 6 de don. (39. 5.).

Die Gültigkeit der Bedingung

wird vorausgeſetzt, indem blos

bemerkt wird, es ſey keine Schen-

kung, ſondern ein datum ob cau-

sam. Sell S. 245.

|0203 : 191|

§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)

Hier ſoll aber nicht die Bedingung wegfallen, ſondern die

ganze Verfügung iſt ungültig (bb).

VII. Endlich gehörten dahin früher auch die poenae

causa getroffenen Verfügungen in einem Teſtament, und

auch hier war die Verfügung ſelbſt ungültig, nicht die

Bedingung. Juſtinian hat dieſes aufgehoben (§ 117 Note

l. m. n).

 

§. 124.

III. Willenserklärungen. — Bedingung. Unmögliche

und unſittliche. (Fortſetzung.)

Es bleiben jetzt noch einige Fragen zu erörtern übrig,

die ſich auf die unmöglichen und unſittlichen Bedingungen

gemeinſchaftlich beziehen.

 

Die erſte Frage betrifft das Verhältniß dieſer Hinder-

niſſe zu dem Bewußtſeyn des Urhebers des Rechtsge-

ſchäfts. Gewöhnlich denkt man an den Fall, da der Ur-

heber das Hinderniß kennt, und ſich dadurch nicht abhal-

ten läßt, die Bedingung hinzu zu fügen. Wie aber wenn

er es nicht kennt, alſo über die beſondere Beſchaffenheit

der Bedingung im Irrthum iſt? Ein ſolcher Irrthum

wird bey abſolut unmöglichen, ſo wie bey unſittlichen Be-

dingungen, kaum vorkommen können; bey relativ unmög-

lichen iſt er allerdings denkbar, indem z. B. der Teſtator

einen Erben einſetzen kann unter der Bedingung Geld an

 

(bb) Sell S. 295. — Die ge-

nauere Ausführung iſt nur im

Zuſammenhang des Erbrechts

möglich.

|0204 : 192|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

eine beſtimmte Perſon zu zahlen, die zur Zeit der Abfaſ-

ſung des Teſtaments, ohne Wiſſen des Teſtators, bereits

verſtorben iſt. Die aufgeworfene Frage iſt beſtritten, wir

müſſen aber ſchon deshalb annehmen, daß im Fall des

Irrthums baſſelbe gelte, wie im Fall des richtigen Be-

wußtſeyns, weil die in unſren Rechtsquellen aufgeſtellten

Regeln von unmöglichen Bedingungen allgemein reden,

ohne jenen denkbaren Unterſchied auch nur zu berühren.

Dazu kommt, als wichtige Unterſtützung, die Analogie des

Falles, da nicht die Bedingung, ſondern die in einem

Vertrag verſprochene Handlung ſelbſt, relativ unmöglich

iſt; durch dieſen Umſtand wird der Vertrag völlig ungül-

tig, auch wenn die Contrahenten die Unmöglichkeit nicht

kannten (a). Endlich aber wird noch in dem gegenwärti-

gen § gezeigt werden, daß wahrſcheinlich die Regeln über

die unmöglichen Bedingungen gerade von dem Fall des

Irrthums ihren Ausgang genommen haben.

Die bisher angeſtellte Betrachtung der unmoͤglichen und

unſittlichen Bedingungen bezog ſich nur auf Suspenſivbe-

dingungen; es iſt nun noch die Anwendung dieſer Regeln

auf die reſolutiven zu erwähnen. Jedoch nur mit weni-

gen Worten, da ſchon das Schweigen unſrer Rechtsquellen

beweiſt, wie wenig erheblich dieſer Gegenſtand iſt. Auch

kann dieſe Frage nur in Beziehung auf Verträge aufge-

worfen werden (§ 120). — Halten wir uns nun an die

Auffaſſung der Reſolutivbedingung als einer ſuspenſiven

 

(a) Sell S. 77 fg.

|0205 : 193|

§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)

für die Vernichtung des Hauptgeſchäfts (§ 120. l), ſo iſt

durch die Unmöglichkeit derſelben die daran geknüpfte Ver-

nichtung entkräftet. Es iſt alſo ſo gut, als ob der Ver-

trag ganz ohne Reſolutivbedingung geſchloſſen wäre. So

einleuchtend nun im Allgemeinen dieſe Beſtimmung iſt, ſo

wird doch auch folgende Einſchränkung ſchwerlich einen

Widerſpruch finden. Iſt nämlich von einer unſittlichen

Bedingung die Rede, ſo können dieſer die Parteyen die

Form einer reſolutiven geben, lediglich um die Anwen-

dung der oben aufgeſtellten Regeln zu umgehen; dann

muß in jedem einzelnen Fall Dasjenige geſchehen, was

zur Aufrechthaltung des ſittlichen Zwecks nothwendig iſt.

Verſpricht alſo Einer dem Andern Hundert unter der Sus-

penſivbedingung, daß der Andere einen Dritten mishandle,

ſo iſt der Vertrag nichtig. Nun koͤnnte man dem Vertrag

die Wendung geben, daß eine Schenkung von Hundert

verſprochen würde, mit der Reſolutivbedingung, wenn die

Mishandlung unterbliebe. Nach dem Buchſtaben der eben

aufgeſtellten Regel würde blos die Reſolutivbedingung

wegfallen, und die Hundert müßten bezahlt werden; nach

der Abſicht der Parteyen aber iſt es ſo gut, wie wenn

jene Form der Suspenſivbedingung gewählt wäre, die

unſittliche Abſicht darf nicht durch Schenkung einen Lohn

erhalten, und es muß vielmehr das ganze Geſchäft als

ungültig behandelt werden.

Die wichtigſte Frage endlich bleibt noch für die un-

möglichen und unſittlichen Bedingungen gemeinſchaftlich zu

 

III. 13

|0206 : 194|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

beantworten übrig: was iſt der Grund der aufgeſtellten

Regeln, und insbeſondere der auffallenden Regel, nach

welcher in Teſtamenten die in ſolcher Weiſe bedingte Ver-

fügung als unbedingt aufrecht erhalten wird? was iſt alſo

zugleich der Grund, die Teſtamente hierin anders zu be-

handeln, als die Verträge?

Die ſcheinbare Genealogie der Gedanken iſt dieſe: Un-

mögliche Bedingungen gelten als nicht geſchrieben, und

weil die unſittlichen für den beſſeren Menſchen zugleich

unmögliche ſind, ſo müſſen ſie juriſtiſch eben ſo behandelt

werden, wie es ſich bey den unmoͤglichen ohnehin von ſelbſt

verſteht. Der Typus alſo, von welchem in dieſen zuſam-

menhängenden Regeln ausgegangen werden müßte, wäre

etwa die in den Rechtsquellen erwähnte Bedingung: si di-

gito coelum tetigerit, heres esto.

 

Allein nach dieſer Auffaſſung bleibt die Sache von

allen Seiten unerklärlich. Erwägen wir zuerſt das logi-

ſche Weſen der Bedingung, ſo führt dieſes gerade auf

das entgegengeſetzte Reſultat. Denn das Seyn oder Nicht-

ſeyn der bedingenden Thatſache ſoll das Seyn oder Nicht-

ſeyn des Rechtsverhältniſſes zur Folge haben, darin be-

ſteht das Weſen der Bedingung. Nun iſt aber das Nicht-

ſeyn der Thatſache im Fall der Unmöglichkeit eben ſo un-

zweifelhaft, als im Fall der zufälligen Vereitlung. Dieſe

Identität wird bey den Verträgen ausdrücklich anerkannt,

warum nicht bey den Teſtamenten? Die Unterſcheidung

derſelben von den Verträgen fand ſchon Gajus anſtoͤßig,

 

|0207 : 195|

§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)

obgleich er, ſeiner Secte getreu, die Regel ſelbſt darum

nicht minder annahm (b).

Betrachtet man aber die Sache weniger von der ſtreng

logiſchen, als von der praktiſchen Seite, nämlich nach dem

wahrſcheinlichen Gedankengange des Teſtators, ſo liegt in

der That die Annahme ſehr nahe, es ſey demſelben mit

einer ſolchen Verfügung überhaupt nicht Ernſt geweſen,

ſondern er habe nur mit Worten ein Spiel getrieben.

Dieſe natürliche Annahme iſt nun bey Verträgen wirklich

anerkannt (c), liegt aber bey Teſtamenten nicht minder

nahe; ja auch hier findet ſie ſich einmal geradezu ausge-

ſprochen (d). Aus dieſen Gründen wollten nun in der

That die Proculejaner Teſtamente und Verträge gleich

behandelt wiſſen (Note b). Daß aber dennoch die Sabi-

nianer das Gegentheil annahmen, und daß Juſtinian ihrer

Meynung den Vorzug gab, erklärt man gewöhnlich aus

 

(b) Gajus III. § 98 „.. diver-

sae scholae auctores non mi-

nus legatum inutile existimant,

quam stipulationem. Et sane

vix idonea diversitatis ratio

reddi potest.” (Die Leſeart vix

iſt nach den von Blume angege-

benen Schriftzügen und nach dem

inneren Zuſammenhang nicht zu

bezweifeln.)

(c) L. 31 de oblig. et act.

(44. 7) „.. quorum procul du-

bio in hujusmodi actu talis co-

gitatio est, ut nihil agi existi-

ment adposita ea conditione

quam sciant esse impossibilem.

(d) L. 4 § 1 de statulib. (40.

7.). Hier wird geſagt, eine te-

ſtamentariſche Freylaſſung ſey nich-

tig in folgenden drey Fällen:

1) wenn ſie gegeben ſey nach ei-

ner ſolchen Zahl von Jahren, daß

der Sklave dieſelbe nicht erleben

könne, 2) unter der Bedingung,

millies zu zahlen (§ 121. t),

3) zur Zeit ſeines Todes. Nun

lautet der Schluß ſo: „sic enim

libertas inutiliter datur, et ita

Julianus scribit, quia nec ani-

mus dandae libertatis est.”

Vgl. unten Note i.

13*

|0208 : 196|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

einer geſetzlichen Begünſtigung des letzten Willens (e). In

welchem Sinn dieſe hier gewiſſermaßen zugegeben werden

könnte, wird ſich weiter unten zeigen; nach dem einfachen

Wortſinn, wie man ſie gewöhnlich auffaßt, kann ſie nicht

gelten, denn ſo dürfte ſie doch nur gebraucht werden, um

den wahren Willen des Verſtorbenen gegen das Hinderniß

geſetzlicher Formen in Schutz zu nehmen; hier aber ſcheint

Etwas gegen jenen Willen durchgeſetzt zu werden.

Eine befriedigende Erklärung iſt nur möglich, wenn

wir die oben dargeſtellte Genealogie der Gedanken gera-

dezu umkehren, indem wir annehmen, es war urſprünglich

die Rede von den unſittlichen Bedingungen, und nachdem

man dieſe als nicht geſchrieben anerkannt hatte, iſt die-

ſelbe Behandlung auf die unmöglichen übertragen worden,

mit denen man, eben zu dieſem Zweck, die unſittlichen

identificirte. Gelingt es, dieſe Herleitung zu rechtfertigen,

ſo wird dadurch zugleich ein anderer Anſtoß beſeitigt. Es

läßt ſich ſchwerlich annehmen, daß in Römiſchen Teſta-

menten die abſolut unmöglichen Bedingungen oft genug

vorgekommen ſeyn ſollten, um dieſer Frage irgend eine

Erheblichkeit zu geben; die alten Juriſten ſtellten vielmehr

Beyſpiele derſelben auf, nur um den Begriff in aller

Schärfe zur Anſchauung zu bringen. Dagegen mögen die

Fälle unſittlicher Bedingungen, die ja in ſo vielen Geſtal-

 

(e) So z. B. Sell S. 38 fg.,

der nach vielen künſtlichen Wen-

dungen endlich doch wieder auf

dieſen favor testamentorum zu-

rück kommt.

|0209 : 197|

§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)

ten erſcheinen, häufig genug vorgekommen ſeyn; hier war

es von praktiſchem Intereſſe, Rechtsregeln auszubilden,

und deren vollſtändige Behandlung führte dann weiter zu-

rück auf die unmöglichen.

Betrachten wir alſo nun den Fall der unſittlichen Be-

dingungen an ſich, noch ganz abſehend von der Fiction

der Unmoͤglichkeit unſittlicher Handlungen. Das erſte und

unzweifelhafteſte bey ihnen iſt Dieſes, daß der Bedingung

keine Folge gegeben werden darf, weil ſonſt das Schlechte

gefördert werden würde. Dieſen erſten Zweck nun kön-

nen wir auf zwey entgegengeſetzten Wegen erreichen, ent-

weder indem wir das ganze Rechtsgeſchäft vernichten, oder

indem wir die Bedingung als nicht vorhanden anſehen,

und das Geſchäft als unbedingt behandeln. Das Juſti-

nianiſche Recht (übereinſtimmend mit den Sabinianern)

entſcheidet für den erſten Weg bey Verträgen, für den

zweyten bey Teſtamenten, und wir haben die Gründe die-

ſer Verſchiedenheit aufzuſuchen.

 

Bey Verträgen liegt der Grund darin, daß eine Tren-

nung der Bedingung von dem Verſprechen in den meiſten

Fällen augenſcheinlich gegen die Abſicht der Parteyen ſeyn

würde. Verſpricht Einer Hundert für die Begehung eines

Verbrechens, und wollten wir aus dem Vertrag nur dieſe

Bedingung hinwegnehmen, ſo würden wir den ganzen Ver-

trag voͤllig willkührlich und gegen die unzweifelhafte Ab-

ſicht in eine reine Schenkung verwandeln. Dieſe Behand-

lung wäre aber nicht nur dem Willen der Parteyen wi-

 

|0210 : 198|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

derſprechend, ſondern auch an ſich ſelbſt anſtößig, da ſie

Demjenigen, der doch an der ſchlechten Abſicht ſo viel als

der Andere Theil genommen hat, einen bleibenden Vor-

theil zuwenden würde. Und ſelbſt in den ſeltneren und

verwickelteren Fällen, worin die Parteyen den Vertrag

auch bey Entfernung der Bedingung vielleicht eben ſo ge-

ſchloſſen haben würden, iſt für ſie Nichts verloren, indem

ſie dieſen unbedingten Vertrag noch immer ſchließen, alſo

das Verſäumte nachholen können.

Bey Teſtamenten finden wir von dieſem Allen das Ge-

gentheil. Wer ein Teſtament macht, hat die unzweifel-

hafte Abſicht, über ſein Vermögen zu verfügen, und jede

Erbeinſetzung, jedes Legat, fällt in dieſe allgemeine Ab-

ſicht freygebiger Austheilung des Vermögens. Finden wir

alſo eine ſolche Verfügung unter einer unſittlichen Bedin-

gung, ſo hat die Annahme viele Wahrſcheinlichkeit, daß

er zwar das Schlechte bey dieſer Gelegenheit durchſetzen

wollte, aber auch davon abgeſehen, denſelben Erben oder

Legatar ernannt haben würde, indem er ohnehin damit be-

ſchäftigt war, Erben oder Legatare zu ernennen, anſtatt

daß bey dem Vertrage kein anderer Beweggrund zu irgend

einem Verſprechen vorlag, als eben die Beförderung der

unſittlichen Handlung (f). Allerdings iſt es zweifelhaft,

 

(f) Es wird alſo derſelbe Ge-

danke des Teſtators vorausge-

ſetzt, der in L. 2 § 7 de don.

(39. 5.) bey dem Fall einer Schen-

kung ſo ausgedrückt iſt: „si vero

alias quoque donaturus Titio

decem, quia interim Stichum

emere proposuerat, dixerim in

hoc me dare, ut Stichum eme-

ret, causa magis donationis,

quam conditio dandae pecu-

niae, existimari debebit.”

|0211 : 199|

§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)

ob der Teſtator dieſen Gedanken hatte, oder ob er viel-

mehr, wenn die ſchlechte Abſicht nicht zu erreichen war,

lieber dieſes ganze Legat fallen laſſen wollte; allein gerade

für ſolche zweifelhafte Fälle beſteht die Regel, daß für

die Aufrechthaltung des letzten Willens geſprochen werden

ſoll (g), und in dieſem beſchränkten Sinn koͤnnte man etwa

noch die einwirkende Begünſtigung der Teſtamente zuge-

ben; in der That aber liegt auch darin keine Begünſti-

gung, da für Verträge genau dieſelbe allgemeine Ausle-

gungsregel gilt (h). Allein ſelbſt wenn wir in einzelnen

Fällen durch jene Annahme irren, ſo bekommt wenigſtens

nicht, wie bey Verträgen, ein Unwürdiger den Vortheil,

da der Erbe oder der Legatar bey der aufgeſtellten unſitt-

lichen Bedingung unſchuldig iſt; der Verſtorbene aber hat

es durch ſeine ſchlechte Abſicht ſelbſt verſchuldet, wenn in

dieſem Stück ſein Wille theilweiſe misverſtanden wird.

Irren wir jedoch nicht bey jener Annahme, ſo liegt zu-

gleich in dieſer Behandlung das einzig mögliche Mittel,

den wahren Willen aufrecht zu halten, indem hier der

Verſtorbene nicht mehr im Stande iſt, das Verſäumte

nachzuholen, ſo wie Dieſes bey Verträgen noch immer

geſchehen konnte.

(g) L. 24 de rebus dub. (34.

5.). „Cum in testamento am-

bigue, aut etiam perperam,

scriptum est: benigne interpre-

tari, et secundum id quod cre-

dibile est cogitatum, creden-

dum est.” Dieſe Vorſchrift paßt

ganz auf den vorliegenden Fall.

(h) L. 80 de verb. oblig. (45.

1.). „Quotiens in stipulationi-

bus ambigua oratio est, com-

modissimum est id accipi, quo

res, qua de agitur, in tuto sit.”

|0212 : 200|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

War nun auf dieſe Weiſe die Sache entſchieden für

die unſittlichen Bedingungen, ſo gieng man weiter zurück

auf die unmöglichen, die in der That eine entfernte Ver-

wandtſchaft mit jenen haben. Die aufgeſtellten Betrach-

tungen paßten allerdings nicht auf die abſolut unmögli-

chen oder unerſchwinglichen Bedingungen, aber dieſe ſind

ja überhaupt, wie oben bemerkt, ſo ſelten und unerheb-

lich, daß ſie auf eine beſondere Vorſorge durch Rechtsre-

geln keinen Anſpruch haben können. Anders verhält es

ſich mit den relativ unmöglichen. Kennt hier der Teſta-

tor die Unmöglichkeit, ſo ſind ſie freylich in gleicher Lage

mit den abſolut unmöglichen, denn es gehört immer eine

beſondere Laune dazu, daß ein Teſtator in dieſem ernſten

Geſchäft ſo mit leeren Worten ſpiele. Dieſes gilt aber

nicht von dem Fall, wenn er es nicht weiß, ſo z. B. von

dieſer Bedingung: ich ſetze den Gajus zum Erben ein,

wenn er zuvor dem Sejus eine Wohnung gebaut haben

wird; (vorausgeſetzt, daß, zur Zeit der Abfaſſung des

Teſtaments, Sejus ohne Wiſſen des Teſtators bereits ge-

ſtorben war). Hier nun ſind die meiſten der bey den un-

ſittlichen Bedingungen aufgeſtellten Gründe gleichfalls an-

wendbar, theilweiſe ſogar in noch höherem Grade. Denn

offenbar kann man hier mit großer Wahrſcheinlichkeit an-

nehmen, der Teſtator wollte zwey, an ſich von einander

unabhängige, Zwecke erreichen: Gajus ſollte Erbe ſeyn,

Sejus ſollte auf Koſten des Gajus eine Wohnung erhal-

ten. Dieſen letzten Zweck konnte er in verſchiedenen For-

 

|0213 : 201|

§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)

men erreichen, am einfachſten in der Form eines Legats.

Er wählte die Form einer Bedingung, die allerdings am

ſchnellſten und kräftigſten wirken konnte; daraus folgt aber

nicht einmal mit Wahrſcheinlichkeit, daß, wenn die Er-

reichung des zweyten Zwecks unmöglich wurde, deshalb

auch der erſte aufgegeben werden ſollte.

War man nun durch dieſe Erwägungen dahin gekom-

men, die relativ unmöglichen und die unſittlichen Bedin-

gungen in Teſtamenten nach einer gleichen Regel, und

zwar ganz anders als in Verträgen, zu behandeln, ſo lag

es dann ſehr nahe, in dieſe Regel auch die (praktiſch un-

bedeutenden) abſolut unmoͤglichen und unerſchwinglichen

Bedingungen mit aufzunehmen. Man gewann dadurch

den Vortheil einer einfacheren Formel, die ganze Lehre

erhielt gleichſam eine breitere Baſis, und das Schickſal

einiger ſelten vorkommenden wunderlichen Einfälle man-

cher Teſtatoren konnte dabey kein ſonderliches Bedenken

erregen.

 

Die hier verſuchte Erklärung der Römiſchen Behand-

lung unmöglicher Bedingungen in Teſtamenten läßt ſich

noch durch folgende Betrachtungen unterſtützen.

 

1) Iſt eine auf die vergangene oder gegenwärtige Zeit

ſchon durch den Ausdruck geſtellte Bedingung vereitelt, ſo

wird ſie nicht, gleich der unmöglichen, als nicht geſchrie-

ben angeſehen, ſondern die ganze Verfügung iſt ungültig

(§ 121. p). Dennoch kommt dieſer Fall mit dem der un-

möglichen in der gegenwärtigen Entſchiedenheit völlig über-

 

|0214 : 202|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ein, ſo daß alſo hierin der Grund der beſonderen Behand-

lung überhaupt nicht liegen kann. Es fehlt hier aber die

oben nachgewieſene innere Verwandtſchaft der unmöglichen

und unſittlichen Bedingungen, und hierin allein kann da-

her der Grund jener eigenthümlichen Behandlung geſucht

werden.

2) Das legatum poenae nomine iſt von Juſtinian in

der Regel erlaubt, und nur ausnahmsweiſe für unwirk-

ſam erklärt, wenn durch deſſen Androhung der Erbe zu

einer unmöglichen oder unſittlichen Handlung gezwungen

werden ſoll (§ 122. h. i). Eigentlich iſt nun die Unterlaſ-

ſung der geforderten unmöglichen Handlung etwas ſchlecht-

hin Nothwendiges, und man konnte daher erwarten, daß

das Legat vielmehr unbedingt gelten würde (§ 121. g).

Weil aber hier der ſittliche Zweck bey der geforderten un-

ſittlichen Handlung eine entgegengeſetzte Behandlung nöthig

machte (§ 122), ſo hat dieſe wiederum ein gleiches Ver-

fahren auch bey der geforderten unmöglichen Handlung

nach ſich gezogen.

 

3) Außer den unmöglichen Bedingungen kommen auch

unmögliche Zeitbeſtimmungen (dies impossibilis) vor. In

der Entſchiedenheit des Nichtſeyns kommen dieſe mit jenen

ganz überein, ſo daß man erwarten möchte, auch eine

ſolche Zeitbeſtimmung werde als nicht geſchrieben behan-

delt, und ſo die Verfügung ſelbſt aufrecht erhalten wer-

den. Hier findet ſich aber gerade das Gegentheil; die un-

mögliche Zeit wird als ein Zeichen betrachtet, daß die

 

|0215 : 203|

§. 124. Bedingung. Unmögliche, unſittliche. (Fortſetzung.)

ganze Verfügung nicht ernſtlich gemeynt war, und dieſe

iſt dadurch vernichtet (i). Dieſe ſcheinbare Inconſequenz

erklärt ſich daraus, daß zwiſchen der unmöglichen Zeit

und der unſittlichen Bedingung gar kein Zuſammenhang

ſtatt findet, ſo daß hier kein Grund vorhanden iſt, von

der natürlichſten und einfachſten Behandlung abzuweichen.

Wäre die bloße Begünſtigung des letzten Willens der

Grund, warum die unmögliche Bedingung als nicht ge-

ſchrieben behandelt wird, ſo müßte dieſelbe ja ganz eben

ſo auch den unmöglichen dies als nicht geſchrieben hin-

weg räumen.

Zum Schluß ſoll noch angegeben werden, welche Grund-

ſätze über die den Teſtamenten beygefügten unmöglichen

und unſittlichen Bedingungen in neueren Geſetzgebungen

aufgeſtellt worden ſind.

 

Das Franzöſiſche Geſetzbuch ſchließt ſich ganz an das

Römiſche Recht an. Unmögliche und unſittliche Bedingun-

gen gelten als nicht geſchrieben; ja es wird dieſes ſelbſt

 

(i) Vgl. unten § 126. i. k. l,

und daraus beſonders L. 4 § 1

de statulib. (40. 7.), deren In-

halt oben in Note d angegeben

iſt. Übrigens erklärt ſich hieraus

auch, wie von der in der Mitte

der Stelle erwähnten Bedingung

si heredi millies dedisset ge-

ſagt werden konnte, ſie entkräfte

die ganze Freylaſſung (§ 121. t).

Dieſe Entſcheidung paßt offenbar

nur zu der Meinung der Pro-

culejaner, und hat ſich in die

Juſtinianiſche Geſetzgebung blos

verirrt. Dieſes wurde dadurch

überſehen, daß ſie in der Mitte

zwiſchen zwey, auch im Juſtinia-

niſchen Recht unbedenklichen, Ent-

ſcheidungen über den dies impos-

sibilis ſteht.

|0216 : 204|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

auf Schenkungen ausgedehnt, die überhaupt in dieſem Ge-

ſetzbuch den Teſtamenten ſo ſehr angenähert ſind (k).

Das Preußiſche Recht ſchlägt einen Mittelweg ein.

Die unmoͤgliche Bedingung macht die teſtamentariſche Ver-

fügung ſelbſt ungültig (l); die unſittliche dagegen gilt als

nicht geſchrieben (m).

 

Das Öſterreichiſche Geſetzbuch endlich iſt ganz zu Pro-

culejaniſchen Geſinnungen zurückgekehrt. Erbeinſetzungen

und Legate werden durch unmögliche und durch unſittliche

Bedingungen ganz ungültig (n).

 

§. 125.

III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung.

Eine zweyte Art der Selbſtbeſchränkung, welche in ei-

ner Willenserklärung vorkommen kann (§ 114), beſteht in

der hinzugefügten Zeitbeſtimmung (dies), das heißt in

dem Ausdruck einer zeitlichen Begränzung der Wirkſamkeit

des Rechtsverhältniſſes.

 

Dieſe Zeitbegränzung kann, ähnlich der Bedingung,

entweder an den Anfang oder an das Ende des Rechts-

verhältniſſes gelegt werden. Im erſten Fall heißt dieſes

 

(k) Code civil art. 900. —

Anders natürlich bey Verträgen

die nicht Schenkungen ſind. art.

1172. Dieſe Behandlung der

Schenkungen wird von den Fran-

zöſiſchen Juriſten als inconſequent

getadelt; Manche tadeln den

Rechtsſatz auch bey den Teſta-

menten. Maleville zu art. 900.

Toullier droit civil T. 5 § 247.

(l) A. L. R., Th. 1. Tit. 4

§ 129—132 Tit. 12 § 504.

(m) A. L. R., Th. 1. Tit. 12

§ 63 (vergl. mit Tit. 5 § 227.).

(n) Oeſterreich. Geſetzbuch § 698

(vergl. mit § 897).

|0217 : 205|

§. 125. Zeitbeſtimmung.

Verhältniß in diem oder ex die gegeben (a), im zweyten

ad diem (b). Wir können jene den Anfangstermin,

dieſe den Endtermin eines Rechtsverhältniſſes nennen.

— Zunächſt ſoll hier von dem Anfangstermin gehandelt

werden.

Alle Zeitbeſtimmung nun kann ſich lediglich auf die

Zukunft beziehen, da wir nur auf dieſe für unſre Hand-

lungen Vorkehrung treffen können. Die künftige Zeit ſelbſt

aber kann beſtimmt werden entweder durch Beziehung auf

einen einzelnen Punkt in der allgemeinen, unabänderlich

feſtſtehenden Zeitreihe (Kalendertag) (c), oder auf relative

Weiſe durch Beziehung auf ein künftiges Ereigniß, welches

ja nothwendig auch in einen beſtimmten Punkt jener Reihe

fallen muß. — Nun knüpft ſich auch die Bedingung ſtets

an ein künftiges Ereigniß (§ 116), und eben ſo läßt ſich

 

(a) Ex die. L. 56 de cond.

indeb. (12. 6.), L. 34 de her.

inst. (28. 5.), L. 44 § 1 de O.

et A. (44. 7.). In diem. § 2 J.

de verb. obl. (3. 15.), L. 3. 15.

46. pr. de V. O. (45. 1.), L. 213

pr. de V. S. (50. 16.), L. 16 pr.

de her. pet. (5. 3.), L. 43 de

j. dot. (23. 3.), L. 22 de cond.

inst. (28. 7.), L. 27 qui et a

quib. man. (40. 9.), L. 22 de O.

et A. (44. 7.).

(b) L. 34 de her. inst. (28. 5.),

L. 44 § 1 de O. et A. (44. 7.).

In dieſer letzten Stelle heißt es

daneben auch einmal in diem,

jedoch nur in einer Conſtruction:

„nam vel ex die incipit obli-

gatio, aut confertur in diem.”

Das letzte heißt nachher: „Ad

diem autem.”

(c) Auch dieſes iſt wieder auf

zweyerley Weiſe möglich: unmit-

telbar (z. B. am 1. März 1840),

oder mittelbar, z. B. „in Einem

Jahr,“ vorausgeſetzt daß der Ver-

trag am 1. März 1839 geſchloſſen

wird, indem nämlich das Heute,

worauf ſich dieſe Beſtimmung be-

zieht, ſelbſt gewiß und bekannt

iſt. Eben ſo: „drey Jahre nach

meinem Tode,“ weil zu der Zeit,

worin das Teſtament wirkſam

wird, der Todestag völlig gewiß

und bekannt ſeyn muß.

|0218 : 206|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

umgekehrt der Kalendertag auffaſſen als ein Ereigniß,

naͤmlich als der Eintritt eben dieſes beſtimmten Tages,

ſo daß alſo beide Arten einſchränkender Nebenbeſtimmung

oft in einander zu fließen ſcheinen. Da jedoch für Zeit

und Bedingung ganz verſchiedene Regeln aufgeſtellt ſind,

ſo iſt es vor Allem nöthig, eine ſcharfe Gränze zwiſchen

beiden zu ziehen. Auf die in den Rechtsgeſchäften ge-

brauchten Ausdrücke können wir gar nicht bauen, denn

obgleich jede unter jenen Nebenbeſtimmungen ihre eigen-

thümlichen Ausdrücke hat, ſo herrſcht doch darin oft eine

regelloſe Abwechslung (d). Die wahre Gränze aber iſt

dahin zu beſtimmen: die Bedingung knüpft ſich an ein

ungewiſſes Ereigniß (§ 116), die Zeitbeſtimmung an ein

gewiſſes. Jeder künftige Kalendertag nämlich iſt ohne-

hin gewiß; manche Ereigniſſe aber ſind es nicht minder,

vorzüglich für jeden Menſchen der Tod. Wird alſo der

Anfang eines Rechtsverhältniſſes auf die Todeszeit des

Berechtigten, oder des Verpflichteten, oder eines Dritten

geſtellt (cum morietur), ſo iſt dieſes im Allgemeinen we-

gen der Gewißheit dieſes Todes, nicht als Bedingung,

ſondern als dies anzuſehen; und zwar beſteht die beſondere

Regel, daß darunter ſtets der letzte Augenblick des Lebens,

oder die Zeit unmittelbar vor dem Tode zu verſtehen iſt (e).

(d) Bey den Römern werden

hier verſchiedene Partikeln ge-

braucht: si für die Bedingung,

cum für den dies. Aber die

alten Juriſten erkennen ſelbſt die

gänzliche Unzuverläſſigkeit dieſer

Ausdrücke. L. 45 § 3 de V. O.

(45. 1.).

(e) Denn Sterben iſt eine Thä-

tigkeit, weshalb nur der noch Le-

bende ſterben kann, nicht der

Todte. L. 18 § 1 L. 61 de man.

|0219 : 207|

§. 125. Zeitbeſtimmung.

Dieſe relative Art der Zeitbeſtimmung hat jedoch auch noch

ein ungewiſſes Element, das Verhältniß des Ereigniſſes zu

der feſten, allgemeinen Zeitreihe, welches neuere Schrift-

ſteller die quaestio quando nennen. Doch iſt ſie darum

nicht minder, ihrem Begriffe nach, den Bedingungen ſcharf

entgegengeſetzt.

Dagegen iſt jedes ungewiſſe Ereigniß, ſchon ſeinem

Begriffe nach, eine wahre, eigentliche Bedingung, ſelbſt

wenn es durch die dabey gebrauchten Ausdrücke den täu-

ſchenden Schein einer Zeitbeſtimmung an ſich tragen ſollte.

Wer z. B. Etwas „an ſeinem Hochzeitstage“ zu

geben verſpricht, der verſpricht eigentlich unter der Be-

dingung, wenn er in die Ehe treten ſollte, und dieſe erhält

nur durch die woͤrtliche Faſſung den Schein eines dies.

Es kann dabey jedoch noch der beſondere Fall eintreten,

daß mit der Bedingung auch ein Kalendertag verbunden

wird. Geſetzt, es iſt Einer am 1. März 1825 geboren,

und es wird ihm Etwas verſprochen: „am Tage ſeiner

Volljährigkeit,“ ſo heißt das ſo viel als: Am 1. März

1850, vorausgeſetzt daß alsdann Jener noch lebt (f).

 

test. (40. 4.), L. 107 § 1 de

leg. 1 (30. un.), Gajus II. § 232,

III. § 100. Die Erheblichkeit die-

ſer Regel wird ſich ſogleich in

mehreren Anwendungen zeigen.

(f) L. 22 pr. quando dies

(36. 2.) „quoniam non solum

diem, sed et conditionem hoc

legatum in se continet.” Alſo

ſind hier beide Arten der Be-

ſchränkung wirklich vorhanden und

vereinigt. — Unter die als dies

ausgedrückte Bedingung gehörte

auch der, bey den Römern ſo

wichtige, Fall, wenn ein Latinus

Junianus, oder ein Eheloſer, auf

die Zeit ſeiner Capacität (d. h.

alſo unter der Bedingung der-

ſelben) eingeſetzt wurde. L. 62

pr. de her. inst. (28. 5.). L. 51

|0220 : 208|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Es ergeben ſich hieraus für die als Zeitbeſtimmung

ausgedrückte Zuſätze der Rechtsgeſchäfte Vier mögliche

Combinationen, die von neueren Schriftſtellern auf folgende

Weiſe ausgedrückt zu werden pflegen:

 

Dies certus für die quaestio an, certus für quando.

Dies certus für die quaestio an, incertus für quando.

Dies incertus für die quaestio an, certus für quando.

Dies incertus für die quaestio an, incertus für quando.

Für den erſten und vierten Fall iſt die Bezeichnung un-

zweifelhaft; der zweyte und dritte dagegen könnten, wegen

ihrer gemiſchten Natur, bald als certus, bald als incertus

dies, bezeichnet werden, es ſcheint indeſſen daß die alten

Juriſten hier vorzugsweiſe dieſen letzten Ausdruck gebraucht,

und unter certus dies meiſt den Kalendertag verſtanden

haben (Note h, und § 126. c. e. h.).

 

Der dritte und vierte Fall nun gehören, wie ſchon be-

merkt, wegen der Ungewißheit des Ereigniſſes, gar nicht

unter die Zeitbeſtimmungen; ſie ſind wahre Bedingungen,

welchen hoͤchſtens der falſche Schein eines dies durch den

ungenauen Ausdruck gegeben worden iſt. Bey dem vierten

Fall insbeſondere iſt dieſes ohne Ausnahme anerkannt (g).

 

de leg. 2. (31. un.). Ohne dieſe

wohlthätige Vorſorge war ihm

die Erbſchaft oder das Legat ver-

loren, wenn er nicht ſpäteſtens

100 Tage nach des Erblaſſers Tod

die Capacität erlangt hatte (Ul-

pian XVII. § 1). Jetzt konnte

dieſes auch nach vielen Jahren

geſchehen, weil ihm, wegen der

Bedingung, die Erbſchaft nicht

früher deferirt war.

(g) So z. B. „zur Zeit, in

welcher Jemand eine Ehe ſchlie-

ßen, oder ein Amt erlangen wird.“

L. 21 pr. quando dies (36. 2.),

L. 56 de cond. ind. (12. 6.),

L. 8 C. de test. manum. (7. 2.).

|0221 : 209|

§. 125. Zeitbeſtimmung.

Bey dem dritten Fall gilt zwar allerdings auch dieſelbe

Regel, ſo daß alſo z. B. ein auf die Pubertät oder die

Volljährigkeit eines Dritten geſtelltes Legat völlig als ein

bedingtes zu beurtheilen iſt (h). Jedoch giebt es von dieſer

Regel natürliche Ausnahmen, wenn nämlich aus den Um-

ſtänden ſicher hervorgeht, daß der Urheber dieſe Neben-

beſtimmung lediglich aus Vorſorge für den Berechtigten,

alſo zu deſſen Vortheil, und nicht zur Beſchränkung der

Rechte deſſelben, gegeben hat; dann gilt das Rechtsver-

hältniß als ein unbedingtes, das heißt es wird jene Ne-

benbeſtimmung als Kalendertag behandelt, der nur indirect

bezeichnet iſt, nämlich durch Beziehung auf ein Ereigniß,

welches freylich ſeiner Natur nach auch wohl ganz aus-

fallen kann (i). Hier wirkt alſo ausnahmsweiſe das in

jenem dritten Fall enthaltene Element der Gewißheit, und

zwar nicht als ob dann die regelmäßige Natur dieſes

Falles verkannt oder unrichtig behandelt würde, ſondern

wegen der durch die Umſtände gerechtfertigten Interpre-

tation des wahren Willens, die ja überall vorwalten ſoll

(§ 118. a). Nur in Einem Fall gilt dieſelbe Ausnahme

(h) L. 21 pr. L. 22 pr. quando

dies (36. 2.), L. 36 § 1 de cond.

(35. 1.), L. 49 § 2. 3 de leg. 1

(30. un.). — In der erſten der

angeführten Stellen wird ein ſol-

cher Tag dies incerta genannt.

(i) L. 46 ad Sc. Treb. (36. 1.),

L 5 C. quando dies (6. 53.).

Vgl. auch L. 18 § 2 de alim.

leg. (34. 1.) (§ 119. 5.), und

Averanius Interpr. II. 16 Num.

12. sq. — Es iſt natürlich, daß

eine ſolche günſtige Interpretation

vorzugsweiſe angenommen wird,

wenn ein Teſtator ſeinen Kindern

Etwas zuwendet; ferner vorzugs-

weiſe bey den, beſonders im äl-

teren Recht, ohnehin freyer be-

handelten Fideicommiſſen.

III. 14

|0222 : 210|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

auch ohne ſolche individuelle Gründe einer abweichenden

Interpretation, nämlich bey der teſtamentariſchen Freylaſ-

ſung (§ 119. q); hier gründet ſich die Ausnahme auf eine

der vielen ganz poſitiven Begünſtigungen der Freyheit.

Nachdem dieſe Fälle beſeitigt ſind, in welchen nur der

Schein eines dies, das Weſen einer Bedingung enthalten

iſt, bleibt nun noch die nähere Betrachtung der zwey Fälle

des wahren dies übrig; die zeitliche Beſchränkung des

Rechtsverhältniſſes vermittelſt eines Kalendertags, und die

vermittelſt eines gewiſſen, das heißt nothwendig irgend

einmal eintretenden Ereigniſſes.

 

§. 126.

III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung).

I. Die Beſchränkung des Rechtsverhältniſſes durch ei-

nen Kalendertag, von welchem es erſt anfangen ſoll,

hat den Sinn, daß das Recht ſelbſt ſogleich erworben,

die Ausübung deſſelben aber bis zu jenem Tage aufge-

ſchoben werde. — Betrachten wir das Verhältniß einer

ſolchen Beſtimmung zu dem Bewußtſeyn des Berechtigten,

ſo finden wir darin gar nichts Unklares. Er kennt nicht

nur das Daſeyn des Rechts, ſondern auch ganz genau

deſſen Umfang und Werth. Es läßt ſich ſogar durch eine

Discontorechnung der gegenwärtige Werth ausmitteln, ja

ſelbſt der augenblickliche Genuß durch Verkauf um dieſen

ſicheren Werth bewirken. Daher wird die in dieſer Be-

 

|0223 : 211|

§. 126. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)

ſtimmung liegende Gewißheit nicht einmal durch einen ſo

entfernten Zeitpunkt ausgeſchloſſen, welchen der Berechtigte

ſelbſt unmöglich erleben kann (a); denn dieſer Umſtand

hindert ihn nicht, ein ſolches Recht in alle ſeine Berech-

nungen und Verfügungen über die Zukunft mit aufzunehmen.

Es bleibt nur noch übrig, dieſen Grundſatz auf die

wichtigſten einzelnen Rechtsverhältniſſe, worin ein Kalen-

dertag vorkommen kann, anzuwenden.

 

A. Bey der Erbeinſetzung kann eine ſolche Beſchränkung

deswegen nicht zur Ausführung kommen, weil nach dem

Tode weder eine Zeit ohne Vertretung des Verſtorbenen,

noch eine Abwechslung geſetzlicher und teſtamentariſcher

Erbfolge, zuläſſig iſt. Daher gilt eine ſolche Beſchränkung

hier als nicht geſchrieben, und das Erbrecht gilt vom Tode

an (b). Dieſes ſcheint ſonderbar, da doch die weit unge-

wiſſere Bedingung als eine wirkſame Beſchränkung zuge-

laſſen wird. Dabey aber gleicht ſich Alles dadurch aus,

daß die erfüllte Bedingung auf die Todeszeit zurückgeführt

wird (§ 120); wollten wir nun dieſe Zurückführung auch

hier vornehmen, ſo würde das genau auf denſelben Erfolg

führen, der jetzt wirklich dadurch eintritt, daß der dies als

nicht geſchrieben gilt.

 

B. Bey Legaten kommt der Kalendertag unbedenklich

zur Ausführung, ſo daß das Recht auf das Legat vom

 

(a) So z. B. der Vertrag über

eine Zahlung nach Hundert Jah-

ren. L. 46 pr. de V. O. (45. 1.).

— Ein Legat, Hundert Jahre

nach des Teſtators Tod zahlbar.

L. 21 pr. quando dies (36. 2.).

(b) § 9 J. de her. inst. (2. 14.),

L. 34 de her. inst. (28. 5.).

14*

|0224 : 212|

Buch. II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Tode an erworben wird (dies cedit), und nur der Genuß

(das dies venit) aufgeſchoben bleibt. Die ſtreng perſönliche

Natur aller durch einen Todesfall bedingten Succeſſionen

(§ 118) hindert dieſes nicht, da der Legatar das Legat,

auch wenn er ſelbſt den Genuß nicht erlebt, dennoch in

ſeine Verfügungen mit Sicherheit aufnehmen kann.

C. Noch weniger zweifelhaft iſt die völlige Wirkſamkeit

des Kalendertags bey Verträgen.

 

II. Die Beſchränkung auf den Zeitpunkt eines gewiſ-

ſen Ereigniſſes, das heißt eines ſolchen, welches ir-

gend einmal nothwendig eintreten muß, hat ein anderes

Verhältniß zum Bewußtſeyn des Berechtigten, indem dieſem

der gegenwärtige Werth und Umfang des Rechts völlig

unklar iſt, ſo daß er es nicht mit Sicherheit in ſeine Ver-

fügungen über die Zukunft aufnehmen kann. Dieſes un-

gewiſſe Element der Nebenbeſtimmung wird bei Teſtamen-

ten, wegen der ganz perſönlichen Natur der Succeſſionen

(§ 118), als überwiegend betrachtet, und verwandelt den

dies in eine Bedingung, nämlich in die Bedingung des

Erlebens eines ſolchen Tages (c); bei Verträgen, in wel-

chen jene perſönliche Natur des Rechts nicht angenommen

 

(c) L. 75 de cond. (35. 1.)

„Dies incertus conditionem in

testamento facit.” Das in te-

stamento deutet auf eine entge-

gengeſetzte Behandlung der Ver-

träge, die in dieſem Fall auch

wirklich eintritt. Dadurch aber

wird es zugleich nothwendig, die

Stelle nur auf dieſen Fall zu

beziehen, und nicht auf die wahr-

haft ungewiſſen Ereigniſſe, die

auch in Verträgen als Bedin-

gungen gelten. Daraus folgt

aber ferner, daß in dieſer Stelle

dies incertus zur Bezeichnung

eines gewiſſen (nur bald frü-

her, bald ſpäter eintretenden)

Ereigniſſes gebraucht wird.

|0225 : 213|

§. 126. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)

wird, bleibt das gewiſſe Element überwiegend, die Neben-

beſtimmung kommt als dies (was ſie ihrem Begriff nach

in der That iſt) rein zur Ausführung, und der Vertrag

iſt unbedingt.

A. Bey der Erbeinſetzung alſo wird eine Zeitbeſtimmung

ſolcher Art verwandelt in die Bedingung, „wenn der ein-

geſetzte Erbe den Eintritt des Ereigniſſes erleben ſollte“ (d).

 

B. Ganz eben ſo wird in der Regel auch ein dergeſtalt

gegebenes Legat behandelt. Es iſt alſo bedingt dadurch,

daß der Legatar das Ereigniß erlebe, und ſtirbt er früher,

ſo geht davon auf ſeine Erben Nichts über (e). — Nur

in einem Fall iſt es anders, wenn das Ereigniß von der

Art iſt, daß es der Legatar nothwendig erleben muß. Die-

ſes gilt von dem Legat auf die Todeszeit des Legatars

(cum ipse morietur); denn dieſes iſt gemeynt von der

Zeit unmittelbar vor dem Tode (§ 125), welche jeder

Menſch gewiß erlebt. Daher iſt ein ſolches Legat purum,

und das Recht darauf wird unwiderruflich erworben mit

 

(d) L. 9 C. de her. inst. (6. 24.).

(e) So z. B. heres cum mo-

rietur dato. L. 1 § 2, L. 79 § 1

de cond. (35. 1.), L. 12 § 1 de

leg. 2 (31. un.), L. 4 pr. L. 13

in f. quando dies (36. 2.). In

der erſten und dritten der hier

angeführten Stellen heißt wieder

ein ſolcher Tag incertus. — Eben

ſo iſt es unzweifelhaft, wenn das

Legat auf den Tod eines Dritten

geſtellt wird. — Anders wenn

der Teſtator ſagt: cum ipse mo-

riar. Ein ſolches Legat iſt ganz

ungültig, weil Niemand durch

Teſtament Etwas bewirken kann,

das vor ſeinem Tod geſchehen

müßte, ſondern nur post mor-

tem; nur die Freylaſſung wurde

in einem ſolchen Fall durch be-

ſondere Begünſtigung aufrecht er-

halten. L. 18 § 1 de man. test.

(40. 4.). Im Sinn des Juſti-

nianiſchen Rechts iſt es aber un-

ſtreitig, auch bey dem Legat den

ungeſchickten Ausdruck zu beſeiti-

gen, und es ſo anzuſehen, als ob

es hieße post mortem meam.

|0226 : 214|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

dem Tode des Teſtators (f). Selbſt wenn man es als

Bedingung anſehen wollte, ſo würde der Erfolg derſelbe

ſeyn, da die Bedingung eine nothwendige wäre, neben

welcher das Legat unbedingt bleibt (§ 121. g). Auch iſt

dieſes keine bloße Spitzfindigkeit, ſondern es hat einen

guten praktiſchen Sinn, indem der Legatar, wenngleich er

ein ſolches Legat gewiß nicht ſelbſt genießt, es doch unter

die, Jedem beſonders wichtigen, Verfügungen für ſeine

Erben ſicher aufnehmen kann.

C. Der Vertrag iſt, ungeachtet einer ſolchen Nebenbe-

ſtimmung, ein unbedingter, und die Beſchränkung gilt ganz

als dies. Die Ungewißheit des gegenwärtigen Werthes

der Leiſtung ſteht hier nicht im Wege, da dieſe eben ſo

bey jedem gewagten Geſchäfte vorkommt, welches darum

gar nicht nothwendig ein bedingtes zu ſeyn braucht. —

Der praktiſche Einfluß jener Regel zeigt ſich bey der con-

dictio indebiti. Hier gilt im Allgemeinen der Grundſatz,

daß die auf einen Kalendertag geſtellte Schuld, wenn ſie

vor dieſem Tage bezahlt wurde, nicht zurückgefordert wer-

den kann, wohl aber die bedingte, vor erfüllter Bedingung

gezahlte Schuld (g). Die Schuld nun, welche auf ein

gewiſſes Ereigniß geſtellt iſt, hat ganz die Natur einer

Schuld auf den Kalendertag, nicht die einer bedingten:

 

(f) L. 79 pr. de cond. (35. 1.),

L. 4 § 1 quando dies (36. 2.).

(g) L. 10 L. 16 pr. L. 56 de

cond. ind. (12. 6). Es verſteht

ſich von ſelbſt, daß auch bey der

bedingten Schuld die Condictio

indebiti wegfällt, wenn nur vor

ihrer Anſtellung die Bedingung

erfüllt wird. L. 16 pr. cit.

(Note h).

|0227 : 215|

§. 126. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)

ſie kann alſo nicht zurückgefordert werden, auch wenn die

Zahlung vor dem eingetretenen Ereigniß erfolgte (h).

Iſt die Beobachtung des Anfangstermins unmöglich,

ſo wird ein ſolcher Fall auf die natürlichſte Weiſe, ohne

poſitive Modification, behandelt. Das Rechtsverhältniß

bleibt ohne Anfang, das heißt es entſteht gar nicht, und

zwar gilt dieſes nicht nur bey Verträgen, ſondern auch

bey Teſtamenten. Hierin unterſcheidet ſich alſo die Zeit-

beſtimmung von der Bedingung, und der Grund dieſes

 

(h) Die entſcheidende Stelle

ſteht in folgendem Zuſammen-

hang: L. 16 pr. de cond. ind.

(12. 6.) „Sub conditione debi-

tum, per errorem solutum, pen-

dente quidem conditione repe-

titur: conditione autem exis-

tente repeti non potest. — § 1.

Quod autem (Hal. etiam) sub

incerto die debetur, die exsi-

stente non repetitur. — L. 17:

Nam si cum moriar dare pro-

misero, et antea solvam, repe-

tere me non posse Celsus ait:

quae sententia vera est.” Un-

ter dieſen drey Sätzen iſt der

erſte und dritte unzweifelhaft: der

erſte betrifft die Bedingung, der

dritte ein gewiſſes Ereigniß, und

indem dabey die Condiction auch

für die Zeit vor dem eintretenden

Tag verworfen wird, (denn mir

wird ja die Condiction verweigert,

alſo muß ich wohl noch nicht ein

Sterbender ſeyn, ſonſt könnte ich

nicht klagen wollen), ſo iſt damit

der im Text aufgeſtellte Satz be-

wieſen. Zweifelhaft iſt der zweyte

Satz (§ 1), wegen der Zweydeu-

tigkeit des incertus dies. Cu-

jacius obs. XIII. 20 läßt ſich

durch das autem verleiten, dieſen

Satz mit dem dritten (L. 17)

für identiſch zu halten, und will

daher im § 1 emendiren pendente

oder non existente, welches ganz

verwerflich iſt. Haloanders etiam

entfernt jenen Grund, und das

Nam in L. 17 braucht nicht als

Beſtätigung des § 1 gedacht zu

werden, ſondern kann auch eine

adverſative Bedeutung haben.

Dann iſt der ganze Zuſammen-

hang folgender: L. 16 § 1. „Eben

ſo, wie mit der Bedingung, iſt

es auch mit einem (ganz) unge-

wiſſen Tage (z. B. si nupsero),

ſo daß auch hier die Condiction

nur erſt nach eingetretenem

Tage wegfällt.“ L. 17 „Denn

nur bei einem gewiſſen Tage,

wie cum moriar, kann man ſa-

gen, daß die Condiction durchaus

nicht gilt, auch wenn ſie vor jenem

Tage angeſtellt werden ſollte.“

|0228 : 216|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Unterſchieds iſt ſchon oben (§ 124) angegeben worden. —

Die Unmoͤglichkeit kann nun gegründet ſeyn in der Natur

der Handlung, worauf das Rechtsverhältniß gerichtet iſt,

ſo z. B. wenn Einer verſpricht, unmittelbar vor ſeinem

Tode (cum morietur) nach Alexandrien zu kommen (i).

Sie kann aber ferner gegründet ſeyn in der Beſchaffenheit

des Rechtsverhältniſſes ſelbſt, und dahin gehören folgende

Fälle. Wenn der Niesbrauch gegeben wird für die Zeit

unmittelbar vor dem Tode des Fructuars, ſo iſt er un-

möglich, weil er gleich in dem folgenden Augenblick wieder

aufhören muß, alſo niemals genoſſen werden kann (k).

Eben ſo war es, wenn einem Sklaven im Teſtament die

Freyheit gegeben wurde für die Zeit ſeines Todes, oder

für eine ſo entfernte Zeit, daß er ſie gar nicht erleben

konnte (l); denn die Freyheit hat nur Werth, inſofern ſie

(i) L. 46 § 1 de V. O. (45. 1.).

Man möchte einwenden, der Ster-

bende ſey eben ſo wenig fähig

Geld zu zahlen. Allein dieſe Hand-

lung, als etwas Momentanes, iſt

von Seiten des Sterbenden we-

nigſtens nicht undenkbar, und

kann in jedem Fall von dem Er-

ben nachgeholt werden, ohne ihren

Werth und Character zu verän-

dern, jene verſprochene Reiſe war

etwas ganz Perſönliches. Iſt die

für die Todeszeit verſprochene

Handlung zwar auch zeitraubend,

aber nicht perſönlich, wie z. B.

ein Hausbau, ſo war die Stipu-

lation auch ungültig, da nur der

Erbe ſie erfüllen konnte: Juſti-

nian geſtattete ſie, ſo wie die

post mortem. L. 15 C. de contr.

et comm. stip. (8. 38.).

(k) L. 51 de usufructu (7. 1.),

L. 5 de usu et usufr. leg. (33. 2.).

— Außerdem konnte ein Nies-

brauch gegeben werden ex die,

wenigſtens gewiß durch Legat;

bey den andern Entſtehungsarten

war die Möglichkeit wegen der

beſondern Form derſelben ſtreitig

(Fragm. Vat. § 49. 50), für das

neueſte Recht iſt es gewiß möglich.

(l) L. 4 § 1 de statulib. (40.7.),

L. 17 pr. L. 61 pr. de man. test.

(40. 4.), L. 107 § 1 de leg. 1

(30. un.) — Über L. 4 § 1 cit.

vgl. oben § 124. d. i., und § 121. t.

|0229 : 217|

§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)

von dem Sklaven ſelbſt genoſſen wird, anſtatt daß Geld

oder Geldeswerth auch den Erben zu gut kommt, und daher

unter jenen Zeitbeſtimmungen allerdings gültig gegeben wer-

den kann. Endlich iſt hierauf zu beziehen das alte Verbot,

Stipulationen zu ſchließen auf die Zeit post mortem des

Gläubigers oder Schuldners (m), desgleichen Legate zu

geben post mortem des Erben (n), welche Einſchränkungen

Juſtinian aufgehoben hat (o).

Eine unſittliche Zeitbeſtimmung kann nicht vorkommen,

da alle Unſittlichkeit freye Handlungen vorausſetzt, welche

bevor ſie geſchehen ſtets ungewiß ſind, anſtatt daß die

wahre Zeitbeſtimmung nur auf gewiſſe Ereigniſſe gegründet

ſeyn kann.

 

§. 127.

III. Willenserklärungen. — Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)

Es bleibt nun noch übrig, von dem Endtermin (ad

diem) zu ſprechen; mit dieſem aber iſt die Reſolutivbedin-

 

(m) Gajus III. § 100. — Die

Stipulation cum moriar, oder

cum morieris ſcheint immer gül-

tig geweſen zu ſeyn. § 15 J. de

inut. stip. (3. 19.), Fr. Vat.

§ 98, L. 20 L. 76 de j. dot.

(23. 3.), L. 67 § 6 de leg. 2,

L. 32 pr. ad. L. Falc. (35. 2.),

L. 45 § 1. 3 L. 121 § 2 de V.

O. (45. 1.), L. 4 C. de contr.

et comm. stip. (8. 38.). Der

einzige Widerſpruch, Gajus III.

§ 100, dürfte wohl auf einer fal-

ſchen Leſeart beruhen. Huſchke

Studien I. 279.

(n) Post mortem verboten,

cum heres morietur erlaubt.

Gajus II. § 232, Ulpian. XXIV.

§ 16. Bei Fideicommiſſen auch

post mortem erlaubt. Gajus II,

§ 277, Ulpian. XXV. §. 8.

(o) § 13 J. de inut. stip. (3.

19.), L. 11 C. de contr. et comm.

stip. (8. 38.). — § 35 J. de le-

gatis (2. 20.), L. 11. C. cit.

|0230 : 218|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

gung nahe verwandt, und nur indem hier beide Rechtsin-

ſtitute zuſammengefaßt werden, iſt es möglich, für die

Reſolutivbedingung Dasjenige, was oben (§ 120) ausge-

ſetzt bleiben mußte, auf befriedigende Weiſe nachzuholen.

Beide ſollen nunmehr in Anwendung auf die wichtigſten

Rechtsverhältniſſe betrachtet werden.

A. Die Erbeinſetzung kann weder durch Reſolutivbe-

dingung, noch durch Endtermin, begränzt werden, das

heißt jede Nebenbeſtimmung dieſer Art wird als nicht ge-

ſchrieben betrachtet (§ 126. b). Der Grund liegt darin,

daß das einmal erworbene Erbrecht überhaupt nicht wie-

der aufhören kann (a). Die praktiſche Wichtigkeit dieſes

Satzes iſt jedoch durch die Einführung der Fideicommiſſe

ſehr vermindert worden, indem nun der Teſtator ſeinen

Zweck dadurch großentheils erreichen kann, daß er den

eingeſetzten Erben verpflichtet, die Erbſchaft unter einer

 

(a) L. 88 de her inst. (28. 5.)

„.. cum autem semel heres

exstiterit servus, non potest

adjectus efficere, ut qui semel

heres exstitit, desinat heres

esse.” — L. 3 § 2 de liberis

(28. 2.) „.. hujusmodi exhere-

datio vitiosa est, quoniam post

aditam hereditatem voluit eum

summotum, quod est impossi-

bile.” — L. 3 § 10 de minor.

(4. 4.) „… sine dubio heres

manebit, qui semel exstitit.”

Endlich auch L. 15 § 4 de test.

mil. (29. 1.), wo das Entgegen-

geſetzte als ein beſonderes Vor-

recht der Soldaten angegeben

wird. — Die Neueren drücken

das ſo aus: Semel heres, sem-

per heres. — Über die Unan-

wendbarkeit der Reſolutivbedin-

gung iſt auch eigentlich kein Streit,

nur iſt neuerlich von Mehreren

behauptet worden, eine ſolche müſſe

dadurch künſtlich aufrecht erhalten

werden, daß man ſie in die um-

gekehrte Suspenſivbedingung ver-

wandle, und ſo den Willen auf-

recht erhalte. Allein auch dieſe

Behauptung iſt unhaltbar. Vgl.

Sell S. 254 und die von ihm

angeführten Schriftſteller.

|0231 : 219|

§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)

Suspenſivbedingung, oder nach einer beſtimmten Zeit, an

den Inteſtaterben zu reſtituiren.

B. Bey Legaten war es nach dem älteren Recht gleich-

falls unmöglich, das Ende des Rechts durch Reſolutivbe-

dingung oder durch Zeitbeſtimmung herbeyzuführen, und

dieſer Satz konnte auf zweyerley Weiſe zur Anwendung

kommen:

 

1) Wenn innerhalb der beſtimmten Zeit der Legatar

(auf ein damnationis legatum) nicht geklagt hatte, ſo ſollte

dennoch die Verpflichtung des Erben nicht (wie durch eine

Art von Verjährung) erloſchen ſeyn (b). Schon zur Zeit

der klaſſiſchen Juriſten aber wurde ohne Zweifel der Klage

eine doli exceptio entgegengeſtellt, eben ſo wie es bey der

Stipulation ausdrücklich bezeugt wird (Note f).

 

2) War das damnationis legatum bereits erfüllt, oder

war es ein vindicationis legatum, ſo ſollte nicht etwa das

Legat, durch den Eintritt der Bedingung oder des Tages,

an den Erben zurück fallen. Dieſer Satz beruhte nicht

blos auf einer vom Teſtator verfehlten Form, denn es

konnte gar nicht der Legatar mit der Entrichtung eines

neuen Legats (welches in dieſer Rückgabe enthalten gewe-

ſen wäre) onerirt werden (c). Durch die Einführung der

Fideicommiſſe fiel dieſe letzte Beſchränkung hinweg (d), und

 

(b) L. 55 de leg. 1 (30. un.)

„.. nec tempore .. aut condi-

tione finiri obligatio heredis

legatorum nomine potest.” —

L. 44 § 1 de O. et A. (44. 7.)

„.. Placet enim ad tempus obli-

gationem constitui non posse:

non magis quam legatum.”

(c) Ulpian. XXIV. § 20, Ga-

jus II. § 271.

(d) Gajus II. § 271.

|0232 : 220|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

nun war es blos ein Fehler in der Form, wenn jener

Rückfall an den Erben nicht ſtatt fand, da ihn der Teſta-

tor durch die für Fideicommiſſe eingeführten Ausdrücke un-

bedenklich bewirken konnte. Daher war es ganz conſe-

quent, daß Juſtinian verordnete, ein ſolcher Formfehler

ſolle niemals ſchaden, indem ein ſolches Legat immer ſo

ausgelegt werden ſollte, als wäre, für den Fall der Be-

dingung oder für den beſtimmten Tag, die Rückgabe an

den Erben als Fideicommiß auferlegt (e).

C. Auch Verträge ſollten nicht ſo eingerichtet werden,

daß die Obligation durch Bedingung oder Zeit zu wirken

aufhörte, und auch dieſe Regel war in denſelben zwey

Bedeutungen anzuwenden, welche ſchon bey den Legaten

erklärt worden ſind.

 

1) Verſprach alſo Jemand eine Zahlung dergeſtalt,

daß die Klage zwar zunächſt wirkſam ſeyn, mit dem Ein-

tritt einer Bedingung oder eines beſtimmten Tages aber

(wie durch eine Art von Verjährung) wegfallen ſollte, ſo

war dennoch die Klage auch nach jenem Zeitpunkt gültig;

dieſe buchſtäbliche, die Abſicht verletzende, Strenge wurde

jedoch ſpäterhin gemildert durch Zulaſſung einer doli oder

pacti exceptio (f).

 

(e) L. 26 C. de leg atis (6. 37.),

welche gewiß eben ſowohl auf Re-

ſolutivbedingung, als auf dies,

geht. Vgl. Sell S. 258. —

Hier alſo, wie auch anderwärts,

iſt Juſtinian, in der Beſeitigung

formeller Schwierigkeiten des äl-

teren Rechts, bey Legaten weiter

gegangen als bey der Erbein-

ſetzung; und nicht ohne Grund.

(f) Für die obligatio ad diem

ſagt dieſes § 3 J. de V. O. (3. 15.),

L. 56 § 4 de V. O. (45. 1.),

L. 44 § 1 de O. et A. (44. 7.),

|0233 : 221|

§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)

2) War der Vertrag bereits erfüllt, ſo daß die ein-

tretende Zeit oder Bedingung den Rückfall des Gegebenen

hätte herbeyführen müſſen, ſo ſollte auch dieſer Rückfall

nicht eintreten. Gegen dieſe Folge aber half ohne Zwei-

fel die condictio ob causam datorum (hier zuſammen fal-

lend mit der actio praescriptis verbis), deren Princip auf

einen Fall dieſer Art vollkommen anwendbar iſt.

 

Bey den Verträgen nun iſt es einleuchtend, daß dieſe

ſtrenge Ausſchließung von Zeit und Bedingung nicht (wie

früher bey den Legaten) in einer durch das Rechtsverhält-

niß ſelbſt herbeygeführten Unmöglichkeit, ſondern lediglich

in einem Formfehler, gegründet war. Denn unbedenklich

konnte auch ſchon in alter Zeit der Zweck erreicht werden,

wenn nur das Aufhören der Obligation, oder der Rück-

fall des Gegebenen, in einer hinzugefügten zweyten, unter

Suspenſivbedingung oder ex die geſchloſſenen, Stipulation

verſprochen wurde, oder auch (bey dem dies) durch bloße

Hinzufügung der Suspenſivbedingung „si intra quinquen-

nium petiero.” Die Ungültigkeit lag alſo blos an einem

Mangel der Form, und dagegen eben ſollte die doli oder

pacti exceptio ſchützen. Aber eben deshalb konnte die Un-

gültigkeit niemals behauptet werden, und es bedurfte gar

 

für die Reſolutivbedingung L. 44

§. 2 eod. (vgl. über dieſen §.

Göschen obsf. j. Rom. p. 66).

Der Grund dieſer Einſchränkung

wird in L. 44 § 1 cit. ſo ausge-

drückt: „Nam quod alicui de-

beri coepit, certis modis desi-

nit debere;” das heißt: der dies

gehört nicht zu den unabänderlich

beſtimmten Tilgungsarten der

Obligationen, und kann nicht

durch Privatwillkühr dieſen Cha-

racter mitgetheilt bekommen.

|0234 : 222|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

nicht der nachhelfenden Exception, bey denjenigen Verträ-

gen, welche gar keiner beſchränkenden Form unterworfen

waren, ſondern nur nach der wahren Abſicht der Parteyen

beurtheilt wurden, alſo vorzüglich bey den Conſenſualcon-

tracten. In der That ſpricht die Stelle, worin von der

alten Strenge berichtet wird (Note f), lediglich von der

Stipulation. Dagegen war von jeher eine höchſt gewöhn-

liche und ganz unzweifelhafte Form des Miethcontracts

die auf beſtimmte Jahre gerichtete, mit deren Ablauf doch

gewiß die Verpflichtung des Vermiethers aufhört. Eben

ſo wird bey dem Kauf und bey der (ohne Stipulation

möglichen) Schenkung die völlige Wirkſamkeit der Reſolu-

tivbedingung auf eine Weiſe anerkannt, die keinem Ge-

danken an ſpäteres Recht, und an künſtliche Nachhülfe,

Raum läßt (§ 120. l. m). Dieſes alſo ſind die Fälle,

worauf ſich auch ſchon nach dem früheren Recht das in

ſeinen einzelnen Folgen völlig ausgebildete Inſtitut der

Reſolutivbedingungen bezog; namentlich die im Fall der

erfüllten Reſolutivbedingung ipso jure eintretende Rück-

kehr des Eigenthums zu dem früheren Eigenthuͤmer, mit

Vernichtung aller in der Zwiſchenzeit vorgenommen, bis

dahin gültigen, Veräußerungen (g).

(g) Einen Zweifel könnten er-

regen Juſtinians Worte in L. 26

C. de legatis (6. 37.) „Cum

enim jam constitutum sit, fieri

posse temporales donationes et

contractus,” welche allerdings

auf neueres Recht hindeuten. Al-

iein dieſe Worte gehen auf ſolche

Schenkungen und andere Con-

tracte, die durch Stipulation

geſchloſſen werden, und auf die

dabey zugelaſſene doli excep-

tio; ſie ſind alſo nur eine kurze

Verweiſung auf den ausführlichen

|0235 : 223|

§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)

Nachdem hier die eigentliche Bedeutung der nach frü-

herem Recht bey Legaten und Obligationen unzuläſſigen

Reſolutivbedingungen und Endtermine angegeben worden

iſt, muß noch eine ſehr eigenthümliche Anwendung derſel-

ben dargeſtellt werden. Verſpricht Jemand eine jährliche

Rente von Hundert, ſo wird dieſes betrachtet als eine ein-

fache, nur auf mehrere Zahlungen gerichtete, Stipulation,

die auf ewige Zeiten fortwirken ſoll (h). Wird dieſe Obli-

gation nun auf Fünf Jahre, oder auch auf Lebenszeit,

beſchränkt, ſo widerſpricht das der oben angegebenen Re-

gel, die Rente wird eine immerwährende, und gegen dieſe

Härte half man nur erſt ſpäter durch eine Exception (i).

Allerdings hätten die Contrahenten leicht und ſicher durch

eine andere Form des Vertrags die wahre Abſicht erreichen

können; man brauchte nur, anſtatt der fünfjährigen Rente,

überhaupt Fünfhundert verſprechen, und zwar in Fünf

Portionen ex die: oder, anſtatt der lebenslänglichen Rente,

viele einzelne Summen, und zwar jede ex die und zugleich

unter der ſuspenſiven Bedingung des Erlebens; dieſes Alles

war ja von jeher erlaubt. Allein bei den Stipulationen

ſollte nicht auf die Abſicht, ſondern auf die Worte, geſe-

 

Inhalt der L. 44 § 1. 2 de O.

et A. (44. 7.) und der anderen

in Note f. angeführten Stellen.

— Ein beſonderer Zweifel, in

Beziehung auf die Schenkung

allein, entſteht aus der Verglei-

chung der L. 2 C. de don. q. s.

modo (8. 55.) mit ihrer ſehr

abweichenden früheren Geſtalt in

Fr. Vat. § 283; das Verhältniß

dieſer beiden Texte zu einander

dürfte ſchwerlich ganz in’s Reine

zu bringen ſeyn.

(h) L 16 § 1 de V. O. (45. 1.),

L. 35 § 7 de m. c. don. (39. 6.).

(i) § 3 J. de V. O. (3. 15.).

|0236 : 224|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

hen werden, und ſo mußten der Schuldner und ſeine Er-

ben den Formfehler ſo lange büßen, bis die ſchützende

Exception erfunden war. Daß man nicht von jeher gegen

ſolchen Unſinn Schutz ſuchte, erklärt ſich ſehr natürlich

aus der Seltenheit ſolcher Stipulationen.

Anders verhielt es ſich mit Legaten von ähnlichem In-

halt, die in der That häufig vorkamen, und daher ein

praktiſches Bedürfniß der Abhülfe mit ſich führten. Die

Möglichkeit derſelben war durch den allgemeinen Grundſatz

gegeben, Legate überhaupt mehr nach der Abſicht als nach

dem Buchſtaben auszulegen (§ 118. a). Wußte man nun,

daß, wie gewöhnlich, die Abſicht dahin gieng, durch die

legirte Rente dem Legatar ſeinen perſönlichen Unterhalt

ganz oder theilweiſe zu verſchaffen, ſo wurde durch fol-

gende Interpretation für Alles geſorgt. Das Legat ſoll

gelten, als wären es mehrere: die erſte Jahresrente iſt

pure legirt, und wird mit des Teſtators Tod erworben;

jede folgende iſt an die Suspenſivbedingung gebunden,

wenn der Legatar den Tag, wo ſie fällig wird, erlebt (k).

Dadurch erreichte man einen doppelten Vortheil. Erſtlich

 

(k) L. 4 L. 8 de ann. leg.

(33. 1), L. 10 quando dies (36.

2.), ferner die Stellen in Note h.

— Bey einer Rente auf be-

ſtimmte Jahre iſt es eine factiſche

Frage, ob der Teſtator ſie als

eine alimentenartige Unterſtützung

(ſo wie die lebenslängliche) dachte,

oder vielmehr als eine gewöhn-

liche Zahlung, die nur zur Er-

leichterung in Termine zertheilt

iſt. Im erſten Fall wird ſie eben

ſo behandelt, wie die lebensläng-

liche, im zweyten Fall iſt es ein

einfaches Legat, welches ſogleich

ganz erworben wird, ſo daß auch die

nach des Legatars Tod fällig wer-

denden Termine an ſeinen Erben

zu zahlen ſind. L. 20 quando dies

(36. 2)., L. 3 pr. de annuis (33. 1.).

|0237 : 225|

§. 127. Zeitbeſtimmung. (Fortſetzung.)

verhinderte man die immerwährende Dauer der Rente, die

ja auch nicht in des Teſtators Abſicht lag; zweytens ent-

gieng man dem Verbot der zeitlichen Beſchränkung der

Legate, indem man nun nicht mehr mit einem einzelnen

Legat ad diem zu thun hatte, welches ungültig geweſen

wäre, ſondern mit vielen bedingten Legaten, welche gültig

waren.

D. Bey einigen dinglichen Rechten finden ſich folgende

ausdrückliche Beſtimmungen.

 

Prädialſervituten konnten durch Bedingung oder Zeit

nicht beendigt werden, ohne Zweifel weil die Natur ſolcher

Rechte auf immerwährende Dauer berechnet iſt; pacti und

doli exceptio ſchützt auch gegen dieſe buchſtäbliche Strenge (l).

 

Der Niesbrauch dagegen, als ein ohnehin vergängliches

Recht, konnte auch ſchon nach älterem Recht einer ſolchen

willkührlichen Beendigung unterworfen werden (m). Und

eben ſo auch das Pfandrecht, welches vermöge ſeiner neu-

eren Entſtehung, ohnehin weniger an die förmliche Strenge

des alten Rechts gebunden iſt (n).

 

Faſſen wir alle bisher dargeſtellten Anwendungen zu-

 

(l) L. 4 pr. de serv. (8. 1.),

L. 56 § 4 de V. O. (45. 1.).

Durch die Natur der in jure

cessio war dergleichen ohnehin

ausgeſchloſſen; es muß alſo dabey

entweder ein Legat vorausgeſetzt

werden, oder ein neben der in

jure cessio (vor oder nachher)

geſchloſſener beſonderer Vertrag.

(m) Fragm, Vat. § 48. 52,

L. 6 de usu et usufr. leg. (33. 2.),

L. 16 § 2 fam. herc. (10. 2.),

L. 12 pr. C. de usufr. (3. 33).

In dieſer letzten Stelle kommt

eine ähnliche Interpretation vor,

wie die in § 125. i. erwähnte;

hier aber mit umgekehrtem Er-

folg.

(n) L. 6 pr. quib. modis pign.

(20. 6.).

III. 15

|0238 : 226|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſammen, ſo ergiebt es ſich, daß Reſolutivbedingungen und

Endtermine faſt überall wirkſam ſeyn können, und daß die

früheren Beſchränkungen derſelben, mit Ausnahme der Erb-

einſetzung, für das heutige Recht faſt ſpurlos verſchwun-

den ſind.

Auch ein Endtermin läßt ſich ſo denken, daß die An-

wendung deſſelben unmoͤglich wird. Dann wird derſelbe

als nicht geſchrieben betrachtet, und das Rechtsverhältniß

bleibt von dieſer Seite her unbeſchränkt (o).

 

§. 128.

III. Willenserklärungen. — Modus (a).

Rechtsgeſchäfte, welche auf die Übertragung von Ver-

moͤgensrechten, alſo auf ein Geben, gerichtet ſind, können

zugleich Beſtimmungen über das fernere Schickſal des Em-

pfangenen, vermittelſt einer Verpflichtung des Empfängers,

in ſich aufnehmen. Die meiſten Beſtimmungen dieſer Art

gehören zum eigenthümlichen Inhalt der einzelnen Geſchäfte

ſelbſt, und es entſteht für ſie weder das Bedürfniß, noch

die Möglichkeit, ſie unter einen gemeinſamen Geſichtspunkt,

den Bedingungen und Zeitbeſtimmungen ähnlich, zu brin-

 

(o) So z. B. wenn ein Nies-

brauch auf Hundert Jahre legirt

wird, da der Legatar dieſe Zeit

gewiß nicht erlebt.

(a) Unter den oben (§ 116) im

Allgemeinen angeführten Rechts-

quellen gehören hierher beſonders:

Dig. XXXV. 1, Cod. VI. 45,

VIII. 55.

|0239 : 227|

§. 128. Modus.

gen. So z. B. wenn bey dem Darlehen die Rückgabe des

Geldes, oder vom Käufer bey Empfang der Sache die

Zahlung des Kaufpreiſes, verſprochen wird, ſo ſind das

weſentliche Theile dieſer Verträge: verſpricht der Käufer,

das erkaufte Haus, ſo lange der Verkäufer lebt, nicht zu

veräußern, oder dem Verkäufer darin drey Jahre lang

freye Wohnung zu geben, ſo liegen darin zufällige Neben-

verträge; in beiden Fällen dient die Contractsklage dazu,

dieſe Verpflichtungen zur Ausführung zu bringen. Indeſ-

ſen können manche Beſtimmungen dieſer letzten Art auch

in die Form von Bedingungen eingekleidet werden, und

wirken dann in anderer Weiſe (b).

Nur bey einigen Rechtsgeſchäften reichte dieſe Behand-

lungsweiſe nicht aus, und ſo iſt für dieſe eine beſondere

Art von Nebenbeſtimmungen, der Modus, ausgebildet wor-

den. Es ſind dieſes die teſtamentariſchen Verfügungen,

und die Schenkung; bey denſelben iſt zuvor das beſondere

Bedürfniß im Einzelnen nachzuweiſen, weil nur dadurch

ein feſter Standpunkt für das erwähnte Rechtsinſtitut ge-

wonnen werden kann.

 

1. Erbeinſetzung. Beſteht die Verpflichtung des Erben

darin, daß er einem Dritten Etwas gebe, ſo iſt ein ſolches

Bedürfniß nicht vorhanden, da die Legate, und ſpäterhin

auch noch die Fideicommiſſe, für jenen Zweck vollkommen

 

(b) L. 41 pr. de contr. emt.

(18. 1.). Hier iſt nur geſagt,

die Übereinkunft könne, je nach

der Abſicht der Parteyen, als

pactum adjectum, oder als con-

ditio, gemeynt ſeyn: von einem

dritten möglichen Fall (dem mo-

dus) iſt nicht die Rede.

15*

|0240 : 228|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ausreichen. Aber der Erblaſſer kann auch ganz andere

Dinge dem Erben auflegen: z. B. ein Denkmal zu errich-

ten, öffentliche Spiele oder Gaſtmähler zu veranſtalten,

das Grab des Verſtorbenen auf beſtimmte Weiſe zu beſu-

chen und zu ſchmücken u. ſ. w. Manches dieſer Art kann

unter der Form einer Bedingung bewirkt werden; für An-

deres iſt dieſe unpaſſend, und überall kann der Erblaſſer

die Form einer neuen, fortwirkenden Verpflichtung vorzie-

hen. Dazu dient dann der Modus.

2. Legat. Auch hier kommen Verpflichtungen der eben

beſchriebenen Art vor, wozu der Modus angewendet wer-

den kann (c). Aber bey ihnen war er lange Zeit auch

wichtig und unentbehrlich, wenn der Legatar einem Dritten

Etwas geben ſollte, da der Legatar mit einem neuen Le-

gat nicht belaſtet werden kann. Durch die Einführung der

Fideicommiſſe freylich, die dem zuletzt erwähnten Zweck

völlig genügen, fiel dieſes Bedürfniß des Modus hinweg

(§ 127. c. d.).

 

3. Fideicommiſſe. Der Modus kommt hier auf gleiche

Weiſe vor, wie bey den Legaten.

 

4. Eben ſo auch bey der teſtamentariſchen Freylaſſung,

neben welcher dem Sklaven jede Leiſtung, ſey es als Be-

dingung, ſey es als Modus, nach Gutfinden des Teſtators

auferlegt werden konnte. Hier war das Bedürfniß zu al-

len Zeiten ſo ausgedehnt, wie in früherer Zeit bey den

Legaten. Denn auch mit einem Fideicommiß kann nur

 

(c) L. 17 § 4 de cond. (35. 1.).

|0241 : 229|

§. 128. Modus.

Derjenige belaſtet werden, der von dem Verſtorbenen ein

Vermögensrecht bekommen hat (d); da nun die Freyheit

ein ſolches nicht iſt, ſo war es conſequent, die Belaſtung

der Freygelaſſenen mit Fideicommiſſen, wenn ſie blos die

Freyheit erhielten, auszuſchließen (e).

5. Bey Schenkungen waren lange Zeit die gewöhnli-

chen Rechtsmittel (actio praescriptis verbis und condictio)

für ſolche Verpflichtungen des Beſchenkten ausreichend.

Späterhin fand man es gut, eine ähnliche Behandlung wie

bey Legaten eintreten zu laſſen, und nun war auch hier

das Bedürfniß vorhanden, den Modus als eigenes Rechts-

inſtitut anzuwenden.

 

Als Name dieſes Rechtsinſtituts iſt modus techniſch (f),

obgleich freylich derſelbe Name oft in anderer, ſehr allge-

meiner Bedeutung gebraucht wird, z. B. für die Begrän-

zung oder die Ausübungsart eines Rechts, alſo für deſſen

nähere Beſtimmung. Im Deutſchen hat man dafür Zweck

und Zweckbeſtimmung vorgeſchlagen, jedoch nicht paſſend;

denn wenn Jemand einen Freund oder Verwandten zum

Erben einſetzt, und ihm die Errichtung eines Denkmals

zur Pflicht macht, ſo hat er zum Zweck bey der Erbein-

ſetzung, ſein Vermögen in die Hände einer würdigen und

geliebten Perſon zu bringen, nicht ein Denkmal zu veran-

 

(d) L. 1 § 6 de leg. 3 (32. un.),

L. 9 C. de fideic. (6. 42.).

(e) L. 94 § 2 L. 95 de leg. 1

(30. un.).

(f) Der Ausdruck ſteht in die-

ſer beſtimmten Bedeutung in der

Überſchrift der drey in der Note

a. angeführten Titel; eben ſo in

L. 17 § 4 de cond. (35. 1.).

|0242 : 230|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

laſſen. Zutreffender iſt der Ausdruck Verwendung, da

in den allermeiſten Fällen das Empfangene, oder ein Theil

deſſelben, zur Ausführung des Modus verwendet werden

ſoll. Jedoch auch dieſer Ausdruck hat eine zu abſtracte

Geſtalt, um den Gedanken an das ſehr eigenthümliche

Rechtsinſtitut hervorzurufen, und ſo iſt es beſſer den la-

teiniſchen Kunſtausdruck beyzubehalten, der ſchon durch

ſeine fremde Herkunft zu einer individuellen Bezeichnung

geſchickter iſt.

Es bedarf aber einer Rechtfertigung, daß hier der

Modus mit der Bedingung und Zeitbeſtimmung auf gleiche

Linie geſtellt, alſo unter die Selbſtbeſchränkungen des Wil-

lens aufgenommen wird (§ 114), da er vielmehr eine Er-

weiterung des Willens auf einen neuen Gegenſtand zu

enthalten ſcheint. Jene Auffaſſung rechtfertigt ſich durch

die quantitative Betrachtung jedes Vermögens oder Ver-

mögensſtücks als einer bloßen Geldſumme. Da dieſe Be-

trachtung eben ſowohl auf das urſprünglich Gegebene

(z. B. die Erbſchaft oder das Legat), als auf den Modus,

anwendbar iſt, ſo erſcheint der Modus als eine Vermin-

derung des Werths der urſprünglichen Gabe, und inſofern

kann man ſagen, daß der auf das Geben gerichtete Wille,

durch Aufnahme eines Modus, ſich ſelbſt beſchränke. Darin

iſt alſo auch die Gleichartigkeit des Modus mit Bedingung

und Zeit begründet.

 

Für die Anwendung iſt es nöthig, den Begriff des

Modus, nach zwey Seiten hin, ſcharf zu begränzen: er

 

|0243 : 231|

§. 128. Modus.

darf nämlich auf der einen Seite nicht verwechſelt werden

mit der Bedingung, auf der andern nicht mit dem bloßen

Wunſch oder Rath.

Für die Gränze zwiſchen Bedingung und Modus iſt zu

bemerken, daß in den meiſten Fällen die bezweckte Hand-

lung auf beiden Wegen gleich ſicher bewirkt werden kann,

nur vermittelſt ganz verſchiedener Rechtsverhältniſſe. Die

Bedingung nämlich ſuspendirt, zwingt aber nicht, der

Modus zwingt, ſuspendirt aber nicht. Der Modus

iſt daher weit vortheilhafter für den, welcher handeln

ſoll, denn erſtlich wird durch ihn der Rechtserwerb ſelbſt

(das dies cedit) nicht hinausgeſchoben, und dadurch in die

Gefahr des gänzlichen Verluſts gebracht; zweytens kann

der Genuß des Rechts erlangt werden durch bloße Cau-

tion, ohne Vollziehung der Handlung ſelbſt; drittens iſt

hier die eintretende Unmöglichkeit der Handlung unſchäd-

lich (g). Die Unterſcheidung beider Rechtsformen iſt daher

für jeden einzelnen Fall praktiſch wichtig. Auch hier ſind

die gebrauchten Worte unſichere Führer (h), und es muß

 

(g) Zweifel könnte erregen

L. 1 C. de his quae sub modo

(6. 45.) „In legatis quidem et

fideicommissis etiam modus ad-

scriptus pro conditione obser-

ratur.” … Das heißt aber nur,

der Modus wird eben ſowohl als

die Bedingung beachtet, aufrecht

erhalten, namentlich durch For-

derung einer Caution: völlige

Gleichheit ſollte damit nicht aus-

geſprochen werden. Das ergiebt

ſich deutlich aus dem nachfolgen-

den Hauptſatz, zu welchem jene

Worte blos als Eingang dienen

ſollten.

(h) Eigentlich bezeichnet si die

Bedingung, cum die Zeit, ut den

Modus (L. 80 de cond. 35. 1),

aber dieſer Unterſchied wird nicht

ſtreng beobachtet, ſ. o. § 125. d.

— Auch der Ausdruck conditio

wird oft gebraucht, wo entſchieden

ein Modus gemeynt iſt. Vgl.

|0244 : 232|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

vielmehr aus den Umſtänden die wahre Abſicht ermittelt

werden (i). Bleibt die Abſicht völlig zweifelhaft, ſo iſt der

Modus, als die geringere Beſchränkung, vorzugsweiſe vor

der Bedingung, anzunehmen (k). In Einem Fall wahrer,

aber unzuläſſiger, Bedingung, bey der conditio jurisjurandi,

wird die Abſicht des Teſtators durch Verwandlung in ei-

nen Modus aufrecht erhalten (§ 123. s. t.).

Auf der andern Seite darf der Modus nicht mit ſol-

chen Erklärungen verwechſelt werden, die gar nicht die

Abſicht einer rechtlichen Verpflichtung in ſich ſchließen.

Wird alſo ein Legat oder eine Schenkung gegeben mit

der Erklärung, daß der Empfänger davon ein Haus zu

bauen, oder ein Landgut zu kaufen habe, ſo gilt dieſes

gewoͤhnlich als bloßer Ausdruck eines Rathes oder Wun-

ſches, auch wohl blos um die Veranlaſſung der Gabe zu

bezeichnen; eine Verpflichtung iſt dann nur unter ſolchen

Umſtänden anzunehmen, welche die darauf gerichtete Ab-

ſicht beſonders wahrſcheinlich machen (l).

 

L. 71 § 1 de cond. (35. 1.), L. 2

§ 7 de don. (39. 5.), L. 44 de

man. test. (40. 4.).

(i) L. 44 de man. test. (40. 4.),

L. 80 de cond. (35. 1.). Die

Schwierigkeit dieſer letzten Stelle

iſt doch wohl am ſicherſten durch

Wegſtreichen des non zu beſeiti-

gen, welches nach dem Zeugniß

der Gloſſe auch ſchon in alten

Handſchriften fehlte. Die Erklä-

rung von Rücker interpr. II. 3

iſt nicht haltbar.

(k) L. 9 de R. J. (50. 17.).

(l) L. 13 § 2 de don. int. vir.

(24. 1.), L. 71 pr. de cond.

(35. 1.), L. 2 § 7 de don. (39. 5.).

|0245 : 233|

§. 129. Modus. (Fortſetzung.)

§. 129.

III. Willenserklärungen. — Modus. (Fortſetzung.)

Es iſt nunmehr anzugeben, durch welche Mittel der in

dem Modus enthaltene Wille eines Gebers zur Ausführung

gebracht wird.

 

1) Iſt ein einziger Erbe eingeſetzt, und dieſem der

Modus auferlegt, ſo kann von einer Obligation nicht die

Rede ſeyn, weil ihm kein Creditor gegenüber ſteht. Hier

übernimmt die Obrigkeit den Zwang gegen den Erben,

theils durch außerordentliche Zwangsmittel, theils indem

dem Erben, wenn er Klagen aus der Erbſchaft anſtellen

will, dieſelben einſtweilen verweigert werden. Sind meh-

rere Erben eingeſetzt, ſo kann Jeder den Andern durch die

actio familiae herciscundae zur Erfüllung des Modus an-

halten (a).

 

2) Iſt der Modus einem Legatar oder Fideicommiſſar

vorgeſchrieben, ſo nimmt die Verpflichtung die Geſtalt ei-

ner Obligation an, indem nun der Erbe die Stelle des

Verſtorbenen vertritt, und für die Ausführung des Willens

zu ſorgen hat. Dieſes geſchieht regelmäßig dadurch, daß

die Entrichtung des Legats ſo lange, vermittelſt einer doli

exceptio, verweigert wird, bis der Legatar für die Erfül-

lung des Modus Caution geſtellt hat (b). Iſt der Legatar

 

(a) L. 7 de ann. leg. (33. 1.)

„interventu judicis,” L. 50 § 1

de her. pet. (5. 3.) „principali

aut pontificali auctoritate,” L. 8

§ 6 de cond. inst. (28. 7.) (ſ. o.

§. 123. s. t.), L. 1 § 3 ubi pup.

(27. 2.).

(b) L. 40 § 5, L. 71 pr. § 1. 2,

|0246 : 234|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

durch Zufall bereits in den Beſitz des Legats gekommen,

ſo kann es der Erbe zurück fordern, um dann jene Cau-

tion zu erzwingen (c). Ein eigenes Intereſſe an der Er-

füllung braucht der Erbe nicht nachzuweiſen, der Wille

des Erblaſſers iſt als ſein wohlbegründetes Intereſſe zu

betrachten (d).

Außerdem kann aber auch dem Legatar gegenüber ein

obrigkeitlicher Zwang eintreten, unabhängig von dem er-

wähnten Rechte des Erben (e).

 

3) Bey der teſtamentariſchen Freylaſſung erfolgt die

Freyheit von ſelbſt, ſo daß alſo hier ein Zwang durch

verweigerte Klage nicht möglich iſt. Daher wurde hier

die Erfüllung des Modus durch die Obrigkeit unmittelbar

erzwungen (f).

 

4) Bezieht ſich der Modus auf eine Schenkung, ſo iſt

der Zwang zur Erfüllung ſo eigenthümlicher Art, daß er

nur im Zuſammenhang mit dem ganzen Recht der Schen-

kung dargeſtellt werden kann (§ 175).

 

Ferner kann auch in allen oben genannten Fällen der

 

L. 80 de cond. (35. 1.), L. 48

de fid. lib. (40. 5.). — Der bey

dem Erben, wie bey dem Lega-

tar, öfter vorkommende Ausdruck

denegantur actiones geht ſowohl

auf die officielle Verweigerung

von Seiten des Richters (bey

dem Erben), als auf die durch

des Gegners Widerſpruch veran-

laßte (bey dem Legatar).

(c) L 21 § 3 de ann. leg.

(33. 1.), L. 17 de usu leg. (33.

2.), L. 25 C. de leg. (6. 37.).

(d) L. 19 de leg 3 (32 un.).

(e) L. 92 de cond. (35. 1.)

„ex auctoritate D. Severi eman-

cipare eos compulsus est.” Vgl.

über den in dieſer Stelle vorkom-

menden Fall auch L. 15 C. de

fideic. (6. 42.).

(f) L. 44 de man. test. (40. 4.),

„officio judicis,” L. 17 § 2 eod.

|0247 : 235|

§. 129. Modus. (Fortſetzung.)

Teſtator ſelbſt den Modus dadurch mehr ſichern, daß er

dem Verpflichteten, der ihn nicht erfüllt, eine Strafe an

eine öffentliche Kaſſe androht (g).

Überall aber iſt der Modus ähnlichen Beſchränkungen

unterworfen, wie die Bedingung. Geht er alſo auf etwas

Unſittliches oder Thörichtes, ſo wird die Erfüllung deſſel-

ben nicht verlangt (h).

 

Iſt die Erfüllung des Modus auf irgend eine Weiſe

unmöglich, ſo fällt die Verpflichtung zu demſelben hinweg,

ohne daß die Erbſchaft oder das Legat ſelbſt, woran er

geknüpft war, darunter leidet (i); darin beſonders liegt

eine wichtige Verſchiedenheit von der Bedingung. — Iſt

die Erfüllung des Modus nicht ganz, ſondern nur theil-

weiſe, unmoͤglich oder durch ſittliche Gründe verhindert,

ſo wird der mögliche Theil dennoch aufrecht erhalten (k).

 

(g) L. 6 pr. L. 27 de cond.

(35. 1.). Die Strafe wird von

der dieſer Kaſſe vorgeſetzten öf-

fentlichen Behörde eingetrieben;

bey uns alſo von der Armenver-

waltung, wenn etwa die Strafe

an die Armenkaſſe im Teſtament

gewieſen iſt. Dieſer Fall iſt we-

ſentlich verſchieden von dem le-

gatum poenae nomine, und das

Verbot dieſes letzten bezog ſich

auf jenen Fall niemals.

(h) L 7 de ann. leg. (33. 1.),

L. 113 § 5 de leg. 1 (30. un.).

— Die amtliche Einwirkung hö-

herer Gewalten, z. B. des Kaiſers

oder der pontifices (Note a. e)

bezog ſich nicht auf den Schutz

des Modus überhaupt, der dazu

nicht wichtig genug war, ſondern

auf den beſonderen Inhalt deſ-

ſelben, wenn er etwa auf die

Errichtung eines Grabmals gieng,

oder auf die Emancipation von

Kindern; von dieſen Fällen iſt

in den angeführten Stellen die

Rede.

(i) L. 8 § 7 de cond. inst.

(28. 7.), L 1 C. de his quae sub

modo (6. 45.). Dadurch ſind die

bey Bedingungen vorkommende

Fälle fingirter Erfüllung (§ 119)

von ſelbſt abſorbirt.

(k) L. 6 pr. L. 27, L. 37 de

cond. (35. 1.), L. 16 de usu et

usufr. (33. 2.).

|0248 : 236|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Beſonders merkwürdig iſt derjenige Modus, welcher in

einer Leiſtung des Erben oder des Legatars an eine dritte

Perſon beſteht (l) Dieſen konnte der Teſtator, beſonders

ſeit Einfuͤhrung der Fideicommiſſe, dadurch unmittelbar

ſichern, wenn er dem Dritten, durch die Form eines Legats

oder Fideicommiſſes, ein Klagerecht auf Erfüllung verſchafft

hätte. Dennoch behandelte man es lange Zeit nicht alſo,

ſondern ließ nur die oben erwähnten indirecten Zwangs-

mittel eintreten, anſtatt dem Dritten, was das Einfachſte

war, ein Klagerecht zu geſtatten. Der Grund davon lag

ohne Zweifel blos in der von dem Teſtator gerade ge-

brauchten Formel, und es war gewiß faſt immer nicht die

Abſicht des Teſtators, ſondern ein Formfehler, weshalb

der Wille nur unvollkommnen und minder ſicheren Schutz

erhielt (m). Dieſe Schwierigkeit überwand zuerſt K. Se-

verus zum Vortheil der Freyheit, indem er den auf Ma-

numiſſion gerichteten Modus als eine fideicommiſſariſche

 

(l) Ein ſolcher kommt mitten

unter anderen Arten des Modus,

als ihnen völlig gleichartig vor

in L. 17 § 4 de cond. (35. 1.).

(m) Nämlich das Legat hätte

ſo lauten müſſen: do lego, oder

damnas esto, das Fideicommiß:

fidei committo, rogo, peto, volo

(Gajus II. 249). War keine die-

ſer Formeln gebraucht, ſondern

die auferlegte Leiſtung blos mit

ut eingeleitet, ſo war es ein blo-

ßer Modus, und der Dritte hatte

keine Klage. Dieſe Anſicht iſt

deutlich ausgeſprochen in L. 92

de cond. (35. 1.), L. 3 § 5. 6

de leg. praest. (37. 5.), L. 8

§ 5 de transact. (2. 15.). —

Die Sache iſt ſehr merkwürdig;

die Fideicommiſſe waren einge-

führt als Befreyung von der

förmlichen Strenge des alten Ci-

vilrechts. Die Römer waren aber

ſo an den Formalismus gewöhnt,

daß ihnen auch die Fideicommiſſe

wieder zu einer einengenden Form

wurden, zu deren Beſeitigung

eine neue Anſtrengung nöthig

war.

|0249 : 237|

§ 130. Erklärung des Willens. Förmliche.

Freylaſſung behandelte, und alſo durch die Fideicommiß-

klage des Sklaven ſchützte. K. Gordian that den letzten

Schritt, indem er daſſelbe Recht auf den in einem Geben

beſtehenden Modus anwandte (n). Seitdem kann nun von

einem Modus, der in einer Leiſtung an dritte Perſonen

beſteht, gar nicht mehr die Rede ſeyn. Denn ein ſolcher

iſt nun, ohne Rückſicht auf die gewählten Ausdrücke, als

wahres Legat oder Fideicommiß zu behandeln, und bedarf

eines indirecten Schutzes nicht mehr, da der Dritte ſtets

eine Klage auf die Entrichtung hat.

§. 130.

III. Willenserklärungen. — Erklärung. Förmliche.

Die Grundlage jeder Willenserklärung iſt das Daſeyn

des Wollens, welches bisher betrachtet worden iſt; unſere

Betrachtung muß nun weiter fortſchreiten zu der Offenba-

rung deſſelben, wodurch das innere Ereigniß des Wollens

in die ſichtbare Welt als Erſcheinung eintritt; das heißt,

wir haben die Erklärung des Willens zu betrachten

(§ 104. 114). Dieſe nun ſchließt folgende wichtige Gegen-

ſätze in ſich. Sie kann förmlich oder formlos ſeyn; aus-

drücklich oder ſtillſchweigend; wirklich vorhanden, oder fin-

 

(n) L. 2 C. de his q. sub mado

(6. 45). — Aus dieſer Entwicklung

des Rechts erklärt es ſich zugleich,

warum die L. 48 de fid. lib.

(40. 5.), die blos vom Fall eines

Modus handelt, in dieſen Dige-

ſtentitel geſetzt worden iſt. Vgl.

Cujacii obs. XIV. 25, und opp.

IX. 857.

|0250 : 238|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

girt, das heißt vermöge einer Rechtsregel als vorhanden

anzuſehen.

Förmliche Willenserklärungen ſind diejenigen, deren

Wirkſamkeit durch die Beobachtung einer poſitiv vorge-

ſchriebenen Handlungsweiſe bedingt iſt, die allein als Aus-

druck dieſes Willens gelten ſoll; wir nennen ſie vorzugs-

weiſe förmlich, weil in ihnen die Form durch poſitive

Rechtsregeln als nothwendig beſtimmt iſt, anſtatt daß ſie

bey den formloſen der freyen Willkühr der Handelnden über-

laſſen bleibt. Dieſe förmlichen Willenserklärungen nehmen

vorzüglich im älteren Römiſchen Recht eine wichtige Stelle

ein, und zwar in der beſondern Geſtalt feyerlicher Hand-

lungen, wodurch der eigenthümliche Sinn eines jeden Rechts-

verhältniſſes ſymboliſch dargeſtellt, und ſo auf ſinnliche Weiſe

für die Betheiligten und für Andere zur Anſchauung ge-

bracht wird. In dieſer Art die Rechtsgeſchäfte zu behan-

deln zeigt ſich zunächſt ein im Recht thätiger Kunſtſinn (a);

allein neben dieſer äſthetiſchen Seite der ſymboliſchen Hand-

lungen darf auch die praktiſche nicht überſehen werden.

Nichts iſt geeigneter, als eine ſolche ſymboliſche Form, um

in dem Handelnden den Zuſtand geſammelter Beſonnenheit

zu wecken, der für alle ernſten Geſchäfte ſo wünſchenswerth

iſt. Ferner kommt ein Entſchluß über wichtige Dinge ſel-

ten mit einemmal zur Reife; es pflegt ihm ein Zuſtand

der Unentſchiedenheit vorherzugehen, worin die Übergänge

 

(a) J. Grimm von der Poe-

ſie im Recht, Zeitſchrift für ge-

ſchichtliche Rechtswiſſenſchaft B. 2

Num. II.

|0251 : 239|

§. 130. Erklärung des Willens. Förmliche.

allmälig und unmerklich ſind, und deſſen Unterſcheidung

von dem vollendeten Wollen eben ſo ſchwierig ſeyn kann,

als ſie für den ſpäter urtheilenden Richter unentbehrlich

iſt. Jene ſymboliſche Form nun dient als untrügliches

Kennzeichen des reifen Entſchluſſes. Dazu kommen, als

untergeordnete Vortheile, die Sicherung des Beweiſes für

den Fall eines künftigen Rechtsſtreites, ſo wie die Öffent-

lichkeit, die das neue Rechtsverhältniß durch die ſymboliſche

Form erhält, und die in vielen Fällen wünſchenswerth

und wichtig ſeyn kann. Nicht als ob Römiſche Geſetzge-

ber (wie etwa der Alles ordnende Romulus) durch die

Erwägung dieſer Vortheile bewogen worden wären, die

ſymboliſchen Handlungen willkührlich zu erfinden und vor-

zuſchreiben. Wollte ein Geſetzgeber dieſes verſuchen, ſo

würde er doch nur die ungeſchickte Darſtellung eines Schau-

ſpiels erzwingen, und jene Vortheile würden ihm unter

den Händen meiſt verſchwinden, da ſie gerade davon ab-

hängen, daß der Handelnde ſelbſt von dem Werth und

der Bedeutung der Handlung durchdrungen iſt. Vielmehr

entſtehen ſolche Formen durch den einer Nation inwohnen-

den bewußtloſen Bildungstrieb, in welchem aber das Be-

dürfniß der oben beſchriebenen heilſamen Folgen wirkſam iſt.

Auch würde es ein großer Irrthum ſeyn, wenn man

das Daſeyn ſolcher ſymboliſchen Handlungen ausſchließend

im Römiſchen Recht anerkennen wollte. Dieſelben zeigen

ſich vielmehr bey den verſchiedenſten Völkerſtämmen, und

beſonders im alten germaniſchen Recht nehmen ſie eine

 

|0252 : 240|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſehr wichtige Stelle ein (b). Den Römern eigen iſt der

beſondere Beruf, das Recht überhaupt, vorzugsweiſe vor

anderen Nationen, zu einem hohen Grad der Vollendung

zu bringen. Wie ſich dieſes in der ſpäteren wiſſenſchaft-

lichen Ausbildung unverkennbar zeigt, ſo auch in den, ei-

nem früheren Zeitalter angehörenden, ſymboliſchen Hand-

lungen; ſie erſcheinen bey ihnen ausgebildeter und feſter,

als bey anderen Völkern, und ſie erhalten ſich weit länger

in gleichförmig fortdauernder Geſtalt.

Die Entſtehung der ſymboliſchen Rechtsformen fällt

überall in diejenige Entwicklungsſtufe, in welcher die Phan-

taſie vor anderen Geiſteskräften mächtig iſt. In demſelben

Maaße, als der reflectirende Verſtand ſeine Oberherrſchaft

ausbreitet, müſſen jene Formen erſt läſtig erſcheinen, dann

verkümmern und abſterben. So war es auch im Römi-

ſchen Recht, und in deſſen neueſter Geſtalt ſind nur noch

geringe Überreſte vorhanden, von welchen wiederum nur

Weniges, faſt nur als Erinnerung an längſt verſchwundene

Zeitalter, in das heutige Europa herüber gekommen iſt.

— Wo aber dieſe wichtige Veränderung in dem Recht

vorgeht, da werden meiſt andere Formen, durch willkühr-

liche Vorſchrift der Geſetzgeber, an die Stelle treten. Da-

hin gehört die ſchriftliche Abfaſſung der Rechtsgeſchäfte,

und, in höherer Stufe, die Abfaſſung vor Gericht, vor

Notarien, vor Hypothekenbehörden. Die wichtigſte und

häufigſte unter dieſen neueren Formen war bey den Rö-

 

(b) J. Grimm in der angeführten Abhandlung.

|0253 : 241|

§. 130. Erklärung des Willens. Förmliche.

mern die gerichtliche Inſinuation. Sie beſtand darin, daß

ein Rechtsgeſchäft vor einer ſtädtiſchen Curie, oder auch

vor der Kanzley (officium) des Statthalters einer Provinz

abgeſchloſſen, und in das Gerichtsprotokoll (Acta, Gesta)

wörtlich eingetragen wurde, wovon man dann den Be-

theiligten, ſo oft es nöthig war, beglaubigte Abſchriften

mittheilte. Es geſchah oft ganz willkührlich, blos um einer

Handlung mehr Feyerlichkeit oder ſicherern Beweis zu ge-

ben. Dann wurde es auch bey einigen Handlungen als

beſondere Form erfordert, namentlich bey Schenkungen,

bey der Abfaſſung von Teſtamenten, ſo wie bey der Er-

öffnung derſelben (c).

Solche willkührlich eingeführte Formen gewähren gleich-

falls die oben dargeſtellten praktiſchen Vortheile, nur mit

dem Unterſchied, daß die untergeordneten Folgen der ſym-

boliſchen Handlungen (die Sicherung des Beweiſes und

die Publicität) hier mehr in den Vordergrund treten, wäh-

rend die inneren und weſentlichen Vortheile, die bey den

ſymboliſchen Handlungen mit ihrer lebendigen Anſchaulich-

keit zuſammenhängen, hier weniger erreicht werden können,

wo die Form nur als ein äußeres Gebot erſcheint, dem

man ſich unvermeidlich fügen muß. In dieſer Zuſammen-

ſtellung übrigens ſoll nur eine Anerkennung des eigenthüm-

lichen Characters verſchiedener Zeitalter liegen, der ſich in

dem Recht wie in anderen Seiten des Völkerlebens offen-

bart. Das eine auf Koſten des andern erheben zu wollen,

 

(c) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 1 § 27—29.

III. 16

|0254 : 242|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

wäre ein nichtiges Bemühen; jedes hat ſein Gutes zu ge-

nießen, ſeine Mängel aber zu tragen, oder, wenn es ver-

mag, minder fühlbar zu machen. Am wenigſten kann es

die Abſicht ſeyn, die Geſetzgeber zu tadeln, welche durch

Einführung neuer Formen dem praktiſchen Bedürfniß da

entgegen kommen, wo die Sinnesart verſchwunden iſt, in

welcher allein die ſymboliſchen Handlungen entſtehen, und

ein lebendiges Daſeyn fortführen koͤnnen.

§. 131.

III. Willenserklärungen. — Erklärung. Ausdrückliche

oder ſtillſchweigende.

Die Erklärung kann ferner entweder eine ausdrück-

liche, oder eine ſtillſchweigende ſeyn. Der Wille ſelbſt

nämlich, als eine innere Thatſache, kann nur mittelbar,

durch eine ſinnlich wahrnehmbare Thatſache, erkannt wer-

den. Dieſes Mittel der Erkenntniß kann nun von zweyer-

ley Art ſeyn. Gewöhnlich hat es nur allein die Beſtim-

mung, als Kennzeichen des Willens zu dienen; nicht ſelten

aber hat es zunächſt eine andere, ſelbſtſtändige Beſtimmung,

jedoch ſo daß es daneben auch den Ausdruck des Willens

in ſich ſchließt. Im erſten Fall heißt die Willenserklärung

ausdrücklich, im zweyten ſtillſchweigend (a).

 

(a) Neuerlich hat man die

Benennungen unmittelbarer

und mittelbarer Willenser-

klärungen vorgeſchlagen; ich ziehe

die im Text gebrauchten vor,

theils als anſchaulicher, theils als

üblicher und daher bekannter.

Genauer wäre es allerdings, die-

jenige die wir ſtillſchweigend zu

nennen pflegen, als Einwilli-

gung durch Handlungen zu

bezeichnen, weil der Ausdruck

|0255 : 243|

§. 131. Erklärung des Willens. Ausdrückliche, ſtillſchweigende.

Das Mittel der ausdrücklichen Erklärung kann beſtehen

in mündlicher Rede, in ſchriftlicher Rede (b), oder auch

in bloßen Geberden; ſo z. B. wenn derjenige, welchem ein

beſtimmter Vertrag angeboten wird, durch bloßes Zunicken

ſeine Einwilligung ausdrückt (c): oder wenn der Gegen-

ſtand des Vertrags durch Hindeuten mit der Hand be-

zeichnet wird (d). Nur wird nicht leicht ein ganzes Rechts-

geſchäft durch bloße Geberden zu Stande kommen, viel-

mehr wird dann die Erklärung meiſt aus Worten und

Geberden gemiſcht ſeyn (e). — Die ſchriftliche Willenser-

 

ſtillſchweigend zu einer Ver-

wechslung dieſes Falles mit dem

des bloßen Schweigens (§ 132)

verleiten kann; die Bezeichnung

wäre aber wörtlich unbehülflicher,

und jene Verwechslung wird durch

das Herkömmliche des hier bey-

behaltenen Sprachgebrauchs ab-

gewendet. — Für ungenau halte

ich es, den Unterſchied beider

Arten davon abhängig zu machen,

ob der Wille aus einer äußeren

Thatſache mit oder ohne Schluß-

folgerungen erkannt werden könne

(Göſchen Vorleſungen I. S.

274). Wenn eine undeutlich ge-

faßte Vertragsurkunde nur durch

künſtliche Auslegung, wozu gewiß

auch Schlüſſe nöthig ſind, ver-

ſtanden werden kann, ſo iſt ſie

darum nicht weniger eine aus-

drückliche Willenserklärung. Auch

darin kann, ſtreng genommen,

der Unterſchied nicht geſetzt wer-

den, daß bey der einen Art durch

Worte, bey der anderen ohne

Worte, der Wille erklärt werde;

denn es kann auch eine ſtillſchwei-

gende Erklärung in bloßen Wor-

ten enthalten ſeyn, wenn dieſe

Worte zunächſt einen andern Zweck

haben, als zum Ausdruck gerade

dieſes Willens zu dienen; davon

werden ſogleich Beyſpiele unter

den ſtillſchweigenden Erklärungen

vorkommen. Vgl. die Stellen in

den Noten q. r. t.

(b) Beide ſtehen einander ganz

gleich, natürlich mit Ausnahme

der förmlichen Rechtsgeſchäfte.

L. 38 de O. et A. (44. 7.) „..

placuit non minus valere, quod

scriptura, quam quod vocibus

lingua figuratis significaretur.”

(c) L. 21 pr. de leg. 3 (32.

un.), L. 1 § 3 de adsign. lib.

(38. 4.), L. 52 § 10 de O. et A.

(44. 7.), L. 17 de nov. (46. 2.).

(d) L. 6 de reb. cred. (12. 1.),

L. 58 pr. de her. inst. (28. 5.).

(e) Vgl. die Stellen in Note d.

16*

|0256 : 244|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

klärung wird ſeit dem Mittelalter hauptſächlich durch die

eigenhändige Unterſchrift des eigenen Namens unter irgend

eine, von dem Unterſchreibenden oder einem Anderen her-

rührende Schrift bewirkt, wodurch er den Inhalt dieſer

Schrift für ſeinen Gedanken und Willen erklärt. Wir

ſind an dieſe Form, in Briefen, wie in Urkunden über

Rechtsgeſchäfte, ſo gewöhnt, daß gewiß Viele glauben, ſie

verſtehe ſich von ſelbſt, und es könne darin gar nicht an-

ders ſeyn; den Römern aber war dieſe Form fremd, und

ſie iſt bey ihnen erſt ſpät und in ſehr beſchränkten Anwen-

dungen eingeführt worden.

Die in Worten enthaltene ausdrückliche Willenserklä-

rung iſt, eben ſo wie die Geſetzgebung, einer Auslegung

empfänglich, und oft bedürftig (f). Die allgemeinſten Prin-

cipien der Geſetzauslegung (§ 32—37) kommen auch hier

inſofern zur Anwendung, als in beiden Fällen der Zweck

nur darauf gerichtet ſeyn kann, den in dem todten Buch-

ſtaben niedergelegten lebendigen Gedanken vor unſrer Be-

trachtung wieder entſtehen zu laſſen. Auch darin kommen

beide Fälle überein, daß die Römiſchen Juriſten für die

Behandlung derſelben zwar eine Fülle belehrender Bey-

 

(f) Ein Unterſchied zwiſchen

beiden liegt allerdings darin, daß

das Geſetz als einzelnes Element

des in dem poſitiven Recht ent-

haltenen großen Ganzen weit all-

gemeiner Gegenſtand einer kunſt-

mäßigen Behandlung ſeyn kann

und muß, als das völlig verein-

zelt ſtehende Rechtsgeſchäft. Von

dieſem kann man daher mit mehr

Wahrheit ſagen, als von dem

Geſetz, daß es nur unter Vor-

ausſetzung der Dunkelheit, alſo

eines zufälligen und mangelhaften

Zuſtandes, der Auslegung bedarf

(vgl. § 50).

|0257 : 245|

§. 131. Erklärung des Willens. Ausdrückliche, ſtillſchweigende.

ſpiele, daneben aber ſehr unzureichende und nur mit Vor-

ſicht anzuwendende allgemeine Regeln aufgeſtellt haben.

Hier in das Einzelne dieſer Regeln einzugehen, würde

nicht räthlich ſeyn, da ſie mit der Eigenthümlichkeit der

Verträge und der Teſtamente dergeſtalt in Verbindung

ſtehen, daß ſie nur im Zuſammenhang des Obligationen-

rechts und des Erbrechts zweckmäßig dargeſtellt werden

können.

Die ſtillſchweigende Erklärung des Willens beſteht in

ſolchen Handlungen, die zwar ſelbſtſtändige Zwecke haben,

zugleich aber als Mittel für die Erkenntniß des Willens

dienen. Sollen ſie dafür gelten, ſo muß ein ſicherer Schluß

möglich ſeyn von der vorgenommenen Handlung auf das

Daſeyn des Willens (g). Die Annahme einer ſtillſchwei-

genden Erklärung beruht alſo ſtets auf einer wirklichen

Beurtheilung der einzelnen Handlung, mit Rückſicht auf

alle Umſtände, von welchen ſie begleitet iſt, und dieſe Be-

urtheilung nimmt hier dieſelbe Stelle ein, wie bey der

ausdrücklichen die Auslegung der gebrauchten Worte. Nicht

ſelten wird die Handlung für ſich allein gar nicht als

Willenserklärung gelten können, ſondern es wird dazu der

poſitiven Mitwirkung äußerer Umſtände bedürfen; aber

auch wo aus ihr allein ein Schluß auf den Willen in

der Regel wohlbegründet ſeyn mag, kann derſelbe dennoch

durch entgegenwirkende Umſtände entkräftet werden. Dieſe

 

(g) Die Neueren drücken das ſo aus: es müſſen facta conclu-

dentia ſeyn.

|0258 : 246|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

werden oft ganz individueller Natur ſeyn, alſo lediglich

in dem beſondern Hergang eben dieſer einzelnen Handlung

liegen; ſie können aber auch einen allgemeineren Charakter

an ſich tragen, ſo daß ſie ſich auf gemeinſame Regeln zu-

rückführen laſſen. So wird die Wirkſamkeit einer Hand-

lung als ſtillſchweigender Willenserklärung vor Allem ent-

kräftet durch eine ausdrückliche Gegenerklärung, welche

Proteſtation oder Reſervation genannt wird (h).

Ferner wenn die Handlung eine erzwungene iſt, weil nun

der Handelnde nicht die Abſicht gehabt hat, ſeinen Willen

auszudrücken, ſondern ſich nur dem gedrohten Übel entzie-

hen wollte. Endlich auch wenn die Handlung auf einem

ſolchen Irrthum beruht, daß ſie um ſeinetwillen nicht als

Ausdruck jenes Willens gelten kann (i).

Alle dieſe Regeln werden durch folgende in unſren Rechts-

quellen vorkommende Anwendungen anſchaulich werden.

 

Wenn der Gläubiger ſeinem Schuldner den Schuld-

ſchein einhändigt (k), ſo kann dieſe Handlung nach Um-

ſtänden ganz verſchiedene Bedeutungen haben. Sie kann

 

(h) Proteſtation iſt der all-

gemeinere Ausdruck; Reſerva-

tion wird von dem beſonderen

Fall gebraucht, worin wir uns

gegen die Annahme der ſtillſchwei-

genden Verzichtung auf ein Recht

durch ausdrückliche Gegenerklä-

rung verwahren.

(i) Vgl. Beylage VIII. Num.

XII., worin dieſes Hinderniß

ſtillſchweigender Willenserklärung

ausführlich dargeſtellt, und zu-

gleich in gehörige Gränzen ein-

geſchloſſen iſt.

(k) Iſt der Schuldner auf an-

dere Weiſe, als durch des Gläu-

bigers Willen, in Beſitz des

Schuldſcheins gekommen, ſo ent-

ſteht dadurch gar keine dem Gläu-

biger nachtheilige Vermuthung.

L. 15 C. de sol. (8. 43.).

|0259 : 247|

§. 131. Erklärung des Willens. Ausdrückliche, ſtillſchweigende.

gelten als ſtillſchweigender Erlaß der Schuld (l), beſonders

wenn etwa der Schuldner vorher um Erlaß gebeten hatte;

ſie kann die Zahlung der Schuld wahrſcheinlich machen,

wenn auch nicht vollſtändig beweiſen (m); ſie kann aber

auch zu ganz anderen Zwecken geſchehen ſeyn; z. B. weil

der Schuldner Abſchrift davon zu nehmen wünſchte. —

Auf ähnliche Weiſe wird das Durchſtreichen des Schuld-

ſcheins, nach Umſtänden, bald als Beweis der Zahlung (n),

bald als ſtillſchweigender Erlaß gelten können. — Wenn

derjenige, dem eine Erbſchaft angefallen iſt, Geſchäfte, die

zu derſelben gehoͤren beſorgt, ſo liegt in dieſer pro herede

gestio in der Regel eine ſtillſchweigende Antretung der

Erbſchaft (o). Es kann aber dieſe Deutung einer ſolchen

Handlung ausgeſchloſſen werden, theils durch eine aus-

drückliche Gegenerklärung, theils durch Irrthum, theils

durch erweisliche andere Abſichten (p). — Die freywillige

Einlaſſung vor einem incompetenten Richter gilt als ſtill-

ſchweigende Prorogation; jedoch wird durch Irrthum über

die Gerichtsbarkeit dieſe Wirkung der Einlaſſung ausge-

ſchloſſen (q). — Wer den Prozeß, den ein Anderer ohne

Auftrag für ihn führte, ſelbſt fortführt, genehmigt dadurch

(l) L. 2 § 1 de pactis (2. 14.),

L. 7 C. de remiss. pign. (8. 26.).

(m) L. 14 C. de sol. (8. 43.)

In dieſem Fall liegt in der Rück-

gabe des Scheins ein Anerkennt-

niß der empfangenen Zahlung,

oder eine ſtillſchweigende Quit-

tung.

(n) L. 24 de prob, (22. 3.).

(o) § 7 J. de her. qual. (2.

19.), L. 20 pr. § 1 de adqu. her.

(29. 2.), Gajus II. § 166. 167,

Ulpian. XXII. § 25. 26.

(p) L. 20 pr. § 1 de adqu.

her. (29. 2.), L. 14 § 7. 8 de

relig. (11. 7.).

(q) L. 1 L. 2 pr. de jud. (5.

1.), L. 15 de jurisd. (2. 1.).

|0260 : 248|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

die von dem Andern bisher vorgenommenen Prozeßhand-

lungen (r). — Wenn ein Gläubiger für einen künftigen

Zeitraum Zinſen annimmt, ſo liegt darin das ſtillſchwei-

gende Verſprechen, bis zum Ablauf dieſes Zeitraums das

Kapital nicht einzufordern (s). — Wenn Jemand eine

fremde Sache verpfändet, der Eigenthümer aber die Pfand-

urkunde unterſchreibt, ſo liegt darin eine ſtillſchweigende

Einwilligung in die Verpfändung (t). — Wenn ein Mit-

erbe alle Grundſtücke der Erbſchaft verkauft, die übrigen

Miterben aber nicht nur gegenwärtig ſind ohne zu wider-

ſprechen, ſondern auch ihren Theil am Kaufgeld in Em-

pfang nehmen, ſo ſind ſie als ſtillſchweigende Verkäufer

ihres Antheils zu betrachten (u).

§. 132.

III. Willenserklärungen. — Erklärung. Durch bloßes

Schweigen.

Das bloße Stillſchweigen zu den Handlungen, oder auf

die Frage eines Anderen, kann in der Regel nicht als Ein-

willigung oder Zugeſtändniß betrachtet werden (a). Trägt

 

(r) L. 5 ratam rem. (46. 8.).

(s) L. 57 pr. de pactis (2. 14.).

(t) L. 26 § 1 de pign. (20. 1.).

(u) L. 12 de evict. (21. 2.).

(a) L. 142 de R. J. (50. 17.)

„Qui tacet, non utique fatetur,

sed tamen verum est, eum non

negare.” — Wenn alſo C. 43

de R. J. in VI. ſagt: Qui tacet,

consentire videtur, ſo kann das

nicht als Regel gelten, ſondern

darf vielmehr nur auf die hier

nachfolgenden Ausnahmen bezo-

gen werden. An eine Abänderung

des R. R. durch das canoniſche

iſt bey einer ſo abſtracten Regel

ohnehin nicht zu denken; zum

Überfluß aber iſt die angeführte

Stelle des R. R. als C. 44 de

R. J. in VI. unmittelbar hinter

|0261 : 249|

§. 132. Erklärung des Willens. Durch bloßes Schweigen.

mir alſo ein Anderer einen Vertrag an, und erklärt, daß

er mein Schweigen als Einwilligung betrachten werde, ſo

bindet mich dieſes dennoch nicht, da Jener kein Recht hat,

mich, wenn ich nicht einwillige, zu einem poſitiven Wider-

ſpruch zu nöthigen. — Von dieſem Standpunkt aus ſind

denn auch die wichtigen Ausnahmen jener Regel zu be-

trachten, welche nunmehr zuſammengeſtellt werden ſollen.

Sie gründen ſich ſtets auf eine vorausgeſetzte Pflicht, ſich

zu erklären, mag nun dieſe in der beſonderen Wichtigkeit

des Rechtsverhältniſſes ihren Grund haben (beſonders bey

Familienverhältniſſen), oder in dem natürlichen Anſpruch

des Anderen auf Ehrfurcht, oder in dem Zuſammenhang

des gegenwärtigen Schweigens mit früheren Willenserklä-

rungen. Alle dieſe Ausnahmen haben eine ganz poſitive

Natur, und es iſt unzuläſſig, ſie durch Aufnahme anderer,

ähnlicher Fälle vermehren zu wollen. In einigen derſelben

wird die Auslegung des Schweigens als einer Einwilligung

ſogar auf den Fall des unmöglichen Wollens ausgedehnt;

dieſe Ausdehnung aber trägt vielmehr die Natur einer

fingirten Einwilligung an ſich.

Wenn der Vater ſeine Tochter verlobt, ſo gilt das

bloße Schweigen der Tochter als Einwilligung. Eben ſo,

wenn die Tochter ſich ſelbſt verlobt, das Schweigen des

Vaters (b). — Die Adoption im engern Sinne wird

gültig ſchon durch das bloße Schweigen des Adoptir-

 

jene bedenklich lautende Stelle

geſetzt worden.

(b) L. 12 pr. de sponsal. (23.

1.). — L. 7 § 1 eod.

|0262 : 250|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ten (c). Eben ſo verhält es ſich auch mit der Emancipa-

tion (d). — Wenn ein Vormund eine anweſende Perſon

als Bürgen benennt, und dieſer ohne zu widerſprechen die

Eintragung in das Gerichtsprotokoll geſchehen läßt, ſo iſt

er dadurch wirklich Bürge geworden (e). — Die Ehe ei-

nes in väterlicher Gewalt ſtehenden Kindes wird nur durch

des Vaters Einwilligung gültig; als Einwilligung aber

gilt das bloße Stillſchweigen des Vaters, wenn dieſem

die Ehe bekannt iſt (f). — Der Vater, welcher die Ernen-

nung ſeines Sohnes zum Decurio einer Stadt weiß, und

dazu ſchweigt, wird als einwilligend betrachtet (g). —

Wenn eine geſchiedene Frau dem Manne ihre Schwan-

gerſchaft anzeigt, ſo gilt deſſen Schweigen als Anerkennung

(c) L. 5 de adopt. (1. 7.).

Darum iſt die Adoption eines

Kindes (Infans) möglich, welches

zwar nicht widerſpricht, aber auch

unfähig iſt zum Wollen wie zum

Widerſprechen; hier iſt alſo die

Einwilligung fingirt.

(d) Daß hier daſſelbe gilt, wie

in dem vorhergehenden Fall, er-

giebt ſich aus L. 5 in f. C. de

emanc. (8. 49), verglichen mit

Paulus II. 25 § 5.

(e) L. 4 § 3 de fidej. et no-

min. (27. 7.).

(f) Urſprünglich war bey dem

Sohn ein ausdrücklicher, und

zwar vorhergehender, Conſens des

Vaters nöthig. pr. J. de nupt.

(1. 10); bey der Tochter ließ

man auch ſchon früher das bloße

Stillſchweigen des Vaters zu.

L. 25 C. de nupt. (5. 4.). Aber

auch bey dem Sohn wurde in

einzelnen Fällen durch kaiſerliche

Reſcripte das Schweigen für ge-

nügend erklärt. L. 5 C. de nupt.

(5. 4.). Durch die Aufnahme ei-

nes ſolchen Reſcripts in den Co-

dex iſt nun dieſer, ohnehin der

neueren Begünſtigung der Ehe

angemeſſene, Satz zur allgemei-

nen Regel erhoben. Die oben

aus den Inſtitutionen angeführte

Vorſchrift des vorhergehenden

Conſenſes iſt daher Ausdruck der

ſtrengen älteren Regel, und nur

aus Verſehen aus dem Werk ei-

nes alten Juriſten in die Com-

pilation aufgenommen.

(g) L. 2 pr. ad munic. (50. 1.),

L. 1 C. de filiisfam. (10. 60.).

|0263 : 251|

§. 132. Erklärung des Willens. Durch bloßes Schweigen.

des Kindes (h). — Wird die Ehe einer filiafamilias aufgelöſt,

ſo kann der Vater nur mit Einwilligung der Tochter auf

Rückgabe der Dos klagen; jedoch gilt ihr Stillſchweigen als

Einwilligung (i). — Wenn der Erbe, der durch Teſtament

zur Reſtitution der Erbſchaft verpflichtet iſt, die einſeitige Be-

ſitzergreifung des Fideicommiſſars weiß und dazu ſchweigt,

ſo gilt dieſes als Reſtitution (k). — Das Schweigen des

Vaters zu einem Gelddarlehen, welches ſein Sohn auf-

nimmt, gilt als Einwilligung (l). — Eben ſo das Schwei-

gen des Vaters oder Herrn, wenn der Sohn oder Sklave

mit dem Peculium Handelsgeſchäfte treibt; hier hat die

Einwilligung die Folge, daß ſich der Vater die für ihn

ungünſtigere tributoria actio gefallen laſſen muß (m). —

Der Vermiether, der den Miether nach geendigter Mieth-

zeit den Gebrauch der Sache ſtillſchweigend fortſetzen läßt,

hat damit den Miethcontract verlängert (n). — Wenn

ohne Auftrag des Schuldners Bürgſchaft geleiſtet wird,

der Schuldner aber dazu wiſſentlich ſchweigt, ſo gilt die-

ſes als Mandat (o). — Das Urtheil eines Schiedsrichters

(h) L. 1 § 4 de agnosc. (25. 3.).

(i) L. 2 § 2 sol. matr. (24. 3.).

Dieſes nun wird dahin ausge-

dehnt, daß der Vater ohne Ein-

willigung klagen kann, wenn die

Tochter wahnſinnig, alſo zum

Widerſpruch unfähig iſt; hier iſt

der Conſens wiederum ein fin-

girter.

(k) L. 37 pr. ad Sc. Treb.

(36. 1.).

(l) L. 12. 16 ad Sc. Maced.

(14. 6.).

(m) L. 1 § 3 de tribut. act.

(14. 4.).

(n) L. 13 § 11 locati (19. 2.).

Von Seiten des Miethers ge-

ſchieht dieſes nicht durch bloßes

Schweigen, da die Fortſetzung

des Gebrauchs eine poſitive Hand-

lung iſt.

(o) L. 6 § 2 mandati (17. 1.),

L. 60 de R. J. (50. 17.).

|0264 : 252|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

verpflichtet die Parteyen zur Erfüllung des Inhalts nur

wenn ſie einwilligen; wenn ſie jedoch zehen Tage lang

nicht widerſprechen, ſo gilt ihr Schweigen als Einwilli-

gung (p). — Wenn eine Anlage auf einem Grundſtück dem

Nachbar die Gefahr einer Beſchädigung durch Regenwaſſer

zuzieht, dieſer aber dazu wiſſentlich ſchweigt, ſo willigt er

ein durch dieſes bloße Schweigen (q).

In dieſen ausgenommenen Fällen wird das bloße Still-

ſchweigen als Kennzeichen des wirklich vorhandenen Wil-

lens angeſehen, gerade ſo wie bey der gewöhnlichen ſtill-

ſchweigenden Willenserklärung (§ 131) die poſitive Hand-

lung. Daher muß auch, aus ähnlichen Gründen wie bey

dieſer, eine ſolche Wirkung des Schweigens oft ausge-

ſchloſſen werden. Dieſes iſt zu behaupten, wenn aus den

beſonderen Umſtänden des einzelnen Falles andere Beweg-

gründe des Schweigens hervorgehen; ferner wenn der

Schweigende durch Zwang oder durch Irrthum zum Schwei-

gen beſtimmt worden iſt. Dagegen würde eine Proteſtation

in dieſen Fällen gar nicht denkbar ſeyn, indem dieſe ſtets

in einer ausdrücklichen Erklärung beſteht, durch eine ſolche

aber der Fall des bloßen Stillſchweigens gänzlich ausge-

ſchloſſen wird.

 

(p) L. 5 pr. C. de receptis

arb. (2. 56.).

(q) L. 19 de aqua pluvia

(39. 3.).

|0265 : 253|

§. 133. Erklärung des Willens. Fingirte.

§. 133.

III. Willenserklärungen. — Erklärung. Fingirte.

Alle bisher dargeſtellten Fälle der Willenserklärung

kommen darin überein, daß wir den durch ſie offenbarten

Willen als eine wirklich vorhandene Thatſache annehmen,

wie verſchieden auch unſere Beweggründe zu dieſer An-

nahme ſeyn mögen. Daneben aber giebt es auch wichtige

Fälle, welchen eine poſitive Rechtsregel die Kraft einer

Willenserklärung beylegt, ohne daß deshalb der Wille als

Thatſache behauptet werden kann; ich bezeichne dieſe als

fingirte Erklärung. Allerdings liegt bey mehreren Fäl-

len dieſer Art eine allgemeine Wahrſcheinlichkeit des Wil-

lens zum Grunde, den man daher einen vermutheten oder

präſumtiven nennen könnte; allein in anderen Fällen läßt

ſich auch dieſe Wahrſcheinlichkeit nicht behaupten, die

Gränze zwiſchen jenen und dieſen iſt ſchwankend, und in

jedem Fall die Unterſcheidung derſelben unfruchtbar (a).

Die gänzliche Verſchiedenheit von der ſtillſchweigenden

Willenserklärung, die ſtets eine wirkliche iſt, zeigt ſich

 

(a) Es wäre den Worten nicht

unangemeſſen, dieſen Unterſchied

durch die Ausdrücke praesumtus

und fictus zu bezeichnen. Vgl.

Hofacker I. § 183 — 185; die

Gründe, warum ich dieſen Sprach-

gebrauch verwerfe, ſind im Text

angegeben. — Andere brauchen

dieſelben Ausdrücke, um die Zu-

läſſigkeit oder Unzuläſſigkeit des

Gegenbeweiſes auszudrücken. So

Mühlenbruch I. § 98. — Die

von mir angewendete Bezeichnung

wird, als die einfachſte, am we-

nigſten Misverſtändniſſe veran-

laſſen. Der ſchwankende Ausdruck

praesumtus consensus, der an

ſich auch für die ſtillſchweigende

Erklärung gebraucht werden könn-

te, wird dann ganz beſeitigt.

|0266 : 254|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

darin, daß manche hierher gehörende Fälle gar nicht auf

einer einzelnen Handlung beruhen, die etwa als Zeichen

des Willens interpretirt werden könnte, ſondern auf einem

allgemeinen, bleibenden perſönlichen Verhältniß: ferner daß

dieſe Fiction in mehreren Fällen zur Anwendung kommt,

worin der wirkliche Wille nicht einmal möglich iſt.

Eine fingirte Willenserklärung kommt in folgenden Fäl-

len vor. Iſt für einen Abweſenden ein Rechtsſtreit zu

führen, ſo dürfen für ihn ſeine Kinder, Eltern, Brüder,

Schwäger, Freygelaſſene als fingirte Procuratoren auf-

treten; desgleichen der Mann für ſeine Frau (b). — Eben

dahin gehören ſämmtliche Fälle des ſogenannten ſtillſchwei-

genden Pfandrechts. Es würde ganz unrichtig ſeyn anzu-

nehmen, in jedem Rechtsgeſchäft, woran ein ſolches ge-

knüpft iſt, ſey der Wille des Schuldners, gewiſſe Sachen

zu verpfänden, auch wirklich enthalten. Wenn z. B. Je-

mand eine Wohnung miethet, oder ein Landgut pachtet,

ſo wird er, wenn er nicht zufällig Rechtsgelehrter iſt,

ſchwerlich daran denken, daß ſeine Mobilien oder ſeine

Feldfrüchte mit einem Pfandrechte behaftet werden; es ge-

ſchieht kraft einer Rechtsregel, welche dieſes Pfandrecht

als natürlich, billig und zweckmäßig vorausſetzt (c). —

 

(b) L. 35 pr. de proc. (3. 3.),

L. 21 C. eod. (2. 13.).

(c) Zweifel könnte hieran er-

regen der Ausdruck pignus tacite

contrahitur, den man als Aner-

kenntniß einer ſtillſchweigenden

Willenserklärung anſehen könnte.

Allein ein ſolcher Ausdruck würde

in keinem Fall entſcheidend ſeyn;

am wenigſten iſt er es hier, da

L. 4 pr. in quib. causis pign.

(20. 2.) ſagt: „quasi id tacite

convenerit,” und L. 6 pr. eod.

„tacite intelliguntur pignori

|0267 : 255|

§. 133. Erklärung des Willens. Fingirte.

Ferner gehört dahin die Einwilligung des Pfandgläubigers

in die Veräußerung oder neue Verpfändung der Sache,

welche ſtets ſo ausgelegt wird, als wäre darin die frey-

willige Aufhebung des eigenen Pfandrechts, oder wenig-

ſtens die Einräumung des Vorzugs an den neuen Gläu-

biger enthalten (d). — Endlich auch diejenigen Fälle des

als Einwilligung geltenden bloßen Stillſchweigens, worin

in der That weder Einwilligung noch Widerſpruch möglich

iſt; ſo bey der Adoption oder Emancipation Desjenigen,

der noch in dem Kindesalter ſteht, ferner bey der wahn-

ſinnigen Tochter, deren Vater ihre Dos nach aufgelöſter

Ehe zurückfordern will (§ 132. c. d. i.).

Da in dieſen Fällen der Wille gar nicht als Thatſache

angenommen wird, ſo daß wir dabey kein der Auslegung

ähnliches Verfahren anzuwenden haben, ſo kann es auch

nicht auf individuelle Umſtände ankommen, wodurch bey

der ſtillſchweigenden Willenserklärung die Wahrſcheinlich-

keit erhöht oder vermindert werden kann (§ 131). Eben

ſo wird hier der Zwang oder Irrthum nicht auf ähnliche

Weiſe, wie bey der ſtillſchweigenden Willenserklärung hin-

 

esse,” welches gerade die eigent-

lichſten Bezeichnungen einer Fic-

tion ſind.

(d) L. 4 § 1 L 7 pr. quibus

modis pign. (20. 6.). — L. 12

§ 4 qui potiores (20. 4.). —

Hier könnte man noch zweifeln,

ob nicht vielmehr eine ſtillſchwei-

gende Willenserklärung in jenen

Einwilligungen angenommen wer-

de. Dagegen iſt aber zu bedenken,

daß dieſe Regeln als ſchlechthin

geltend aufgeſtellt werden, obgleich

man in vielen Fällen nicht wird

behaupten können, daß ſich der

Gläubiger gerade dieſen Erfolg

ſeiner Einwilligung beſtimmt ge-

dacht habe.

|0268 : 256|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

dernd einwirken (e). Nur die ausdrückliche Gegenerklärung,

das heißt die Proteſtation, ſoll in der Regel die Fiction

ausſchließen. Dieſes iſt ausdrücklich anerkannt bey der

Prozeßführung durch nahe Verwandte u. ſ. w., wenn der

entgegengeſetzte Wille des Abweſenden dargethan werden

kann (f). — Eben ſo auch bey der Einwilligung des Pfand-

gläubigers in den Verkauf der verpfändeten Sache (g). —

Es hat ferner durchaus keinen Zweifel in den meiſten Fäl-

len des ſtillſchweigenden Pfandrechts. Wenn alſo Jemand

ein Haus miethet oder ein Landgut pachtet, wenn der

Fiscus einen Vertrag ſchließt, wenn einem Ehemann eine

Dos verſprochen wird, ſo kann zuverläſſig durch einen

Nebenvertrag die Entſtehung des ſtillſchweigenden Pfand-

rechts ausgeſchloſſen werden.

Dagegen giebt es allerdings einige ausgenommene Fälle,

in welchen eine ſolche Proteſtation entweder undenkbar, oder

nach poſitiven Rechtsregeln unzuläſſig iſt. Undenkbar iſt

ſie bey der Adoption oder Emancipation im Kindesalter,

ſo wie bey der Klage auf die Dos der wahnſinnigen Toch-

ter, weil nämlich Kinder und Wahnſinnige überhaupt nicht

wollen können. — Unzuläſſig iſt ſie bey dem ſtillſchwei-

 

(e) Wenn der Miether durch

Drohungen zu dem Contract ge-

zwungen wird, ſo iſt dieſer in

jeder Beziehung unwirkſam, alſo

auch in Beziehung auf das Pfand-

recht; es läßt ſich aber nicht be-

haupten, daß die Drohung den

ſtillſchweigend erklärten Willen

der Verpfändung ausſchließe, denn

ein ſolcher Wille iſt überhaupt nicht

vorhanden.

(f) L. 40 § 4 de proc. (3. 3.)

„.. non exigimus, ut habeant

voluntatem vel mandatum, sed

ne contraria voluntas probe-

tur” …

(g) L. 4 § 1 quibus modis

pign. (20. 6.).

|0269 : 257|

§. 134. Erklärung ohne Willen. Abſichtliche.

genden Pfandrecht, welches die Frau am Vermögen des

Mannes wegen Rückgabe der Dos hat. Denn wollte die

Frau dieſem Pfandrecht entſagen, ſo würde ſie dadurch

ihre rechtliche Lage in Beziehung auf die Dos ungünſtiger

ſtellen, welches, wenn es nicht mit Ruͤckſicht auf Kinder

dieſer Ehe geſchieht, überhaupt unwirkſam iſt (h). — Eben

ſo iſt die Proteſtation unzuläſſig bey dem ſtillſchweigenden

Pfandrecht, welches der Unmündige und der Minderjährige

am Vermoͤgen des Vormundes hat. Denn die Übernahme

der Vormundſchaft, welche den Grund jenes Pfandrechts

enthält, geſchieht weder durch Vertrag, noch überhaupt

durch die Willkühr des Vormunds. Er ſelbſt kann alſo

durch ſeinen Willen weder dieſe Übernahme verhindern,

noch die durch Rechtsregeln daran geknüpften Folgen ver-

ändern; eben ſo aber ſteht auch ihm gegenüber Niemand,

der durch ſeinen Willen dieſes zu bewirken fähig wäre.

§. 134.

III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.

Abſichtliche.

Bisher iſt die Willenserklärung nach ihren beiden Be-

ſtandtheilen betrachtet worden, dem Willen an ſich (§ 114

— 129), und der Erklärung deſſelben (§ 130—133); es

bleibt noch übrig, von der Übereinſtimmung beider Stücke,

 

(h) L. 1 § 1 de dote praeleg. (33. 4.), L. 17 de pactis dotal.

(23. 4.).

III. 17

|0270 : 258|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

oder von ihrer Verbindung zu einem Ganzen zu reden.

Jedoch iſt dieſes nicht ſo zu verſtehen, als ob beide ihrer

Natur nach von einander unabhängig wären, etwa wie

der Wille Eines Menſchen von dem eines Anderen, deren

Übereinſtimmung in der That ganz zufällig iſt; vielmehr

ſind ſie ſchon ihrem Weſen nach als verbunden zu denken.

Denn eigentlich muß der Wille an ſich als das einzig

Wichtige und Wirkſame gedacht werden, und nur weil er

ein inneres, unſichtbares Ereigniß iſt, bedürfen wir eines

Zeichens, woran er von Anderen erkannt werden könne,

und dieſes Zeichen, wodurch ſich der Wille offenbart, iſt

eben die Erklärung. Daraus folgt aber, daß die Über-

einſtimmung des Willens mit der Erklärung nicht etwas

Zufälliges, ſondern ihr naturgemäßes Verhältniß iſt.

Allein es läßt ſich eine Störung dieſes natürlichen Ver-

hältniſſes denken. Dann entſteht ein Widerſpruch zwiſchen

dem Willen und der Erklärung, aus dieſer geht der fal-

ſche Schein des Willens hervor, und das iſt es, was

ich die Erklärung ohne Willen nenne.

 

Nun beruht aber alle Rechtsordnung gerade auf der

Zuverläſſigkeit jener Zeichen, wodurch allein Menſchen mit

Menſchen in eine lebendige Wechſelwirkung treten können.

Daher darf die erwähnte Störung nicht angenommen wer-

den in dem einfachſten dafür denkbaren Fall, wenn näm-

lich Derjenige, welcher Etwas als ſeinen Willen erklärt,

heimlich den entgegengeſetzten Willen hat, mag er ſich

auch darüber anderwärts (etwa ſchriftlich, oder vor Zeu-

 

|0271 : 259|

§. 134. Erklärung ohne Willen. Abſichtliche.

gen) deutlich ausgeſprochen haben (a). Demnach darf ein

Widerſpruch zwiſchen dem Willen und der Erklärung

nur angenommen werden, inſofern er für den, welcher

mit dem Handelnden in unmittelbare Berührung kommt,

erkennbar iſt oder wird, alſo unabhängig bleibt von dem

bloßen Gedanken des Handelnden. Dieſes kann geſchehen

auf zweyerley Weiſe. Erſtlich mit dem Bewußtſeyn des

Handelnden, indem Dasjenige, was ſonſt als Zeichen des

Willens dient, in dieſem einzelnen Fall erweislich einen

anderen Zweck hat. Zweytens ohne deſſen Bewußtſeyn,

indem derſelbe in einem ſolchen Irrthum befangen iſt, wo-

durch der Wille ſelbſt ausgeſchloſſen, und der bloße Schein

des Willens hervorgebracht wird. Ich nenne jenes die

abſichtliche, dieſes die unabſichtliche Erklärung ohne

Willen.

Die abſichtliche Erklärung ohne Willen macht für

die allgemeine Betrachtung wenig Schwierigkeit, und nur

die Anwendung kann zuweilen durch zweifelhafte Thatſa-

chen ſchwierig werden. Die wichtigſten Fälle derſelben

möchten folgende ſeyn.

 

Worte, die an ſich auch den vollendeten Willen aus-

zudrücken fähig ſind, können gebraucht ſeyn als Ausdruck

des unentſchiedenen Zuſtandes (§ 130), der nur erſt auf

 

(a) Eine ſolche reservatio men-

talis, verbunden mit einem an-

genommenen falſchen Namen,

wird vorausgeſetzt in C. 26 X.

de spons. (4. 1.); in dem beſon-

deren Fall dieſer Stelle wird ihr

ſogar ſeltſamerweiſe Wirkung zu-

geſchrieben, woraus aber gewiß

Niemand geneigt ſeyn wird ein

Rechtsprincip zu bilden. Vergl.

Böhmer Jus eccl. Prot. Lib. 4

Tit. 1 § 142.

17*

|0272 : 260|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

dem Wege war, künftig in einen wahren Willen über-

zugehen (b).

Dieſelben Worte, welche gewöhnlich bey einem Rechts-

geſchäft angewendet werden, können zum Scherz gebraucht

ſeyn, oder als Übung bey dem Unterricht in einer Sprache

oder im Recht (c), oder bey einer dramatiſchen Darſtellung.

 

Sie können ferner gebraucht ſeyn bey einem wirklichen

Rechtsgeſchäft, aber in einer blos ſymboliſchen Bedeu-

tung, ſo daß der unmittelbare Wortſinn ganz unwirkſam

bleibt. So erhielt bey dem Römiſchen Teſtament der fa-

miliae emtor keine Rechte (d). Die Worte eines Kauf-

contracts wurden bey der Mancipation, und in manchen

anderen Fällen (e), blos ſymboliſch gebraucht, und bey ei-

ner älteren Form der Vindication wurde eine sponsio prae-

judicialis von Fünf und Zwanzig Seſterzen geſchloſſen, die

 

(b) L. 24 de test. mil. (29. 1.).

Soldaten können bekanntlich ohne

alle Form teſtiren. Darüber heißt

es hier: „Id privilegium sic in-

telligi debet … ut utique prius

constare debeat, testamentum

factum esse … Ceterum si, ut

plerumque sermonibus fieri so-

let, dixit alicui, Ego te here-

dem facio: aut, Tibi bona mea

relinquo: non oportet hoc pro

testamento observari … et per

hoc judicia vera subvertuntur.”

Hier, wie in den übrigen Fällen

dieſer Art, kommt es theils auf

die Auslegung der Worte an

(§ 131), theils auf den Zuſam-

menhang derſelben mit allen um-

gebenden Ereigniſſen.

(c) L. 3 § 2 de V. O. (45. 1.).

„Verborum quoque obligatio

constat, si inter contrahentes

id agatur: nec enim, si per jo-

cum puta, vel demonstrandi in-

tellectus causa, ego tibi dixero:

Spondes? et tu responderis,

Spondeo: nascetur obligatio.

War es ſo bey der Stipulation,

wie viel mehr bey anderen Con-

tracten, in welchen der Buch-

ſtabe weit mehr der Abſicht un-

tergeordnet blieb.

(d) Gajus II. § 103.

(e) Gajus II. § 252, L. 66 de

j. dot. (23. 3.).

|0273 : 261|

§. 134. Erklärung ohne Willen. Abſichtliche.

blos den Prozeß reguliren ſollte, und niemals eingeklagt

wurde (f).

Wird ein Rechtsgeſchäft durch Drohungen herbeyge-

führt, ſo iſt daſſelbe darum nicht minder vorhanden und

an ſich wirkſam, aber der Bedrohte wird gegen die nach-

theiligen Folgen deſſelben durch mancherley Anſtalten des

poſitiven Rechts geſchützt (§ 114). Ganz anders wenn

die Drohung angewendet wird, nicht um den Willen ſelbſt,

ſondern um das bloße Zeichen des Willens hervorzubrin-

gen, z. B. wenn Einer durch Drohungen beſtimmt wird,

ſeinen Namen unter eine Urkunde, die er nicht einmal ge-

leſen hat, zu ſchreiben (§ 131). Hier iſt es einleuchtend,

daß kein Wille vorhanden ſeyn konnte, da er den Inhalt

der Urkunde nicht kannte: es war alſo das bloße Zeichen

des Willens vorhanden, welches nicht den Zweck hatte,

den Willen zu erklären, ſondern nur das gedrohte Ubel

abzuwenden (g).

 

Endlich gehört dahin auch der, oft allein erwähnte,

Fall der Simulation. Darunter wird eine gemein-

 

(f) Gajus IV. § 93. 94.

(g) Die Unterſcheidung beider

Fälle im allgemeinen Begriff iſt

unzweifelhaft, in der Anwendung

kann es ungewiß ſeyn, wohin der

einzelne Fall zu rechnen iſt, da

die Gränzen in einander laufen.

Erheblich wird der Zweifel nicht

ſeyn, da die praktiſche Behand-

lung des gar nicht vorhandenen

und die des erzwungnen Ver-

trags nicht ſehr verſchieden aus-

fallen kann. — Gar nicht dahin

gehört der Fall, wenn Einem mit

abſoluter Gewalt die Hand zur

Unterſchrift geführt wird. Hier

handelt er gar nicht, eben ſo wie

wenn ein Anderer ſeine Schrift-

züge nachmacht; es iſt alſo über-

haupt keine von ihm ausgehende

Erklärung vorhanden, deren Wi-

derſpruch mit ſeinem Willen be-

merkt werden könnte.

|0274 : 262|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſchaftliche Willenserklärung Mehrerer verſtanden, die dar-

über einverſtanden ſind, ihren Erklärungen eine andere

als die gewöhnliche Bedeutung zu geben (h). Der allge-

meine Grundſatz geht nun dahin, daß die wahre Mey-

nung gelten ſoll, nicht die aus den Worten hervorgehende

ſcheinbare (i). Es kommt dieſes vor in folgenden verſchie-

denen Anwendungen:

1) Wenn überhaupt gar kein Rechtsgeſchäft gewollt

wird, obgleich die Worte auf ein ſolches lauten (k).

2) Wenn ein anderes, als das wörtlich ausgeſpro-

chene, Rechtsgeſchäft gewollt wird (l).

3) Wenn andere Perſonen Träger des Rechtsverhält-

niſſes ſeyn ſollen, als worauf die Worte der Willenser-

klärung lauten (m).

Wie verſchieden auch die hier zuſammen geſtellten Fälle

 

(h) Hierauf bezieht ſich der

Titel des Codex: Plus valere

quod agitur, quam quod simu-

late concipitur (IV. 22.). — In

den meiſten Fällen dieſer Art wird

eine ſchlechte, unredliche Abſicht

zum Grunde liegen, keinesweges

in allen Fällen.

(i) L. 1 C. tit. cit.

(k) L. 54 de O. et A. (44. 7.),

L. 55 de contr. emt. (18. 1.),

L. 4 § 5 de in diem addict. (18.

2.), L. 30 de ritu nupt. (23. 2.),

L. 1 C. de don. ante nupt. (5.

3.), L. 20 C. de don. int. vir.

(5. 16.), L. 3 C. de repud. (5. 17.).

(l) L. 36. 38 de contr. emt.

(18. 1.), L. 14 pr. de in diem

addict. (18. 2.), L. 46 loc. (19.

2.), L. 5 § 5 L. 7 § 6 de don.

int. vir. (24. 1.), L. 3 C. tit. cit.,

L. 3 C. de contr. emt. (4. 38.).

— In einigen dieſer Stellen bleibt

es zweifelhaft, ob von einer Si-

mulation, oder von der irrigen

Benennung eines Rechtsgeſchäfts

die Rede iſt; eben ſo wird dieſes

in einzelnen Fällen der Anwen-

dung zweifelhaft ſeyn können. Da

indeſſen unter beiden Voraus-

ſetzungen gleiche Wirkung eintritt,

ſo kommt es hierauf nicht an.

(m) L. 2. 4 C. tit. cit., L. 5.

6 C. si quis alteri vel sibi (4.

50.), L. 16 C. de don. int. vir.

(5. 16.).

|0275 : 263|

§. 135. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche.

ſeyn mögen, ſo bewährt ſich doch in allen der oben be-

merkte gemeinſchaftliche Character, daß der Widerſpruch

zwiſchen dem Willen und der Erklärung nicht in dem blo-

ßen Gedanken des Handelnden eingeſchloſſen iſt, ſondern

von Denen, welche mit ihm in unmittelbare Berührung

kommen, erkannt werden kann.

§. 135.

III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.

Unabſichtliche (a)

Die unabſichtliche Erklärung ohne Willen beruht

darauf, daß der Handelnde ein gültiges Rechtsgeſchäft

einzugehen glaubt, in der That aber Dasjenige, was zu

einem ſolchen nöthig wäre, nicht will. Sie iſt alſo ſtets

von einem Irrthum begleitet, aber dieſer iſt nicht der po-

ſitive Grund des Schutzes, welcher dem Irrenden gegen

Nachtheil gewährt wird, ſondern dieſer Grund iſt ganz

negativ, die bloße Abweſenheit des Willens, wodurch allein

dieſer Nachtheil begründet werden könnte (b). Der Irr-

 

(a) Von dieſem Fall im All-

gemeinen handelt H. Richel-

mann, der Einfluß des Irr-

thums auf Verträge. Hanno-

ver 1837.

(b) Bey der condictio inde-

biti iſt der Irrthum der poſitive

Grund für das Recht der Rück-

forderung, denn die Zahlung iſt

eine an ſich gültige, wirkſame

Handlung, die nur ausnahms-

weiſe, und zwar nur des Irr-

thums wegen, hinterher entkräf-

tet werden kann. — Wenn da-

gegen bey dem Kauf eines Hau-

ſes ein error in corpore zum

Grund liegt, ſo gründet ſich Der-

jenige, der ſich der Contractsklage

des Andern entzieht, darauf daß

es an einem übereinſtimmenden

Willen, alſo an dem Weſen des

Vertrags, gänzlich fehlt. Dieſer

Mangel der Übereinſtimmung

würde eben ſo, ja noch unzwei-

|0276 : 264|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

thum iſt alſo hier Das, was ich anderwärts den unächten

Irrthum genannt habe (c), und dieſe Unterſcheidung hat

keinesweges blos das theoretiſche Intereſſe klarer und ſcharf

beſtimmter Begriffe, ſondern es knüpfen ſich daran auch

praktiſch wichtige Folgen. Es folgt daraus, daß hier der

Irrende frey von jeder Verbindlichkeit bleibt, ohne Unter-

ſchied ob er dieſen Irrthum leicht vermeiden konnte oder

nicht (d). Es iſt jedoch dieſer Irrthum nicht etwa hier

für minder wichtig zu halten, als in anderen Fällen der

ächte Irrthum, er iſt es nur auf andere Weiſe; er iſt

wichtig, inſoferne wir aus ihm erkennen, daß der Wille,

welcher nach der Erklärung angenommen werden müßte,

in der That nicht vorhanden iſt (§ 134), weshalb auch

die rechtlichen Folgen deſſelben nicht eintreten können.

Die Schwierigkeit des hier darzuſtellenden Falles liegt

hauptſächlich darin, daß er in ſehr mannichfaltigen Ge-

ſtalten vorkommt, und ich will es daher verſuchen, vor

Allem dieſe Verſchiedenheiten überſichtlich anzugeben. Sie

 

felhafter, die Entſtehung einer

Obligation verhindern, wenn

beide Perſonen das Bewußtſeyn

dieſes Mangels hätten; jetzt, da

ſie ſich hierüber einige Zeit ge-

täuſcht haben, ſoll dieſer Irr-

thum nur Nichts ändern. Der

Irrthum iſt alſo augenſcheinlich

nicht der Grund, weshalb die

Obligation nicht entſteht, da die-

ſelbe ohne ihn eben ſo wenig ent-

ſtanden wäre.

(c) Beyl. VIII. Num. XXXIV.

(d) In dem oben (Note b)

angeführten Fall hatte vielleicht

der Verkäufer deutlich geſagt,

welches Haus er verkaufen wolle,

und der Käufer hatte ihn blos

aus Unbedachtſamkeit hierüber

misverſtanden. Mag er nun auch

deshalb zu tadeln ſeyn, ſo hat er

doch nicht daran gedacht, das von

dem Andern angebotene Haus zu

kaufen, ohne dieſen Willen aber

iſt kein Vertrag über dieſes Haus,

und ohne Vertrag keine Verbind-

lichkeit vorhanden.

|0277 : 265|

§. 135. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche.

beziehen ſich ſowohl auf das irrende Subject, als auf den

Gegenſtand des Irrthums.

Was das irrende Subject betrifft, ſo ſind zwey Haupt-

fälle möglich:

 

A. Der Wille eines Einzelnen ſteht im Widerſpruch

mit der Erklärung deſſelben Einzelnen.

 

Dieſes kann ferner vorkommen bey einer einſeitigen

Willenserklärung; wenn z. B. der Teſtator, durch Ver-

wechslung von Perſonen, einen Erben oder Legatar ernennt,

den er nicht will, oder, durch Verwechslung von Sachen,

eine Sache legirt, anſtatt daß er eine andere Sache legi-

ren wollte.

 

Eben ſo aber auch bey einer gegenſeitigen Willenser-

klärung; entweder ſo, daß der Eine allein irrt (e), oder

auch ſo daß Jeder derſelben irrt (f).

 

B. Der Wille jedes Einzelnen ſtimmt mit deſſen Erklä-

rung überein, ſo daß alſo Jeder für ſich etwas Beſtimm-

tes und Wahres denkt und erklärt, aber etwas von dem

Gedanken des Andern Verſchiedenes. Hier irrt alſo jeder

Einzelne blos über den Willen und die Erklärung des

Andern, und nur wenn wir Beide als ein gemeinſchaftlich

wollendes Subject künſtlich zuſammenfaſſen, können wir

 

(e) So z. B. es kauft Jemand

ein vergoldetes Gefäß, das er für

ein goldnes hält, während der

Verkäufer weiß, daß es nur ver-

goldet iſt. Hier iſt ferner mög-

lich, daß der Verkäufer den Irr-

thum des Käufers kennt, oder

daß er ihn nicht kennt.

(f) So z. B. wenn der Käu-

fer und Verkäufer zugleich das

vergoldete Gefäß für ein goldnes

halten.

|0278 : 266|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

auch hier einen Irrthum annehmen, wodurch dieſer Fall

mit den vorhin angegebenen Fällen gleichartig wird (g).

Wäre nun für jeden dieſer Fälle eine beſondere Regel

aufzuſuchen, und zugleich für jede Stelle des Römiſchen

Rechts genau anzugeben, welcher unter jenen Fällen dem

alten Juriſten vorgeſchwebt habe, ſo wäre unſre Aufgabe

mißlich genug. Glücklicherweiſe aber verhält ſich die Sache

anders. Alle dieſe Fälle kommen darin überein, daß das

Daſeyn einer wirkſamen Willenserklärung dadurch völlig

ausgeſchloſſen iſt, ſo daß in keinem derſelben ein wahres

Rechtsgeſchäft vorhanden iſt. Auch habe ich jene verſchie-

dene Fälle nur deshalb zuſammengeſtellt, um die mannich-

faltige Anwendung der aufgeſtellten gemeinſamen Rechts-

regel zur Anſchauung zu bringen (h).

 

(g) Je nachdem wir den einen

oder den anderen Standpunkt der

Betrachtung wählen, können wir

dieſen Fall als dissensus in cor-

pore oder als error in corpore

bezeichnen. Beide Ausdrücke ſind

alſo an ſich richtig, und bezeich-

nen nur den Begriff von ver-

ſchiedenen Seiten; beide ſind aber

auch quellenmäßig, und werden

von den alten Juriſten abwechs-

lend gebraucht. Vergl. L. 9 pr.

§ 2 de contr. emt. (18. 1.), L. 57

de O. et A. (44. 7.), L. 4 pr. de

leg. 1 (30. un.). — Der Grund

des Misverſtändniſſes wird hier

meiſt darin liegen, daß die Er-

klärung von jeder Seite durch Un-

beſtimmtheit zweydeutig war.

(h) Unſere Schriftſteller pfle-

gen hierbey die Kunſtausdrücke

des einſeitigen und zweyſeitigen

Irrthums anzuwenden, die ſie bald

ſo bald anders beſtimmen, je nach-

dem ſie die angegebenen Fälle mehr

oder weniger vollſtändig in’s Auge

faſſen. Vgl. Thibaut Pandek-

ten § 449. 450, Verſuche II. S. 120.

Richelmann S. 9. Über die-

ſen Sprachgebrauch zu ſtreiten, iſt

unfruchtbar; beſſer enthalten wir

uns deſſelben gänzlich. — Wenn

ich übrigens ſage, daß alle dieſe

Fälle auf gleicher Linie ſtehen, ſo

iſt das nur inſofern wahr, als in

allen gleichmäßig ein gültiges

Rechtsgeſchäft nicht vorhanden iſt.

Daneben aber kann allerdings der

Dolus des einen Theils auch noch

eigenthümliche Wirkungen hervor-

|0279 : 267|

§. 135. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche.

Was nun ferner den Gegenſtand des Irrthums betrifft,

ſo ſind folgende mögliche Fälle zu bemerken:

 

I. Der Irrthum kann ſich beziehen auf den Inhalt des

Willens im Ganzen. So wenn Jemand eine Urkunde

unterſchreibt (§ 131), die ihm anſtatt einer anderen, rich-

tigen, untergeſchoben, oder die ihm unrichtig vorgeleſen

worden iſt; oder, wenn Er im Vertrauen auf einen Be-

vollmächtigten, ein leeres Blatt unterſchreibt, der Bevoll-

mächtigte aber dieſes eigenmächtig, und gegen den ertheil-

ten Auftrag, ausfüllt.

 

Dieſer Fall kann am wenigſten Zweifel erregen, und

macht auch keine näheren Beſtimmungen noͤthig.

 

II. Der Irrthum kann ſich aber auch beziehen auf ein-

zelne Theile des Willens, und zwar:

 

1) auf die Natur des Rechtsverhältniſſes;

2) auf die in dem Rechtsverhältniß uns gegenüber ſte-

hende Perſon;

3) auf die Sache, die den Gegenſtand des Rechtsver-

hältniſſes bildet.

Die drey zuletzt bezeichneten Fälle, die allein einer be-

ſonderen Erwägung bedürfen, ſollen nunmehr einzeln dar-

geſtellt werden; zuvor aber iſt es nöthig ihre gemeinſame

Natur näher zu betrachten. In jedem derſelben finden

wir einen das Rechtsgeſchäft begleitenden Irrthum, aus

welchem wir die Abweſenheit des wahren Willens, alſo

 

bringen, die hier, wo wir von der

Wirkſamkeit der Willenserklärung

an ſich reden, außer unſrer Auf-

gabe liegen.

|0280 : 268|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

auch des gültigen Rechtsgeſchäfts, erkennen. Allein nicht

jeder begleitende Irrthum iſt ein Grund, dieſe Abweſenheit

zu behaupten, und es iſt daher von großer Wichtigkeit,

die Gränzen genau zu beſtimmen, innerhalb welcher dem

Irrthum jener Einfluß allein zuzuſchreiben iſt. Unſere

Schriftſteller haben dieſen Unterſchied durch die ganz paſ-

ſenden Ausdrücke des weſentlichen und unweſentli-

chen Irrthums bezeichnet. Wir haben alſo zunächſt, mit

Rückſicht auf die ſchon angegebenen Gegenſtände, die Fälle

des weſentlichen Irrthums genau zu beſtimmen, dann aber

einige Fälle des unweſentlichen Irrthums hinzuzufügen,

lediglich um gegen den möglichen Einfluß zu warnen, den

man auch dieſen irrigerweiſe zuſchreiben möchte.

Des Gegenſatzes wegen muß hier an einige andere,

ſchon oben dargeſtellte, Umſtände erinnert werden, wo-

durch der Wille mehr oder weniger unwirkſam werden

kann: Zwang und Betrug (§ 114. 115). Bey dieſen war

der Wille wirklich vorhanden, es wurde ihm aber durch

poſitive Anſtalten entgegen gewirkt. Ganz anders hier,

wo wir das Daſeyn des Willens ſchlechthin verneinen

müſſen, und wo daher auch kein Rechtsverhältniß, als

Folge des Willens, denkbar iſt. Um hierauf einen Rö-

miſchen Sprachgebrauch anzuwenden, müſſen wir den Un-

terſchied ſo angeben: bey Zwang und Betrug iſt eine Un-

gültigkeit per exceptionem denkbar, ja dem Zweck ange-

meſſen; in den Fällen des weſentlichen Irrthums kann

das Rechtsverhältniß nur ipso jure nichtig ſeyn.

 

|0281 : 269|

§. 136. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. (Fortſetzung)

§. 136.

III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.

Unabſichtliche. (Fortſetzung.)

Unter den Fällen des weſentlichen, alſo den Willen

ausſchließenden Irrthums iſt der erſte und unzweifelhaf-

teſte der, welcher die Natur des Rechtsverhältniſſes be-

trifft. Wenn alſo Einer eine Sache zu leihen verſpricht,

der Andere nimmt das Verſprechen an, welches er von

einer Schenkung verſteht, ſo entſteht keine Verbindlichkeit;

eben ſo, wenn Einer Geld ſchenken will, der Andere nimmt

es als Darlehen an, entſteht nicht die dem Darlehen ei-

genthümliche Verbindlichkeit (a).

 

Ein zweyter Fall des Irrthums, welcher eben ſo all-

gemein für weſentlich gehalten werden muß, iſt der wel-

cher die in dem Rechtsverhältniß uns gegenüber ſtehende

Perſon betrifft. In manchen Anwendungen iſt dieſes nie-

mals bezweifelt worden. So wenn ein Teſtator einen

Erben ſchriftlich ernennt, während er erweislich eine an-

dere Perſon in Gedanken hat, die er mit jenem ernann-

ten Erben verwechſelt; hier iſt die Erbeinſetzung für Kei-

nen von Beiden gültig (b). Noch leichter läßt ſich dieſes

 

(a) L. 3 § 1 de O. et A. (44.

7.). „.. non obligabor ei, quia

non hoc inter nos actum est.”

L. 9 pr. de contr. emt. (18. 1.).

„.. sive in ipsa emtione dis-

sentient .. emtio imperfecta

est” .. — Die beſondere Anwen-

dung dieſes Satzes auf die Schen-

kung wird unten dargeſtellt wer-

den (§ 161).

(b) L. 9 pr. de her. inst. (28.

5.). „Quotiens volens alium

heredem scribere, alium scrip-

serit, in corpore hominis er-

rans” …

|0282 : 270|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

denken, wenn der Teſtator mündlich teſtirt, und den Er-

ben oder Legatar mit der Hand bezeichnet, dabey aber

durch die Schwäche des Geſichts oder die Dunkelheit des

Krankenzimmers Perſonen verwechſelt. — Eben ſo un-

zweifelhaft iſt in dieſem Fall die Ehe ungültig, ſelbſt wenn

im Fall einer ſolchen Perſonenverwechslung der kirchliche

Segen über das vermeintliche Ehepaar ausgeſprochen ſeyn

ſollte (c). — Auf dieſelbe Weiſe muß die Ungültigkeit ei-

nes obligatoriſchen Vertrages behauptet werden, wenn

Ein Contrahent durch Verwechslung an einen anderen

Contrahenten denkt, als den welcher ihm wirklich gegen-

über ſteht. In manchen Fällen iſt dieſes ſo augenſchein-

lich, daß es nie bezweifelt werden konnte, z. B. wenn ich

eine beſtimmte Perſon, die ich nie geſehen habe, beſchen-

ken will, und wir dafür eine andere Perſon untergeſcho-

ben wird; eben ſo wenn ich bey einem beſtimmten Künſt-

ler eine Arbeit beſtellen will, ein Anderer aber ſich für

dieſen ausgiebt, und mit mir contrahirt. Allein mit Un-

recht haben Manche die Ungültigkeit auf dieſe Fälle be-

ſchränken wollen, da ſie vielmehr allgemein angenommen

werden muß (d). Folgende Entſcheidungen des Römiſchen

Rechts laſſen hieran keinen Zweifel. Wenn ich ein Dar-

lehen von Gajus zu empfangen glaube, das in der That

Sejus giebt, ſo entſteht aus dem angegebenen Grund keine

(c) Eichhorn II. S. 352.

(d) Thibaut Pandekten § 449,

Verſuche II. S. 114, Mühlen-

bruch § 338, und beſonders Ri-

chelmann S. 24—32, der dieſe

Frage gründlich behandelt.

|0283 : 271|

§. 136. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. (Fortſetzung.)

Darlehensobligation (e); eine Klage ſoll aber Sejus den-

noch gegen mich haben, und zwar iſt dieſe Klage nicht

etwa eine beſonders für dieſen Fall erfundene (f), ſondern

die gewöhnliche condictio ob causam datorum: denn Se-

jus gab mir das Geld in der Erwartung, daß ich da-

durch ſein Darlehensſchuldner werden würde, und dieſe

Erwartung iſt ihm durch meine Verwechslung der Perſo-

nen vereitelt worden (g). — Wenn ich dem Titius, einem

wohlhabenden Mann, den ich aber nicht perſönlich kenne,

ein Darlehen geben will, ein Anderer aber wird mir für

ihn untergeſchoben, ſo entſteht keine Darlehensobligation,

und das Eigenthum des Geldes geht ſo wenig auf den

Empfänger über, daß dieſer ſogar, wenn er ſelbſt an dem

Betrug Antheil nahm, als Dieb behandelt werden muß (h).

— Die irrige Meynung vieler Rechtslehrer über dieſen

Punkt erklärt ſich daraus, daß in vielen Fällen der Ir-

rende gar kein Intereſſe bey der Verwechslung der Per-

ſonen haben wird, weshalb die Ungültigkeit des Vertrags,

(e) L. 32 de reb. cred. (12.

1.). „.. non quia pecuniam tibi

credidi, hoc enim nisi inter con-

sentientes fieri non potest” …

(f) Man hat ſie unter andern

Juventiana condictio nennen wol-

len, von Juventius Celſus, dem

Verfaſſer der angeführten Pan-

dektenſtelle. Vergl. Glück XII.

S. 25. XIII. S. 200.

(g) Der Fall iſt ganz ähnlich,

wie wenn Jemand Geld als Dos

giebt, die Ehe aber nicht zu Stan-

de kommt; auch hier war die er-

wartete Entſtehung einer dotis

obligatio vereitelt worden. L. 6

L. 7 § 1 L. 8 de cond. ob cau-

sam datorum (12. 4.). Auch folgt

es aus der allgemeinen Natur je-

ner Condiction, welche überhaupt

auf das aus einer irrigen causa

futura Gegebene gerichtet werden

kann, ſo wie die cond. sine causa

und indebiti auf causa prae-

sens und praeterita.

(h) L. 52 § 21 L. 66 § 4 de

furtis (47. 2.).

|0284 : 272|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

die hier überall behauptet werden kann, oft unbemerkt

bleiben, auch wohl durch ſpätere Genehmigung, nachdem

die Verwechslung entdeckt worden, förmlich beſeitigt wer-

den wird (i).

Es bleibt nun noch übrig die Betrachtung des Irr-

thums über die Sache, oder den Gegenſtand des Rechts-

verhältniſſes. Dieſer aber nimmt mannichfaltigere Geſtal-

ten an als die übrigen, und bietet eben deshalb auch grö-

ßere Schwierigkeiten dar.

 

Die einfachſte und unzweifelhafteſte Geſtalt dieſer Art

des Irrthums iſt folgende. Das Rechtsverhältniß hat

eine individuell beſtimmte Sache zum Gegenſtand, und da-

bey wird ein Individuum mit dem andern verwechſelt:

error oder dissensus in corpore (§ 135. g). Daß hier

niemals ein Rechtsgeſchäft vorhanden iſt, kann nicht be-

zweifelt werden. Einzelne Anwendungen ſind folgende.

Der Teſtator bezeichnet eine beſtimmte Sache als legirt,

während er in der That an eine andere denkt, die er mit

 

(i) Wenn ich eine Sache kaufe

oder verkaufe, ſo wird es mir oft

ganz gleichgültig ſeyn, wer der

Verkäufer oder Käufer iſt; doch

kann auch dieſes anders ſeyn we-

gen der Evictionspflicht des Ver-

käufers, und wegen der mögli-

chen Zahlungsunfähigkeit des Käu-

fers. Bey dem Darlehen wird

mir meiſt die Perſon meines

Schuldners von Wichtigkeit ſeyn,

die des Glaubigers weniger. Ver-

miethe ich mein Haus, ſo kann

die Perſönlichkeit des Miethers

an ſich für wichtig gehalten wer-

den; doch wird dieſes Intereſſe

dadurch gemindert, daß das R.

R. die sublocatio zuläßt, wo-

durch Daſſelbe bewirkt werden

kann, wie durch einen unterge-

ſchobenen Miether. — Der Grund-

ſatz muß allgemein gelten, daß

Jeder, der es gut findet, dieſe

Ungültigkeit des Vertrags behaup-

ten kann. — Von einer Modifi-

cation der aufgeſtellten Regeln in

Anwendung auf die Schenkung

wird im § 161 die Rede ſeyn.

|0285 : 273|

§. 136. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. (Fortſetzung.)

jener verwechſelt; hier gilt das Legat für keine von beiden

Sachen (k). — Wenn bey einem Kaufgeſchäft Käufer und

Verkäufer einander misverſtehen, und an verſchiedene in-

dividuelle Sachen denken, ſo iſt kein Contract geſchloſſen;

eben ſo auch bey dem Miethcontract und der Societät (l);

desgleichen bey der Stipulation (m) und bey der Schen-

kung, die mit oder ohne Stipulation verabredet ſeyn

konnte (n). — Auch die Tradition erfordert übereinſtim-

menden Willen, und auch ſie wird daher durch ein Mis-

verſtändniß über den Gegenſtand verhindert (o). Durch

eine ſolche blos vermeintliche Tradition kann alſo weder

unmittelbar Eigenthum, noch die Fähigkeit zur Uſucapion

erworben werden (p). — Nur in Einem Fall ſoll ein ſol-

ches Misverſtändniß über individuelle Sachen die Gültig-

keit juriſtiſcher Handlungen nicht hindern: im Prozeß.

Behauptet alſo der Beklagte am Ende des Rechtsſtreits,

er habe an eine andere Sache gedacht, als der Kläger,

ſo wird er damit nicht gehört, weil außerdem durch die-

(k) L. 9 § 1 de her. inst. (28.

5.), L. 4 pr. de leg. 1 (30. un.).

(l) L. 9 pr. de contr. emt.

(18. 1.), L. 57 de O. et A. (44. 7.).

(m) § 23 J. de inut. stip. (3.

19.), L. 83 § 1, L. 137 § 1 de

V. O. (45. 1.). Der Unterſchied

der einſeitigen und gegenſeitigen

Verträge, ſo wie der b. f. und

str. j. contractus, kommt alſo

hierbey nicht in Betracht. —

Wahrſcheinlich bezieht ſich auf den

Fall des error in corpore bey

Verträgen die ſehr unbeſtimmte

L. 116 § 2 de R. J. (50. 17.).

„Non videntur qui errant con-

sentire.” Vergl. Beylage VIII.

Num. VII. und Num. XXXIV. g.

(n) L. 10 C. de donat. (8. 54.).

(o) L. 34 pr. de adqu. poss.

(41. 2.).

(p) L. 2 § 6 pro emt. (41. 4.)

III. 18

|0286 : 274|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſes Vorgeben die gerichtliche Verhandlung leicht vereitelt

werden könnte (q).

Der Gegenſtand des Rechtsverhältniſſes, auf welchen

ſich der Irrthum bezieht, kann ferner eine nur nach Gat-

tung und Quantität beſtimmte Sache ſeyn. Betrifft hier

der Irrthum die Gattung ſelbſt, ſo iſt der Fall dem error

in corpore völlig gleich, z. B. wenn bey einem generi-

ſchen Kaufcontract der Verkäufer an Roggen, der Käufer

an Weizen denkt. Wenn über die bloße Quantität ein

Misverſtändniß unter zwey Perſonen herrſcht (r), ſo kann

dieſe Quantität entweder der einzige Gegenſtand des Ver-

trags ſeyn, oder auf eine Gegenleiſtung ſich beziehen. Im

erſten Fall gilt als wahrer Gegenſtand des Vertrags die

 

(q) L. 83 § 1 de V. O. (45.

1.) „… actori potius creden-

dum est, alioquin semper ne-

gabit reus se consensisse.” Es

verſteht ſich von ſelbſt, daß nicht

der Kläger durch fehlerhafte Be-

zeichnung der Sache das Mis-

verſtändniß ſelbſt herbeygeführt

haben muß. Aber auch ohne die-

ſes wird der Beklagte, der das

behauptete Misverſtändniß, und

zugleich ſein Intereſſe, wahrſchein-

lich machen kann, leicht Reſtitu-

tion erhalten. — Im älteſten Pro-

zeß der Römer waren die ma-

nus consertae, als Einleitung

jeder Vindication, recht eigentlich

darauf berechnet, das Misver-

ſtändniß über den Gegenſtand un-

möglich zu machen. Bewegliche

Sachen wurden dabey vor den

Prätor gebracht, in das Grund-

ſtück mußten ſich die Parteyen ge-

meinſchaftlich hinbegeben.

(r) Man denkt dabey gewöhn-

lich nur an Geldſummen, aber

es kann auch bey der Waare ein

Misverſtändniß über die Quan-

tität vorkommen, z. B. wenn der

Verkäufer 500 Scheffel Roggen

anbietet, und der Käufer glaubt,

es ſeyen 300 Scheffel angeboten;

daneben kann der Preis nach ein-

zelnen Scheffeln, oder auch zu ei-

ner feſten Summe im Ganzen

beſtimmt ſeyn, ohne daß bey deſ-

ſen Bezeichnung ein Misverſtänd-

niß über die Quantität ſtatt fin-

det. — Am leichteſten können ſol-

che Irrthümer über die Quanti-

tät vorkommen, wenn Unterhand-

lungen durch Correſpondenz ge-

führt, und die Zahlen undeutlich

geſchrieben werden.

|0287 : 275|

§. 136. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. (Fortſetzung.)

geringſte unter den beiden Quantitäten, woran die Par-

teyen dachten, weil über dieſe Quantität Übereinſtimmung

des Willens wirklich vorhanden iſt (s). Im zweyten Fall

muß unterſchieden werden, ob Derjenige, welcher die zwei-

felhafte Quantität leiſten ſoll, mehr oder weniger als der

Gegner in Gedanken hat; denkt er an mehr, ſo gilt wie-

der der Vertrag auf die geringere Quantität; denkt er an

weniger, ſo iſt gar kein Vertrag vorhanden (t). — Mit

dieſen Fällen wirklicher Misverſtändniſſe über Quantitäten

darf folgender Fall nicht verwechſelt werden. Wenn Je-

mand ein Legat ſo angiebt: „Zehen Thaler, die in mei-

ner Kaſſe vorräthig ſeyn werden zur Zeit meines Todes,“

ſo erhält der Legatar nie mehr als Zehen, vielleicht aber

weniger oder auch gar Nichts, wenn ſich keine Zehen in

der Kaſſe finden. Daſſelbe ſoll auch gelten bey Stipula-

(s) L. 1 § 4 de V. O. (45. 1.).

Nämlich wer Zwanzig anbietet,

hat eigentlich Zehen und Zehen

angeboten; nimmt alſo der Geg-

ner Zehen an, weil er nur dieſe

für angeboten hält, ſo iſt für Ze-

hen ein wahrer Conſens, alſo Ver-

trag, vorhanden, für die anderen

Zehen iſt kein Vertrag geſchloſſen.

Eben ſo im umgekehrten Fall.

(t) L. 52 locati (19. 2.). „Si

decem tibi locem fundum, tu

autem existimes quinque te

conducere, nihil agitur. Sed

et si ego minoris me locare

sensero, tu pluris te conduce-

re, utique non pluris erit con-

ductio, quam quanti ego pu-

tavi.” Denn wer Zehen als Mieth-

geld anbietet, hat darin auch Fünf

angeboten, für welche daher Con-

ſens vorhanden iſt; wer aber um

Zehen vermiethen will, iſt darum

keinesweges geneigt, ſich auch mit

Fünf zu begnügen. — Damit man

nicht in dieſem Beyſpiel an der

geringen Pachtſumme für einen

ganzen Fundus Anſtoß nehme, iſt

zu bemerken, daß die alten Juri-

ſten, wenn ſie Cardinalzahlen als

Beyſpiele anführen, damit ge-

wöhnlich ſo viele Tauſend Se-

ſterze ausdrücken wollen. Decem

iſt alſo ein jährliches Pachtgeld

von 10000 Seſterzen, oder unge-

fähr 500 Thalern.

18*

|0288 : 276|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

tionen, wobey alſo angenommen wird, der Schuldner habe

den Beſtand ſeiner Kaſſe als ungewiß gedacht (u). Dieſe

Beſtimmung beruht auf folgender Auslegung der erwähn-

ten Rechtsgeſchäfte: es iſt dem Andern angewieſen dasje-

nige Geld, was gerade in der Kaſſe ſich findet, kein An-

deres, aber auch Jenes nur bis zu einem Maximum von

Zehen. Es gehört alſo dieſe Beſtimmung zu den Anwei-

ſungen für die Auslegung der Rechtsgeſchäfte; dieſe Aus-

legung aber vorausgeſetzt, iſt dabey von einem Wider-

ſpruch zwiſchen der Erklärung und dem Willen, alſo von

einem Irrthum, gar nicht die Rede.

§. 137.

III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.

Unabſichtliche. Error in substantia.

Die bisher dargeſtellten Fälle des weſentlichen Irr-

thums koͤnnten an ſich für erſchöpfend gehalten werden.

Insbeſondere dürfte dann derjenige Irrthum über den Ge-

genſtand nicht für weſentlich gelten, welcher, bey einer

individuell beſtimmten Sache, blos eine Eigenſchaft der-

ſelben beträfe. Dennoch kommen auch ſolche Fälle vor,

denen die Kraft eines weſentlichen Irrthums beygelegt

wird. Freylich werden wir, noch ehe die Natur derſel-

 

(u) L. 108 § 10 de leg. 1 (30. un.), L. 1 § 7 de dote praeleg.

(33. 4.).

|0289 : 277|

§. 137. Error in substantia.

ben unterſucht iſt, anerkennen müſſen, daß ſie nur als

ſcharf begränzte Ausnahmen denkbar ſind; denn wollten

wir als Regel annehmen, daß jeder Irrthum über irgend

eine dem Gegenſtand des Rechtsverhältniſſes zukommende

Eigenſchaft den Willen ausſchließe, ſo würde damit die

Sicherheit des Rechtsverkehrs völlig vernichtet ſeyn.

Unſere Schriftſteller bezeichnen die dahin gehörenden

Fälle mit dem Kunſtausdruck Error in substantia, und

dieſer Ausdruck, wie ſo manche andere, hat nicht wenig

dazu beygetragen, die Sache ſelbſt zu verwirren. Die

Gewöhnung an dieſen vermeintlichen Kunſtausdruck führte

unvermerkt zu der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, an der

Spitze dieſer Lehre ſtehe etwa folgender Grundſatz: Quo-

tiens in substantia erratur, nullus est contractus. Die

Unterſuchung ſelbſt wird aber zeigen, wie wenig ein ſo

gefaßter Grundſatz der Wahrheit entſpricht (§ 138. a.).

 

Unſere Aufgabe beſteht alſo darin, die einzelnen Fälle

aufzuſuchen, in welchen der Irrthum über Eigenſchaften

einer Sache dem Error in corpore gleich wirkt, und dieſe

Fälle wo möglich auf eine gemeinſame Regel zurückzufüh-

ren. Bey dieſem Unternehmen werden wir uns weniger

an abſtracte Begriffe halten dürfen, als an die im wirk-

lichen Verkehr herrſchenden Anſichten und Gewohnheiten,

wodurch denn die ganze Unterſuchung eine nicht ſtreng ju-

riſtiſche Richtung erhält. Die Römiſchen Juriſten geben

uns Vier einzelne Fälle dieſer Art an:

 

|0290 : 278|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

1) Es kauft Jemand Hausgeräthe (a) von Bronze (b),

welches er für Gold hält;

2) Oder Hausgeräthe von Bley oder anderem geringen

Metall, oder auch von Holz, welches er für Silber hält (c);

3) Oder Eſſig, den er für Wein hält (d);

4) Oder endlich eine Sklavin, die er für einen männ-

lichen Sklaven hält (e). In allen dieſen Fällen ſoll kein

Conſens des Käufers angenommen werden.

In den drey erſten Fällen betrifft der Irrthum den

Stoff, und dieſer wird einmal als substantia bezeich-

 

(a) Allerdings iſt in den hier

einſchlagenden Stellen meiſtens

die Rede von aurum, aes, ar-

gentum, plumbum, ſo daß man

auch an unverarbeitetes Metall

denken könnte; daß aber in der

That metallene Geräthe gemeynt

ſind, zeigt deutlich das Beyſpiel

in L. 14 de contr. emt. (18. 1.),

wo daſſelbe, was zuerſt aurum

und aes hieß, nachher genauer

als viriola aurea und aenea be-

zeichnet wird; eben ſo in L. 45

eod. vas aurichalcum. Dazu

kommt, daß als Beyſpiele aus

dem täglichen Verkehr die Con-

tracte über Metallgeräthe ſo ſehr

viel näher liegen, als die über

rohes Metall, die doch nur bey

Handelsleuten und Handwerkern

oder Fabrikanten vorzukommen

pflegen, bey welchen wiederum

ein Irrthum über den Gegen-

ſtand ihres Gewerbes ſehr ſelten

ſeyn wird.

(b) Aes, das bey den Römern

von ſo ausgebreitetem Gebrauch

war, und das wir noch in ſo

vielen Tauſenden von antiken

Hausgeräthen und Bildwerken

übrig haben, iſt nicht Kupfer,

ſondern Bronze, eine Miſchung,

deren Grundlage freylich das

Kupfer iſt.

(c) Dieſe beiden erſten Fälle

kommen vor in L. 9 § 2 L. 10

L. 14 L. 41 § 1 de contr. emt.

(18. 1.). In der letzten Stelle

kann die mensa argento coo-

perta ſowohl verſilbertes Holz

als Metall ſeyn.

(d) L 9 § 2 de contr. emt.

(18. 1.). Es wird dabey aus-

drücklich bemerkt, daß nur von

eigentlichem Eſſig, der als ſolcher

bereitet oder angeſetzt iſt, nicht

von ſauer gewordenem Wein die

Rede ſeyn dürfe. Damit iſt zu

vergleichen L. 9 § 1. 2 de tritico

(33. 6.).

(e) L. 11 § 1 de contr. emt.

(18. 1.).

|0291 : 279|

§. 137. Error in substantia.

net (f), aber abwechslend mit dieſem Namen, und ungleich

häufiger, kommt als ganz gleichbedeutend der Ausdruck

materia vor (g). Schon dadurch wird es bedenklich, den

Ausdruck Error in substantia an die Spitze der ganzen Un-

terſuchung zu ſtellen; noch weit mehr aber dadurch, daß gar

nicht geſagt iſt, jeder Irrthum über den Stoff, und kein

anderer als dieſer, ſolle die Kraft eines Error in cor-

pore haben. Wir wollen alſo den abſtracten Begriff des

Stoffs einſtweilen bey Seite ſetzen, und die einzelnen Fälle

genauer in’s Auge faſſen.

Bey den Metallarbeiten fällt zuerſt auf, daß die Waare,

die der Käufer zu erhalten glaubt, von der die er wirklich

erhält, ſo ſehr im Werth verſchieden iſt. Dennoch können

wir hierin das Weſen der Sache nicht ſetzen, theils weil

es an aller ſcharfen Gränze fehlen würde, wenn wir die-

ſen Gegenſatz auf andere Gegenſtände anwenden wollten,

theils weil der Irrthum über gutes und ſchlechtes Gold

kein weſentlicher Irrthum ſeyn ſoll (h), obgleich auch da-

von der Geldwerth ſehr abhängt, beſonders da in dieſer

 

(f) L. 9 § 2 de contr. emt.

(18. 1.).

(g) L. 9 § 2 L. 11 pr. L. 14

de contr. emt. (18. 1.). Eben

ſo bey der Frage, ob durch Ver-

arbeitung eines Stoffs Eigenthum

an demſelben erworben werde, wo-

bey materia als Gegenſatz von

species vorkommt. § 25 J. de

rer. div. (2. 1.), L. 7 § 7 L. 24

de adqu. rer. dom. (41. 1.).

(h) L. 10. 14 de contr. emt.

(18. 1.). In der letzten Stelle

heißt: si inauratum aliquid sit

nicht: wenn das Gefäß vergoldet

iſt, ſondern: wenn deſſen Stoff

eine Miſchung von Gold und an-

derem Metall iſt. Dieſes folgt

unwiderſprechlich theils aus den

vorhergehenden, nach dem Zuſam-

menhang gleichbedeutenden, Wor-

ten, theils aus dem Zuſatz ali-

quid, der bey bloßer Vergoldung

keinen Sinn haben würde.

|0292 : 280|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Vorſchrift gar keine Gränze für die mögliche Legirung des

Goldes geſetzt wird. Sehen wir aber auf die im Verkehr

auch bey uns allgemein herrſchende Anſicht, ſo finden wir,

daß goldne und ſilberne Geräthe, in Vergleichung mit an-

deren Metallarbeiten, als Waaren von ganz eigenthümlicher

Art betrachtet werden. Der durchgreifende Unterſchied liegt

darin, daß bey den edlen Metallen, auch nach zerſtörter

oder veralteter Form des Geräthes, ſtets ein bedeutender

Werth im Stoff zurück bleibt, anſtatt daß im gleichen Fall

bey anderen Metallarbeiten meiſt ein ſehr geringer, oft

völlig unmerklicher, Werth übrig iſt. Es zeigt ſich dieſes

unter andern auch darin, daß die Fabrikation der edlen

Metalle, und der Handel mit ſolchen Fabrikaten ein ganz

eigenes, abgeſchloſſenes Gewerbe zu ſeyn pflegt. Halten

wir nun dieſen natürlichen, durch tägliche Erfahrung be-

währten Geſichtspunkt feſt, ſo ergeben ſich folgende Be-

dingungen und Gränzen der aufgeſtellten Regel. Sie kann

nur gelten bey Arbeiten, die durch Fabrik oder Handwerk

hervorgebracht werden, nicht bey eigentlichen Kunſtwerken,

wobey der Stoff ganz in den Hintergrund tritt (i). Sie

(i) Bey einem Bildwerk von

Benvenuto Cellini wird Niemand

das Hauptgewicht darauf legen,

ob es von Silber oder überſilbert

iſt. Dagegen werden Geräthſchaf-

ten von Silber oder Gold in der

Regel nach dem Gewicht verkauft,

wenngleich die Façon auch berück-

ſichtigt wird, jedoch nur ſo daß

ſie den Preis des Lothes, der

Mark u. ſ. w. um Etwas höher

oder niedriger ſtellt. — Zweifel

kann entſtehen bey Taſchenuhren;

denn Das, was wir eine goldne

Uhr nennen, iſt doch eigentlich

nur eine Uhr mit goldnem Ge-

häuſe. Man würde wohl anneh-

mendürfen, daß bey gewöhnlichen

Fabrikuhren der Irrthum über

das Gehäuſe (ob golden oder

|0293 : 281|

§. 137. Error in substantia.

gilt ferner auch bey vergoldeten, verſilberten oder plattir-

ten Arbeiten (k), denn obgleich zu dieſen wirklich edles

Metall verbraucht wird, ſo läßt ſich doch daſſelbe, nach

Zerſtörung der Form, nicht mehr abgeſondert herſtellen.

Sie gilt endlich auch, wenn das vergoldete ſilberne Gefäß

für ein goldnes gehalten wird, da der Unterſchied zwiſchen

Gold und Silber, nach der im Verkehr allgemein geltenden

Werthſchätzung, ein eben ſo durchgreifender iſt, als der

zwiſchen dem edlen und unedlen Metall. Sie gilt aber

nicht bey Geräthſchaften von unedlem Metall, wenn nur

über die Gattung dieſes Metalls ein Irrthum obwaltet;

denn obgleich auch dabey die Verſchiedenheit des Stoffs

Einfluß auf den Geldwerth zu haben pflegt, ſo iſt doch

in den meiſten Fällen das Geräthe von dieſer beſonderen

Form und Beſtimmung die Hauptſache, die Art des Me-

talls aber eben ſo das Untergeordnete, wie bey dem gold-

nen Gefäß die Feinheit des Goldes. Aus allen dieſen

Anwendungen alſo folgt ganz klar, daß ſelbſt dieſen Re-

geln über die Metallarbeiten etwas Anderes zum Grunde

liegt, als der bloße abſtracte Begriff des Stoffes.

Bey dem Wein und Eſſig iſt allerdings eine Verſchie-

denheit des Stoffes unverkennbar; dagegen kann man nicht

allgemein ſagen, daß der höhere oder geringere Werth ent-

ſcheidend ſey. Denn feiner, künſtlich bereiteter Eſſig kann

 

vergoldet) ein weſentlicher ſey,

bey einem beſonders ſorgfältig

gearbeiteten Werk aber nicht; bey

einem Chronometer z. B. iſt ja

der Werth des Gehäuſes ein ganz

unbedeutender Gegenſtand.

(k) L. 41 § 1 de contr. emt.

(18. 1.), vgl. Note c.

|0294 : 282|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

weit koſtbarer ſeyn, als geringer Wein, und ſelbſt der

umgeſchlagene, alſo gewiß ſehr ſchlechte Wein ſoll kein

Gegenſtand eines weſentlichen Irrthums ſeyn. Auch hier

alſo, wie bey den Metallarbeiten, iſt nicht ſowohl die

Preisverſchiedenheit, als die völlige Ungleichartigkeit der

Waare Das, was den weſentlichen Irrthum beſtimmt.

Endlich bey dem Sklaven und der Sklavin liegt der

Unterſchied gewiß nicht in dem allgemein verſchiedenen

Geldwerth, da ohne Zweifel Sklavinnen oft weit theurer

bezahlt wurden, als männliche Sklaven. Noch ſeltſamer

würde es ſeyn, hier an verſchiedenen Stoff denken zu

wollen, auch hat kein Römiſcher Juriſt von einer verſchie-

denen substantia oder materia der beiden Geſchlechter ge-

ſprochen. Allein die regelmäßige Benutzung der Sklaven

beſtand in Dienſt und Arbeit, und da die männlichen Skla-

ven auch außer dem Hauſe zur Feldarbeit, in Fabriken,

und als Handwerker regelmaͤßig benutzt zu werden pfleg-

ten, die Sklavinnen vorzugsweiſe im Hausdienſte und zu

weiblichen Arbeiten, ſo galten beide Geſchlechter für Waa-

ren verſchiedener Art, und daher war ein Irrthum über

das Geſchlecht ein weſentlicher Irrthum. Auch hier nun

würde es wieder ganz irrig ſeyn, bey dem abſtracten Be-

griff des Geſchlechts ſtehen zu bleiben, und dieſen überall

anzuwenden, auch bey einem Kauf von Thieren. Denn

bey Pferden z. B. iſt die regelmäßige Benutzung unab-

hängig von dem Geſchlecht, und es darf daher der Irr-

thum hierüber nicht für einen weſentlichen gehalten werden.

 

|0295 : 283|

§. 137. Error in substantia.

Faſſen wir alle dieſe Anwendungen zuſammen, ſo läßt

ſich daraus folgender allgemeine Begriff bilden. Der Irr-

thum über eine Eigenſchaft der Sache iſt ein weſentlicher,

wenn durch die irrig vorausgeſetzte Eigenſchaft, nach den

im wirklichen Verkehr herrſchenden Begriffen, die Sache

zu einer anderen Art von Sachen gerechnet werden müßte,

als wozu ſie wirklich gehört. Die Verſchiedenheit des

Stoffs iſt dazu weder nothwendig, noch ſtets hinreichend,

und der Ausdruck Error in substantia iſt daher keine an-

gemeſſene Bezeichnung (l).

 

Ich will nun dieſen Begriff zur Beurtheilung einiger,

in den Rechtsquellen nicht erwähnter, Fälle anwenden.

Der Irrthum iſt weſentlich, wenn unächte Edelſteine oder

Perlen für ächte gekauft werden (m). — Eben ſo wenn

 

(l) Wer Wein kauft, will nicht

eine in dieſem Faß enthaltene

Flüſſigkeit überhaupt, welche es

ſey, erwerben, ſondern ſein Ge-

danke iſt zunächſt und hauptſäch-

lich auf Wein gerichtet; eben ſo,

wer ein goldnes Gefäß kauft,

denkt nicht an ein Gefäß über-

haupt, ſondern weſentlich an das

Gold als Stoff des Gefäßes. Rö-

miſch läßt ſich das ſo ausdrücken:

es iſt eine species gekauft, aber

unter der ſtillſchweigenden Bedin-

gung, daß ſie zu einem beſtimmten

genus gehöre. Iſt alſo unter der

Hülle des Faſſes Eſſig anſtatt

Wein verborgen, ſo wird der

Fall eben ſo behandelt, wie wenn

bey dem Kauf eines Sklaven un-

ter der Hülle eines Gewandes,

oder unter der Hülle des gemein-

ſamen Namens Stichus, ein an-

deres Individuum verborgen wäre,

als dasjenige woran der Käufer

denkt.

(m) Bey ungefaßten Steinen

und Perlen muß dieſes unbedingt

gelten. Eben ſo auch bey gefaß-

ten, wenn die Faſſung nur dazu

dient, den Stein zu zeigen und

zu tragen, wie bey Brillantringen

und bey dem Frauenſchmuck; an-

ders wenn der Stein zur Verzie-

rung eines Gefäßes oder andern

Geräthes gebraucht iſt, wobey der

Stein als Nebenſache gilt, ſelbſt

wenn er von größerem Geldwerth

ſeyn mag, als das Gefäß ſelbſt.

Vgl. L. 19 § 13—16 § 20 de

auro (34. 2.).

|0296 : 284|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

von verſchiedenen Thierarten die Rede iſt, weil Niemand

ein Thier überhaupt, ſeinem abſtracten Begriff nach, kauft,

ſondern jede Thierart zugleich eine Waare anderer Art

iſt, ohne Rückſicht auf die Größe der Preisverſchiedenheit.

— Eben ſo bey rohen Metallen verſchiedener Art, weil

jede derſelben eine andere Waare iſt. — Ferner bey ver-

ſchiedenen Getreidearten; desgleichen bey verſchiedenen flüſ-

ſigen Stoffen, auch außer Wein und Eſſig (n). — Endlich

könnte dahin auch noch folgender Fall gerechnet werden.

Wenn ich ein Grundſtück kaufe, auf welchem ein Haus

oder ein Wald ſtand, ohne zu wiſſen, daß unmittelbar

vorher das Haus oder der Wald abgebrannt iſt, ſo iſt

der Gegenſtand des Vertrags, das Grundſtück, eigentlich

noch vorhanden (o), aber es iſt für den Verkehr ein Ge-

genſtand anderer Art geworden, denn eine Brandſtätte und

ein Haus wird im Verkehr Jeder für ungleichartig halten.

Auch iſt nun der Vertrag in der That ungültig (p), aber

dieſe Ungültigkeit wird hier unter einen andern Geſichts-

(n) Die Identität oder Ver-

ſchiedenheit wird hier nicht ſelten

ſchwankend ſeyn, auch wohl von

perſönlichen Gewohnheiten abhän-

gen können. Vgl. L. 9 de tri-

tico (33. 6.). — In allen dieſen

Fällen wird übrigens ein Vertrag

über beſtimmte Säcke, Haufen,

Fäſſer mit Waaren (alſo über

eine species) vorausgeſetzt; von

dem ganz anderen Fall, da über

ein genus contrahirt iſt, war ſchon

im § 136 die Rede.

(o) L. 98 § 8 de solut. (46. 3.)

„.. Non est his similis area,

in qua aedificium positum est:

non enim desiit in rerum na-

tura esse, imo et peti potest

area, et aestimatio ejus solvi

debebit: pars enim insulae area

est, et quidem maxima, cui

etiam superficies cedit” …

(p) L. 57. 58 de contr. emt.

(18. 1.).

|0297 : 285|

§. 137. Error in substantia.

punkt gebracht. Es gilt nämlich der Gegenſtand des Ver-

trags ſelbſt als vernichtet, welches in manchen einzelnen

Folgen von unſrem Fall verſchieden iſt (q). Dennoch kann

die Analogie dieſes Falles auch für unſre Frage benutzt

werden.

Dagegen wird in folgenden Fällen der Irrthum nicht

als ein weſentlicher, den Willen ausſchließender, betrachtet

werden dürfen. Bey gutem und ſchlechtem Gold (Note h);

bey gutem und ſchlechtem Wein (Note d); bey dem Stoff

von Geräthen aus unedlem Metall; bey einer Sklavin,

die irrig für eine Jungfrau gehalten wird (r); bey alten

und neuen Kleidern (s). Endlich auch noch in einem Fall,

 

(q) Nämlich die Stipulation

ſoll in einem ſolchen Fall ungül-

tig ſeyn (L. 1 § 9 de O. et A.

44. 7), die doch im Fall eines

weſentlichen Irrthums, z. B. zwi-

ſchen Gold und Bronze, gültig

ſeyn würde. L. 22 de V. O. (45. 1.).

(r) L. 11 § 1 de contr. emt.

(18. 1.). Der Kauf iſt alſo hier

wirklich geſchloſſen, und an ſich

gültig; ja ſelbſt eine Klage auf

Entſchädigung oder auf Auflöſung

des Vertrags hat der Käufer nur

dann, wenn ihn der Verkäufer

betrog. L. 11 § 5 de act. emti

(19. 1.).

(s) L. 45 de contr. emt. (18. 1.)

„.. si vestimenta interpola quis

pro novis emerit.” Mit dieſen

Worten iſt eben ſo gut die An-

nahme vereinbar, daß der Ver-

käufer die Kleider für neu aus-

gab (wiſſentlich oder unwiſſentlich),

als daß blos der Käufer ſich die-

ſes einbildete. Der Sache nach

muß aber nothwendig das erſte

angenommen werden. Denn ein

weſentlicher Irrthum iſt gewiß

nicht vorhanden, da hier der Ver-

trag als wirkſam vorausgeſetzt

wird, und da alte und neue Klei-

der gewiß nicht verſchiedener ſind,

als guter und verdorbener Wein,

oder als feines und ſchlechtes Gold.

Dann aber kann ſich eine Entſchä-

digungsverbindlichkeit nur grün-

den entweder auf den Dolus, oder

auf die Zuſage der Eigenſchaft

neuer Kleider; da nun der Juriſt

auch außer dem Fall des Dolus

eine Verbindlichkeit annimmt,

(„si quidem ignorabat vendi-

tor”) ſo iſt nur die Zuſage denk-

bar. Eine Beſtätigung liegt auch

in dem als gleichartig dargeſtellten

Fall von dem meſſingnen Gefäß,

|0298 : 286|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

der eine genauere Betrachtung bedarf: bey hölzernen Haus-

geräthen, wenn über die Holzart geirrt wird. Daß auch

dieſe auf den Preis Einfluß haben kann, wird Niemand

läugnen, aber zu einer andern Art von Waare werden

dadurch die Möbeln nicht, beſonders wenn das feinere

Holz ſo täuſchend durch Politur nachgeahmt iſt, daß eine

Verwechslung möglich wird. Der Unterſchied von edlen

Metallen iſt augenſcheinlich, da die Bearbeitung des gerin-

geren und des edleren Holzes von demſelben Gewerbe be-

ſorgt wird, und da nach zerſtörter Form die übrig blei-

benden Holzſtücke bey feinem und geringerem Holz gleich

werthlos zu ſeyn pflegen. So ſteht es nach allgemeiner

Betrachtung, wovon die meiſten Schriftſteller das Gegen-

theil annehmen, theils durch die ſcheinbare Ähnlichkeit der

edlen Metalle, theils durch den abſtracten Begriff der

Stoffsverſchiedenheit irre geführt. Alles aber kommt auf

die Erklärung folgender Stelle an. L. 21 § 2 de act.

worin es ausdrücklich heißt: au-

rum quod vendidit. Er muß es

alſo für Gold ausgegeben haben.

(Vgl. unten § 138). — Vestimenta

interpola ſind getragene, aufge-

putzte, ausgebeſſerte Kleider, die

dabey noch gut ausſehen können,

ja wohl müſſen, wenn ihre Ver-

wechslung mit neuen möglich ſeyn

ſoll. Ganz unrichtig behauptet

Richelmann S. 160, die Eigen-

ſchaft alter Kleider ſey wie vitium

und morbus, und gebe daher An-

laß zu den ädiliciſchen Klagen.

Ihn täuſchen die Worte in L. 37

de aedil. ed. „idcirco interpo-

lant veteratores et pro novi-

ciis vendunt.” Dieſes heißt aber,

die Verkäufer betrügen dadurch,

daß ſie den veterator unter no-

vicii unterſtecken, wodurch er

ſelbſt als novicius angeſehen wird.

Der Verkauf des veterator ohne

Anzeige war von den Ädilen na-

mentlich verboten; mit der Aus-

dehnung des Edicts auf nicht na-

mentlich erwähnte Fälle verfuhr

man vorſichtig, ſtets nach der

Analogie von vitium und mor-

bus, wie L. 49 eod. zeigt.

|0299 : 287|

§. 137. Error in substantia.

emti (19. 1.) „Quamvis supra diximus, cum in corpore

consentiamus, de qualitate autem dissentiamus, emtionem

esse, tamen venditor teneri debet, quanti interest (emto-

ris se) non esse deceptum, etsi venditor quoque nesciat:

veluti si mensas quasi citreas emat, quae non sunt.”

Wir wollen das am Ende erwähnte Beyſpiel an die Spitze

ſtellen. Es hatte Jemand Tiſche gekauft, als ob ſie von

Citronenholz wären, die es nicht waren (t); das quasi

citreas iſt an ſich zweydeutig, indem es ſowohl auf die

bloße Einbildung des Käufers, als auf die Verſicherung

des Verkäufers gehen kann: daß das letzte der wahre Sinn

iſt, wird ſogleich gezeigt werden. Die Hauptfrage iſt nun

die, ob geleſen werden ſoll emtionem esse (wie in der

Florentina), oder emtionem non esse (wie in anderen Hſſ.,

vielleicht allen anderen). Die herrſchende Meynung iſt für

non, theils weil man von der vorgefaßten Meynung aus-

gieng, jeder Irrthum über den Stoff, alſo auch bey Holz-

möbeln, ſey ein weſentlicher, theils weil man ſeltſamerweiſe

annahm, die Worte supra diximus ſeyen von Tribonian,

und giengen auf L. 9. 11. 14 de contr. emt. (18. 1.);

dadurch war man genöthigt, qualitas gleichbedeutend mit

substantia oder materia zu nehmen. Aber eben dieſes letzte

iſt gegen allen klar erweislichen Sprachgebrauch, da in

(t) Von dem unglaublichen Lu-

xus der Römer mit Citronenholz,

welches in großen Stücken, wie

ſie zu Möbeln brauchbar waren,

aus Afrika gebracht werden mußte,

giebt genaue Nachricht Plinius

hist. nat. XIII. 15. Er erzählt

von einem Tiſch, der mit 1400,000

Seſterzen, oder 70,000 Thalern,

bezahlt wurde.

|0300 : 288|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

allen ſicheren Stellen qualitas nur auf die mehr oder we-

niger gute Beſchaffenheit geht, von welcher nie ein weſent-

licher Irrthum abhängt (u). Das logiſche Verhältniß des

quamivs und tamen beweißt für keine von beiden denkba-

ren Erklärungen. Denn nach unſrer Erklärung kann es

heißen: „Obgleich der Vertrag gültig iſt, ſo folgt daraus

doch nicht, daß ſich der Käufer mit den bloßen Tiſchen,

ohne Geldentſchädigung, begnügen müſſe“ (v). Nach der

entgegengeſetzten aber würde es, logiſch eben ſo befriedi-

gend, heißen: „Obgleich der Vertrag als ſolcher nicht gilt

und wirkt, ſo iſt doch der Verkäufer (aus anderen Grün-

den, alſo neben dem Vertrag) verpflichtet.“ Deceptum

heißt hier, wie in vielen Stellen, nicht betrogen, ſondern

irrend, getäuſcht durch ſich ſelbſt, oder durch des Gegners

Verſicherung, nicht gerade durch deſſen Betrug. — Nun

iſt der Hauptſatz dieſer: der Vertrag iſt zwar gültig, den-

noch iſt der Verkäufer durch die in der Tradition liegende

ſcheinbare Erfüllung nicht frey; vielmehr muß er Entſchä-

(u) L. 14 de contr. emt. (18. 1.)

„Quid tamen dicemus, si in

materia et qualitate ambo er-

rarent?” Man hat hier in dem

zweyten Ausdruck eine müßige

Wiederholung des erſten finden,

alſo die gleiche Bedeutung beider

Worte daraus beweiſen wollen;

allein es folgen nun in der That

zwey Beyſpiele, in dem einen

wird über den Stoff geirrt (ma-

teria), in dem andern blos über

die Güte (qualitas), und beide

Fälle werden auf entgegengeſetzte

Weiſe entſchieden.

(v) Cujacius findet es lächer-

lich, daß der Juriſt ſagen ſollte:

„Obgleich der Vertrag gültig iſt,

kann dennoch der Käufer klagen.“

(Comm. ad L. 22 de V. O.,

opp. T. 1). Allein wenn man

den Nachſatz nicht auf das Da-

ſeyn eines Klagrechts überhaupt,

ſondern auf deſſen Gegenſtand

und Umfang bezieht, ſo verſchwin-

det die ſcheinbare Lächerlichkeit.

|0301 : 289|

§. 137. Error in substantia.

digung leiſten, ſelbſt wenn er nicht betrog, ſondern

gleichfalls irrte. Aus dieſer letzten, klaren Entſchei-

dung iſt es denn gewiß, daß der Juriſt vorausſetzt, der

Verkäufer habe im Contract ausgeſprochen, die Tiſche ſeyen

von Citronenholz; denn zur Entſchädigung konnte er nur

verpflichtet ſeyn entweder durch eine ſolche Zuſage (w),

oder durch ſeinen Dolus: ein dritter Grund iſt dafür nicht

denkbar. — So iſt alſo durch dieſe Stelle anerkannt, daß

bey Holzgeräthen der Irrthum über den Stoff kein we-

ſentlicher, der Vertrag alſo dennoch gültig iſt, indem er

die actio emti erzeugt; die Verbindlichkeit des Verkäufers

zur Entſchädigung, wenn er entweder betrog, oder die

beſſere Qualität im Vertrag ausſprach, folgt aus allge-

meinen Grundſätzen. — Es iſt merkwürdig zu ſehen, wie

weit manche Interpreten gehen, um ihre vorgefaßte Mey-

nung gegen die in den Worten etsi venditor quoque nes-

(w) Die Zuſage einer beſtimm-

ten Eigenſchaft bey dem Verkauf

einer Sache, verpflichtet ſtets den

Verkäufer wenn dieſe Eigenſchaft

fehlt: und zwar hat der Käufer

in dieſem Fall ſowohl die ädili-

eiſchen Klagen (L. 18 pr. L. 52

de aed. act. 21. 1), als die

actio emti auf das Intereſſe

(L. 13 § 3 de act. emti 19. 1,

L. 19 § 2 de aed. act. 21. 1).

In L. 13 cit. heißt es: Videamus

an ex emto teneatur? et putem

teneri. Natürlich auf das In-

tereſſe, wie immer bey dieſer

Klage. Gerade ſo heißt es aber

auch in unſrer Stelle: teneri

debet quanti interest. Über den

Umfang und die Berechnung die-

ſes Intereſſe iſt in beiden Stel-

len Nichts geſagt, aus dem ein-

fachen Grunde weil nicht jede

Stelle alle bey einem Rechtsfall

denkbare Fragen erſchöpfen kann;

es iſt alſo unbegreiflich, wie Ri-

chelmann S. 65 wegen der Art

des hier vorgeſchriebenen Intereſſe

behaupten kann, die Worte etsi

. . nesciat dürften nicht auf te-

neri quanti interest bezogen wer-

den. — Die Annahme einer aus-

drücklichen Zuſage hat alſo hier

denſelben Grund wie in L. 45 de

contr. emt., ſ. v. Note s.

III. 19

|0302 : 290|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ciat enthaltene Widerlegung zu retten. Noodt, deſſen

Interpretation überhaupt nicht ſehr ſchüchtern iſt, läßt dem

Leſer die Wahl, ob er jene Worte wegſtreichen, oder ob

er ſie auf den Vorderſatz (quamvis ....emtionem [non]

esse) beziehen wolle, welches letzte jedoch ganz außer der

Möglichkeit einer Conſtruction liegt (x). Bynkershoek

hat die Stelle richtig aufgefaßt, aber freylich die Haupt-

ſchwierigkeit, die ſcheinbare Analogie der edlen Metalle,

gar nicht berührt (y): weshalb auch ſeine Erklärung keinen

Eingang gefunden hat (z).

(x) Noodt Comm. ad Pand.

XVIII. 5. Die zuletzt vorgeſchla-

gene Conſtruction nimmt auch

Richelmann S. 66 an, ohne

ſich durch ihre Unmöglichkeit ſtö-

ren zu laſſen.

(y) Bynkershoek Observ. Lib.

8 C. 20.

(z) Ich habe in dieſem ganzen

§. zu zeigen geſucht, daß der Stoff

an und für ſich nicht das Ent-

ſcheidende iſt bey der Feſtſtellung

des weſentlichen Irrthums. Die-

ſes würde wahr ſeyn, ſelbſt wenn

die Gleichartigkeit des Stoffs wirk-

lich ſo an ſich ſelbſt gewiß, und

von individuellen Anſichten unab-

hängig wäre, wie man gewöhnlich

vorausſetzt. Allein auch daran

fehlt viel. Bey Metallarbeiten

z. B. kann man, je nach ſubjecti-

ven Anſichten, entweder den all-

gemeinen Begriff des Metalls zum

Grunde legen, oder den beſonde-

ren Begriff des Goldes, Silbers

u. ſ. w. Desgleichen bey Holz-

arbeiten entweder den allgemeinen

Begriff des Holzes (im Gegenſatz

von Metall oder Pappe), oder

den der einzelnen Holzart. Allein

auch mit dieſer letzten Annahme

iſt bey weitem nicht Alles abgethan,

da die Arten wieder viele Unter-

arten haben. Um bey dem Fall

der L. 21 cit. ſtehen zu bleiben,

vorausgeſetzt daß wirklich die Holz-

art einen weſentlichen Irrthum

begründete; ſoll es dann gerade

auf die species der Citrone an-

kommen, oder auf das genus der

Agrumi, das bekanntlich eine große

Zahl von species hat.

|0303 : 291|

§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)

§. 138.

III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.

Unabſichtliche. Error in substantia. (Fortſetzung.).

Im vorigen §. ſind die Bedingungen feſtgeſtellt wor-

den, unter welchen ein Irrthum über die Eigenſchaften

einer Sache als weſentlich zu betrachten iſt; die prakti-

ſchen Rechtsregeln für dieſen Fall, welche einſtweilen nur

vorausgeſetzt worden ſind, ſollen nunmehr genauer ange-

geben werden.

 

Fand man es überhaupt billig, dem Irrenden in die-

ſem Fall zu Hülfe zu kommen, ſo konnte dieſer allgemeine

Zweck auf zweyerley Weiſe erreicht werden. Man konnte

das Rechtsgeſchäft als an ſich gültig anſehen, dem Irren-

den aber ausnahmsweiſe die Anfechtung wegen eines irri-

gen Beweggrundes geſtatten, ſo wie dieſes bey den ädili-

ciſchen Klagen und bey der condictio indebiti geſchieht;

man konnte aber auch den Willen ſelbſt durch jene Art

des Irrthums als ausgeſchloſſen betrachten, woraus ſich

dann die Nichtigkeit des Rechtsgeſchäfts von ſelbſt als

Folge ergab. Das Roͤmiſche Recht hat dieſe zweyte Be-

handlung gewählt, welches ſowohl aus der Zuſammenſtel-

lung mit dem Error in corpore, als auch aus einzelnen

Ausſprüchen, unwiderſprechlich hervorgeht (a). — Der Irr-

 

(a) L. 9 § 2 de contr. emt.

(18. 1.). „.. in ceteris autem

nullam esse venditionem puto,

quotiens in materia erratur.”

Dieſes ſieht dem oben für un-

richtig erklärten allgemeinen Prin-

cip ähnlich: quotiens in substan-

tia (materia) erratur, nullus

est contractus (§ 137), iſt aber

davon weſentlich verſchieden, da

es ſchon nach den Worten blos

auf die vorhergehenden zwey Fälle

19*

|0304 : 292|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

thum iſt hier, wie bey dem Error in corpore, ein unäch-

ter, ſo daß es alſo gleichgültig iſt, ob den Irrenden ein

Tadel der Nachläſſigkeit trifft oder nicht (§ 135). — Der

Irrthum an ſich iſt der Grund, der uns beſtimmt, den

Willen als nicht vorhanden anzuſehen. Nun können aber

mit demſelben noch andere Thatſachen zuſammentreffen,

die vielleicht auch für ſich wieder beſondere juriſtiſche Fol-

gen haben. So z. B. kann über die irrig angenommene

Eigenſchaft der Sache ein ausdrückliches Verſprechen ge-

geben ſeyn; es kann ſich darauf ein Dolus des Gegners

beziehen. Alle dieſe möglicherweiſe concurrirende Thatſa-

chen liegen außer dem Kreiſe unſrer gegenwärtigen Be-

trachtung, indem ſich dieſe auf die Ausſchließung des Wil-

lens durch weſentlichen Irrthum über eine Eigenſchaft der

Sache beſchränkt. Es ergiebt ſich daraus, daß die juri-

ſtiſche Beurtheilung von Fällen dieſer Art eine ſehr zu-

ſammengeſetzte Natur haben kann. — Endlich iſt hier, wie

bey dem Irrthum über die Perſon (§ 136) zu bemerken,

daß zuweilen dieſe Folge des Irrthums unmerklich ver-

ſchwinden wird, weil in manchen Fällen die Verſchieden-

heit der wahren Beſchaffenheit von der irrig vorausge-

ſetzten, dem Irrenden gleichgültig, vielleicht ſogar vor-

theilhaft ſeyn wird.

von Gold und Silber geht, alſo

durchaus kein allgemeines Prin-

cip für den abſtracten Fall des

Error in substantia überhaupt

vorſtellen will. — Eben ſo wird

in L. 11 pr. eod. das Daſeyn des

consensus negirt. — Welche An-

ſicht bey dieſer Behandlung zum

Grund liegt, iſt ſchon oben an-

gegeben worden (§ 137, beſon-

ders Note l). Vergl. auch Bey-

lage VIII. Num. XXXIV. Note n

|0305 : 293|

§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)

Es darf jedoch nicht verkannt werden, daß dieſe Be-

handlung des erwähnten Falles, ſo natürlich und billig

ſie uns oft erſcheinen mag, eine künſtlichere Natur hat,

als die gleiche Behandlung des Error in corpore, bey

welchem die Annahme eines wirklichen Willens ganz un-

möglich ſeyn würde. Daher wird ſie überhaupt nur da

angewendet, wo ein (ſicheres oder denkbares) Rechtsin-

tereſſe des Irrenden dadurch zu ſchützen iſt. Daher iſt es

ferner denkbar, daß jene Behandlung nicht zu allen Zei-

ten, auch wohl nicht ſchlechthin für alle Fälle, ſtatt gefun-

den hat. Die nun folgende Aufſtellung der Rechtsregeln

im Einzelnen wird daher zugleich auf die Ermittlung und

Angabe ſolcher hiſtoriſchen und praktiſchen Gränzen ge-

richtet ſeyn müſſen.

 

Die einzelnen Stellen, die einen ſolchen Irrthum für

weſentlich, und deshalb den Vertrag für nichtig erklären,

betreffen insgeſammt den Fall, da ein Käufer über die

Gattung der gekauften Waare zu ſeinem Nachtheil irrt;

er kauft nämlich ein Gefäß von Bronze oder Bley für

Gold oder Silber, Eſſig für Wein, eine Sklavin für ei-

nen Sklaven. Hier iſt überall der Kauf nichtig, der Käu-

fer braucht daher nicht zu zahlen, und kann das gezahlte

Geld zurückfordern (b). Dieſes ſoll gelten, ohne Unter-

ſchied ob der Verkäufer es beſſer wußte, oder gleichfalls

im Irrthum war (c). Offenbar iſt hier an das zunächſt

 

(b) L. 9 § 2 L. 11 pr. § 1

L. 14 L. 41 § 1 de contr. emt.

(18. 1.).

(c) Die erſten unter den an-

geführten Stellen ſprechen von

dem Irrthum des Käufers, ohne

|0306 : 294|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

liegende Intereſſe des Käufers gedacht, nicht einen hohen

Preis für eine geringe Waare zahlen zu müſſen, und die-

ſer Zweck iſt durch die aufgeſtellte Regel vollſtändig er-

reicht. Es hat dieſelbe aber auch noch andere Folgen.

War z. B. im Vertrag ausgeſprochen, daß das Gefäß

von Gold ſey, und der Preis war für ein goldnes Gefäß

nur mäßig, ſo würde der Käufer wünſchen, den Vertrag

als gültig zu behandeln und die Differenz des Werths zu

verlangen (§ 137. w); dieſes kann er nun nicht, weil gar

kein Vertrag geſchloſſen iſt, ſelbſt wenn der Verkäufer in

dolo war. Allein dieſer Betrug wird freylich ſelbſtſtän-

dige Folgen haben können, unabhängig von dem Vertrag;

der unredliche Verkäufer alſo muß den Käufer entſchädi-

gen, wenn dieſer durch das, nunmehr als nichtig erkannte,

Geſchäft irgend einen Verluſt erlitten hat (d).

ſich über das Bewußtſeyn des

Verkäufers zu äußern; aber L. 14

cit. ſagt: „Quid tamen dicemus,

si in materia et qualitate ambo

errarent?” Daraus folgt un-

widerſprechlich, daß in den vor-

hergehenden Stellen ein wiſſen-

der Verkäufer vorausgeſetzt wird.

Dieſes Wiſſen nun läßt ſich noch

auf zweyerley Weiſe denken, red-

lich und unredlich, indem der Ver-

käufer ein gleiches Wiſſen bey

dem Käufer vorausgeſetzt haben

könnte. Allein in den Stellen

ſelbſt iſt wohl die Unredlichkeit des

Verkäufers vorausgeſetzt, theils

weil der ohne Zweifel weit höhere

Preis das Wiſſen des Käufers

unwahrſcheinlich machen mußte,

theils weil es in L. 9 § 2 cit.

heißt: „si acetum pro vino ve-

neat, aes pro auro.” Veneat

iſt ſo viel als venditum sit, das

Wort bezeichnet alſo die Hand-

lung des Verkäufers, welcher

Eſſig anſtatt Wein feil geboten

und verkauft, alſo für Wein aus-

gegeben hat, welches Verfahren

bey ſeinem beſſeren Wiſſen noth-

wendig einen Betrug in ſich ſchließt.

(d) Wegen des Betrugs muß

der Verkäufer den Käufer in die

Lage ſetzen, wie wenn von die-

ſem Geſchäft nie die Rede gewe-

ſen wäre. Hat alſo der Käufer

durch das Geſchäft Koſten gehabt,

|0307 : 295|

§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)

Dieſe Nichtigkeit des Kaufs war jedoch nicht zu allen

Zeiten anerkannt, ihre völlige Anerkennung muß daher der

ausgebildeteren Rechtswiſſenſchaft zugeſchrieben werden.

Zwar hatte ſie ſchon Julian behauptet (e), Marcellus aber

verwarf ſie (f), und erſt durch Ulpian und Paulus (g)

mag dieſe Lehre die unbeſtrittene Herrſchaft erlangt ha-

ben. Aus der älteren Zeit hat ſich denn auch noch ein

Zeugniß für die Meynung erhalten, nach welcher der

Kauf eines meſſingnen Gefaͤßes für ein goldnes den Ver-

trag eben ſo wenig ungültig machen ſoll, wie der Kauf

getragener Kleider, die man für neue hält. Die Stelle

iſt die theilweiſe ſchon oben erklärte L. 45 de contr. emt.

(18. 1.) (§ 137. s), die unter den neueren Schriftſtellern

beſonders viele Misverſtändniſſe erzeugt hat. Marcian

ſagt zuerſt, Labeo führe (beſtätigend) die Meynung des

Trebatius an, wenn ein Verkäufer getragene Kleider für

 

hat er an das vermeintlich goldne

Gefäß Arbeitslohn gewendet, oder

deshalb einen andern vortheilhaf-

ten Kauf verſäumt, ſo kann er

Erſatz fordern. Allein für den

Gewinn, den er, bey einem wirk-

lich goldnen Gefäß, durch den

gültigen Vertrag gemacht hätte,

kann er keinen Erſatz fordern.

Ganz unrichtig nehmen Manche

an, der irrende Verkäufer ſey

wegen Culpa verantwortlich. Cul-

pa iſt gar nicht allgemein eine

causa obligationis, wie es der

Betrug allerdings iſt. Nur wo

ein wirklicher Vertrag vorhanden

iſt (der hier fehlt), da iſt dieſer

eine causa obligationis, und die

daraus entſpringende Obligation

kann durch Culpa, wie durch Be-

trug, modificirt und erhöht werden.

(e) L. 41 § 1 de contr. emt.

(18. 1.).

(f) L. 9 § 2 de contr. emt.

(18. 1.). „.. Marcellus scripsit

.. emtionem esse et venditio-

nem, quia in corpus consensum

est, etsi in materia erratum.”

Das wird nun ſcheinbar beſchränkt,

in der That völlig widerlegt.

(g) L. 9. 11. 14 de contr. emt.

(18. 1.).

|0308 : 296|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

neue ausgebe, ſo könne der Käufer doch nur in dem Fall,

wenn er ſie wirklich für neu hielt, Entſchädigung fordern.

Hierauf folgt die aus Pomponius und Julian entlehnte

Beſtätigung und weitere Ausführung dieſer Behauptung.

Daran ſchließt ſich endlich die Fortſetzung des von Labeo

aufgeſtellten Satzes (h), indem derſelbe nun auch auf me-

tallene Gefäße in folgenden Worten angewendet wird:

„quemadmodum si vas aurichalcum (i) pro auro vendi-

disset ignorans, tenetur ut aurum quod vendidit prae-

stet” (k). Hier iſt es einleuchtend, daß der Kauf der me-

(h) Die Worte: quam sen-

tentiam et Pomponius bis: quod

ex eo contingit bilden eine, blos

auf das vorhergehende zu bezie-

hende, Parentheſe. Dieſes Ver-

hältniß der Sätze wird ſchon

durch die wechslende Conſtruction

angedeutet, denn der Zwiſchenſatz

ſchließt mit: qui ait … teneri,

während der folgende Satz ſo

lautet: quemadmodum .. tene-

tur, welches nicht mehr durch qui

ait regiert werden kann. Noch

ſicherer aber folgt es daraus, daß

der Schlußſatz unmöglich von Ju-

lian herrühren kann, weil dieſer

nach L. 41 § 1 eod. über die

Metallgefäße die entgegengeſetzte

Meynung hatte.

(i) aurichalcum oder orichal-

cum iſt Meſſing, eine Miſchung

aus Kupfer und Galmey, wie es

auch die Alten beſchreiben; nicht,

wie es Manche nach einer täu-

ſchenden Etymologie erklären woll-

ten, Miſchung aus Gold und Ku-

pfer, welches gerade für unſre

Unterſuchung ein entgegengeſetz-

tes Reſultat geben müßte. Hier

wird das Wort, welches außer-

dem nur ſubſtantiviſch vorkommt,

als Adjectivum gebraucht. Die-

ſer (bey einem nicht häufigen

Wort minder erhebliche) Anſtoß

hat in der Vulgata die Leſeart

si vas aurichalci, bey Haloan-

der die wichtigere Emendation si

quis aurichalcum veranlaßt, wel-

che letzte wohl durch keine Hand-

ſchrift unterſtützt wird, und ver-

worfen werden muß.

(k) Scheinbaren Anſtoß erregt

es, daß es erſt heißt auricha I-

cum vendidisset, und nachher

doch aurum quod vendidit. Aber

Beides iſt richtig; er verkaufte

in der That Meſſing, nach ſei-

nen Worten (alſo nach dem In-

halt des Contracts) Gold. Die

Worte ut aurum quod vendidit

praestet ſind ſo zu verſtehen: er

ſoll für das im Vertrag zuge-

|0309 : 297|

§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)

tallenen Gefäße dem Kleiderkauf völlig gleich geſtellt, und

daß bey beiden gleichmäßig die Gültigkeit des Vertrags

entſchieden angenommen wird. Da nun in den anderen

angeführten Stellen bey Metallgefäßen gerade das Gegen-

theil angenommen wird, ſo nahmen hieran mit Recht un-

ſre Schriftſteller Anſtoß. Die Vereinigungsverſuche ſind

insgeſammt gezwungen und unbefriedigend ausgefallen,

theilweiſe widerſprechen ſie geradezu den Worten (l). Das

Einfachſte iſt aber wohl, die Äußerung des Labeo, eben

ſo wie die des Marcellus, zu der älteren, nunmehr ver-

worfenen, Meynung zu zählen. Ob Marcian dieſe Mey-

nung billigte, oder vielleicht in der nicht mit excerpirten

Fortſetzung der Stelle widerlegte, läßt ſich nicht ausma-

chen. Zu tadeln ſind die Compilatoren nur inſofern, als

ſie dieſe Äußerung eines ſehr alten Juriſten in einer ſol-

chen Geſtalt aufgenommen haben, aus welcher nicht un-

mittelbar, und ohne Vergleichung anderer Stellen, ihre

ſpätere Verwerfung erhellt; das Verſehen erklärt ſich aber

daraus, daß dieſer Fall hinter dem andern, ganz unbe-

denklichen, Fall von den alten Kleidern erwähnt war,

durch welche Verbindung den Compilatoren die weſentliche

Verſchiedenheit unbemerkt blieb, wie denn ähnliche Fälle

öfter vorkommen (vgl. § 124. i).

ſagte Gold Entſchädigung leiſten.

Darauf geht nämlich die actio

emti, ſ. o. § 137. w.

(l) So iſt bey Averanius In-

terpr. I. 19 § 9. 10 (der übrigens

die Sache gründlich behandelt)

die Vereinigung höchſt gezwun-

gen; eben ſo bey Richelmann

S. 69. Die Meiſten helfen ſich

damit, daß ſie auf die Schwie-

rigkeit nicht recht eingehen.

|0310 : 298|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Ich will es nun verſuchen, die in den angeführten

Stellen nicht erwähnten, aber verwandten Fälle, nach den

dort angewendeten Grundſätzen zu beurtheilen. Wenn der

Käufer weiß, daß das Gefäß nur vergoldet iſt, welches

der Verkäufer für Gold hält, ſo gilt der Kauf, und der

verſprochene Preis muß gezahlt werden; denn der Käufer

irrt nicht, und in dem irrenden Verkäufer iſt kein denkba-

res Rechtsintereſſe durch Annahme der Ungültigkeit zu

ſchützen (m). — Wenn umgekehrt der Verkäufer das wirk-

lich goldne Gefäß für vergoldet hält, und in dieſem Irr-

thum verkauft, ſo iſt nach derſelben Regel, die in jenen

Stellen zum Schutz des Käufers angewendet wurde, auch

der Verkauf für nicht geſchloſſen zu halten (n); es iſt auch

dabey gleichgültig, ob der Käufer in demſelben Irrthum

war oder nicht.

 

Die hier über den Kauf und Verkauf aufgeſtellten Re-

geln ſind unbedenklich auch auf den Tauſch anzuwenden,

deſſen innere Verwandtſchaft mit dem Kauf, an ſich ſelbſt

 

(m) Wer ein Gefäß um Hun-

dert verkaufen will, das er für

ein goldnes hält, kann unmöglich

dieſen Verkauf abweiſen, wenn

er erfährt, daß es nur vergoldet

iſt. Es iſt genau derſelbe Fall

wie in L. 52 loc. (19. 2.), wo

Derjenige, welcher ein Grund-

ſtück um Zehen pachten will, ge-

radezu ſo angeſehen wird, als

hätte er auch um Fünf pachten

wollen, ohne daß er weiter hier-

über gefragt wird. Es iſt in

beiden Fällen von einem reinen

Mehr und Weniger die Rede.

Auch ſpricht dafür die augenſchein-

liche Analogie von L. 57 § 2

L. 58 de contr. emt. (18. 1.).

(n) Man könnte dagegen ein-

wenden, jeder Verkäufer müſſe

die Eigenſchaften ſeiner Sache ken-

nen, und der Irrthum ſey daher

ſeine eigene Schuld (L. 15 C. de

resc. vend. 4. 44.). Allein bey

dem unächten Irrthum, wovon

hier die Rede iſt, kommt auf die

Verſchuldung überhaupt Nichts an.

|0311 : 299|

§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)

unverkennbar, in unſren Rechtsquellen deutlich ausgeſpro-

chen iſt (o).

Bey dem Miethcontract wird ſeltner eine Veranlaſſung

zu dieſen Regeln vorkommen (p). Wo ſie aber vorkäme,

würde es dieſer Regeln nicht einmal bedürfen, da hier der

Vertrag auf Gebrauch gerichtet iſt, welcher an ſich ſchon

eine beſtimmte Form und Gebrauchsart der Sache voraus-

ſetzt. Daher wird hier auch in ähnlichen Fällen dem Mie-

ther ein viel durchgreifenderer Schutz als dem Käufer ge-

währt (q).

 

Bey der Schenkung (r) ſind folgende Grundſätze anzu-

wenden. Wird ein vergoldetes Gefäß geſchenkt, das der

Beſchenkte für Gold hält, ſo iſt die Schenkung dennoch

gültig, da der Irrende kein mögliches Rechtsintereſſe da-

gegen hat; denn dieſes geringere Gefäß iſt doch mehr

werth, als gar Nichts. Wird umgekehrt ein goldnes ge-

 

(o) L. 2 de rer. perm. (19. 4.).

(p) Es wäre möglich bey Skla-

ven und Sklavinnen; eben ſo wenn

Jemand ein Silberſervice miethen

wollte, und ein plattirtes erhielte.

(q) Wenn ein Haus nach ge-

ſchloſſenem Kauf abbrennt, ſo

trifft der Schade den Käufer, der

das ganze Kaufgeld bezahlen muß;

brennt es ab nach geſchloſſenem,

ja ſogar nach theilweiſe erfülltem

Miethcontract, ſo wird von der

Zeit des Brandes an kein Mieth-

geld gezahlt. L. 19 § 6 locati

(19. 2.).

(r) Es iſt gleichgültig, ob hier

von einem Schenkungsverſpre-

chen, oder von der Tradition als

Schenkung, die Rede ſeyn mag.

Denn auch die Tradition erhält

ihre Kraft nur durch die dona-

tionis causa, den donandi ani-

mus, und dieſer eben wird durch

den weſentlichen Irrthum ausge-

ſchloſſen. — Ich betrachte übri-

gens hier die Schenkung rein als

ſolche, wobey das Verſprechen

nach L. 35 C. de don. (8. 54.)

die Natur eines b. f. contractus

hat. Inwiefern die hinzutreten-

de Stipulation einen Unterſchied

macht, wird ſogleich unterſucht

werden.

|0312 : 300|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſchenkt, das der Schenkende für vergoldet hält, ſo iſt die

Schenkung, ohne Rückſicht auf das Bewußtſeyn des Be-

ſchenkten, für ungültig zu halten. Dafür ſpricht die Ana-

logie der gleichartigen Regel für den Verkauf, die hier

ſogar noch höheren Anſpruch auf Anerkennung haben muß.

Daſſelbe iſt unbedenklich auch anzunehmen, wenn ein

Teſtator in einem ſo weſentlichen Irrthum über die legirte

Sache iſt.

 

Bey der Stipulation wird ausdruͤcklich geſagt, das

Verſprechen ſey gültig, auch wenn der Glaubiger das

Bronzegefäß für Gold halte (s). Dieſes könnte nun ſchon

aus der Natur des einſeitigen Vertrags gefolgert werden,

eben ſo wie bey der Schenkung (t), weil Bronze mehr iſt

als Nichts. Allein der Grund, den der alte Juriſt an-

giebt (quoniam in corpore consenserimus), deutet auf

mehr. Da nämlich derſelbe Juriſt (Paulus) bey dem

Kauf den Conſens in corpore für nicht hinreichend hält,

um bey Gold und Bronze den Irrthum über den Stoff

zu beſeitigen (u), ſo will er ohne Zweifel ſagen, die freye

 

(s) L. 22 de V. O. (45. 1.).

„Si id quod aurum putabam,

cum aes esset, stipulatus de te

fuero, teneberis mihi hujus ae-

ris nomine, quoniam in cor-

pore consenserimus: sed ex

doli mali clausula tecum agam,

si sciens me fefelleris.” Der

dolus geht darauf, wenn mit

Rückſicht auf eine (vergangne oder

künftige) Gegenleiſtung die Sti-

pulation geſchloſſen iſt, welche da-

durch dennoch nicht aufhört, ein

einſeitiger Vertrag zu ſeyn. Fehlt

in der Stipulation die doli clau-

sula, ſo gilt hier freylich nicht die

Stipulationsklage, aber unſtreitig

die doli actio.

(t) Nämlich die Stipulation

kann zugleich eine Schenkung ſeyn,

dann fallen beide Geſichtspunkte

zuſammen; das iſt aber ganz zu-

fällig; vgl. Note s.

(u) L. 10 de contr. emt. (18.

|0313 : 301|

§. 138. Error in substantia. (Fortſetzung.)

aequitas, die zu dieſer etwas künſtlichen Behandlung bey

dem Kauf geführt habe, dürfe bey der ſtreng buchſtäbli-

chen Natur der Stipulation nicht gelten. Daraus folgt

denn, daß auch die Stipulation gelten mußte, worin der

Schuldner das verſprochene Gefäß für vergoldet hielt,

welches in der That Gold war. Für unſer heutiges Recht

übrigens kann dieſes gleichgültig ſeyn.

Endlich wird noch dieſe Art des Irrthums erwähnt

bey der Verpfändung. Empfängt der Glaubiger als Pfand

ein vergoldetes Gefäß, das der Verpfänder für Gold aus-

giebt, ſo ſoll das Pfandrecht dennoch begründet ſeyn (v).

Dieſes folgt wieder aus der Natur des einſeitigen Ver-

trags, da das vergoldete Gefäß mehr Sicherheit giebt als

gar Nichts. Es wird aber hinzugeſetzt, gegen den Ver-

pfänder gehe eine pignoraticia contraria actio, und außer-

dem habe er ſich eines Stellionats ſchuldig gemacht (vor-

ausgeſetzt, daß er in dolo war, welches aus der Zuſage

allein nicht nothwendig folgt). Die pignoraticia contra-

ria, die durch die Zuſage unzweifelhaft begründet iſt

(§ 137. w), geht darauf, daß ein Pfand von gleichem

Werth mit dem verſprochnen goldnen Gefäß gegeben

 

1.), die offenbar dieſelbe Anſicht

vorausſetzt, wie die vorhergehende

L. 9 eod.

(v) L. 1 § 2 de pign. act.

(13. 7.). — Ein ganz verſchiede-

ner, nicht hierher gehörender Fall

iſt es, wenn ein goldnes Gefäß

wirklich verpfändet, dieſem aber

nachher bey der Übergabe ein

vergoldetes untergeſchoben wird.

Hier iſt das Rechtsgeſchäft ohne

Irrthum vollendet, und die Ver-

tauſchung gilt als Diebſtahl. L. 1

§ 1 de pign. act. (13. 7.), L. 20

pr. de furtis (47. 2.).

|0314 : 302|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kay. III. Entſtehung und Untergang.

werde. Aber ich glaube, daß dieſelbe Klage, als b. f.

actio, auch außer dem Fall einer ausdrücklichen Zuſage

gelten muß, wenn nur der wahre Werth der verpfände-

ten Sache nicht im Verhältniß mit dem Betrag der Schuld

ſteht. Denn auch in anderen Fällen gilt dieſe Klage,

wenn der Glaubiger aus Irrthum ein Pfand annimmt,

das ihm keine hinreichende Sicherheit gewährt: namentlich

wenn die verpfändete Sache in fremdem Eigenthum, oder

ſchon an Andere verpfändet, oder wenn der verpfändete

Sklave durch Krankheit von geringerem Werth iſt (w).

§. 139.

III. Willenserklärungen. — Erklärung ohne Willen.

Unabſichtliche. Gränze dieſes Falles.

Es iſt bisher eine Reihe von Fällen angegeben wor-

den, in welchen der Irrthum bey einem Rechtsgeſchäft

als ein weſentlicher, das heißt den Willen ausſchließen-

der, zu betrachten iſt (§ 135—138). Wegen der Wich-

tigkeit dieſes Einfluſſes iſt es nun noch nöthig, die Gränze

dieſes Falles dadurch feſter zu beſtimmen, daß einige ver-

wandte Fälle, denen dieſelbe Natur leicht zugeſchrieben

werden möchte, ausdrücklich davon ausgeſchloſſen werden.

 

Es darf alſo nicht dahin gerechnet werden der wich-

tige Fall, da die Ausführung eines Rechtsgeſchäfts ſchon

zu der Zeit, worin das Geſchäft geſchloſſen wurde, un-

möglich war, z. B. wenn eine verkaufte Sache dem Ver-

 

(w) L. 9 pr., L. 16 § 1, L. 32, L. 36 § 1 de pign. act. (13. 7.).

|0315 : 303|

§. 139. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. Gränze.

kehr entzogen, oder zur Zeit des Verkaufs ſchon unterge-

gangen iſt. Zwar wird hier gewöhnlich auch ein Irrthum

über die Eigenthumsfähigkeit oder das Daſeyn der Sache

vorhanden ſeyn: auch iſt in der Regel die Wirkung, eben

ſo wie bey dem weſentlichen Irrthum, Nichtigkeit des Ge-

ſchäfts; dennoch hat dieſer Fall eine ganz andere Natur,

und gehört gar nicht in den gegenwärtigen Kreis der Be-

trachtung. Zwar werden auch hier gewöhnlich die Par-

teyen in Unwiſſenheit über den Untergang der Sache ſeyn,

wodurch man verleitet werden möchte, dieſen Fall mit

dem weſentlichen Irrthum über die Eigenſchaften in Ver-

bindung zu ſetzen. Allein der Irrthum iſt dabey keines-

weges nothwendig, vielmehr wird die Nichtigkeit unbe-

dingt, ohne Rückſicht auf das Bewußtſeyn der handelnden

Perſonen, ausgeſprochen (a), ja ſie wird ausdrücklich für

den Fall anerkannt, da der Käufer jenen Grund der Un-

gültigkeit kannte (b). Demnach iſt hier überhaupt nicht

von einer mangelhaften Willenserklärung die Rede, dieſe

iſt vielmehr in ſich vollendet, und alles Beſondere, was

hier eintritt, liegt in einem ganz anderen Gebiete, dem der

Ausführung des Willens, oder ſeiner Wirkungen. Dieſe

Wirkungen aber können nicht in einer gemeinſamen Be-

trachtung zuſammengefaßt werden, da ſie bey den einzel-

nen Klaſſen der Rechtsverhältniſſe zu verſchiedenartig ſind;

(a) L. 8 L. 15 pr. L. 34 § 1 de

contr. emt. (18. 1.), L. 1 § 9 de

O. et A. (44. 7.).

(b) L. 6 pr. L. 34 § 2 de

contr. emt. (18. 1.).

|0316 : 304|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſie müſſen daher dem beſondern Theile des Syſtems vor-

behalten bleiben (c).

Ferner iſt der Irrthum in den Beweggründen in der

Regel ohne Einfluß auf die Gültigkeit der Rechtsge-

ſchäfte (d). Auch wenn der Beweggrund ausgeſprochen

wird, und ſich ungegründet befindet (falsa causa), ſo iſt

darum das Geſchäft nicht weniger gültig (e). Nur giebt

es bey Teſtamenten mehrere Fälle, in welchen der Irr-

thum die Verfügung entkräftet, wobey es dann wieder

gleichgültig iſt, ob der Beweggrund ausgeſprochen war

oder nicht (f). Auch kann bey allen Rechtsgeſchäften dem

Beweggrund die Geſtalt einer Bedingung oder eines Mo-

dus gegeben werden, in welchem Fall er nach der Natur

dieſer Rechtsverhältniſſe wirkt. Im einzelnen Fall kann

es zweifelhaft ſeyn, ob eine gegebene Erklärung die eine

oder andere dieſer Bedeutungen haben ſoll, da es denn

auf deren Auslegung ankommt (g).

 

(c) So muß alſo z. B. bey den

Verträgen der Fall beachtet wer-

den, wenn die Ausführung un-

möglich iſt wegen des Untergangs

der Sache oder wegen ihrer Un-

fähigkeit zum Eigenthum. Eben

dahin aber gehört auch der Fall,

da der Inhalt des Vertrags, we-

gen ſeiner Widerrechtlichkeit oder

Unſittlichkeit, nicht zur Ausfüh-

rung kommen darf, in welchem

Fall auch nicht einmal der Schein

einer mangelhaften Willenserklä-

rung vorhanden iſt. Dieſe Fälle,

bezogen auf den Inhalt der Ver-

träge, ſtehen unter einander in

derſelben Verbindung, in welcher

ſie oben in Beziehung auf die

Bedingungen (die eine allgemei-

nere Natur haben) betrachtet wor-

den ſind (§ 121 — 124).

(d) Vgl. § 115, und Beylage

VIII. Num. X. XI. XVII.

(e) Ulpian. XXIV. § 19. § 31

J. de leg. (2. 20.), L. 17 § 2

L. 72 § 6 de cond. (35. 1.), L. 1

§ 8 de dote prael. (33. 4.).

(f) Beylage VIII. Num. XVII.

(g) § 31 J. de leg. (2. 20.),

|0317 : 305|

§. 139. Erklärung ohne Willen. Unabſichtliche. Gränze.

Ferner iſt in der Regel unweſentlich der bloße Irr-

thum über Eigenſchaften des Gegenſtands eines Rechts-

verhältniſſes, mag auch die irrige Annahme derſelben zu-

gleich der Beweggrund für den Willen geweſen ſeyn. Die-

ſes ergiebt ſich am unzweifelhafteſten aus dem Gegenſatz

der wenigen, beſchränkten Fälle, in welchen der die Ei-

genſchaften betreffende Irrthum in der That ein weſentli-

cher iſt, und daher den Willen ausſchließt (§. 137. 138).

 

Unweſentlich iſt eben ſo der Irrthum in der namentli-

chen Bezeichnung perſönlicher oder ſachlicher Individuen

(nomen), vorausgeſetzt daß die Perſon oder Sache richtig

gedacht, und nur der Name verwechſelt iſt (h). — Eben

ſo iſt gleichgültig die unrichtige Benennung eines Rechts-

geſchäfts (z. B. Kauf oder Schenkung), wenn die Parteyen

aus Rechtsunkunde für das von ihnen wirklich gemeynte

Geſchäft einen falſchen Namen gewählt haben (§ 134. l).

— Endlich auch iſt gleichgültig das in einem Teſtament

von dem Teſtator ſelbſt, oder von dem Schreiber dem er

dictirte, falſch geſchriebene Zahlzeichen, wenn nur die Zahl

ſelbſt, an die der Teſtator dachte, außer Zweifel ſteht (i).

 

L. 17 § 3 de cond. (35. 1.), L. 2

§ 7 L. 3 de don. (39. 5.).

(h) So bey Erbeinſetzungen

und Legaten in Anſehung der Per-

ſonen. § 29 J. de leg. (2. 20.),

L. 16 § 1 de leg. 1 (30. un.),

L. 4 C. de test. (6. 23.); in An-

ſehung der legirten Sachen. L. 4

pr. de leg. 1 (30. un.), L. 28

de reb. dub. (34. 5.), L. 7 § 1

C. de leg. (6. 37.). — Eben ſo

bey Contracten. L. 32 de V. O.

(45. 1.), L. 9 § 1 de contr. emt.

(18. 1.). — Bey der Wahl eines

Richters. L. 80 de jud. (5. 1.).

— Bey der Tradition. L. 34 pr.

de adqu. poss. (41. 2.).

(i) L. 9 § 2. 3. 4 de her. inst.

(28. 5.).

III. 20

|0318 : 306|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

— Dagegen iſt nicht gleichgültig die irrige appellative

Bezeichnung einer Gattung von Sachen; das Gemeynte,

aber nicht Ausgedrückte, ſoll hier nicht gelten (k).

Ferner iſt auch unweſentlich der Irrthum in der be-

ſchreibenden Bezeichnung von Individuen (demonstratio),

das heißt in der Angabe nicht vorhandener Eigenſchaften

oder Verhältniſſe derſelben, wenn nur wiederum der rich-

tige Gedanke dem Erklärenden beygewohnt hat (l). — An-

ders iſt es, wenn die falſche Beſchreibung zuſammenfällt

mit einem falchen Beweggrund, und dieſer zugleich ein

ſolcher iſt, welcher ausnahmsweiſe den Willen entkräf-

tet (m). — Von dem Fall der bloßen Beſchreibung iſt zu

unterſcheiden die Angabe der Eigenſchaft einer Gattung,

wodurch dieſe auf eine beſondere Art beſchränkt wird.

 

(k) L. 4 pr. de leg. 1 (30.

un.). „.. rerum enim vocabula

immutabilia sunt, hominum

mutabilia.” L. 7 § 2 de sup-

pell. (33. 10.). „.. ex communi

usu nomina exaudiri debere …

non videri quemquam dixisse,

cujus non suo nomine usus

sit” … Das wird dabey frey-

lich anerkannt, daß auch die Gat-

tung nicht gelte, die der Teſta-

tor wörtlich bezeichnet, aber nicht

gemeynt habe. — Indeſſen, auch

mit dieſer natürlichen Beſchrän-

kung, iſt doch der Satz aus der

etwas ängſtlichen Behandlung der

Legate zu erklären, und dürfte

ſich im heutigen Recht ſchwerlich

rechtfertigen laſſen. Wenigſtens

bey Verträgen ſcheint es unbe-

denklich, diejenige Gattung gel-

ten zu laſſen, an welche die Con-

trahenten übereinſtimmend ge-

dacht haben, ſelbſt wenn ſie die-

ſelbe mit einem unrichtigen Aus-

druck bezeichnet haben mögen.

(l) So bey der Perſon des Er-

ben oder Legatars. L. 17 § 1

L. 33 pr. L. 34 pr. L. 40 § 4

de cond. (35. 1.), L. 48 § 3 de

her. inst. (28. 5.), L. 5 C. eod.

(6. 24.); bey der legirten Sache.

Ulpian. XXIV. § 19, § 30 J. de

leg. (2. 20.), L. 17 pr. § 1 L. 72

§ 8 de cond. (35. 1.), L. 35 § 1.

2 L. 102 § 1 de leg. 3 (32. un.),

L. 28 de reb. dub. (34. 5.).

(m) Beylage VIII. Num. XVII.

|0319 : 307|

§. 140. Vertrag.

Dieſe Beſtimmung iſt eben ſo von Einfluß, wie die der

Gattung ſelbſt; iſt ſie nun irrig, indem eine ſolche Ei-

genſchaft bey der ganzen Gattung nicht vorkommt, ſo daß

die Haupt- und Nebenbeſtimmung mit einander im Wider-

ſpruch ſtehen, ſo wird dadurch das ganze Rechtsgeſchäft

entkräftet (n).

§. 140.

IV. Vertrag.

Unſere Betrachtung der juriſtiſchen Thatſachen iſt bis

jetzt ſtets vom Allgemeinen zum Beſonderen fortgeſchritten:

von der Thatſache überhaupt zur freyen Handlung, von

dieſer zur Willenserklärung (§ 104 fg.). Wir gehen auf

dieſem Wege einen Schritt weiter, indem wir das Weſen

des Vertrags zu beſtimmen ſuchen, welcher unter allen

Arten der Willenserklärung die wichtigſte und umfaſſendſte

iſt. Der Begriff deſſelben iſt Allen, auch außer dem Ge-

biet unſrer Wiſſenſchaft, geläufig, den Juriſten aber durch

vielfache Anwendungen ſo bekannt und unentbehrlich, daß

man überall eine gleichförmige und richtige Auffaſſung deſ-

ſelben erwarten möchte; dennoch fehlt hieran ſehr viel.

 

(n) L. 7 § 1 de trit. (33. 6.).

„Lucio Titio tritici modios cen-

tum, qui singuli pondo centum

pendeant, heres dato. Ofilius,

nihil legatum esse, quod et La-

beo probat: quoniam ejusmodi

triticum in rerum natura non

esset: quod verum puto.” Der

Modius Weizen mochte im Durch-

ſchnitt kaum Fünf und zwanzig

Römiſche Pfunde wiegen (Pli-

nius H. N. XVIII. 7.), Weizen zu

Hundert Pfund ſchwer war alſo

unmöglich zu finden.

20*

|0320 : 308|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

Ich will es verſuchen, durch die Analyſe eines Falles,

an deſſen Vertragsnatur Niemand zweifelt, den Begriff

ſelbſt zur Anſchauung zu bringen. Betrachten wir zu die-

ſem Zweck den Kaufcontract, ſo iſt das Erſte, was wir

dabey wahrnehmen, eine Mehrheit einander gegenüber ſte-

hender Perſonen. In dieſem beſonderen Fall, ſo wie in

den meiſten, ſind es gerade zwey Perſonen; in manchen

Fällen aber, wie bey der Societät, iſt die Anzahl ganz

zufällig, und ſo müſſen wir bey dem allgemeinen, unbe-

ſtimmten Merkmal der Mehrheit ſtehen bleiben. — Dieſe

Mehreren müſſen irgend Etwas, und zwar Beide daſſelbe,

beſtimmt gewollt haben, denn ſo lange noch entweder Un-

entſchiedenheit, oder Mangel an Übereinſtimmung vorhan-

den iſt, wird Niemand einen Vertrag annehmen können.

— Sie müſſen ſich dieſer Übereinſtimmung bewußt gewor-

den ſeyn, das heißt der Wille muß gegenſeitig erklärt wor-

den ſeyn, da der blos gefaßte, aber heimlich gehaltene

Entſchluß nicht als Beſtandtheil eines Vertrags gelten

kann. — Ferner iſt der Gegenſtand des Willens zu beach-

ten. Kommen zwey Menſchen mit einander überein, ſich

gegenſeitig in Tugend, Wiſſenſchaft, Kunſt, durch Rath

und Beyſpiel zu fördern, ſo würde das nur ſehr uneigent-

lich ein Vertrag genannt werden. Der Unterſchied von

dem beyſpielsweiſe angeführten Kaufcontract, der wirklich

ein Vertrag iſt, liegt aber darin, daß in dieſem der Wille

auf ein Rechtsverhältniß als Zweck gerichtet iſt, in jenen

Fällen auf andere Zwecke. — Aber auch die bloße Rich-

 

|0321 : 309|

§. 140. Vertrag.

tung auf ein Rechtsverhältniß iſt noch nicht hinreichend.

Wenn die Mitglieder eines Gerichtshofs, nach langen De-

batten, über ein Urtheil ſich einigen, ſo finden ſich alle

bisher angegebene Merkmale, auch ein Rechtsverhältniß iſt

Zweck des Beſchluſſes, und dennoch iſt kein Vertrag an-

zunehmen. Der Grund liegt darin, daß das Rechtsver-

hältniß ihnen fremd, nicht wie bey dem Kaufcontract ihr

eigenes iſt.

Die angegebenen Merkmale laſſen ſich in folgenden Be-

griff zuſammenfaſſen. Vertrag iſt die Vereinigung Meh-

rerer zu einer übereinſtimmenden Willenserklärung, wodurch

ihre Rechtsverhältniſſe beſtimmt werden. — Dieſer Begriff

enthält eine einzelne Anwendung des allgemeineren, oben

dargeſtellten Begriffs der Willenserklärung. Er unterſchei-

det ſich als einzelne Art von dieſer ſeiner Gattung durch

das Merkmal der Vereinigung mehrerer Willen zu einem

einzigen, ganzen ungetheilten Willen, anſtatt daß die Wil-

lenserklärung überhaupt auch von einer einzelnen Perſon

ausgehen kann.

 

Unter den zu dieſem Begriff zuſammengefaßten Merk-

malen iſt nur eines einer näheren Erwägung bedürftig,

da gerade hierin der Sitz mancher Misverſtändniſſe iſt:

das Merkmal des Rechtsverhältniſſes. Es fragt ſich näm-

lich, ob Rechtsverhältniſſe aller Art, oder etwa nur eine

einzelne Art derſelben, Gegenſtand des Vertrages ſeyn

können. Von dieſer Seite nun müſſen wir für den ange-

gebenen Begriff die ausgedehnteſte Anwendbarkeit in An-

 

|0322 : 310|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

ſpruch nehmen. Es ſind alſo Verträge möglich im Völ-

kerrecht, im Staatsrecht, im Privatrecht: in dieſem ferner

bey allen Arten der ihm angehörenden Rechtsinſtitute.

Völkerrechtliche Verträge finden ſich in allen Bündniſ-

ſen, Friedensſchlüſſen, wie in der Unterwerfung eines ſou-

veränen Staats unter die Hoheit eines andern, oder umge-

kehrt in der Verwandlung von Beſtandtheilen eines Staats

in einen eigenen, ſelbſtſtändigen Staat (a). Die Römiſchen

Juriſten nennen den völkerrechtlichen Vertrag publica con-

ventio (b); ſie warnen vor der misbräuchlichen Anwendung

der Regeln und Formen des Privatrechts auf denſelben (c).

 

Staatsrechtliche Verträge ſind namentlich in Deutſch-

land häufig vorgekommen: ſo zwiſchen dem Fürſten und

den Ständen, zwiſchen verſchiedenen Mitgliedern eines re-

gierenden Hauſes. Recht entſchieden tritt dieſe Form ins-

 

(a) Von Unterwerfungsverträ-

gen in mancherley Abſtufungen

liefert die Römiſche Geſchichte

viele Beyſpiele. Die Verträge,

wodurch ſouveräne Staaten ent-

ſtehen, ſind meiſt die Folge von

Revolution und Krieg: ſo die

Losreißung Hollands von Spa-

nien, der vereinigten Staaten in

Nordamerika von England, Bel-

giens von Holland, der Spani-

ſchen und Portugieſiſchen Colonien

vom Mutterland. Sie kommen

aber auch als friedliche und frey-

willige vor: ſo wenn in Nord-

amerika eine Anzahl von Einwoh-

nern zu einem neuen Staat ver-

einigt werden.

(b) L. 5 de pactis (2. 14.).

(c) Gajus III. § 94. Nachdem

er zuerſt geſagt hatte, nur Rö-

miſche Bürger könnten in der

Formel: Spondes? Spondeo gül-

tig contrahiren, fährt er fort:

„Unde dicitur, uno casu hoc

verbo peregrinum quoque obli-

gari posse, velut si Imperator

noster Principem alicujus pe-

regrini populi de pace ita in-

terroget: Pacem futuram spon-

des? vel ipse eodem modo in-

terrogetur. Quod nimium sub-

tiliter dictum est: quia si quid

adversus pactionem fiat, non

ex stipulatu agitur, sed jure

belli res vindicatur.”

|0323 : 311|

§. 140. Vertrag.

beſondere in der Wahlkapitulation des Kaiſers hervor (d).

— Dagegen iſt in dieſem Gebiet dem Vertrag manche

irrige Anwendung beygelegt worden. So bey der urſprüng-

lichen Entſtehung der Staaten, die häufig auf einen Ver-

einigungs- und Unterwerfungs-Vertrag zurückgeführt wird,

da doch jede Ableitung derſelben aus individueller Will-

kühr verneint werden muß (§ 9). Eben ſo aber auch bey

dem Eintritt des Einzelnen in den Staat. Wie nämlich

der Menſch durch ſeine Geburt Glied einer Familie wird,

und zwar in der Regel einer durch Ehe rechtlich geordne-

ten Familie: eben ſo wird er durch Geburt Glied eines

Volks und zugleich eines Staates, welcher nur die Er-

ſcheinung des Volks in beſtimmter Rechtsform iſt. Durch

jenes, wie durch dieſes Band wird der Einzelne an das

Ganze der Menſchheit angeknüpft, lange ehe er ein Be-

wußtſeyn davon haben kann; daher iſt es für beiderley

Verbindungen gleich unzuläſſig, ſie auf Vertrag, alſo auf

individuelle Willkühr, zurück zu führen. Allein das ur-

ſprünglich vorhandene Familienband kann durch freye Hand-

lungen modificirt oder nachgeahmt werden, namentlich durch

Emancipation und Adoption. Eben ſo iſt es denkbar, daß

der Einzelne durch freyen Entſchluß den angebornen Staat

verlaſſe, und in einen neuen eintrete; auch dieſe Verände-

(d) Am Schluß des Eingangs

heißt es: „daß Wir Uns dem-

nach aus freyem gnädigen Wil-

len mit denſelben .. Kurfürſten,

für ſich und ſämmtliche Fürſten

und Stände des heiligen römiſchen

Reichs geding- und pakts-

weiſe dieſer nachfolgenden

Artikel vereiniget, vergli-

chen, angenommen und zu-

geſagt haben.”

|0324 : 312|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

rung kann, je nach den Einrichtungen eines Staates, die

Form eines wahren Vertrags annehmen.

Die privatrechtlichen Verträge aber ſind unter allen

die mannigfaltigſten und häufigſten, und ſie allein haben

die gegenwärtige Betrachtung veranlaßt. Hier nun kommt

der Vertrag bey allen Arten der Rechtsinſtitute vor, und

überall als eine der wichtigſten Rechtsformen. So zuerſt

bey den Obligationen, und zwar vor Allem zur Begrün-

dung derſelben, welche Verträge man vorzugsweiſe die

obligatoriſchen nennt: eben ſo aber auch zur Auflöſung

der Obligationen. — Ferner im Sachenrecht, und zwar

gleichfalls in der ausgedehnteſten Anwendung. So iſt die

Tradition ein wahrer Vertrag, da alle Merkmale des

Vertragsbegriffs darin wahrgenommen werden: denn ſie

enthält von beiden Seiten die auf gegenwärtige Übertra-

gung des Beſitzes und des Eigenthums gerichtete Willens-

erklärung, und es werden die Rechtsverhältniſſe der Han-

delnden dadurch neu beſtimmt; daß dieſe Willenserklärung

für ſich allein nicht hinreicht zur vollſtändigen Tradition,

ſondern die wirkliche Erwerbung des Beſitzes, als äußere

Handlung, hinzutreten muß, hebt das Weſen des zum

Grund liegenden Vertrags nicht auf. Eben ſo entſtehen

die Servituten regelmäßig durch Vertrag, man mag nun

mit den Meiſten eine Tradition fordern, wie bey dem Ei-

genthum, oder den bloßen Vertrag an ſich für genügend

halten. Eben ſo entſteht durch Vertrag die Emphyteuſe,

die Superficies, das Pfandrecht; bey dieſem letzten iſt

 

|0325 : 313|

§. 140. Vertrag.

nicht einmal die irrige Behauptung verſucht worden, daß

noch eine Tradition hinzutreten müſſe. — In dieſen häu-

figen und wichtigen Fällen wird die Vertragsnatur der

Handlung meiſt überſehen, weil man ſie nicht gehoͤrig von

dem obligatoriſchen Vertrag unterſcheidet, welcher jene

Handlung gewöhnlich vorbereitet und begleitet. Wird zum

Beyſpiel ein Haus verkauft, ſo denkt man gewöhnlich an

den obligatoriſchen Kauf, und ganz richtig; aber man ver-

gißt darüber, daß die nachfolgende Tradition auch ein

Vertrag iſt, und ein von jenem Kauf ganz verſchiedener,

nur durch ihn nothwendig gewordener. Die Verwechslung

wird recht anſchaulich durch die ſeltneren Fälle der Tra-

dition ohne vorhergehende Obligation, wie bey dem Ge-

ſchenk an einen Bettler, das einen wahren Vertrag enthält

ohne alle Obligation, bloßes Geben und Nehmen in über-

einſtimmender Abſicht; ferner durch die Verpfändung ohne

Beſitz (hypotheca), wobey durch Vertrag blos das ding-

liche Pfandrecht entſteht, gar keine Obligation. Man

könnte, zur ſchärferen Unterſcheidung alle dieſe Fälle als

dingliche Verträge bezeichnen. — Endlich gehören un-

ter die privatrechtlichen Verträge auch diejenigen, wodurch

in der Familie Rechtsverhältniſſe beſtimmt werden, na-

mentlich die Ehe, die Adoption, die Emancipation. Die

Einwürfe gegen die Vertragsnatur der Ehe werden im

folgenden §. geprüft werden; die Vertragsnatur der Adop-

tion und Emancipation iſt bey den durch ihr Alter hand-

lungsfähigen Kindern nicht zu bezweifeln. Für dieſe Art

|0326 : 314|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

der Verträge würde die Benennung der Familienverträge

an ſich paſſend ſeyn; ſie iſt jedoch nicht räthlich, weil ſie

nach dem herrſchenden Sprachgebrauch ſchon für andere

(das Vermoͤgen betreffende) Verträge angewendet zu wer-

den pflegt.

§. 141.

IV. Vertrag. (Fortſetzung.)

Von der hier gegebenen Darſtellung des Begriffs vom

Vertrag weichen unſre Schriftſteller, ältere und neuere,

darin ab, daß ſie eine einzige unter den angegebenen An-

wendungen für den Gattungsbegriff ſelbſt nehmen, indem

ſie den Vertrag im Allgemeinen ſo erklären, und mit dem

Ganzen ihrer Syſteme in ſolche Verbindung ſetzen, als

wäre der obligatoriſche Vertrag der einzige überhaupt (a).

Sie geben dadurch dem Begriff eine zu enge Begränzung,

und ſchließen viele wichtige Fälle von deſſen Anwendung

aus, anſtatt daß im Staatsrecht nicht ſelten eine zu aus-

gedehnte Anwendung jenes Begriffs gemacht wird (§ 140).

Der Grund dieſer unvollſtändigen Auffaſſung liegt darin,

daß der obligatoriſche Vertrag nicht nur der häufigſte un-

ter allen iſt, ſondern auch derjenige, in welchem die Ver-

 

(a) Donellus Lib. 12 C. 6.

Hofacker T. 3 § 1752. Thi-

baut § 444. Heiſe B. 3 § 69.

Mühlenbruch § 331. Mackel-

dey § 353. — Von Puchta

Lehrbuch der Pandekten 1838

§ 237 wird die allgemeinere Be-

deutung der Verträge ganz aus-

drücklich anerkannt.

|0327 : 315|

§. 141. Vertrag. (Fortſetzung.)

tragsnatur augenſcheinlicher und wirkſamer als in anderen

Anwendungen hervortritt. Dieſes zeigt ſich deutlich in ei-

ner Stelle des Ulpian, welcher den Vertragsbegriff im

Allgemeinen feſtzuſtellen ſucht (b). Er wählt dafür zuerſt

den Ausdruck Pactio, und erklärt dieſen genau in dem

allgemeinen, umfaſſenden Sinn, welchen ich dem Vertrag

zugeſchrieben habe: Pactio est duorum pluriumve in idem

placitum consensus. Darauf wird der Ausdruck Conventio

gebraucht, augenſcheinlich nur als abwechslende Bezeich-

nung, nicht als ob Conventio etwas Anderes, oder Enge-

res, oder Weiteres ausdrücken ſollte. Dieſe Conventio

nun wird Anfangs eben ſo allgemein erklärt, dann aber

verliert ſich unvermerkt der Gattungsbegriff ganz in die

einzelne Art der obligatoriſchen Verträge.

Man könnte jedoch leicht dieſem Gegenſatz der Mey-

nungen eine groͤßere Wichtigkeit beylegen, als ihm in der

That zukommt. Wenn nämlich nun von mir allgemeine

Rechtsregeln über die Verträge aufgeſtellt würden, die ich

auf die Ehe, Tradition u. ſ. w. anwendete, während An-

dere dieſe Anwendung unterließen, ſo würde darin eine

wichtige praktiſche Verſchiedenheit enthalten ſeyn. So iſt

es aber nicht. Denn die für die Verträge geltenden Rechts-

regeln beziehen ſich auf die ihnen zum Grunde liegenden

allgemeineren Begriffe der freyen Handlungen oder der

Willenserklärungen (§ 104. 106. 114); ſo die Lehre von

den Altersſtufen, von Zwang und Irrthum, von den Be-

 

(b) L. 1 § 2. 3. 4 de pactis (2. 14.).

|0328 : 316|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

dingungen u. ſ. w. Dieſe ſind alſo auf alle Willenserklä-

rungen unzweifelhaft anwendbar, folglich unabhängig von

der hier angeregten Streitfrage. Man kann in dieſer Hin-

ſicht die Verträge beynahe als gleichbedeutend anſehen mit

den Rechtsgeſchäften unter Lebenden überhaupt, und in

dieſem Sinn iſt von ihnen auch ſchon bisher häufig geredet

worden (§ 116. a). Was aber außerdem noch bey den

Verträgen von Wichtigkeit iſt, namentlich die Eintheilungen

derſelben, und vorzüglich der Gegenſatz der contractus

und pacta, bezieht ſich in der That nur auf die obligato-

riſchen Verträge. Und ſo können wir uns an dieſer Stelle

damit begnügen, dem Begriff des Vertrags ſeine wahre

Ausdehnung vindicirt zu haben, ohne bey demſelben in

allgemeiner Betrachtung länger zu verweilen.

Wollte man indeſſen die eingeräumte mindere Wichtig-

keit des hier erhobenen Streites dazu benutzen, um den

Streit ſelbſt für leer und überflüſſig auszugeben, ſo müßte

ich dieſer Anſicht ſehr beſtimmt widerſprechen. Es haben

ſich nämlich an die gerügte unvollſtändige Auffaſſung des

Vertragsbegriffs manche Irrthümer angeknüpft, deren gänz-

liche Beſeitigung nicht unerheblich iſt. Wer den obligato-

riſchen Vertrag für den einzigen überhaupt hält, und alſo

die Vertragsnatur in der Tradition verkennt, kann dieſe

nur ſehr einſeitig auffaſſen. Zwar wird er bey ihr die

nothwendige Handlungsfähigkeit, den Einfluß von Zwang

und Betrug, die Möglichkeit von Bedingungen u. ſ. f., wo

dieſe gerade zur Sprache kommen, nicht völlig verneinen,

 

|0329 : 317|

§. 141. Vertrag. (Fortſetzung.)

weil dieſes widerſinnig wäre; aber er wird bey ihr dieſe

Momente nicht aus dem wahren Grund und nicht im

rechten Zuſammenhang anerkennen, und dadurch wird un-

vermeidlich die Einſicht in das Weſen eines Rechtsver-

hältniſſes verkümmert. Eben ſo wird er die Ehe entweder

gar nicht als Vertrag anſehen, und daraus wird ihm der-

ſelbe Nachtheil entſtehen, welcher ſo eben bey der Tradi-

tion bemerkt worden iſt; oder er wird genöthigt ſeyn, ſie

unter die obligatoriſchen Verträge aufzunehmen, wie man

ſie denn in der That als einen neuen, von den Römern

ſeltſamerweiſe nicht beachteten, Conſenſualcontract neben

den Kauf und die Societät zu ſtellen verſucht hat (c).

Dadurch aber wird das Weſen der Ehe im höchſten Grad

entſtellt, ja herabgewürdigt. Die hier, im Widerſtreit mit

der herrſchenden Anſicht, aufgeſtellte Behauptung geht alſo

keinesweges blos auf die Berichtigung eines Sprachge-

brauchs; denn daß die Römer die Ausdrücke Pactio, Pac-

tum und Conventio, von anderen als den obligatoriſchen

Verträgen wirklich gebraucht haben, wird von mir gar

nicht behauptet, und der Umfang, in welchem man unſren

Deutſchen Kunſtausdruck gebrauchen will, iſt an ſich nicht

von Erheblichkeit. Wichtig aber iſt es, daß das Gemein-

ſame, wodurch die Ehe, die Tradition u. ſ. w. mit den

obligatoriſchen Verträgen verwandt ſind, beſtimmt aner-

(c) Langsdorf de pactis

et contractibus Romanorum,

Mannhemii 1777. 4. § 73. Er

ſieht freylich die Ehe nicht als

einen beſonderen Conſenſualcon-

tract an, ſondern geradezu als

eine Art der Societät.

|0330 : 318|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

kannt und in einzelnen Anwendungen durchgeführt werde;

will man aber dieſes Gemeinſame anerkennen, ſo iſt zur

Bezeichnung deſſelben unſer deutſcher Kunſtausdruck ſo ge-

ſchickt und bequem, daß es unnatürlich wäre den Vortheil

zu verſäumen, den uns der Beſitz eines paſſenden Ausdrucks

für einen wichtigen Rechtsbegriff darbietet. Und das iſt

es, was ich durch die gegenwärtige Unterſuchung über den

Begriff des Vertrags zur allgemeinen Uberzeugung bringen

möchte.

Die hier an unſren juriſtiſchen Schriftſtellern gerügte

einſeitige Auffaſſung der Verträge iſt auch bey den Natur-

rechtslehrern nicht ohne Einfluß geblieben. Kant (d) be-

ſtimmt ſogar den Begriff noch weit enger, als es unſre

Juriſten zu thun pflegen. Ihm iſt Vertrag nur diejenige

vereinigte Willkühr zweyer Perſonen, wodurch Eigenthum

veräußert (S. 98), oder eigentlich dieſe Veräußerung vor-

bereitet wird, da ihre Vollendung doch erſt in der Tradi-

tion ſtattfindet (S. 103). Eigenthum aber nimmt er in

demſelben Sinn wie die Römer, nämlich für die Herrſchaft

über eine beſtimmte Sache (S. 95. 96). Unter ſeinen Be-

griff fallen alſo nicht einmal alle obligatoriſche Verträge,

z. B. nicht die welche auf Dienſt oder Arbeit gehen, ſon-

dern nur die worin eine Tradition verſprochen wird, wie

Kauf oder Tauſch. Dennoch behandelt er ſogar die Ehe

als Vertrag, und zwar indem er eine Art von Eigenthum

 

(d) Kant Metaphyſiſche An-

fangsgründe der Rechtslehre Kö-

nigsberg 1797. — Vgl. hierüber

oben § 54.

|0331 : 319|

§. 141. Vertrag. (Fortſetzung.)

jedes Ehegatten an der Perſon des anderen (ein auf ding-

liche Art perſoͤnliches Recht) annimmt, welches dann wie-

der nur durch das Zuſammentreffen des Vertrags mit der

Tradition (copula carnalis) wirklich erworben werden kann

(S. 110. 111). Die Ehe iſt ihm daher recht eigentlich ein

obligatoriſcher Vertrag, und er erklärt ſie ausdrücklich

(S. 107) als „die Verbindung zweyer Perſonen verſchie-

„denen Geſchlechts zum lebenswierigen wechſelſei-

„tigen Beſitz ihrer Geſchlechtseigenſchaften.“ —

Hegel (e) erklärt zwar woͤrtlich gleichfalls den Vertrag,

ſo wie Kant, als gleichbedeutend mit der Veräußerung

(§ 71 — 75); bey ihm aber iſt dieſe enge Begränzung doch

nur ſcheinbar, indem er auch die einzelne Thätigkeit der

Perſon als Sache, das heißt als Gegenſtand des Eigen-

thums und der Veräußerung, behandelt (§ 67. 80). In

der That alſo nennt er Vertrag alles Dasjenige, was

ich oben als den obligatoriſchen Vertrag bezeichnet habe.

Weiter aber geht er auch nicht, vielmehr erklärt er ſich

beſtimmt, und ſelbſt in harten Ausdrücken, gegen die Be-

handlung der Ehe und des Staats als Vertrag (§ 75).

Was den Staat betrifft, ſo iſt im vorigen §. gleichfalls

die Natur deſſelben als eines Vertrags verneint worden,

und zwar deswegen, weil der Staat überhaupt nicht von

individueller Willkühr ausgeht; dieſes alſo iſt von dem

hier erhobenen Streit über den Vertragsbegriff unabhän-

gig. Der harte Tadel gegen die Subſumtion der Ehe

(e) Hegel Grundlinien der Philoſophie des Rechts Berlin 1833.

|0332 : 320|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.

unter den Vertragsbegriff, die Hegel als Schändlichkeit

bezeichnet (S. 116), bezieht ſich lediglich auf die oben dar-

geſtellte Lehre von Kant, alſo auf die Auffaſſung der Ehe

als eines obligatoriſchen, und zwar wechſelſeitig auf den

Beyſchlaf gerichteten, Vertrags. Allein was nöthigt uns,

den in der Ehe liegenden Vertrag gerade ſo zu denken?

Wenn der Geiſtliche die Verlobten fragt, ob ſie einander

Liebe und Treue beweiſen wollen bis in den Tod, und ſie

dieſe Frage bejahen, ſo hat ihre Erklärung nicht den Sinn

eines Verſprechens beſtimmter Handlungen, noch der Un-

terwerfung unter den gerichtlichen Zwang, für den Fall

daß dieſe Handlungen nicht geleiſtet würden; wohl aber

hat ſie den Sinn, daß ſie ſich der von dem Chriſtenthum

geforderten Geſtalt der Ehe bewußt ſind, und daß ſie den

übereinſtimmenden Willen haben, in dieſer Weiſe ihr ge-

meinſames Leben zu führen. Weil von dieſer Willenser-

klärung die Anerkennung der Ehe als eines Rechtsverhält-

niſſes abhängt, nennen wir ſie mit gutem Grund einen

Vertrag. Man ſage nicht, dieſe Auffaſſung ſey gezwungen,

oder mit Willkühr hineingetragen. Sie iſt ſo ſehr die na-

türliche, daß Jeder, der ſich darüber unbefangen Rechen-

ſchaft geben will, gerade darauf kommen wird; ſie iſt ins-

beſondere die in allen chriſtlichen Kirchen anerkannte, denn

nur von dieſem Standpunkt aus erklärt es ſich, daß der

Geiſtliche eine Handlung leitet und vermittelt, die zugleich

einen kirchlichen und einen privatrechtlichen Character hat (f).

(f) Das, was ich hier, gegen Hegel ſtreitend, behaupte, iſt, wie

|0333 : 321|

§. 141. Vertrag. (Fortſetzung.)

Der Grund, der uns bey dem Staat beſtimmte, das Da-

ſeyn eines Vertrags zu verneinen, fällt bey der Ehe ganz

hinweg. Bey dem Staat kann die Willkühr als Entſte-

hungsgrund nicht für Wahrheit gelten, nur für eine Fic-

tion; bey der Ehe iſt es unzweifelhaft, daß es von der

freyeſten Willkühr jedes der beiden Gatten abhängt, dieſe

Ehe zu ſchließen oder zu unterlaſſen.

 

oben gezeigt worden, für das im

Einzelnen durchgeführte Rechts-

ſyſtem nicht gleichgültig; im Zu-

ſammenhang der Lehre von He-

gel iſt es ſehr unerheblich, ob

man dem Ausdruck Vertrag

eine engere oder weitere Bedeu-

tung unterlegt, wie er denn auch

in der angeführten Stelle nur

wenige Worte daran wendet, die

Vertragsnatur der Ehe abzuwei-

ſen. Worauf es ihm ankam, war

der entſchiedene Widerſpruch ge-

gen Kants Anſicht, worin ich ihm

völlig beyſtimme. Mit ſeiner ei-

genen, nicht genug zu lobenden,

Darſtellung der Ehe (§ 161—164)

iſt die hier vertheidigte Auffaſſung

derſelben als eines wahren Ver-

trags völlig vereinbar. Sehr be-

ſtimmt und befriedigend iſt die

Vertragsnatur der Ehe dargeſtellt

von Haſſe, Güterrecht der Ehe-

gatten § 31.

III. 21

|0334 : [322]|

|0335 : [323]|

Beylage.

VIII.

 

21*

|0336 : [324]|

|0337 : [325]|

Beylage VIII.

Irrthum und Unwiſſenheit.

(Zu § 115.)

Die wichtigſten Quellen dieſer Lehre finden ſich in den

Titeln de juris et facti ignorantia in den Digeſten (XXII. 6)

und im Codex (I. 18).

 

Folgende Schriftſteller ſind zu bemerken:

 

Cujacius observ. V. 39.

Cujacius recit. in Dig. XXII. 6, Opp. VII. 886—896.

Cujacius in Papin. quaest. XIX., ad L. 7 de j. et f.

ignor., Opp. IV. 502.

Cujacius in Papin. definit. I. ad L. 8 eod., Opp. IV. 1429.

Donellus I. 18—23.

Glück B. 22 S. 262—374.

C. F. van Maanen de ignorantiae et erroris natura

et effectibus Lugd. Bat. 1793.

Mühlenbruch doctr. Pand. I. §. 95. 96.

Mühlenbruch über juris und facti ignorantia, Archiv

B. 2 S. 361—451.

|0338 : 326|

Beylage VIII.

I.

Der Mangel richtiger Vorſtellung von einem Gegen-

ſtand läßt ſich auf zweyerley Weiſe denken: entweder als

bloße Bewußtloſigkeit in Beziehung auf denſelben, oder als

falſche Vorſtellung welche die Stelle der wahren einge-

nommen hat. Den erſten Zuſtand nennen wir Unwiſ-

ſenheit, den zweyten Irrthum. Die juriſtiſche Beur-

theilung iſt für beide Zuſtände völlig dieſelbe, und darum

iſt es gleichgültig, welchen von beiden Ausdrücken man

gebraucht. Bey unſren Juriſten iſt der zweyte gebräuch-

licher, weil der Irrthum häufiger als die bloße Unwiſſen-

heit bey Rechtsverhältniſſen in Betracht kommt (a).

 

Das Daſeyn eines ſolchen mangelhaften Zuſtandes

wird ſtets nach dem Bewußtſeyn derjenigen Perſon beur-

theilt, auf welche ſich das Rechtsverhältniß zunächſt und

unmittelbar bezieht, ohne Rückſicht auf die, welche neben

ihr ein Intereſſe, vielleicht ſelbſt ein größeres, an jenem

Verhältniß haben kann (b).

 

Man unterſcheidet den Rechtsirrthum und den fac-

 

(a) Über die weſentliche Iden-

tität des Irrthums und der Un-

wiſſenheit vgl. das Syſtem § 115,

und Donellus I. 19 § 5. — Ei-

gentlich beſteht alſo das allgemein-

ſte Weſen des hier vorhandenen

mangelhaften Seelenzuſtandes in

der Unwiſſenheit, oder dem Man-

gel richtiger Erkenntniß, und da-

von iſt der Irrthum nur eine be-

ſondere Modification, deren Eigen-

thümlichkeit aber juriſtiſch gleich-

gültig iſt.

(b) L. 5 h. t., L. 3 quis ordo

(38. 15.). Vgl. Cujacius opp.

VII. 888 und in Africanum Tract.

8 ad L. 51 de aedil. ed. Hei-

neccius ad L. Jul. p. 189. Glück

B. 22 S. 306. Vgl. auch unten

Num. XXI. Note w.

|0339 : 327|

Irrthum und Unwiſſenheit.

tiſchen Irrthum. Der Rechtsirrthum hat zum Gegen-

ſtand den Inhalt einer Rechtsregel, alſo das objective

Recht (c); der factiſche Irrthum bezieht ſich auf die juri-

ſtiſchen Thatſachen, das heißt auf die thatſächlichen Be-

dingungen der Anwendung einer Rechtsregel. — Von bei-

den läßt ſich noch derjenige Irrthum unterſcheiden, wel-

cher in der unrichtigen Subſumtion der Thatſachen unter

die Rechtsregel enthalten iſt; da jedoch unſre Rechtsquel-

len nur jene beiden Arten des Irrthums anerkennen, ſo

muß beſtimmt werden, welcher derſelben dieſer dritte Fall

hinzu zu rechnen iſt. Sehen wir nun auf deſſen innere

Natur, ſo müſſen wir ihn als factiſchen Irrthum aner-

kennen. Denn die Rechtsregel iſt als das Feſte, unabän-

derlich Gegebene anzuſehen; unſere Aufgabe iſt es, die

einzelnen Elemente der Thatſachen, theils durch Zerglie-

derung, theils durch Verbindung, dergeſtalt zu einem Gan-

zen zu bilden, daß die feſte Rechtsregel auf daſſelbe an-

wendbar erſcheine. Wir mögen nun in der unmittelbaren

Auffaſſung des Geſchehenen ſelbſt irren, oder in dieſer

Ausbildung deſſelben durch unſer Denken, ſo iſt es doch

immer die Erkenntniß der Thatſachen, worüber wir irren,

mithin der Irrthum ſelbſt ein factiſcher. So iſt es alſo

(c) Beyſpiele des Rechtsirr-

thums ſind zuſammengeſtellt in

L. 1 pr. § 1—4 h. t. — Verſchie-

den von dem jus ignorare iſt

das jus suum (oder de jure suo)

ignorare, das heißt der Irrthum

über den eigenen perſönlichen

Rechtszuſtand; denn dieſer wird

gerade gewöhnlich auf factiſchen

Irrthümern beruhen, obgleich er

allerdings auch mit Rechtsirrthum

zuſammenhängen kann. Vergl.

über dieſen Ausdruck L. 3 pr. h.

t. und L. 2 § 7 de j. fisci (49. 14.).

|0340 : 328|

Beylage III.

aus dem inneren Weſen der Subſumtion der Thatſachen

unter die Rechtsregel erwieſen, daß der auf ſie bezügliche

Irrthum als ein factiſcher, nicht als ein Rechtsirrthum,

betrachtet werden muß. Weiter unten wird dieſe Behaup-

tung von der praktiſchen Seite her ihre Beſtätigung fin-

den (Num. V.).

II.

Der juriſtiſche Einfluß des Irrthums ſteht in Verbin-

dung mit den juriſtiſchen Thatſachen, oder den Gründen

der Entſtehung und des Untergangs der Rechtsverhält-

niſſe. Wenn nämlich dieſe Thatſachen in freyen Hand-

lungen oder Unterlaſſungen beſtehen (a), und wenn auf

jene oder dieſe irgend ein Irrthum Einfluß gehabt hat, ſo

fragt es ſich, ob etwa dieſer Irrthum die regelmäßige

Wirkung jener Thatſachen ſtöre, ſo daß nun die Entſte-

hung oder der Untergang des Rechtsverhältniſſes entweder

ganz unterbliebe, oder doch auf andere als die gewöhn-

liche Weiſe einträte. Ja es ließe ſich denken, daß der

Irrthum die Wirkung der Thatſachen nicht blos aus-

ſchlöſſe oder verminderte, ſondern in anderen Fällen ſogar

verſtärkte, indem Dasjenige, was außerdem ein Hinder-

niß des Rechtsverhältniſſes ſeyn würde, um des Irrthums

willen dieſe hindernde Kraft nicht äußern könnte. Alle

dieſe Verſchiedenheiten laſſen ſich unter den gemeinſamen

Geſichtspunkt bringen, daß durch den Irrthum die regel-

 

(a) Vergl. das Syſtem § 104. Num. I. III.

|0341 : 329|

Irrthum und Unwiſſenheit.

mäßige Wirkſamkeit juriſtiſcher Thatſachen ausnahmsweiſe

modificirt werden kann.

Eine ſolche Einwirkung des Irrthums kommt in der

That vor, und zwar auf zweyerley Weiſe. Nicht ſelten

wird dadurch die Rechtsregel ſelbſt beſtimmt, ſo daß das

Daſeyn eines richtigen Bewußtſeyns unter die Bedingun-

gen der Rechtsänderung unmittelbar aufgenommen wird,

und alſo der Fall des Irrthums von der Anwendung der

Regel ausdrücklich ausgeſchloſſen iſt (b). In anderen Fäl-

len dagegen kommt das richtige Bewußtſeyn als Bedin-

gung der Rechtsänderung nicht vor, es iſt alſo nicht ſchon

unmittelbar Beſtandtheil der Rechtsregel ſelbſt; allein es

iſt anderwärts anerkannt, daß der Irrthum die gewöhn-

liche Anwendung der Regel modificiren, daß er eine Aus-

 

(b) So z. B. ſagte das Edict:

„Quae dolo malo facta esse di-

centur .. judicium dabo.” L. 1

§ 1 de dolo (4. 3.). Der Begriff

des dolus begreift Bewußtſeyn

und Abſicht in ſich, ſchließt alſo

den Fall des Irrthums von ſelbſt

aus. — Die Formel der Erbein-

ſetzung cum cretione war dieſe:

„cernitoque in centum diebus

„proxumis, quibus scies pote-

„risque.” (Gajus II. § 165).

Sehr wahrſcheinlich ſprach eben

ſo das Edict, indem es für die

agnitio der B. P. eine Zeit von

100 Tagen oder einem Jahr vor-

ſchrieb. (L. 1 § 1 h. t., L. 10

de B. P. 37. 1.). Der Richter

alſo, der den Verluſt der B. P.

ohne Rückſicht auf Unwiſſenheit

ausſprechen wollte, würde ſchon

den bloßen Buchſtaben der Rechts-

regel eben ſo willkührlich ver-

letzen, wie wenn er 80 Tage an-

ſtatt 100 als hinreichend für die-

ſen Verluſt annähme. — Eben

ſo iſt die Infamie Demjenigen

gedroht, der eine Wittwe vor Ab-

lauf des Trauerjahrs wiſſentlich

heurathet („sciens .. uxorem

duxerit” L. 1 de his qui not.

3. 2.). Dadurch iſt alſo der Fall

einer aus Irrthum über jene That-

ſache geſchloſſenen Ehe ſchon wört-

lich ausgeſchloſſen. — Am häufig-

ſten iſt in eigentlichen Strafge-

ſetzen die Formel sciens dolo

malo. Vergl. Rudorff Zeit-

ſchrift für geſchichtl. Rechtswiſ-

ſenſchaft B. 9 S. 396.

|0342 : 330|

Beylage VIII.

nahme herbeyführen, oder als Grund einer Entſchuldi-

gung dienen ſoll. — Für die Theorie und für die Anwen-

dung bedürfen eigentlich nur die Fälle der zweyten Art

einer beſonderen Unterſuchung und Feſtſtellung, indem die

der erſten Art ſchon durch ſich ſelbſt hinreichende Begrün-

dung haben. Der vollſtändigeren Überſicht wegen iſt es

jedoch räthlich, beide Arten von Fällen zuſammen zu faſſen.

Um dieſe Einwirkungen des Irrthums auf die Rechts-

verhältniſſe hervorzubringen, werden, je nach Verſchieden-

heit der Fälle, folgende verſchiedene Rechtsformen ange-

wendet.

 

1) Oft wirkt der Irrthum geradezu, das heißt ſo daß

nun die ohne denſelben eintretende Rechtsveränderung

ſchlechthin unterbleibt. Dieſes geſchieht in allen Fällen

der oben angegebenen erſten Art, in welchen das richtige

Bewußtſeyn ein ausgeſprochener Beſtandtheil der Rechts-

regel ſelbſt war, welches in den beyſpielsweiſe angegebe-

nen Fällen (Note b) von ſelbſt einleuchtet. — Es geſchieht

aber zuweilen auch in Fällen der zweyten Axt, obgleich

es hier die ſeltnere Rechtsform iſt (c).

 

2) In anderen Fällen wirkt der Irrthum nicht ſchon

 

(c) Wer einem filiusfamilias,

den er aus guten Gründen für

unabhängig hält, ein Gelddarle-

hen giebt, iſt ganz frey von der

exceptio Sc. Maced., obgleich

das wiſſentliche Geben im Se-

natusconſult ſelbſt nicht erwähnt

wird. L. 3 pr. ad Sc. Maced.

(14. 6.), verglichen mit L. 1 pr.

eod. — Eben ſo gilt als nicht ge-

ſchehen der Antritt oder die Aus-

ſchlagung der Erbſchaft, wenn der

Erbe über Daſeyn oder Art der

Delation im Irrthum iſt. L. 15.

16. 19. 22. 23. 32. 33. 34 de adqu.

vel om. her. (29. 2.).

|0343 : 331|

Irrthum und Unwiſſenheit.

an ſich ſelbſt oder unmittelbar, wohl aber vermittelſt ei-

nes beſondern, und zwar ordentlichen, Rechtsmittels. Da-

hin gehören mehrere Condictionen, und eben ſo die Kla-

gen aus dem Edict der Ädilen. Auch wird die doli ex-

ceptio zu dieſem Zweck angewendet (d).

3) Endlich giebt es auch noch andere Fälle, in wel-

chen der Irrthum weder unmittelbar, noch in Kraft eines

ordentlichen Rechtsmittels auf das Rechtsverhältniß ein-

wirkt, ſondern nur vermittelſt einer außerordentlicherweiſe

durchgreifenden richterlichen Verfügung, das heißt einer

Reſtitution. Das Daſeyn einer ſolchen, auf Irrthum ge-

gründeten, Reſtitution hat im Allgemeinen keinen Zwei-

fel (e), aber die Gränzen der Anwendung ſind ſehr be-

ſtritten. Manche haben dieſer Reſtitution, und dadurch

der Wirkſamkeit des Irrthums überhaupt, eine ungebühr-

liche Ausdehnung gegeben; Andere haben ſie allzuſehr ein-

geſchränkt. Das Genauere darüber kann erſt im Einzel-

nen feſtgeſtellt werden; an dieſer Stelle mag eine vorläu-

fige Überſicht genügen. Die häufigſte Anwendung hat dieſe

Reſtitution bey unvorſichtigen Handlungen und Unterlaſ-

ſungen im Prozeß; außerdem kommt ſie vor zum Schutz

Desjenigen, der ſich mit einem falsus tutor eingelaſſen

hat (f): in manchen Fällen der Klagverjährung: gegen

 

(d) So z. B. wenn ein Legat

aus einem irrigen Beweggrund

gegeben wird. L. 72 § 6 de cond.

(35. 1.).

(e) Paulus L 7 § 2. „Integri

restitutionem Praetor tribuit ex

his causis, quae per … justum

errorem .. gesta esse dicun-

tur.” L. 2 de in int. rest. (4. 1.).

„Sive per status mutationem,

aut justum errorem.”

(f) L. 1 § 6 quod falso (26.

|0344 : 332|

Beylage VIII.

eine von den Erbſchaftsglaubigern unvorſichtigerweiſe be-

wirkte Separation: bey den Erben, die aus Nachläſſig-

keit die Mörder des Erblaſſers zu verfolgen unterlaſſen:

endlich in mehreren Fällen zum Vortheil einiger beſon-

ders begünſtigten Klaſſen von Perſonen (Num. XXX —

XXXIII.) (g).

III.

Ehe die einzelnen Fälle zuſammengeſtellt werden, worin

der Irrthum wirkt oder nicht wirkt, muß der Verſuch ge-

macht werden, irgend ein allgemeineres Princip für dieſe

Wirkſamkeit aufzufinden. Hier tritt uns nun ſogleich in

vielen Stellen die Regel entgegen, nach welcher zwiſchen

dem factiſchen und Rechtsirrthum ein Unterſchied gelten

ſoll. Bald werden beide Fälle geradezu, als praktiſch

verſchieden, neben einander geſtellt (a); bald wird von dem

 

7.). So viel wir wiſſen, war die-

ſes der einzige, im Edict nament-

lich erwähnte, Fall einer Reſtitu-

tion wegen Irrthums. Andere

Fälle wurden aus der clausula

generalis abgeleitet.

(g) Im Ganzen iſt dieſe Be-

gränzung der Reſtitution wegen

Irrthums übereinſtimmend mit

Burchardi Wiedereinſetzung in

den vorigen Stand § 21 und § 12

S. 181. Nur hält dieſer noch

daneben für zuläſſig alle Fälle,

welche ſich auf die bekannten Re-

geln von damnum und lucrum

zurückführen laſſen (S. 385). Da-

von wird weiter unten (Num. VIII.)

die Rede ſeyn. Ich nehme keine

Reſtitution wegen Irrthums an,

außer den in unſren Rechtsquel-

len namentlich erwähnten Fällen.

(a) L. 2 h. t. „In omni parte

error in jure non eodem loco,

quo facti ignorantia, haberi de-

bet” … L. 9 pr. h. t. „Re-

gula est, juris quidem ignoran-

tiam cuique nocere, facti vero

ignorantiam non nocere” …

L. 9 § 5 h. t. „.. sciant, igno-

rantiam facti, non juris, prod-

esse” … L. 8 h. t., L. 29 § 1

mandati (17. 1.), L. 11 § 4 de

his qui not. (3. 2.), C. 13 de reg.

juris in VI.

|0345 : 333|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Rechtsirrthum beſonders angegeben, daß er dem Irrenden

nicht nütze (b).

Fragen wir jedoch nach dem Grund dieſer verſchiede-

nen Behandlung, ſo werden wir dadurch ſogleich auf ein

höheres Princip zurückgeführt, welches uns zugleich nö-

thigt, jene beiden Regeln ſehr zu beſchränken.

 

Der Grund nämlich der günſtigen Behandlung des fac-

tiſchen Irrthums wird darin geſetzt, daß es oft ſchwer,

ja unmöglich ſey ihn zu vermeiden (c). Hieran knüpft ſich

aber ſogleich die natürliche Beſchränkung, daß er Dem-

jenigen nicht zu gut kommen ſoll, welcher ſich dabey in

einer groben Nachläſſigkeit befindet (d). — Die Anwen-

dung dieſer beſchränkenden Beſtimmung kann nur in jedem

einzelnen Fall mit Sicherheit gemacht werden. Im Allge-

meinen wird angenommen, daß der Irrthum über eine

eigene Handlung oder über den eigenen Rechtszuſtand un-

zuläſſig ſey, weil man darüber nicht ohne große Nachläſ-

ſigkeit irren könne (e). Doch darf dieſes nur als eine Ver-

muthung gelten, indem auch ein ſolcher Irrthum zuläſſig

ſeyn kann, theils wegen der beſonderen Beſchaffenheit der

irrenden Perſon (f), theils wegen der eigenthümlichen, den

 

(b) L. 7 h. t., L. 11. 12 C. h. t.

(c) L. 2 h. t. „cum … facti

interpretatio plerumque etiam

prudentissimos fallat.”

(d) L. 3 § 1 L. 6 L. 9 §. 2

h. t., L. 11 § 11 de interrog.

(11. 1.), L. 3 pr. ad Sc. Mac.

(14. 6.), L. 15 § 1 de contr. emt.

(18. 1.), L. 14 § 10 L. 55 de ae-

dil. ed. (21. 1.), L. 3 § 7. 8 L. 4

quod vi (43. 24.).

(e) L. 3 pr. h. t., L. 6. 7 ad

Sc. Vell. (16. 1.), L. 5 § 1 pro

suo (41. 10.), L. 42 de R. J. (50.

17.).

(f) L. 2 § 7 de j. fisci (49. 14.)

„si ea persona sit, quae igno-

rare propter rusticitatem vel

|0346 : 334|

Beylage VIII.

Irrthum entſchuldigenden, Umſtände des einzelnen Fal-

les (g).

Auf gleiche Weiſe ſoll der Rechtsirrthum deswegen

ungünſtiger beurtheilt werden, weil dabey den Irrenden

ſtets der Vorwurf großer Nachläſſigkeit treffe (h); denn

die Rechtsregel ſey klar und gewiß (i), und daher könne

ein Jeder ſie entweder ſelbſt wiſſen, oder durch Erkundi-

gung bey Rechtsverſtändigen leicht erfahren. Dieſer letzte

Gedanke wird nun noch dahin näher ausgebildet, daß es

allerdings Fälle gebe, worin dieſe Nachläſſigkeit, alſo auch

die darauf gegründete ungünſtige Behandlung, wegfalle,

aber dieſe Fälle ſeyen ſehr ſelten anzunehmen (k).

 

propter sexum femininum jus

suum possit.” Über die Bedeu-

tung des jus suum vergl. oben

Num. I. Note c.

(g) Ein ſolcher Fall wird er-

wähnt in L. 1 § 2 h. t. — Wenn

nun in anderen Stellen der Irr-

thum über eigene Handlungen

ohne Weiteres als zuläſſig behan-

delt wird, ſo ſind dabey ſtets ſol-

che beſondere entſchuldigende Um-

ſtände vorauszuſetzen. So in L. 22

pr. L. 32 § 1. 3 de cond. indeb.

(12. 6.).

(h) Daß hierin Alles auf den

Begriff der culpa zurück zu füh-

ren iſt, erhellt deutlich ſowohl aus

den in Note d angeführten Stel-

len, als aus L. 29 § 1 mandati

(17. 1.). Hier iſt nicht von der

Zuläſſigkeit und den Wirkungen

des Irrthums nach allgemeinen

Rechtsregeln (wie in unſrer Un-

terſuchung) die Rede, ſondern im

Verhältniß zu einem anderen Con-

trahenten, wo gewiß nur die culpa

entſcheiden kann; und doch wird

auch hier der Unterſchied zwiſchen

dem factiſchen und Rechtsirrthum

zum Grund gelegt. Vgl. auch

Glossa in L. 11 § 4 de his qui

not. (3. 2.) und Cujacius Opp.

IV. p. 508.

(i) L. 2 h. t. „cum jus fini-

tum et possit esse et debeat,

facti interpretatio plerumque

etiam prudentissimos fallat.”

(k) L. 10 de Bon. Poss. (37.

1.), L. 2 § 5 quis ordo (38. 15.),

L. 9 § 3 h. t. „Sed juris igno-

rantiam non prodesse, Labeo

ita accipiendum existimat, si

jurisconsulti copiam haberet,

vel sua prudentia instructus sit:

ut, cui facile sit scire, ei de-

trimento sit juris ignorantia:

|0347 : 335|

Irrthum und Unwiſſenheit.

In der That alſo laſſen ſich beide Regeln auf den

gemeinſamen Grundſatz zurückführen, daß kein Irrthum,

der auf großer Nachläſſigkeit beruht, dem Irrenden zu

gut kommen ſoll, oder, was die Sache von anderer Seite

her ausdrückt, daß nur derjenige Irrthum geltend gemacht

werden darf, den man justus oder probabilis error, justa

ignorantia, nennen kann (l). Dieſer gemeinſame Grund-

ſatz aber erſcheint in der Anwendung verſchieden, indem

die Nachläſſigkeit bey dem factiſchen Irrthum als eine be-

ſondere Thatſache erwieſen werden muß, anſtatt daß ſie

ſich bey dem Rechtsirrthum von ſelbſt verſteht, und nur

durch den Beweis ungewöhnlicher Umſtände widerlegt wer-

den kann. Beide Arten des Irrthums ſtehen alſo nicht

unter einer verſchiedenen Rechtsregel, ſondern die Beweis-

 

quod raro accipiendum est.”

Dieſe letzten Worte könnten an

ſich eine dreyfache Bedeutung ha-

ben. Erſtlich: nur ſelten könne

Jemand den Rechtsirrthum ver-

meiden; dieſes aber würde au-

genſcheinlich falſch ſeyn, auch mit

den übrigen Stellen völlig im

Widerſpruch ſtehen. Zweytens:

die Meynung des Labeo ſey nur

ſelten als wahr anzunehmen. Ein-

facher und natürlicher iſt aber die

dritte Erklärung, nach welcher

Paulus nicht die Meynung des

Labeo beſtreitet, ſondern ihre An-

wendbarkeit näher beſtimmt. Denn

eigentlich liegt in der Behauptung

des Labeo der umgekehrte poſitive

Satz, daß ſelbſt der Rechtsirrthum

zuläſſig ſey, da wo er nicht ein-

mal durch Erkundigung vermie-

den werden könne. Dieſen Satz

nun will Paulus nicht beſtreiten,

er bemerkt nur, daß der darin

vorausgeſetzte Fall nur ſelten an-

genommen werden könne, der Satz

ſelbſt alſo von keiner erheblichen

Anwendung ſey.

(l) Über dieſen letzten Ausdruck

vgl. L. 11 § 10 de interrog. (11.

1.), L. 42 de R. J. (50. 17.),

L. 25 pr. de prob. (22. 3.), fer-

ner die in Num. II. Note e ab-

gedruckten Stellen, und (was den

probabilis error betrifft) L. 5

§ 1 pro suo (41. 10.). — Das

hier aufgeſtellte Princip wird im

Allgemeinen auch anerkannt von

Mühlenbruch Archiv B. 2

S. 383.

|0348 : 336|

Beylage VIII.

laſt iſt für beide Arten verſchieden. Ja man kann noch

einen Schritt weiter gehen, und behaupten, daß bey dem

Rechtsirrthum nicht blos die Schuldloſigkeit, ſondern ſelbſt

das Daſeyn des Irrthums, ſchwerer und ſeltner, als bey

dem factiſchen, anzunehmen iſt; und dieſer letzte Gegenſatz

iſt beſonders wichtig, da überhaupt der Irrthum, als eine

innere Thatſache, durch gewöhnliche Beweismittel nur ſel-

ten zur vollen Gewißheit gebracht werden wird.

IV.

Die bereits angedeutete Beſchränkung einer ungünſti-

gen Behandlung des Rechtsirrthums ſoll jetzt genauer aus-

geführt werden. Zu einer ſolchen findet ſich Veranlaſſung

ſchon nach dem Römiſchen Recht, noch mehr aber nach

dem heutigen. Es wird nämlich bey jener ungünſtigen

Behandlung als Gegenſtand des Irrthums eine ſolche

Rechtsregel vorausgeſetzt, die als gewiß allgemein aner-

kannt iſt. Denn nur bey einer ſolchen kann man dem Ir-

renden eine große Nachläſſigkeit vorwerfen, auch ſind die

zahlreichen, in unſren Rechtsquellen vorkommenden, Bey-

ſpiele insgeſammt von Regeln eines ſolchen Characters

hergenommen (a). Daher würde denn eine ſolche Behand-

lung in folgenden zwey Fällen nicht eintreten dürfen. Er-

ſtens bey controverſen Rechtsſätzen. Wenn z. B. ein Satz

 

(a) L. 1 § 1 — 4 h. t., L. 25

§ 6 de her. pet. (5. 3.), L. 10 de

Bon. Poss. (37. 1.), L. 31 pr.

de usurp. (41. 3.), L. 2 § 15 pro

emt. (41. 4.).

|0349 : 337|

Irrthum und Unwiſſenheit.

unter den beiden Schulen der Römiſchen Juriſten ſtreitig

war, ſo konnte der Richter, welcher die Meynung einer

Partey für einen Rechtsirrthum hielt, ihr nicht einen nach-

läſſigen Mangel der Erkundigung bey Rechtsverſtändigen

vorwerfen, da ja auch die diversae scholae auctores

Rechtsverſtändige waren. Zweytens bey Sätzen des par-

ticulären Rechts, da deſſen Kenntniß oft weit weniger

verbreitet und zugänglich iſt, als die des allgemeinen;

vorzüglich wird dieſe Schwierigkeit anerkannt werden müſ-

ſen, wenn das örtlich beſchränkte Recht ein Gewohnheits-

recht iſt, welches meiſt ſchwerer kennen zu lernen ſeyn

wird, als das Daſeyn eines Geſetzes (b). Die Anerken-

nung dieſer beiden Fälle aber muß uns dahin führen, in

dem heutigen Recht den Rechtsirrthum überhaupt milder

zu behandeln, als er nach den Ausſprüchen der Römi-

ſchen Juriſten behandelt werden ſollte. Denn der Um-

fang des controverſen Rechts iſt in unſrem gelehrten und

verwickelten Rechtszuſtand ungleich größer, als er den

Römern erſcheinen konnte. Eben ſo aber nimmt auch das

particuläre Recht bey uns eine ohne Vergleich wichtigere

Stelle ein, als bey den Römern; in Beziehung auf die-

ſes wird daher auch die Schuldloſigkeit des Rechtsirr-

thums in einer merkwürdigen Stelle des canoniſchen Rechts

(b) Gegen dieſe Berückſichti-

gung des Unterſchieds zwiſchen Ge-

ſetz und Gewohnheitsrecht, in Be-

urtheilung des Rechtsirrthums, iſt

Nichts einzuwenden. Dagegen iſt

es ganz verwerflich, wenn Man-

che den Irrthum über ein Ge-

wohnheitsrecht gar nicht als

Rechtsirrthum, ſondern als fac-

tiſchen, anſehen wollen. Puchta

Gewohnheitsrecht II. S. 217 —

220.

III. 22

|0350 : 338|

Beylage VIII.

ausdrücklich anerkannt (c). Indem wir alſo hier eine mil-

dere Behandlung des Rechtsirrthums für die heutige Zeit

in Anſpruch nehmen, ſo liegt darin keinesweges eine will-

kührliche Abweichung von den Grundſätzen des Römiſchen

Rechts, die wir vielmehr ganz in ihrem Sinn auf die

veränderten Umſtände anwenden wollen. So verwandelt

ſich von ſelbſt der eine bloße Thatſache ausdrückende Satz

des Paulus: quod raro accipiendum est (Num. III. k)

in den etwas veränderten Satz: quod minus raro hodie

accipiendum est.

V.

Aus der hier entwickelten Natur des Rechtsirrthums

folgt nun zugleich die ſchon oben (Num. I.) angekündigte

praktiſche Beſtätigung des Satzes, daß der Irrthum über

die Subſumtion der Thatſachen unter die Rechtsregel zu

den Fällen des factiſchen, nicht des Rechtsirrthums, zu

rechnen iſt. Die Subſumtion nämlich iſt in einfachen Fäl-

len ſo leicht, daß in derſelben ein Irrthum kaum vorkom-

men kann. Sobald aber ein Rechtsfall in verwickelter

Geſtalt erſcheint, wird oft die Subſumtion ſo ſchwierig

ſeyn, daß ſelbſt Diejenigen, die über die einſchlagenden

Rechtsregeln ganz einig und im Klaren ſind, dennoch den

 

(c) C. 1 de constitut. in VI.

(1. 2.). „Romanus pontifex …

locorum specialium et perso-

narum singularium consuetudi-

nes et statuta, cum sint facti

et in facto consistant, potest

probabiliter ignorare.” Was

hier dem Pabſt nachgeſehen wird,

muß doch wohl jeder andern Per-

ſon nicht weniger zugeſtanden

werden.

|0351 : 339|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Fall ſelbſt auf ganz entgegengeſetzte Weiſe beurtheilen wer-

den. Dann aber wäre es doch die hoͤchſte Willkühr und

Ungerechtigkeit, wenn wir Demjenigen, deſſen Subſum-

tion wir verwerfen, nicht nur Unrecht geben, ſondern auch

große Nachläſſigkeit vorwerfen wollten, indem er durch

Erkundigung die Wahrheit leicht hätte erfahren können.

Ein Beyſpiel mag dieſes anſchaulich machen. Der be-

rühmten L. Frater a Fratre (L. 38 de cond. indebiti) liegt

ein ſo verwickelter Rechtsfall zum Grund, daß ſehr nam-

hafte Juriſten, lediglich durch verſchiedene Subſumtion,

auf ganz entgegengeſetzte Erklärungen gerathen ſind. Woll-

ten wir nun Demjenigen, der unter Vorausſetzung einer

irrigen Erklärung dieſer Stelle ein Rechtsgeſchäft vorge-

nommen hätte, eine unverzeihliche Nachläſſigkeit vorwer-

fen, und deshalb den Schutz entziehen, worauf er außer-

dem, des Irrthums wegen, Anſpruch haben dürfte? Die

Römer urtheilten nicht alſo. Denn obgleich ſie überhaupt

den Rechtsirrthum ſehr ſtreng behandeln, und namentlich

als Grund der condictio indebiti nicht gelten laſſen, ſo

geſtattet doch Africanus in dem Fall dieſer Stelle die

Condiction unbedenklich: offenbar von der Anſicht ausge-

hend, daß der Irrthum des an ſeinen Bruder zahlenden

Schuldners, der ſich in das verwickelte Rechtsverhältniß

nicht hatte finden können, ganz anderer Natur ſey, als

der Irrthum über eine leicht faßliche, überall zu erfra-

gende Rechtsregel (a)

(a) Mühlenbruch S. 423 nimmt freylich in dieſer Stelle

22*

|0352 : 340|

Beylage VIII.

Die hier aufgeſtellten Regeln gelten übrigens nur da,

wo der Irrthum lediglich als ſolcher in Betracht kommt.

Tritt alſo zu dem Irrthum des Einen der Betrug des

Andern hinzu, ſo kommt lediglich die Regel des Betrugs,

nicht die des Irrthums, zur Anwendung. Dann alſo er-

ſcheint die in dem Irrthum vielleicht enthaltene Nachläſ-

ſigkeit als ganz gleichgültig, und eben deshalb auch die

beſondere Natur des Rechtsirrthums. Es iſt daher ganz

einerley, ob durch den Betrug ein factiſcher, oder ein

Rechtsirrthum in dem Betrogenen erzeugt worden iſt.

 

VI.

Obgleich wir nun die beſonderen Regeln für den fac-

tiſchen und den Rechtsirrthum auf eine gemeinſame Regel

zurückführen konnten, ſo müſſen wir dennoch anerkennen,

daß damit ein poſitives Princip für die Lehre vom Irr-

thum keinesweges aufgefunden iſt: ein poſitives Princip

nämlich in dem Sinn, daß daraus die Wirkſamkeit des

Irrthums für jeden einzelnen Fall erkannt werden könnte.

Wer z. B. eine Sache zu theuer bezahlt oder zu wohlfeil

verkauft, weil er über ihren wahren Werth im Irrthum

iſt, wird gegen dieſen Nachtheil nicht geſchützt, ohne Un-

terſchied des factiſchen oder des Rechtsirrthums, des ſchuld-

loſen oder nachläſſigen. Dagegen kann die irrige Zahlung

einer Nichtſchuld allerdings zurück gefordert werden, vor-

 

die Vorausſetzung eines Rechts-

irrthums an, und gebraucht ſie

als Beweis, daß dieſer bey der

condictio indebiti nicht ſchade.

|0353 : 341|

Irrthum und Unwiſſenheit.

ausgeſetzt daß ein factiſcher Irrthum zum Grunde liegt.

Dieſen Unterſchied alſo, und ſomit überhaupt die Wirk-

ſamkeit des Irrthums, erkennen wir aus jener Regel nicht.

Vielmehr hat dieſelbe die blos negative Bedeutung, daß

in den Fällen, die an ſich für die Wirkſamkeit des Irr-

thums wohl geeignet ſind, dieſe Wirkſamkeit dennoch weg-

fällt, ſobald dem Irrthum eine große Nachläſſigkeit zum

Grunde liegt, in der Regel alſo wenn derſelbe ein Rechts-

irrthum iſt. Finden wir alſo nicht etwa anderwärts ein

poſitives Princip, ſo werden wir genöthigt ſeyn, von fol-

gender Anſicht auszugehen. Der Irrthum im Allgemeinen

wirkt an und für ſich gar nicht, ſchützt alſo auch nicht

gegen den dadurch entſtandenen Nachtheil. Für viele ein-

zelne juriſtiſche Thatſachen iſt ihm allerdings eine Einwir-

kung mitgetheilt, und dieſe muß für jede derſelben beſon-

ders begründet werden. Allein auch bey dieſen fällt die

Einwirkung hinweg, wenn der Irrthum auf einer großen

Nachläſſigkeit beruht, welches in der Regel bey dem

Rechtsirrthum anzunehmen iſt, bey dem factiſchen aber

ſtets beſonders erwieſen werden muß.

Wir haben alſo nun die verſchiedenen Klaſſen juriſti-

ſcher Thatſachen, in Beziehung auf die Wirkſamkeit des

Irrthums, einzeln zu unterſuchen. Da jedoch in den

Quellen des Römiſchen Rechts zwey ſcheinbare poſitive

Principien erwähnt werden, ſo iſt zur Rechtfertigung des

vorgezeichneten Verfahrens zuvor die Prüfung dieſer Prin-

cipien nöthig.

 

|0354 : 342|

Beylage VIII.

VII.

In folgenden Stellen ſcheint das durchgreifende Prin-

cip ausgeſprochen, daß der aus Irrthum entſprungene

Wille gar kein Wille ſey, alſo auch nicht als Wille wirke.

„.. cum non consentiant qui errent. Quid enim tam

„contrarium consensui est quam error qui imperitiam

„detegit?”

 

L. 15 de jurisd. (2. 1.).

„error enim litigatorum non habet consensum.”

L. 2. pr. de jud. (5. 1.).

„nulla enim voluntas errantis est.”

L. 20 de aqua pluv. (39. 3.).

„Non videntur, qui errant, consentire.”

L. 116 § 2 de R. J. (50. 17.).

„cum errantis voluntas nulla sit.”

L. 8 C. h. t.

„cum nullus sit errantis consensus.”

L. 9 C. h. t.

Wäre dieſer Satz richtig, ſo würde er von der äußer-

ſten Wichtigkeit ſeyn, und wir hätten dann in ihm das

durchgreifendſte poſitive Princip für die Wirkſamkeit des

Irrthums gefunden. Aber Nichts iſt auch gewiſſer, als

daß derſelbe verworfen werden muß. Der entſcheidendſte

Beweis dafür liegt in der ganzen, vom Römiſchen Recht

ſo ſorgfältig ausgebildeten, Lehre vom dolus. Wäre der

Irrthum ſchon an ſich hinreichend, die Annahme irgend

 

|0355 : 343|

Irrthum und Unwiſſenheit.

eines Willens, alſo auch aller Folgen deſſelben, völlig

auszuſchließen, ſo würde z. B. jeder durch Irrthum ver-

anlaßte Vertrag nichtig ſeyn. Dann wäre alſo auch die

Entſtehung des Irrthums durch den Betrug des Gegners

ganz gleichgültig. Das Römiſche Recht aber behandelt

gerade dieſe Entſtehung als höchſt wichtig, und ſieht ſie

als ganz entſcheidend an. Ja ſelbſt im Fall dieſer Ent-

ſtehung behandelt es den Vertrag nicht als nichtig, ſon-

dern es ſucht ihn auf indirectem Wege (durch doli ex-

ceptio) zu entkräften. Dieſes Alles iſt augenſcheinlich nur

denkbar unter der ſicheren Vorausſetzung, daß der Irr-

thum an ſich das Daſeyn des Willens und deſſen Folgen

nicht ausſchließt, daß alſo der durch bloßen Irrthum ver-

anlaßte Vertrag ein vollgültiger, unanfechtbarer Ver-

trag iſt.

Der in den mitgetheilten Stellen enthaltene ſcheinbare

Widerſpruch verſchwindet, wenn man dieſelben nicht in

dieſer willkührlichen Abſonderung, worin allein der trüge-

riſche Schein derſelben, als durchgreifender Rechtsregeln,

enthalten iſt, betrachtet, ſondern im Zuſammenhang mit

ihrer ganzen Umgebung und mit anderen verwandten Stel-

len. Jede derſelben will alſo nur ſagen, daß in einem

gegebenen Fall, unter den beſonderen Bedingungen deſſelben,

die in Verbindung mit einem Irrthum vorgenommene

Handlung keine Wirkung habe. Es wird im Verfolg un-

ſrer Unterſuchung gezeigt werden, welches die beſonderen

Bedingungen dieſer Fälle ſind. Hier war es genug, vor-

 

|0356 : 344|

Beylage VIII.

läufig zu zeigen, daß jene Stellen ein poſitives Princip für

die Lehre vom Irrthum überhaupt nicht enthalten können.

VIII.

Weit allgemeinere Anerkennung hat bey neueren Schrift-

ſtellern folgendes poſitive Princip gefunden: der factiſche

Irrthum helfe ohne Unterſchied, der Irrende möge ſich

bereichern, oder nur Schaden von ſich abwenden wollen;

der Rechtsirrthum dagegen helfe nur in dem letzten dieſer

beiden Fälle, nicht in dem erſten. Dieſes Princip ſcheint

in zwey Stellen vollſtändig enthalten zu ſeyn, welche merk-

würdigerweiſe beide von Papinian herrühren.

 

L. 7 h. t. „Juris ignorantia non prodest adquirere vo-

lentibus, suum vero petentibus non nocet.”

L. 8 h. t. „Error facti ne maribus quidem in damnis

vel compendiis obest: ceterum omnibus juris error

in damnis amittendae rei suae non nocet.”

Ein Stück dieſes Princips kommt auch noch in folgender

Stelle vor, die ohne Zweifel auf jene Ausſprüche des Pa-

pinian gegründet iſt:

 

L. 11 C. h. t. „Quamvis in lucro nec feminis jus igno-

rantibus subveniri soleat” …

Verſucht man aber, dieſes ſcheinbare Princip in der An-

wendung durchzuführen, ſo zeigt es ſich bald durch den

Widerſpruch mit den unzweifelhafteſten einzelnen Entſchei-

dungen, bald durch ſeine Unbeſtimmtheit, ganz unbrauchbar.

Die erſte dieſer Behauptungen, die ihrer Natur nach die

 

|0357 : 345|

Irrthum und Unwiſſenheit.

entſcheidendſte ſeyn muß, kann erſt durch die ganze folgende

Unterſuchung des Irrthums in einzelnen Rechtsverhältniſſen

ihre volle Begründung erhalten. Zwei Betrachtungen aber

können ihr ſchon vorläufig Zuſtimmung verſchaffen. Die

in unſren Rechtsquellen anerkannte Grundanſicht war die,

daß ein verſchuldeter Irrthum niemals helfe, und daß der

Rechtsirrthum, mit Ausnahme ſeltener Fälle, ein verſchul-

deter ſey (Num. III.). Damit aber ſteht es in offenbarem

Widerſpruch, wenn der Rechtsirrthum ſtets dazu helfen

ſoll, poſitiven Schaden abzuwenden. Ferner iſt einer der

wichtigſten Fälle des Irrthums im täglichen Verkehr der,

wenn Jemand aus Unkunde des wahren Werthes einer

Sache zu Schaden kommt, z. B. wenn er zu theuer kauft

oder miethet, zu wohlfeil verkauft oder vermiethet. Das

iſt ſtets ein factiſcher Irrthum, der alſo nach dem hier

vorliegenden Princip den Schaden abwenden müßte. Aber

gerade über dieſen wichtigen und häufigen Fall ſind ſo

ziemlich Alle einig, daß der Irrthum keine Hülfe gewähre.

Unſere Rechtslehrer haben dieſen Maͤngeln durch höchſt

ſubtile Unterſcheidungen abzuhelfen verſucht. So z. B. be-

zeichnen die Römiſchen Juriſten die Zuläſſigkeit des Irr-

thums, oder die günſtige Behandlung des Irrenden, ab-

wechslend durch prodest, non obest, non nocet, permissum

est, subvenitur: die entgegengeſetzte Unzuläſſigkeit eben ſo

durch non prodest, obest, nocet, detrimento est (a); jeder

 

(a) L. 7. 8 h. t., verglichen

mit L. 9 pr. § 3 h. t., worin

die Ausdrücke ganz zufällig und

willkührlich abwechslen.

|0358 : 346|

Beylage VIII.

dieſer Ausdrücke nun ſoll nach manchen Neueren eine ſub-

tile Eigenthümlichkeit des Erfolgs bezeichnen (b). Eben

ſo kommt einmal der beſondere Ausdruck vor: in damnis

amittendae rei suae (L. 8 h. t.); dieſer wird benutzt, um

darauf einen, die ganze Lehre beherrſchenden, Gegenſatz

von damnum rei amittendae und amissae zu gründen (c).

Ein ſo willkührliches, unkritiſches Verfahren in der Aus-

legung würde höchſtens durch ſehr klare und einfache Re-

ſultate einige Wahrſcheinlichkeit gewinnen können; allein

auch daran fehlt es bey jenen Schriftſtellern gänzlich. Es

iſt daher am Gerathenſten, ein Princip ganz aufzugeben,

welches doch nur durch die willkührlichſten Deutungen und

Einſchränkungen ſein Scheindaſeyn friſten kann, alſo eine

ganz unnütze Verwicklung in eine Lehre bringt, die in der

Anwendung auf einzelne Rechtsinſtitute meiſt klar und ge-

wiß erſcheint (d). Wir widerſprechen alſo nicht etwa durch

dieſes Verfahren unſren Rechtsquellen, ſondern wir halten

uns nur an deren ſichere Entſcheidungen im Einzelnen,

und behandeln die oben mitgetheilten Stellen als einen

nicht gelungenen Verſuch zur Aufſtellung eines allgemeinen

Princips. Dieſer Tadel aber trifft nicht Papinian, ſon-

(b) Cujacius obs. V. 39, und

Opp. VII. p. 890.

(c) Donellus I. 21 § 14—20,

I. 22 § 1. 2.

(d) Im Allgemeinen ſtimmt

dieſe Anſicht überein mit Müh-

lenbruch S. 413—416, der nur

darin nicht conſequent verfährt, daß

er einen Theil jener im Allge-

meinen auch von ihm aufgegebe-

nen Regel zu retten verſucht,

nämlich die Unzuläſſigkeit des

Rechtsirrthums im Fall des lu-

crum. Allein eine ſolche Theilung

läßt ſich eben ſo wenig durchfüh-

ren, als das ganze Princip.

|0359 : 347|

Irrthum und Unwiſſenheit.

dern die Compilatoren. Hätten wir jene Stellen in ihrem

urſprünglichen Zuſammenhang vor uns, ſo würde ohne

Zweifel aus ihrer Umgebung klar werden, in welcher be-

ſchränkten Beziehung Papinian jene Sätze aufſtellen wollte

(e). Nur ſo abgeriſſen, wie wir ſie jetzt leſen, erhalten

ſie die abſolute Bedeutung, in welcher wir ſie nicht als

wahr annehmen können. Ja ſelbſt abgeſehen von dieſer

neuen Geſtalt, in welche dieſe Stellen durch ihre Aufnahme

in die Digeſten gerathen ſind, dürfen wir uns auf den all-

gemeineren Grundſatz der Auslegung berufen, nach welchem

im Conflict allgemeiner, von den alten Juriſten gebildeter

Rechtsregeln mit ſicheren concreten Entſcheidungen, dieſe

letzten den Vorzug erhalten müſſen (§ 44).

Zur noch vollſtändigeren Rechtfertigung dieſes Verfah-

rens gegen den Vorwurf willkührlicher Behandlung unſrer

Rechtsquellen mögen folgende Betrachtungen dienen. Im

Weſentlichen iſt daſſelbe nicht von demjenigen verſchieden,

welches wir oben zur Beſeitigung des ſcheinbaren erſten

Princips (Num. VII.) angewendet haben. Iſt es nun hier

 

(e) Wir behaupten alſo nicht,

daß die in Papinians Stellen

gemachten Unterſcheidungen un-

wahr, ſondern daß ſie nur bezie-

hungsweiſe wahr ſind. Welches

nun die beſonderen Beziehungen

waren, an welche Papinian dabey

dachte, und die aus dem ganzen

Zuſammenhang ſeiner Rede deut-

lich hervorgehen mochten, können

wir freylich bey dem abgeriſſenen

Zuſtande der Stellen nicht mit völ-

liger Sicherheit angeben. Wahr-

ſcheinlich aber ſprach Papinian von

den Wirkungen des Irrthums nicht

im Allgemeinen, ſondern bey be-

ders privilegirten Klaſſen, oder

vielmehr blos bey Frauen. Das

Genauere hierüber wird am Ende

dieſer Nummer ausgeführt wer-

den.

|0360 : 348|

Beylage VIII.

von den Meiſten ſtets als zuläſſig und unbedenklich ange-

nommen, wenigſtens ſtillſchweigend vorausgeſetzt worden,

ſo darf es nicht ohne Inconſequenz bey der Prüfung des

zweyten Princips verworfen werden. — Ferner iſt das

Reſultat unſrer Unterſuchung eigentlich dieſes, daß in den

mitgetheilten Stellen die Unterſcheidung zwiſchen lucrum

und damnum, als zu einem allgemeinen Princip nicht ge-

eignet, ausgeſchieden werden müſſe; dann aber bleibt in

denſelben Nichts übrig, als die ohnehin gewiſſe verſchiedene

Behandlung des factiſchen und des Rechtsirrthums, und

ſie ſtimmen nun ganz überein mit den vielen, dieſe Ver-

ſchiedenheit bezeugenden Stellen (Num. III. Note a). Ja

unter dieſen iſt eine ſo gefaßt, daß ſie mit den Stellen

Papinians geradezu in Widerſpruch treten würde, wenn

wir nicht dieſen, auf die oben vorgeſchlagene Weiſe, die

Kraft eines durchgreifenden Princips verſagen wollten (f).

— Endlich müſſen wir aber auch noch zu der ſchon oben

angedeuteten Behauptung zurückkehren, daß das in den

Stellen Papinians ſcheinbar enthaltene Princip zu einer

ſicheren Anwendung durchaus nicht geeignet iſt, weil ihm

keine ſcharf beſtimmbaren Begriffe zum Grunde liegen.

Denn ob der durch den Irrthum veranlaßte Nachtheil als

entbehrter Gewinn, oder als poſitiver Schade gelten ſoll,

das hängt oft blos von dem Zeitpunkt ab, den wir für

(f) L. 9 pr. h. t. „Regula est,

juris quidem ignorantiam cui-

que nocere, facti vero ignoran-

tiam non nocere.” Hier wird

die Schädlichkeit des Rechtsirr-

thums abſolut ausgeſprochen, ohne

Unterſchied des poſitiven Verluſtes

und des entbehrten Gewinnes.

|0361 : 349|

Irrthum und Unwiſſenheit.

die Betrachtung wählen; dieſer Zeitpunkt aber wird durch

jenes Princip auf keine Weiſe beſtimmt, ſo daß daſſelbe

den letzten Erfolg meiſt unentſchieden laſſen wird. Wer

z. B. die condictio indebiti anſtellt, will etwas gewinnen

in Beziehung auf die unmittelbar vorhergehende Zeit, da

das bezahlte Geld in ſeinem Vermögen gegenwärtig gar

nicht mehr enthalten, er alſo durch die geleiſtete Zahlung

ſchon wirklich ärmer geworden iſt; in Beziehung auf die

Zeit vor der Zahlung will er Verluſt abwenden; Alles

hängt alſo davon ab, ob wir den Umfang des Vermögens

vor oder nach der Zahlung unſrer Betrachtung zum Grund

legen wollen (g). Wer eine Uſucapion vollendet, wird

vielleicht gar nicht reicher, da die Uſucapion ſehr oft nur

dadurch einen praktiſch höchſt wichtigen Dienſt leiſtet, daß

ſie den fehlenden Beweis des bereits vorhandenen Eigen-

(g) Hieraus erklärt ſich die

ſubtile Unterſcheidung des Donel-

lus zwiſchen damnum rei amit-

tendae und amissae. — Höpf-

ner, Inſtitutionencommentar §

954, nimmt an, der Kläger bey

der condictio indebiti wolle zwar

gewöhnlich nur Verluſt abwenden,

zuweilen aber auch Gewinn ma-

chen; dieſes namentlich wenn der

Teſtamentserbe die Legate ohne

Abzug der Falcidia ausgezahlt

habe, und nun das ſo zuviel

Bezahlte zurückfordere; denn die-

ſer Abzug ſey reiner Gewinn.

Hier ſchiebt alſo Höpfner den

Standpunkt der Beurtheilung in

eine noch frühere Zeit zurück,

nämlich vor den Erwerb der Erb-

ſchaft, in welcher Zeit freylich die

ganze Erbſchaft, alſo auch der in

der Falcidia enthaltene Theil der-

ſelben, noch als bevorſtehender

reiner Gewinn erſcheinen muß;

oder gar in die Zeit vor der Lex

Falcidia, die ja überhaupt erſt den

Abzug, als reinen Gewinn, dem

Erben zugeſtanden hat. Hieraus

wird es nun immer einleuchten-

der, daß jene Unterſcheidung die

willkührlichſte Anwendung zuläßt,

alſo ſchon an ſich ſelbſt als ſichere

Regel zu dienen unfähig iſt.

|0362 : 350|

Beylage VIII.

thums entbehrlich macht. Jedoch auch Der, welcher durch

ſie wirklich erſt Eigenthum erwirbt, wird zwar um den

ganzen Werth dieſes Eigenthums reicher, als er unmittel-

bar vor der Uſucapion war; gehen wir aber auf einen

früheren Zeitpunkt zurück, ſo wendet er vielleicht blos den

Verluſt ab, den er durch den Kauf einer fremden Sache

erleiden würde, wenn gerade der Verkäufer die Eviction

zu leiſten nicht im Stande iſt. Wer eine Sache zu theuer

kauft, und nun gegen dieſen nachtheiligen Contract Hülfe

verlangt, will Schaden abwenden mit Rückſicht auf den

Vermögenszuſtand vor geſchloſſenem Contract; ſehen wir

auf den gegenwärtigen Zeitpunkt, ſo will er reicher wer-

den, denn der Schade iſt durch die in dem geſchloſſenen

Contract übernommene Obligation bereits vollendet, und

wird es nicht erſt durch die Zahlung des Geldes. — In-

dem alſo jenes Princip ganz entgegengeſetzte Anwendungen

zuläßt, zeigt es ſich ſchon durch ſeine Faſſung untauglich

als ſichere Regel gebraucht zu werden, ganz abgeſehen

noch von den ihm widerſprechenden ſicheren Entſcheidungen

einzelner Fälle.

Ich will damit nicht behaupten, daß der Begriff von

lucrum überall ein unbeſtimmter, juriſtiſch wenig brauch-

barer Begriff wäre. Wenn einem Rechtsgeſchäft die be-

ſtimmte Abſicht einſeitiger Bereicherung zum Grunde liegt

(durch Schenkung), ſo iſt allerdings der lucri animus eine

beſtimmte und wichtige Bedingung für die Eigenthümlich-

keit dieſer Handlung. Aber hier iſt uns auch durch die

 

|0363 : 351|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Handlung ſelbſt ein unzweifelhafter Zeitpunkt gegeben, in

Beziehung auf welchen das Mehr oder Weniger in dem

Vermögen abzumeſſen iſt. Gerade der Mangel eines ſol-

chen ſicheren Zeitpunkts iſt es, wodurch jenes angebliche

Princip für die Lehre vom Irrthum ſo unbrauchbar für

die Anwendung wird.

Dieſe letzte Bemerkung aber führt uns nun noch zu

einer beſtimmteren Behauptung über die urſprüngliche Ge-

ſtalt der Stellen Papinians und deren gegenwärtig vorlie-

gende Interpolation. Die ganze Verwirrung entſteht da-

durch, daß Papinian eine erſchöpfende Klaſſification aller

möglichen Rechtsereigniſſe aufſtellen zu wollen ſcheint, aus

welcher man für jeden vorkommenden Fall eines Irrthums

abnehmen könne, ob dem Irrenden zu helfen ſey oder nicht.

In dieſer Geſtalt aufgefaßt, führten die Stellen theils zu

anerkannt unrichtigen, theils zu ſchwankenden, in beiden

Fällen alſo zu unbrauchbaren Reſultaten. In der That

aber hatte Papinian nicht von dem Irrthum überhaupt,

ſondern nur von dem Irrthum der Frauen geſprochen.

Dieſe hatten zu ſeiner Zeit das Vorrecht, da wo überhaupt

der Irrthum ſchützte, auch den Rechtsirrthum für ſich gel-

tend machen zu dürfen: jedoch mit Ausnahme der Schen-

kungen, d. h. der Geſchäfte, die uns nicht etwa blos be-

reichern (welches bey ſehr vielen Geſchäften nach Einer

Seite hin geſchieht), ſondern wobey dieſe einſeitige Berei-

cherung die beſtimmte Abſicht beider zuſammen wirkenden

Perſonen iſt. In dieſem Zuſammenhang hatte der von

 

|0364 : 352|

Beylage VIII.

ihm gebrauchte Ausdruck lucrum eine ganz beſtimmte Be-

deutung, und in welcher Verbindung daneben von damnum

geſprochen war, können wir jetzt nicht errathen. Daß er

aber von den Frauen ſprach, erhellt aus den Worten der

Stelle ſelbſt ganz deutlich. Die generaliſirende Interpo-

lation fanden die Compilatoren deswegen nöthig, weil

ſpäterhin das ausgedehnte Vorrecht der Frauen beſchränkt,

und dem Recht der Männer nahe gebracht worden iſt

(Num. XXXI.). So haben durch ungeſchickte Behandlung

jene Stellen die irre führende Geſtalt eines durchgreifenden

Princips über die Wirkſamkeit oder Unwirkſamkeit des

Irrthums im Allgemeinen erhalten. — Bisher habe ich

dieſe Behauptung blos als eine Hypotheſe aufzuſtellen ge-

ſucht, die ſich als wahrſcheinlich durch ungezwungene und

befriedigende Löſung der vorliegenden Schwierigkeit bewährt.

Sie erhält aber ein hiſtoriſches Gewicht durch eine, auch

ſchon oben angeführte, Kaiſerconſtitution, in welcher wir

glücklicherweiſe unmittelbar nachweiſen können, daß die Com-

pilatoren ein ähnliches, als das hier für Papinian behaup-

tete, Verfahren wirklich angewendet haben. Es iſt dieſes

die von Conſtantin herrührende L. 3 C. Th. de sponsal.

(3. 5.) „Quamvis in lucro nec feminis jus ignorantibus

subveniri soleat, contra aetatem adhuc imperfectam locum

hoc non habere, retro principum statuta declarant. Ne

igitur soluta matrimonii caritate inhumanum aliquid sta-

tuatur, censemus, si futuris conjugibus tempore nuptiarum

intra aetatem constitutis res fuerint donatae et traditae,

|0365 : 353|

Irrthum und Unwiſſenheit.

non ideo posse eas revocari, quia actis consignare dona-

tionem quondam maritus noluit.” Soweit hier die Stelle

curſiv gedruckt iſt, ſteht ſie wörtlich gleichlautend (nur

mit Einſchaltung des gleichgültigen Worts attamen) als

L. 11 C. h. t. im Juſtinianiſchen Codex. Aus dem weg-

gelaſſenen Stück aber erhellt deutlich, daß das lucrum

hier ſpeciell die Schenkung, und nicht die eine Hälfte aller

Rechtsgeſchäfte überhaupt bezeichnet: ferner daß von der

Begünſtigung gewiſſer Klaſſen die Rede iſt, welche im

Fall der Schenkung bey Frauen nicht gelten, bey Minder-

jährigen gelten ſoll. Erſt durch die Weglaſſung des letz-

ten, concreten Stücks hat die ſo abgekürzte Stelle daſſelbe

abſtracte Anſehen erhalten, wie die Stellen Papinians;

und da im Codex die Entſtehung dieſes Anſehens durch

bloße Abkürzung vor unſren Augen liegt, ſo gewinnt durch

dieſe Analogie unſre Annahme einer gleichartigen Entſte-

hung in den Digeſten, hiſtoriſchen Boden.

IX.

Nachdem dieſe beiden ſcheinbaren Principien beſeitigt

ſind, kehre ich zu der früher (Num. VI.) eingeſchlagenen

Bahn zurück, um nach den einzelnen Klaſſen juriſtiſcher

Thatſachen zu unterſuchen, auf welche derſelben dem Irr-

thum ein, die regelmäßige Wirkſamkeit modificirender, Ein-

fluß zuzuſchreiben iſt. Zur leichteren Überſicht will ich

gleich hier den Gang dieſer Unterſuchung durch eine ta-

bellariſche Zuſammenſtellung anſchaulich machen.

 

III. 23

|0366 : 354|

Beylage VIII.

I. Poſitive Thatſachen (Thun):

1. Rechtsgeſchäfte inter vivos:

A. Wirkſamkeit an ſich.

a. Ausdrückliche Willenserklärung (Num. X. XI.).

b. Stillſchweigende Willenserklärung (Num. XII.).

B. Hinderniſſe der Wirkſamkeit, die in Folge eines

Irrthums beſeitigt werden können:

a. entweder gleich urſprünglich (Num. XIII.);

b. durch ſpätere Ergänzung (Num. XIV—XVI.).

2. Handlungen im Gebiet des Erbrechts (Num. XVII.

XVIII.).

3. Prozeſſualiſche Handlungen (Num. XIX.).

4. Delicte und delictenähnliche Handlungen (Num.

XX—XXIII.).

II. Negative Thatſachen (Unterlaſſen) (Num. XXIV —

XXIX.).

X.

Der wichtigſte und ausgedehnteſte Fall einer denkbaren

Einwirkung des Irrthums betrifft die Rechtsgeſchäfte des

täglichen Verkehrs, und namentlich die Verträge; ſowohl

die obligatoriſchen, als die Tradition, die ihrem eigenſten

Weſen nach auch ein Vertrag iſt. Hier aber hat in der

Regel der Irrthum gar keine Einwirkung, er mag nun ein

factiſcher oder ein Rechtsirrthum, verſchuldet oder unver-

ſchuldet ſeyn. Der Kauf aus Irrthum alſo iſt dennoch

ein unanfechtbarer Kauf, eine aus Irrthum entſprungene

 

|0367 : 355|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Tradition iſt vollgültig. In dieſer regelmäßigen Unwirk-

ſamkeit des Irrthums liegt ſogar die einzige Rettung des

Verkehrs gegen gränzenloſe Unſicherheit und Willkühr. Sie

muß zugleich behauptet werden im Gegenſatz jeder an ſich

denkbaren Form der Einwirkung (Num. II.). Es iſt alſo

der durch Irrthum veranlaßte Vertrag weder ſchon an ſich

ſelbſt ungültig, noch auch durch eine gewöhnliche Klage

oder durch eine Reſtitution zu entkräften möglich (a).

Der aufgeſtellte Satz iſt gleich wahr, der Irrthum mag

nun den Werth und die Brauchbarkeit des Gegenſtandes

(welches der häufigſte Fall iſt) betreffen, oder aber das

Rechtsverhältniß des Irrenden zu dieſem Gegenſtand. Wenn

ich alſo meine Sache, deren Eigenthum ich dem Titius

irrig zuſchreibe, im Auftrag des Titius veräußere, ſo iſt

dieſe Veräußerung dennoch für mich bindend (b). — Fer-

ner iſt der Satz wahr, nicht blos in der gewoͤhnlich be-

achteten Bedeutung, daß der Irrende nicht verlangen kann,

um des Irrthums willen von den nachtheiligen Folgen des

Geſchäfts befreyt zu werden; ſondern auch in der umge-

kehrten Bedeutung, daß der Irrende die Vortheile des an

ſich gültigen Geſchäfts behaupten kann, wenngleich er irrig

 

(a) Der hier aufgeſtellte Grund-

ſatz iſt auch ſchon dargeſtellt und

gegen die widerſprechenden Be-

hauptungen anderer Schriftſteller

vertheidigt worden von Thi-

baut, Verſuche B. 2 Abhand-

lung 4 Num. II.

(b) L. 49 § 1 mandati (17. 1.).

Scheinbar widerſprechend iſt L. 35

de adqu. rer. dom. (41. 1.), die

jedoch von der Verwechslung

zweyer verſchiedener Sachen bey

der Tradition (error in corpore)

verſtanden werden muß. Vgl.

Thibaut Verſuche B. 2 S. 107.

23*

|0368 : 356|

Beylage VIII.

glaubte, daſſelbe ſey weniger gültig. Wer alſo eine Sache

von dem Eigenthümer tradirt bekommt, den er irrig für

einen Nichteigenthümer hält, wird darum nicht minder Ei-

genthümer (c).

Dieſer wichtige Satz ſoll nunmehr gegen jede Einwen-

dung geſichert werden. Er folgt erſtlich aus der Natur

des freyen Willens ſelbſt, deſſen Daſeyn und Wirkung von

den wahren oder irrigen Beweggründen ganz unabhängig

iſt: und zwar ſowohl nach der allgemeinen Betrachtung

der Freyheit (Syſtem § 115), als nach den Beſtimmungen

des Römiſchen Rechts, wenngleich einige derſelben das

Gegentheil zu ſagen ſcheinen (Num. VII.). — Er iſt ferner

unzweifelhaft als die nothwendige Vorausſetzung einiger

der wichtigſten Inſtitute des Römiſchen Rechts, die ohne

ihn ganz unmöglich ſeyn würden. Dahin gehört die Lehre

vom dolus, die ſchon oben zu dieſem Zweck benutzt worden

iſt (Num. VII.). Eben ſo aber auch die Ausnahmen des

Satzes, von welchen ſogleich ausführlich die Rede ſeyn

wird, nämlich die ädiliciſchen Klagen, und die Condictio-

nen; denn dieſe wären völlig überflüſſig, ja in ihrer feſt

begränzten Ausnahmenatur undenkbar, wenn nicht unſer

Satz als bekannte und unzweifelhafte Regel vorausgeſetzt

 

(c) L. 9 § 4 h. t. (Herald.

obs. C. 35 emendirt ementis für

mentis, was einen guten Sinn

giebt, aber nicht nöthig iſt). —

Allerdings iſt hier der Empfänger

in mala fide, und dieſes würde

die Uſucapion hindern: die un-

mittelbare Wirkung der Tradition

des wahren Eigenthümers, wobey

eine ergänzende Uſucapion nicht

nöthig iſt, hindert es nicht.

|0369 : 357|

Irrthum und Unwiſſenheit.

werden dürfte. — Endlich wird dieſer Satz noch durch

folgende einzelne Ausſprüche des Römiſchen Rechts be-

ſtätigt:

1. Wer Etwas ſchenkt, um den Andern für irrig vor-

ausgeſetzte Dienſte zu belohnen, kann ungeachtet dieſes Irr-

thums das Gegebene nicht zurück fordern (d).

 

2. Wenn Waaren nach Gewicht verkauft werden, und

ein Dritter hat zu dieſem Handel wiſſentlich falſches Ge-

wicht hergeliehen, ſo kann in der Regel der Beſchädigte

die Berichtigung der ungenauen Erfüllung des Vertrags

verlangen, wodurch dann jeder Schade abgewendet iſt.

Nur wenn ausdrücklich auf dieſes individuelle Gewicht

contrahirt war, fällt dieſe Aushülfe weg, und nun gilt die

doli actio gegen den Betrüger (e). Daraus aber folgt

nothwendig, daß jener Vertrag ſelbſt, ungeachtet des Irr-

thums, unanfechtbar ſeyn muß, indem die doli actio nicht

gegeben werden darf, ſobald der Schade durch ein anderes

Rechtsmittel (Klage oder Exception) abgewendet werden

kann, es möge dieſes Rechtsmittel gegen den Betruͤger

ſelbſt, oder gegen einen Andern, zuläſſig ſeyn (f).

 

3. Wenn der Gläubiger durch Betrug ſeines Schuld-

ners zur Acceptilation beſtimmt wird, ſo hat er gegen den

Schuldner die doli actio (g). Daraus folgt aber, daß die

Acceptilation, ungeachtet des Irrthums, gültig ſeyn muß,

 

(d) L. 65 § 2 de cond. indeb.

(12. 6.).

(e) L. 18 § 3 de dolo (4. 3.).

(f) L. 1 § 4—8, L. 2—7 de

dolo (4. 3.).

(g) L. 38 de dolo (4. 3.).

|0370 : 358|

Beylage VIII.

weil außerdem jene Klage entbehrlich, alſo auch unzuläſſig,

ſeyn würde (Note f).

XI.

Es giebt jedoch zwey wichtige Ausnahmen der eben

dargeſtellten Regel: Fälle, in welchen ein Rechtsgeſchäft

blos wegen eines irrigen Beweggrundes als ungültig durch

beſondere Klagen angefochten werden kann (a).

 

Der erſte dieſer ausgenommenen Fälle findet ſich in

den ädiliciſchen Klagen. Wer eine Sache kauft, die mit

einem heimlichen Fehler beſonders beſtimmter Art behaftet

iſt, kann nach ſeiner Wahl entweder den Kauf aufheben,

oder eine Verminderung des Kaufgeldes verlangen, und

zwar lediglich wegen dieſes Irrthums, der Verkäufer alſo

mag den Fehler gekannt haben oder nicht (b). Die ge-

 

(a) Mit dieſen ausgenommenen

Fällen darf nicht zuſammengeſtellt

werden der Fall des Betrugs;

denn bey dieſem tritt der Irrthum

als ſolcher ganz zurück, und der

Betrug für ſich iſt ſelbſtſtändiger

Entſtehungsgrund eigenthümlicher

Rechtsverhältniſſe (Syſtem § 115).

Eben ſo darf dahin nicht gezählt

werden die Anfechtung des Kaufs

wegen laesio ultra dimidium;

denn bey dieſer iſt der Irrthum

des Verkäufers über den wahren

Werth der Sache zwar ein mög-

licher Beweggrund, aber nicht der

nothwendige: es kann auch ein

Verkauf ſeyn aus Geldnoth, die

der Käufer wucherlich misbraucht,

in welchem Fall kein Irrthum

zum Grund liegt.

(b) Mit den ädiliciſchen Klagen

darf in dieſer Hinſicht nicht zu-

ſammengeſtellt werden die Klage

auf Evictionsleiſtung, obgleich auch

bey dieſer ein Irrthum allerdings

vorausgeſetzt wird. (L. 27 C. de

evict. 8. 45.). Denn der wahre

Grund der Klage iſt hier nicht

der Irrthum, ſondern der nicht

gehörig erfüllte Kauf (L. 11 § 2

de act. emti 19. 1, L. 8 de

evict. 21. 2.); der Irrthum aber

kommt hier nur inſofern in Be-

tracht, als umgekehrt in der Be-

kanntſchaft mit dem fremden Recht

eine Entſagung auf den Regreß

|0371 : 359|

Irrthum und Unwiſſenheit.

naueren Beſtimmungen dieſes Rechtsſatzes gehören hierher

nicht, ſondern nur deſſen Verbindung mit der Lehre vom

Irrthum, worin er als poſitive Ausnahme erſcheint von

der Regel, nach welcher der Irrthum keinen Einfluß auf

die Gültigkeit der Verträge hat. Das ganz Poſitive des

erwähnten Rechtsſatzes iſt von allen Seiten unverkennbar:

in der unzuläſſigen Contractsklage: in den dafür einge-

führten eigenen Klagen mit ganz beſonderer, kurzer Ver-

jährung: in dem Wahlrecht des Klägers: ja ſchon in den

ſehr eigenthümlich und willkührlich beſtimmten factiſchen

Beſtimmungen der Klage (vitium und morbus). — Gleich

hier aber bewährt ſich deutlich das oben (Num. VI.) auf-

geſtellte negative Princip, indem die erwähnten Klagen

ungeachtet des Irrthums wegfallen, wenn derſelbe nicht

ohne große Nachläſſigkeit des Irrenden eintreten konnte (c).

Der zweyte, weit wichtigere, ausgenommene Fall iſt

 

gegen den Verkäufer liegen würde.

Darum gilt auch bey den Römi-

ſchen Juriſten die Evictionsleiſtung

gar nicht, ſo wie die Vorſchrift

des ädiliciſchen Edicts, als ein

ganz poſitiver Rechtsſatz, ſondern

als eine natürliche Folge des

Kaufcontracts; ſie kann daher

durch die actio emti geltend ge-

macht werden, die wegen vitium

und morbus der erkauften Sache

nicht gilt.

(c) L. 14 § 10 de aedil. ed.

(21. 1.) „Si … talis tamen mor-

bus sit, qui omnibus potuit ap-

parere .. ejus nomine non te-

neri Caecilius ait … ad eos

enim morbos vitiaque pertinere

Edictum Aedilium probandum

est, quae quis ignoravit, vel

ignorare potuit.” Der letzte

Ausdruck erklärt ſich aus dem

erſten; es ſoll der Irrthum ent-

weder als Thatſache nachgewieſen

ſeyn, oder wegen der Verborgen-

heit des Fehlers mit Wahrſchein-

lichkeit angenommen werden kön-

nen. Dabey verſteht es ſich von

ſelbſt, und wird durch die voran-

ſtehenden Worte beſtätigt, daß

auch der wirklich vorhandene Irr-

thum nicht beachtet wird, wenn

er mit großer Nachläſſigkeit ver-

bunden iſt.

|0372 : 360|

Beylage VIII.

enthalten in den Condictionen (d). Auch bey dieſen wird

ein an ſich gültiges Rechtsgeſchäft vorausgeſetzt, welches

lediglich wegen des Irrthums durch eine beſondere Klage

wiederum entkräftet werden kann. Die eigenthümliche Vor-

ausſetzung wird darin geſetzt, daß das Rechtsgeſchäft vor-

genommen werde mit Rückſicht auf eine juriſtiſche causa,

und daß der Irrthum gerade dieſe causa, nicht etwa blos

die factiſchen Vortheile oder Nachtheile, die dabey eintre-

ten können, betreffe (e). Das Rechtsgeſchäft kann nun

beſtehen entweder in einem Geben, beſonders einer Geld-

zahlung, oder in dem Abſchluß eines obligatoriſchen Ver-

(d) Ich gebrauche hier der

Kürze wegen dieſen allgemeinen

Ausdruck, obgleich dabey als hier-

her nicht gehörend abgerechnet

werden müſſen: 1. Die Condic-

tionen aus Verträgen (Darlehen

und Stipulation), 2. die anoma-

liſchen Condictionen, bey welchen

es auf Irrthum gar nicht an-

kommt, nämlich condictio furtiva

und ob turpem causam. Dann

bleiben folgende, als hierher ge-

hörend, das heißt auf einer irri-

gen causa beruhend, übrig: a.

wegen einer künftigen causa die

condictio ob causam datorum,

b. wegen einer gegenwärtigen oder

vergangenen: die allgemeine con-

dictio sine causa, und für einen

einzelnen Fall, aber den wichtig-

ſten und häufigſten unter allen,

die condictio indebiti.

(e) Wenn ich einen Tauſchver-

trag von meiner Seite erfülle,

ſo geſchieht es, um den Andern

zur gegenſeitigen Erfüllung zu

verpflichten. Dieſe (obligandi)

causa hat eine ganz juriſtiſche

Natur, und wenn ich mich in

dieſer Erwartung getäuſcht finde,

ſo habe ich die condictio ob

causam datorum. Wenn dage-

gen der Andere gleichfalls erfüllt,

und es ſich findet, daß ich eine

gute Sache gegen eine ſchlechte

vertauſcht habe, ſo iſt mir zwar

auch ein Nachtheil aus Irrthum

entſtanden, aber dieſer Irrthum

betrifft blos die factiſchen Ver-

hältniſſe der Sache (Brauchbar-

keit und Preis), ſteht nicht in

Verbindung mit einer juriſtiſchen

causa, und begründet keine Con-

diction. Die juriſtiſche causa iſt

hier vielmehr vollſtändig in Er-

füllung gegangen, und auf ſie

hat ſich daher kein Irrthum be-

zogen.

|0373 : 361|

Irrthum und Unwiſſenheit.

trags: im erſten Fall geht die Condiction auf Rückgabe

des gezahlten Geldes (f), im zweyten auf Befreyung von

der übernommenen Obligation; und dieſer Anſpruch auf

Befreyung kann nicht blos durch die Condiction geltend

gemacht werden, ſondern noch einfacher durch eine Excep-

tion gegen die Klage des Gläubigers auf Erfüllung jenes

abgeſchloſſenen Vertrags (g). — Es kann nun hier noch

weniger, als bey den ädiliciſchen Klagen, die Rede davon

ſeyn, dieſen ſehr wichtigen Abſchnitt des Obligationenrechts

am gegenwärtigen Ort vollſtändig abzuhandeln; vielmehr

ſoll hier nur der Zuſammenhang der Condictionen mit der

Lehre vom Irrthum nachgewieſen werden. Die genauere

Beſtimmung dieſes Zuſammenhangs aber wird faſt nur

bey der condictio indebiti erforderlich; auch iſt dieſe über-

haupt häufiger und wichtiger als die übrigen Condictionen,

und erſcheint daher unter allen am meiſten im Römiſchen

Recht ausgebildet. Es wird deshalb hier ausſchließend

von dem Irrthum in Beziehung auf die condictio indebiti

(f) L. 1 § 1, L. 7 de cond.

indeb. (12. 6.). Dieſes iſt der

gewöhnlichſte Fall, der in dem

ganzen Digeſtentitel faſt überall

vorausgeſetzt wird.

(g) L. 5 § 1 de act. emti

(19. 1.), L. 51 pr. § 1 de pactis

(2. 14.), L. 31 de cond. ind.

(12. 6.). Auch dieſes wieder läßt

ſich auf ganz verſchiedene Weiſe

denken. Es geſchieht, wenn ich

als Erbe fälſchlich glaube, durch

Teſtament zum Verkauf meines

Hauſes verpflichtet zu ſeyn, und

deswegen das Haus wirklich ver-

kaufe. Es geſchieht aber auch,

wenn ich für eine fälſchlich an-

genommene Geldſchuld, anſtatt

baarer Zahlung, durch Novation

eine ganz neue Schuld contrahire,

z. B. einen Wechſel ausſtelle. An-

dere und verſtecktere Formen,

worin dieſer wichtige Rechtsſatz

erſcheint, werden noch weiter un-

ten erwähnt werden.

|0374 : 362|

Beylage VIII.

ferner die Rede ſeyn. — Bey dieſer nun zeigt ſich der

oben aufgeſtellte Unterſchied des factiſchen und Rechtsirr-

thums (Num. III.) vorzüglich wirkſam, indem nur der erſte,

nicht der zweyte den Anſpruch auf die Condiction ſoll be-

gründen können. Indeſſen iſt dieſer wichtige Satz ſehr

beſtritten, und bedarf einer ausführlichen Darſtellung der

entgegen ſtehenden Meynungen und ihrer Gründe. Da-

durch würde aber, wenn dieſe gleich hier vorgenommen

werden ſollte, der überſichtliche Zuſammenhang der Haupt-

unterſuchung ſehr geſtört werden. Ich habe es daher vor-

gezogen, dieſe Streitfrage hier auszuſcheiden, und an das

Ende der gegenwärtigen Abhandlung, als eine für ſich

beſtehende Unterſuchung zu verweiſen (Num. XXXV. u. fg.).

Dieſes ſind die beiden Ausnahmen des Römiſchen Rechts.

Das canoniſche Recht fügt eine dritte hinzu, welche ſich

auf die Eingehung einer Ehe aus irrigen Vorausſetzungen

bezieht. Dadurch ſoll jedoch die Ehe nur in dem einzigen

Fall nichtig werden, wenn der eine Ehegatte frey, der an-

dere unfrey iſt, und der Freye die Unfreyheit des Andern

nicht kannte (h). Im Römiſchen Recht konnte dieſer Fall

gar nicht vorkommen, da für die Sklaven, die einzigen

Unfreyen die bey den Römern vorkommen, eine Ehe über-

 

(h) c. 4 C. 29. q. 2, C. 2. 4 X.

de conj. serv. (4. 9.). Böhmer

§ 348. 384 not. a. Eichhorn II.

S. 352. — Ohne Grund will die

Praxis dieſes auf andere Fälle

ausdehnen. Dazu wird in den

meiſten Fällen nicht einmal ein

Bedürfniß vorhanden ſeyn, da

meiſt Betrug concurrirt, von wel-

chem dann der Irrthum abſorbirt

wird.

|0375 : 363|

Irrthum und Unwiſſenheit.

haupt unmöglich war, ohne Rückſicht auf das Bewußtſeyn

und den Willen der Parteyen.

XII.

Bisher war von Rechtsgeſchäften durch ausdrückliche

Willenserklärung die Rede; eine etwas andere Natur hat

in Beziehung auf Irrthum die ſtillſchweigende (§ 131).

Denn das Daſeyn des Willens war, bey der ausdrückli-

chen, durch die mündliche oder die ſchriftliche Rede voͤllig

gewiß, und es konnte nur die Frage ſeyn, ob dieſem wirk-

lich vorhandenen Willen wegen des Irrthums die gewöhn-

liche Wirkung entzogen werden ſollte. In der ſtillſchwei-

genden Erklärung dagegen iſt das Daſeyn des Willens

nicht ſchon für ſich gewiß, vielmehr ſoll daſſelbe erſt aus

Handlungen geſchloſſen werden, die wir als Ausdruck des

Willens annehmen. Sind nun aber dieſe Handlungen in

einer ſolchen irrigen Vorausſetzung unternommen, daß ſie

gar nicht als Ausdruck jenes Willens gelten können, dann

fehlt es an allem poſitiven Grund einer Rechtsänderung,

und es kann gar nicht die Frage davon ſeyn, dem Willen

ſeine gewöhnliche Wirkſamkeit zu verſagen.

 

Wenn wir aber dieſes anerkennen, ſo nehmen wir nicht

etwa blos einen anderen Grund an für die Einwirkung

des Irrthums auf die ſtillſchweigenden Willenserklärungen,

ſondern auch die praktiſche Beurtheilung im Einzelnen wird

eine ganz andere. Denn die Schuldloſigkeit des Irrthums

wird nunmehr ganz gleichgültig: dann aber verſchwindet

 

|0376 : 364|

Beylage VIII.

auch der Unterſchied zwiſchen dem factiſchen und Rechts-

irrthum, indem auch dieſer letzte das Daſeyn des Wil-

lens, mithin den poſitiven Grund irgend einer Rechtsän-

derung, ausſchließt.

Beſtätigungen der hier aufgeſtellten Anſicht ſind fol-

gende.

 

Wer auf ſeinem Grundſtück ſolche Arbeiten vornimmt,

wodurch das Regenwaſſer einem Nachbar ſchädlich wer-

den kann, wird durch eine eigene Klage zur Herſtellung

des früheren Zuſtandes gezwungen. Hat aber der Nach-

bar die Arbeit gewußt und geſchehen laſſen, ſo hat er

dadurch in die möglichen Nachtheile ſtillſchweigend einge-

willigt, weshalb die Klage wegfällt. Jedoch kann wie-

derum dieſe Ausnahme nicht gelten, wenn der Nachbar

aus Irrthum die Gefährlichkeit der Arbeit nicht einſah;

denn nun kann ſein Stillſchweigen nicht als freye Unter-

werfung unter dieſe Gefahr angeſehen werden (a). Dabey

iſt nun blos von error aut imperitia die Rede, ohne Un-

terſchied ob der Irrthum ſchwer oder leicht zu vermeiden

war, welcher letzte Fall hier wohl am häufigſten ange-

nommen werden dürfte.

 

(a) L. 19. 20 de aqua et aquae

pluv. (39. 3.). Dieſes iſt eine der

oben angeführten Stellen (Num.

VII.), deren allgemeiner Ausdruck

dahin führen könnte, wegen des

Irrthums das Daſeyn jedes (auch

des ausdrücklich erklärten) Wil-

lens zu verneinen. — Der au-

genſcheinliche Grund der von der

Ausnahme gemachten Ausnahme

liegt darin, daß der Nachbar, dem

die Arbeit wirklich keine Gefahr

bringt, auch kein Recht des Wi-

derſpruchs hat, weshalb ſein

Schweigen nicht als Einwilligung

gelten kann.

|0377 : 365|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Wenn ſich zwey Parteyen vor einem incompetenten

Gericht einlaſſen, ſo wird dieſes durch freywillige Proro-

gation competent; die Einlaſſung alſo gilt als ſtillſchwei-

gende Erklärung, daß ſie dieſem Gericht durch freyen Ent-

ſchluß ſich unterwerfen wollen (b). Glaubten ſie aber irri-

gerweiſe, das Gericht ſey ohnehin competent, ſo wollten

ſie ſich blos der vermeyntlichen Nothwendigkeit fügen;

dann kann ihre Einlaſſung nicht als ſtillſchweigende freye

Unterwerfung ausgelegt werden, und ſie hat daher nicht

die Kraft einer Prorogation (c). Hier wird nun der Irr-

thum faſt immer ein Rechtsirrthum ſeyn, indem er die

Rechtsregeln über die örtlichen oder perſönlichen Gränzen

des Gerichtsſprengels zum Gegenſtand haben wird, ſo daß

alſo hier, wie oben bemerkt, der Rechtsirrthum dieſelbe

Wirkung hat, wie der factiſche Irrthum.

 

Wenn ein zur Erbſchaft Berufener Geſchäfte der Erb-

ſchaft beſorgt, ſo liegt in dieſer pro herede gestio eine

ſtillſchweigende Antretung. Wenn er jedoch irrigerweiſe

das zur Erbſchaft gehörende Geſchäft nicht für ein ſol-

ches, ſondern für ſein eigenes hielt, ſo kann unmöglich

ſeine Handlung als Ausdruck jenes Willens angeſehen

werden (d).

 

(b) L. 1 de judiciis (5. 1.).

(c) L. 2 pr. de judiciis (5. 1.),

L. 15 de jurisd. (2. 1.). Dieſe

beide Stellen gehören wiederum,

eben ſo wie die in Note a an-

geführte, unter diejenigen, welche

ſcheinbar jede Willenserklärung

für nicht vorhanden erklären, wenn

ihr ein Irrthum zum Grunde liegt

(Num. VII.). Gerade die Hälfte

der dort angeführten Sechs Stel-

len bezieht ſich alſo lediglich auf

die eigenthümliche Natur der ſtill-

ſchweigenden Willenserklärung.

(d) L. 20 pr. de adqu. her.

(29. 2.) „.. si quid non quasi

|0378 : 366|

Beylage VIII.

Allein nicht jeder Irrthum ſchließt die ſtillſchweigende

Willenserklärung aus, ſondern nur derjenige, welcher dem

Schluß von der Handlung auf das Daſeyn des Willens

im Wege ſteht. Wenn alſo jener berufene Erbe die erb-

ſchaftlichen Geſchäfte beſorgt, weil er aus Irrthum die

Erbſchaft für vortheilhaft hält, obgleich ſie inſolvent iſt,

ſo iſt er dennoch Erbe geworden; denn der Wille, Erbe

zu werden, war in ihm unzweifelhaft vorhanden.

 

XIII.

Bisher war die Rede von ſolchen Fällen, worin die

regelmäßige Wirkſamkeit von Rechtsgeſchäften wegen eines

Irrthums auf irgend eine Weiſe gehemmt wird. Umge-

kehrt aber giebt es auch Fälle, worin die in der Regel

eintretende Ungültigkeit eines Rechtsgeſchäfts durch die

Zwiſchenkunft eines Irrthums weggeräumt, und dem Ge-

ſchäft Gültigkeit verſchafft wird.

 

In einigen Fällen geſchieht dieſes gleich von Anfang

an, ſo daß dann zu keiner Zeit die Ungültigkeit des Ge-

ſchäfts behauptet werden kann. Das Sctum Macedonia-

num erklärt das Gelddarlehen an einen in väterlicher Ge-

walt ſtehenden Schuldner allgemein für ungültig, ohne

zu unterſcheiden, ob der Glaubiger jene Eigenſchaft des

Schuldners kenne oder nicht (a). Die Interpretation der

 

heres egit, sed quasi alio jure

dominus” … § 1 eod. „.. aut

putavit sua.”

(a) L. 1 pr. de Sc. Maced.

(14. 6.).

|0379 : 367|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Juriſten fügte jene billige Unterſcheidung hinzu, und nahm

alſo an, daß der Irrthum des Schuldners die Schuld-

klage von der gewöhnlichen Exception befreye; vorausge-

ſetzt jedoch, daß es weder ein Rechtsirrthum, noch ein

leicht zu vermeidender factiſcher ſey, alſo ganz nach den

oben fuͤr den Irrthum überhaupt aufgeſtellten Grund-

ſätzen (b). — Minderjährige jedoch dürfen ſich hier auch

auf den Rechtsirrthum berufen (c).

Eine ganz ähnliche Beſtimmung findet ſich bey der

durch das Sc. Vellejanum unterſagten Bürgſchaft der

Frauen. Die Exception aus dieſem Senatusconſult gilt

ohne Unterſchied, ob die Frau ſelbſt die Bürgſchaft leiſtet,

oder ein Anderer im Auftrag der Frau. Wenn aber in

dieſem letzten Fall der Glaubiger von dem Auftrag Nichts

weiß, und alſo den Bevollmächtigten für einen Bürgen

auf eigene Rechnung hält, ſo wird die Exception durch

doli replicatio ausgeſchloſſen (d).

 

Ein Sklave konnte nicht als Zeuge bey einem Teſta-

ment zugezogen werden. Geſchah dieſes dennoch, jedoch

bey einem ſolchen Sklaven, der allgemein für einen Freyen

 

(b) L. 3 pr. de Sc. Maced.

(14. 6.). „Si quis patremfami-

lias esse credidit, non vana

simplicitate deceptus, nec juris

ignorantia, sed quia publice

paterfamilias plerisque vide-

batur, sic agebat, sic contra-

hebat, sic muneribus fungeba-

tur: cessabit Senatusconsul-

tum.” Daſſelbe ſagt indirect, in

Beziehung auf den Rechtsirrthum,

L. 9 pr. h. t., worin nur dem

Minderjährigen (alſo dem Voll-

jährigen nicht) Hülfe zugeſagt

wird, wenn er aus Rechtsirrthum

einem filiusfamilias Geld als Dar-

lehen giebt.

(c) L. 9 pr. h. t. (ſ. Note b),

L. 11 § 7 de minor. (4. 4.).

(d) L. 6 ad Sc. Vellej. (16. 1.).

|0380 : 368|

Beylage VIII.

gehalten wurde, ſo ſollte das Teſtament darum nicht min-

der gültig ſeyn (e).

Eben dahin kann man auch die Vortheile rechnen, die

der redliche Beſitz einer Sache verſchafft; denn dieſer muß

immer auf Irrthum beruhen, wenn in der That kein Ei-

genthum zum Grunde liegt (f).

 

XIV.

Wichtiger aber ſind die Fälle, in welchen der Irrthum

die Folge hat, daß die anfängliche Ungültigkeit eines Rechts-

geſchäfts hinterher weggeräumt wird. Eine ſolche Verän-

derung kann man als Ergänzung eines unvollſtaͤndigen

Rechtsgeſchäfts bezeichnen, und dieſe Ergänzung eben iſt

es, welche durch den Irrthum vermittelt werden kann.

 

Ein Fall dieſer Art war im älteren Recht die erroris

causae probatio. War nämlich eine Ehe unter ſolchen

Perſonen geſchloſſen, die kein gegenſeitiges Connubium hat-

ten, ſo war ſie nach Civilrecht ungültig, die Kinder folg-

ten nicht dem Stande des Vaters, und kamen nicht in

väterliche Gewalt. Hielten aber die Ehegatten ihre Ehe

für eine richtige, indem ſie aus Irrthum dem einen unter

ihnen einen höheren oder niederen Stand, als er hatte,

zuſchrieben, und deshalb Standesgleichheit unter ſich an-

nahmen, ſo war ihnen geſtattet, eine causae probatio,

 

(e) § 7 J. de test. ord. (2. 10.),

L. 1 C. de test. (6. 23.).

(f) Dahin gehört der Fruchter-

werb (§ 35 J. de rer. div. 2. 1.),

und der (etwas beſchränkte) Er-

werb durch den servus bona fide

possessus (§ 4 J. per quas pers.

2. 9.).

|0381 : 369|

Irrthum und Unwiſſenheit.

das heißt den Beweis des Irrthums, zu unternehmen;

dann kam der niedere Gatte nebſt den in dieſer Ehe er-

zeugten Kindern in den Stand des höheren, alſo gewöhn-

lich in die Civität, und die Kinder kamen zugleich in die

Gewalt des Vaters (a). Es wird nicht geſagt, ob der

Irrthum durch ungewöhnliche Umſtände entſchuldigt wer-

den mußte, welches man, da er den Zuſtand der eigenen

Perſon betrifft, nach allgemeinen Grundſätzen wohl an-

nehmen möchte (Num. III.). Vielleicht aber galt hier eine

begünſtigende Ausnahme mit Rückſicht auf die Kinder;

vielleicht auch iſt eben der Nachweis beſonderer Umſtände

in dem Ausdruck causae probatio angedeutet, und wird

nur zufällig in den angeführten Stellen nicht beſonders

hervorgehoben.

Eine weit wichtigere Anwendung dieſes ergänzenden

Verhältniſſes aber, die auch noch in dem heutigen Recht

volle Anwendung findet, gilt bey der Uſucapion. Wenn

eine Handlung, wodurch Eigenthum erworben werden ſoll,

dazu auf irgend eine Weiſe untauglich iſt, ſo kann der

Erwerber dieſes entweder wiſſen oder nicht wiſſen. Im

erſten Fall iſt ihm nicht zu helfen; im zweyten dagegen

wird das Anfangs fehlende Eigenthum durch den Ablauf

der Uſucapionszeit ergänzt, vorausgeſetzt daß der Irrthum

die gehörige Beſchaffenheit hat. Hier iſt alſo der (gehö-

rig qualificirte) Irrthum nicht nur kein Hinderniß des red-

lichen Erwerbs, ſondern ſogar deſſen nothwendige Bedin-

 

(a) Ulpian. VII. § 4. Gajus Lib. 1 § 67 sq.

III. 24

|0382 : 370|

Beylage VIII.

gung und Vermittlung, ſo daß man ſagen kann, es gebe

keine Uſucapion ohne Irrthum (b). — Es kann nun nicht

die Abſicht ſeyn, hier die ganze Lehre der Uſucapion vor-

zutragen; allein das Verhältniß derſelben zum Irrthum

muß hier allerdings vollſtändig dargeſtellt werden. Es

wird ſich zeigen, daß die über den Irrthum oben aufge-

ſtellten Regeln bey der Uſucapion ſehr rein angewendet,

und mit vorzüglicher Sorgfalt ausgebildet worden ſind.

XV.

Soll ſich nun dieſe Behauptung bewähren, ſo muß der

zur Uſucapion geeignete Irrthum erſtlich ein factiſcher,

und zweytens ein durch die Umſtände gerechtfertigter, alſo

nicht leichtſinniger Irrthum ſeyn. Gerade dieſe zwey For-

derungen ſind es aber, die der ganzen Lehre der Uſuca-

pion zum Grunde liegen.

 

(b) Damit dieſer Satz nicht

misverſtanden werde, iſt eine

zwiefache Erinnerung nöthig. Erſt-

lich kannte das ältere Recht zwey

ganz verſchiedene Anwendungen

des Uſucapionsprincips, indem da-

durch ſowohl das in bonis, als

die davon ganz verſchiedene b. f.

possessio in vollſtändiges Eigen-

thum verwandelt werden konnte.

(Gajus Lib. 2 § 41—44). Un-

ſer Satz gilt blos für die zweyte

Anwendung, gar nicht für die

erſte; allein dieſe erſte Anwen-

dung iſt auch überhaupt im Ju-

ſtinianiſchen Recht völlig ver-

ſchwunden, ſo daß nunmehr un-

ſer Satz allgemein wahr gewor-

den iſt. — Zweytens iſt der Satz

allerdings nur wahr da wo die

Uſucapion vollſtändig wirkt, näm-

lich in der That Eigenthum dem

Einen nimmt, dem Andern giebt.

Praktiſch ſtellt ſich die Sache oft

ganz anders, indem die Uſuca-

pion vielleicht nur den fehlenden

Beweis des wirklich ſchon vor-

handenen Eigenthums erſetzt, in

welchem Fall allerdings kein Irr-

thum vorhanden iſt. Die weitere

Ausführung dieſer Anſicht gehört

an einen andern Ort.

|0383 : 371|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Ehe dieſes bewieſen werden kann, muß zuvor unter-

ſucht werden, welche Elemente der Uſucapion eigentlich in

Verbindung mit dem Irrthum gedacht werden müſſen.

Die Uſucapion hat zwey poſitive Bedingungen: redliches

Bewußtſeyn, und Daſeyn eines Rechtstitels. Das erſte

iſt eine Thatſache, auf deren bloßes Daſeyn die Art ihrer

Entſtehung keinen Einfluß hat. Mag alſo auch ein Rechts-

irrthum, oder ein leichtſinniger factiſcher, zum Grunde

liegen, das redliche Bewußtſeyn iſt darum nicht minder

vorhanden (a); allein zur Uſucapion taugt der Irrthum

nur, wenn er gerechtfertigt iſt, und dieſe Rechtfertigung

eben wird durch die Forderung des Titels ausgedrückt.

Inſofern kann man ſagen, die Nothwendigkeit beſonderer

Eigenſchaften des Irrthums beziehe ſich nicht auf die bona

fides, ſondern auf den Titel (b). Über das Verhältniß

aber der bona fides zum Titel muß hier noch Folgendes

hinzugefügt werden. Der Titel dient nicht nur dazu, die

 

(a) Man kann umgekehrt fra-

gen, ob das auf Irrthum beru-

hende unredliche Bewußtſeyn die

Uſucapion hindert. Es hindert,

wenn es auf einem Rechtsirr-

thum beruht (L. 32 § 1 de usurp.

41. 3.), aber nicht im Fall des

factiſchen Irrthums. L. 25 de

don. int. vir. (24. 1.), L. 3 pro

don. (41. 6.). Vgl. das Syſtem

§ 156.

(b) Man könnte dieſe Unter-

ſcheidung für eine leere Subtili-

tät halten, da doch eben nach

unſrer Darſtellung der Titel

Nichts ſeyn ſoll, als die Recht-

fertigung der bona fides, ſo daß

beide Momente als ein unge-

trenntes Ganze erſcheinen. Allein

ſie wird praktiſch wichtig bey der

außerordentlichen Uſucapion, in

welcher der dreyßigjährige Beſitz

den Titel erſetzt und entbehrlich

macht (L. 8 § 1 C. de praescr.

XXX. 7. 39.). Hier bleibt die

bona fides als einziges Erfor-

derniß bey dem Anfang des Be-

ſitzes übrig, und der Rechtsirr-

thum macht dabey kein Hinderniß

24*

|0384 : 372|

Beylage VIII.

bona fides zu rechtfertigen, ſondern auch das Daſeyn der-

ſelben als Thatſache ſo lange feſtzuſtellen, bis der Gegner

die Unredlichkeit beweiſt (c). Dieſes iſt bey der Uſucapion

der durchgreifende Grund, weshalb der Beſitzer ſeine bona

fides nicht zu beweiſen braucht. Aber auch von dieſem

Grunde abgeſehen, müſſen wir ſagen, daß ſtets Derjenige,

welcher einem Gegner die Unredlichkeit vorwirft, dieſe als

eine Thatſache zu beweiſen hat. Wir verfahren daher am

genaueſten, wenn wir die bona fides überhaupt negativ,

als Abweſenheit eines unredlichen Bewußtſeyns, aus-

drücken (d).

Die Natur des zur Uſucapion tauglichen Titels ſoll

nunmehr genauer feſtgeſtellt werden.

 

Der Titel beſteht in einem ſolchen Anfang des Beſitzes,

welcher zwar kein Eigenthum giebt (denn ſonſt bedürfte

es keiner ergänzenden Uſucapion), wohl aber zu geben

ſcheint, ſo daß ſelbſt der Beſonnene und Geſchäftskundige

glauben kann, es ſey Eigenthum ſchon jetzt vorhanden.

Was darf nun zum urſprünglichen Eigenthumserwerb feh-

len, damit dennoch für dieſen gerechtfertigten Glauben

Raum bleibe?

 

(c) L. 30 C. de evict. (8. 45.).

(d) Dieſe Auffaſſung iſt dem

Ausdruck der Rechtsquellen ganz

gemäß. L. 109 de V. S. (50.

16.). „Bonae fidei emtor esse

videtur, qui ignoravit eam rem

alienam esse: aut putavit eum,

qui vendidit, jus vendendi ha-

bere, puta procuratorem, aut

tutorem esse.” Auch iſt die in

der Note c angeführte L. 30 C.

de evict., welche den Beſitzer vom

Beweiſe der bona fides entbin-

det, gar nicht auf die Uſucapion

eingeſchränkt.

|0385 : 373|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Vor Allem darf bey den Veräußerungen, als der häu-

figſten unter allen Erwerbungsformen, das Eigenthum des

Auctors fehlen; dieſes iſt der Hauptfall aller Uſucapion,

und dabey wird der Irrthum am unbedenklichſten zuge-

laſſen, weil in der Regel die genaue Prüfung fremder

Rechte uns nicht zugemuthet werden kann. Laſſen ſich je-

doch Umſtände nachweiſen, welche dieſen Irrthum als be-

ſonders leichtſinnig darſtellen, ſo liegt gewiß auch hierin

ein Hinderniß der Uſucapion (e).

 

Bedenklicher ſchon wird der Mangel, wenn er das zur

wirklichen Erwerbung erforderliche Rechtsgeſchäft betrifft,

indem er ſich dann meiſt auf eine eigene Handlung des

Irrenden beziehen wird. Zwar wenn das Geſchäft blos

wegen der Handlungsunfähigkeit des Veräußernden ungül-

tig iſt, ſo kann in Beziehung auf dieſe, als den Zuſtand

einer fremden Perſon, der Irrthum leicht gerechtfertigt

ſeyn; ſo z. B. wenn der Käufer den unmündigen oder

wahnſinnigen Verkäufer für mündig oder vernünftig hält (f).

 

(e) Es kann dieſer Irrthum

noch eine zwiefache Geſtalt an-

nehmen, indem man dem Ver-

käufer fälſchlich entweder das Ei-

genthum ſelbſt, oder die Vollmacht

der Veräußerung für den Eigen-

thümer, zuſchreibt, welche beide

Fälle in L. 109 de V. S. (Note c)

erwähnt werden. Vorzüglich in

dem letzten Fall wird der Irr-

thum oft leicht zu vermeiden, alſo

zur Uſucapion untauglich ſeyn.

(f) L. 2 § 15. 16 pro emtore

(41. 4.). (Bey § 15 iſt es be-

ſtritten, wie man den Fall zu den-

ken habe, damit die Stelle nicht

mit anderen in Widerſpruch kom-

me. Vgl. Unterholzner Ver-

jährungslehre I. S. 128. 133). Na-

türlich wird vorausgeſetzt, daß die

irrige Annahme durch das täu-

ſchende äußere Anſehen der Per-

ſon unterſtützt wurde; ſonſt würde

derſelbe dennoch als leichtſinnig

anzuſehen ſeyn, und zur Uſuca-

pion nicht genügen. — Von der

|0386 : 374|

Beylage VIII.

Anders wenn die Handlungen ſelbſt, die zu dem Geſchäft

gehören, auf mangelhafte Weiſe vorgenommen waren, oder

wenn ſogar das Daſeyn irgend eines Rechtsgeſchäfts nur

irrigerweiſe von dem Erwerber angenommen wird, wel-

ches letzte man einen Putativtitel zu nennen pflegt. Aller-

dings erſcheinen gerade für dieſen Fall die Ausſpruͤche un-

ſrer Rechtsquellen ſchwankend; einige Stellen ſcheinen ihn

ſchlechthin zuzulaſſen (g), andere ſchlechthin zu verwer-

fen (h). Noch andere aber vermitteln dieſen ſcheinbaren

Widerſpruch auf eine Weiſe, die mit den allgemeinen

Grundſätzen vom Irrthum völlig übereinſtimmt: in der

Regel iſt der Irrthum über das Daſeyn eines Titels un-

zuläſſig, weil er meiſt eine eigene Handlung betreffen wird;

er kann jedoch durch ungewöhnliche Umſtände gerechtfer-

tigt werden, z. B. wenn der Erwerber den Kaufcontract

durch einen Bevollmächtigten abſchließen wollte, und durch

deſſen falſchen Bericht über den wirklichen Abſchluß ge-

täuſcht worden iſt (i).

XVI.

Bisher iſt angegeben worden, wie ein factiſcher Irr-

 

Interdiction, und einer ähnli-

chen, bey dem spatium delibe-

randi möglichen, Beſchränkung

reden indirect (nach dem argu-

mentum a contrario) L. 12 de

usurp. (41. 3.), L. 7 § 5 pro

emt. (41. 4.), mit welchen Stel-

len noch zu verbinden iſt L. 26

de contr. emt. (18. 1.).

(g) L. 3, L. 4 § 2 pro suo

(41. 10.).

(h) L. 27 de usurp. (41. 3.),

§ 11 J. eod. (2. 6.).

(i) L. 11 pro emtore (41. 4.),

L. 5 § 1 pro suo (41. 10.), L. 4

pro legato (41. 8.).

|0387 : 375|

Irrthum und Unwiſſenheit.

thum beſchaffen ſeyn müſſe, um eine Uſucapion möglich

zu machen. Bey dem Rechtsirrthum iſt eine ſo genaue

Unterſcheidung nicht nöthig, da er ſchon im Allgemeinen

als unzuläſſig anzuſehen iſt, welches bey dem factiſchen Irr-

thum von den Umſtänden jedes Falles abhängt (Num. III.).

Daher wird in mehreren Stellen unſrer Rechtsquellen die

Regel allgemein ausgeſprochen, daß der (den Titel be-

treffende) Rechtsirrthum die Uſucapion ſtets unmöglich

mache (a).

Indeſſen darf dieſe Regel doch nicht ſo unbedingt an-

genommen werden, wie man es nach der woͤrtlichen Faſ-

ſung der angeführten Stellen glauben möchte. Vielmehr

ſind darauf diejenigen Einſchränkungen anzuwenden, die

ſchon oben (Num. IV.) für die Unzuläſſigkeit des Rechts-

irrthums im Allgemeinen geltend gemacht worden ſind.

Auch paſſen dazu ganz die in den angeführten Stellen

(Note a) angeführten Beyſpiele des Rechtsirrthums, die

insgeſammt von den einfachſten und unbeſtrittenſten Rechts-

regeln hergenommen ſind; ſo die Regel, daß ein Unmün-

diger ohne den Vormund Nichts veräußern dürfe: ferner

daß die vormundſchaftliche auctoritas unmittelbar nach der

Willenserklärung des Pupillen ausgeſprochen werden muß,

alſo weder vorher, noch auch lange Zeit nachher. Da-

 

(a) L. 4 h. t., L. 31 pr. L. 32

§ 1 de usurp. (41. 3.), L. 2 § 15

pro emtore (41. 4.). Vgl. Un-

terholzner Verjährungslehre

§ 117 S. 408. — Bey der ange-

führten L. 2 § 15 pro emtore

iſt die Erklärung ſehr beſtritten-

jedoch in Beziehung nicht auf die

Unzuläſſigkeit des Rechtsirrthums,

ſondern umgekehrt auf die Zu-

läſſigkeit des factiſchen, ſ. oben

Num. XV. Note f.

|0388 : 376|

Beylage VIII.

gegen müſſen wir auch bey dem Rechtsirrthum die Uſu-

capion zulaſſen, wenn er ſich auf wirklich controverſe

Rechtsregeln bezieht. Folgende, aus dem älteren Römi-

ſchen Recht hergenommene Fälle werden dieſen Satz ein-

leuchtend machen.

Die Sabinianer rechneten die Pubertät von der Zeu-

gungsfähigkeit an, die Proculejaner (ſo wie Juſtinian)

von Vierzehen Jahren (b). Wenn nun ein Proculejaner

von einem Vierzehenjährigen, der noch nicht zeugungsfähig

war, eine Sache kaufte, ſo glaubte er ſogleich Eigenthü-

mer zu werden. Entſtand aber nach Jahren Streit über

dieſes Eigenthum, ſo war der Prätor, der den Prozeß

durch ſeine Inſtruction leitete (oder deſſen juriſtiſcher Rath-

geber), entweder ein Proculejaner oder ein Sabinianer.

Im erſten Fall erkannte er jenem Käufer das Eigenthum

ſchon von der Tradition oder Mancipation an zu. Im

zweyten Fall konnte er dieſes freylich nicht, aber nun ent-

ſtand die Frage, ob dem Käufer nicht wenigſtens die Uſu-

capion zu gut komme? Allerdings mußte jener Prätor

dem Käufer einen Rechtsirrthum zuſchreiben, allein für

einen leichtſinnigen, durch bloße Erkundigung zu vermei-

denden, Irrthum konnte er ihn gewiß nicht erklären, da

ja die diversae scholae auctores doch auch für angeſehene

Juriſten galten. Ich glaube alſo, daß ſelbſt der Sabi-

nianiſche Prätor in dieſem Fall die Uſucapion zulaſſen

mußte, nach dem (von dem Schulenſtreit ganz unabhängi-

 

(b) Ulpian. XI. § 28. Vergl. das Syſtem § 109.

|0389 : 377|

Irrthum und Unwiſſenheit.

gen) Ausſpruch des Labeo: ut, cui facile sit scire, ei

detrimento sit juris ignorantia (Num. III. Note k).

Ganz ähnliche Fälle ſind folgende. Das unter einer

unmöglichen Bedingung gegebene Legat erklärten die Pro-

culejaner für ungültig, die Sabinianer (und eben ſo Ju-

ſtinian) für gültig (c). Hatte nun ein Sabinianiſcher Le-

gatar mehrere Jahre hindurch ein ſolches Legat beſeſſen,

ſo konnte ihm ein Proculejaniſcher Prätor wenigſtens die

usucapio pro legato nicht verſagen. — Eben ſo bey dem

alten Streit, ob der Niesbrauch einer Sklavin dem Fructuar

das Eigenthum an den Kindern dieſer Sklavin gewähre (d).

Der Prätor, der dieſes auch nicht annahm, mußte den-

noch dem Fructuar die usucapio pro suo geſtatten.

 

War nun ſchon bey den Römern die Uſucapion nicht

allgemein wegen eines Rechtsirrthums zu verwerfen, ſo

muß dieſes in noch ausgedehnterer Weiſe für unſer heuti-

tiges Recht anerkannt werden (Num. IV.) (e).

 

XVII.

Bey den auf das Erbrecht bezüglichen juriſtiſchen Hand-

lungen hat der Irrthum eine etwas ausgedehntere Ein-

wirkung, als bey den Geſchäften des Verkehrs unter Le-

benden.

 

(c) Gajus Lib. 3 § 98.

(d) L. 68 pr. de usufructu

(7. 1.). Cicero de finibus I. 4.

(e) Mit dieſer Anſicht, daß der

Rechtsirrthum über einen contro-

verſen Rechtsſatz die Uſucapion

nicht ausſchließe, ſtimmen auch

ſchon ältere Rechtslehrer überein.

Gilken de usucapionibus P. 2

membr. 1. Cap. 3 Num. 2.

|0390 : 378|

Beylage VIII.

Dieſes zeigt ſich zunächſt bey den Verfügungen des

Erblaſſers in folgenden Fällen:

 

1) Das Teſtament iſt nichtig, wenn der Teſtator über

ſeinen perſönlichen Rechtszuſtand im Irrthum, oder auch

nur im Zweifel iſt (a).

 

2) Die Erbeinſetzung iſt in der Regel von dem bloßen

(unförmlichen) Willen unabhängig, und unterſcheidet ſich

dadurch von den Legaten, von welchen ſogleich die Rede

ſeyn wird. Daher wird ſie, abweichend von den Legaten,

durch einen unförmlichen Widerruf nicht entkräftet (b).

Eben ſo aber ſchadet ihr auch in der Regel nicht ein blo-

ßer Irrthum im Beweggrund (c). Von dieſem letzten Satz

giebt es jedoch Zwey wichtige Ausnahmen:

 

(a) L. 14. 15 qui test. (28. 1.),

Ulpian. XX. § 11. — Glück B. 22

S. 285.

(b) L. 22 de adimendis (34.

4.), L. 36 § 3 de test. mil. (29. 1.).

(c) Dieſes folgt aus dem in

der vorhergehenden Anwendung

(Note b) anerkannten Princip,

woraus der Unterſchied zwiſchen

Erbeinſetzung und Legat klar her-

vorgeht, und wozu ſich die fol-

genden Fälle als bloße ſinguläre

Ausnahmen verhalten. Eine ſehr

ſcheinbare Einwendung gegen die

hier aufgeſtellte Regel liegt in

L. 4 § 10 de doli exc. „Prae-

terea sciendum est, si quis quid

ex testamento contra volunta-

tem petat, exceptione eum doli

mali repelli solere, et ideo he-

res, qui non habet voluntatem,

per exceptionem doli repelli-

tur.” Erklärt man den letzten

Satz von einer Ausſchließung der

hereditatis petitio, ſo iſt unſre

Behauptung widerlegt; allein dieſe

Erklärung muß verworfen wer-

den, weil die doli exceptio bey

einem dritten, vielleicht ganz un-

rechtmäßigen, Beſitzer völlig ohne

Grund ſeyn würde. Die Stelle

iſt vielmehr von einem einzelnen

Anſpruch des wahren Erben, z. B.

gegen einen Erbſchaftsſchuldner,

zu erklären, deſſen Befreyung in

dem Willen des Erblaſſers lag,

und nur nicht durch ein rechts-

gültiges Legat civilrechtliche Kraft

erhalten hat, alſo von ſolchen

Fällen wie der in L. 6 § 1 de

pecul. leg. (33. 8.) erwähnte.

|0391 : 379|

Irrthum und Unwiſſenheit.

A. Die Erbeinſetzung iſt ungültig, wenn ſie bewirkt

wurde durch die irrige Annahme, daß ein Inteſtaterbe

oder ein früher eingeſetzter Erbe verſtorben ſey (d).

 

B. Sie iſt ungültig, wenn ſie ſich gründet auf die

irrige Annahme einer Verwandtſchaft zwiſchen dem Erb-

laſſer und dem eingeſetzten Erben. Bezieht ſich dieſe irrige

Erbeinſetzung auf ein vermeyntliches, aber untergeſchobe-

nes Kind des Teſtators, ſo liegt darin eine Indignität,

und die Erbſchaft fällt an den Fiscus (e); in allen ande-

ren Fällen gilt die Erbeinſetzung als nicht geſchrieben (f).

 

(d) L. 28 de inoff. (5. 2.),

L. 92 de her. inst. (28. 5.). Die

Legate und andere Nebenbeſtim-

mungen des auf jenem Irrthum

beruhenden Teſtaments werden

aufrecht erhalten. Man ſah es

freylich nicht als eine gewöhnliche

Rechtsregel an, ſondern als eine

frey eingreifende Billigkeit; da-

her wird in beiden Stellen er-

wähnt, daß der Kaiſer auf dieſe

Weiſe zu Hülfe gekommen ſey.

(e) L. 46 pr. de j. fisc. (49.

14.), L. 4 C. de her. inst. (6

24.) „auferendam ei succes-

sionem.” Der Grund der ab-

weichenden Behandlung dieſes

Falles liegt darin, daß durch die

Drohung der Confiscation dem

Verbrechen der Unterſchiebung

entgegen gewirkt werden ſoll. —

Wären dieſe Stellen nicht ſo ſehr

beſtimmt, ſo könnte man nach

L. 1 § 11 de Carbon. ed. (37.

10.) annehmen, auch die Ein-

ſetzung eines untergeſchobenen

Kindes ſey pro non scripta, wo-

durch das Recht des Fiscus aus-

geſchloſſen würde. Man muß nun

den Ausdruck dieſer letzten Stelle

als einen ungenauen anſehen, ſo

daß der beſtimmtere Erfolg allein

aus den vorher angeführten Stel-

len zu entnehmen iſt. Vielleicht

iſt auch das Recht des Fiscus erſt

nach der Zeit des Ulpian einge-

führt, von welchem L. 1 § 11 cit.

herrührt; die L. 46 de j. fisci

iſt von Hermogenian.

(f) L. 7 C. de her. inst. (6.

24.). Der Fall dieſer ſehr be-

ſtrittenen Stelle muß ſo gedacht

werden. Ein Peregrinus hatte

einen Andern als Bruder adop-

tirt, dann waren Beide Römi-

ſche Bürger geworden, und der

Adoptirende hatte den vermeynt-

lichen Bruder zum Erben einge-

ſetzt. Die Kaiſer erklären die

Erbeinſetzung für ungültig, weil

die vorausgeſetzte brüderliche Ver-

wandtſchaft gar nicht vorhanden

|0392 : 380|

Beylage VIII.

3) Die Enterbung eines ächten Sohnes, den der Te-

ſtator irrig für unächt hält, iſt ungültig (g). Eben ſo

auch die in einer allgemeineren Formel ausgedrückte Ent-

erbung eines Sohnes, der aus Irrthum für verſtorben

gehalten wird (h).

 

4) Auch ein Legat wird in der Regel durch den blo-

ßen Ausdruck eines irrigen Beweggrundes nicht entkräftet,

 

ſey, indem ſelbſt unter Peregri-

nen Niemand als Bruder adop-

tirt werden könne. Die ſpäter

erworbene Civität muß in den

Fall der Stelle hinein interpre-

tirt werden; denn wenn (wie

Manche wollen) die fortdauern-

de Peregrinität der Grund der

ungültigen Erbeinſetzung wäre,

ſo würde gewiß dieſer einfachſte

Grund namhaft gemacht ſeyn,

durch welchen ja die irrige Mey-

nung des Teſtators zu einem ganz

gleichgültigen Umſtand werden

würde. — Daſſelbe Princip liegt

zum Grunde in L. 5 C. de te-

stam. (6. 23.). Denn wenngleich

dieſe Stelle vielleicht urſprüng-

lich auf den Fall eines Legats

gegangen ſeyn mag („non de-

beri”), ſo hat ſie doch durch ihre

Aufnahme in den Titel de te-

stamentis eine allgemeinere Be-

deutung bekommen, und es iſt

kein nothwendiger Grund vor-

handen, ihre Beweiskraft für die

Erbeinſetzung dadurch zu beſeiti-

gen, daß man ſie (wie Manche

wollen) für eine lex fugitiva

erklärt. — Fälſchlich würde man

zur Widerlegung unſrer Behaup-

tung anführen L. 33 pr. de cond.

(35. 1.), denn dieſe ſpricht von

der falsa demonstratio, die von

der falsa causa weſentlich ver-

ſchieden iſt.

(g) L. 14 § 2 L. 15 de lib. et

posth. (28. 2.).

(h) L. 25 pr. de lib. et posth.

(28. 2.). Ein Teſtator hatte ge-

ſagt: ceteri omnes filii filiae-

que meae exheredes sunto;

Einen Sohn hatte er aber fälſch-

lich für todt gehalten. Paulus

erklärt nun, dieſer Sohn könne

zwey Gründe für ſich geltend ma-

chen wollen: a) die mangelhafte

Form der Enterbung, da dieſe

hätte nominatim geſchehen müſ-

ſen (pr. J. de exher. 2. 13.);

dieſer Grund ſey jedoch hier un-

haltbar, da die angeführte Ent-

erbung für nominatim geſchehen

gelten müſſe. b) Den Irrthum

über den Tod; dieſer Grund ſey

an ſich entſcheidend, und es kom-

me nur darauf an, das Daſeyn

der behaupteten falſchen Voraus-

ſetzung vor Gericht zu erweiſen.

|0393 : 381|

Irrthum und Unwiſſenheit.

weil der Erblaſſer zugleich durch andere, nur nicht aus-

gedrückte, Gründe beſtimmt ſeyn kann (i). Wenn jedoch

aus den Umſtänden ſicher hervorgeht, daß ohne jenen Irr-

thum das Legat nicht gegeben ſeyn würde, ſo ſteht dem

Legatar eine doli exceptio entgegen (k). Dieſe iſt nur eine

einzelne Anwendung der allgemeineren Regel, daß der Le-

gatar, dem der erweisliche Wille des Verſtorbenen entge-

genſteht, durch die doli exceptio ausgeſchloſſen wird (l);

weshalb denn auch der unförmliche Widerruf eines Legats

zur Begründung dieſer doli exceptio hinreicht (m). Hierin

liegt alſo ein wichtiger, von Vielen verkannter, Unter-

ſchied zwiſchen Erbeinſetzungen und Legaten (n).

5) Ungültig iſt endlich das Legat einer fremden Sache,

wenn nicht der Teſtator wußte, das ſie eine fremde ſey,

welches Bewußtſeyn vom Legatar bewieſen werden muß (o).

 

Wenngleich nun hier der Irrthum einen größeren Ein-

fluß hat, als bey Verträgen, ſo würde es doch ganz un-

richtig ſeyn, über die Gränzen der angegebenen Fälle hin-

aus zu gehen, und jedem Irrthum überhaupt eine gleiche

Kraft beyzulegen. Geſetzt alſo, der Teſtator hätte dem

eingeſetzten Erben Verdienſte oder andere Eigenſchaften zu-

 

(i) L. 17 § 2. 3 L. 72 § 6 de

cond. (35. 1.), § 31 J. de leg.

(2. 20.), L. 1—5 C. de falsa

causa (6. 44.).

(k) L. 72 § 6 de cond. (35.

1.), L. 1 in f. C. de falsa causa

(6. 44.).

(l) L. 4 § 10 de doli exc. (44.

4.), ſ. oben Note c.

(m) L. 22 de adimendis (31.

4.), L. 36 § 3 de test. mil (29. 1.).

(n) Über dieſe ganze Frage ſind

zu vergleichen Ramos bey Meer-

man. V. 176, und Chesius, Ju-

rispr. Rom. et Att. II. 723.

(o) § 4 J. de leg. (2. 20.),

L. 67 § 8 de leg. 2 (31. un.).

|0394 : 382|

Beylage VIII.

geſchrieben, die dieſer in der That nicht beſäße, ſo wäre

dennoch der Inteſtaterbe nicht berechtigt, deshalb das Te-

ſtament als ungültig anzufechten.

Man darf mit dieſen Fällen nicht verwechſeln den

ſcheinbar ähnlichen Fall, da der Teſtator einen Erben er-

nennt, den er für eine andere Perſon hält. Hier wird

nicht, wie in jenen Fällen, die gewöhnliche Wirkung juri-

ſtiſcher Thatſachen wegen des Irrthums modificirt, ſondern

es iſt in Beziehung auf den wörtlich bezeichneten Erben

gar kein Wille vorhanden, ſo daß dieſer Fall unter die

des unächten Irrthums gehört (p).

 

XVIII.

Eben ſo zeigt ſich die Einwirkung des Irrthums bey

den zum Erwerb der Erbſchaft führenden Handlungen auf

folgende Weiſe. Iſt der berufene Erbe über die Art der

Delation (aus letztem Willen oder geſetzlich u. ſ. w.) im

Irrthum, ſo iſt ſeine ausdrückliche oder ſtillſchweigende

Antretung (a) ſowohl, als ſeine Ausſchlagung der Erbſchaft

ohne Wirkung (b). Auch hier wird die gewöhnliche Be-

ſchränkung hinzugefügt, daß der Rechtsirrthum eine ſolche

 

(p) S. u. Num. XXXIV. und

das Syſtem § 135. — In einem

ſolchen Fall alſo gilt weder der

Ausgeſprochene als Erbe, weil er

nicht gemeynt iſt, noch der Ge-

meynte, weil er nicht ausgeſpro-

chen iſt. L. 9 pr. de her. inst.

(28. 5.).

(a) Die Ungültigkeit der irri-

gen pro herede gestio könnte

nun zugleich auf das allgemeinere

Princip der irrigen ſtillſchweigen-

den Willenserklärungen zurückge-

führt werden (Num. XII.).

(b) L. 13 § 1 L. 14. 15. 16. 19.

22. 23. 32. 33. 34. de adquir

hered. (29. 2.).

|0395 : 383|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Wirkung nicht hervorbringe (c). — Jeder andere Irrthum

dagegen kann dem antretenden Erben nicht zu gut kommen.

Insbeſondere nicht der vorzüglich wichtige Irrthum über

den reinen Werth des erbſchaftlichen Vermögens. In einem

ſolchen Fall gab einmal Hadrian, aus durchgreifender Bil-

ligkeit, dem irrenden Erben Reſtitution: Gordian erhob die-

ſelbe bey Soldaten zu einer allgemeinen Rechtsregel: Ju-

ſtinian aber machte jede Hülfe dieſer Art auf einem andern

Wege entbehrlich, indem er jeden Erben, der ein Inventa-

rium macht, von allem Überſchuß der Schulden über das

active Erbſchaftsvermögen befreyte. Jetzt fällt alſo auch

jene Reſtitution des irrenden Erben als überflüſſig im All-

gemeinen hinweg, und iſt nur wieder dem Soldaten, der

das Inventarium verſäumt, vorbehalten (d); in dieſem

Fall aber betrifft ſie nicht mehr, wie früher, die unvor-

ſichtige Handlung, ſondern die bloße Unterlaſſung. Die

Richtigkeit dieſer Behauptung, daß jeder andere Irrthum

(c) L. 2 C. h. t.

(d) Gajus Lib. 2 § 163, § 5. 6

J. de hered. qualit. (2. 19.).

Die im Text enthaltenen Sätze

ſtellen den wahren Sinn und

Zuſammenhang der Inſtitutionen-

ſtelle dar. Es iſt alſo irrig, wenn

Manche glauben, es gelte noch

außer und neben dem beneficium

inventarii eine allgemeine Reſti-

tution des unvorſichtig antreten-

den Erben. (So Burchardi

Wiedereinſetzung S. 388). Aller-

dings wollte Juſtinian, wie er

ausdrücklich ſagt, dem berufenen

Erben gründlicher helfen, als es

Hadrian und Gordian gethan

hatten: nur nicht durch Erweite-

rung der Reſtitution, ſondern

durch ein ganz anderes Mittel.

In Juſtinians Sinn müſſen wir

ſagen: entweder hat der Erbe

ein Inventarium gemacht, dann

braucht er keine Reſtitution; oder

er hat es unterlaſſen, dann ver-

dient er ſie nicht. Der Soldat

freylich ſollte auch durch dieſe

Unterlaſſung nicht leiden (Num.

XXXIII.).

|0396 : 384|

Beylage VIII.

des antretenden Erben gleichgültig iſt, bewährt ſich noch

in dem beſondern Fall, da der Patron die Teſtamentserb-

ſchaft ſeines Freygelaſſenen antritt, deſſen große Veräuße-

rungen er nicht kannte; in dieſem Fall würde dem Patron

die Anfechtung des Teſtaments vortheilhafter geweſen ſeyn,

und dennoch muß es bey der erklärten Antretung verblei-

ben (e).

Wenn die Erbſchaftsgläubiger eine Separation der Erb-

ſchaft auswirken, die ſich hinterher als nachtheilig zeigt,

ſo koͤnnen ſie, bey vollſtändiger Rechtfertigung ihres Irr-

thums, Reſtitution erlangen (f).

 

Faſſen wir alle dieſe Beſtimmungen zuſammen, ſo müſ-

ſen wir allerdings bey erbſchaftlichen Handlungen dem

Irrthum einen größeren Einfluß zuſchreiben, als bey Ge-

ſchäften des gewoͤhnlichen Verkehrs. Allein es iſt doch

nur eine etwas größere Zahl einzelner Fälle, worin der

Irrthum ausnahmsweiſe wirkt. Und ſo erſcheint auch hier

das allgemeinſte Princip feſtgehalten und beſtätigt, daß der

Irrthum an ſich das Daſeyn des freyen Willens nicht

ausſchließt, alſo auch den Wirkungen deſſelben im Allge-

meinen nicht im Wege ſteht.

 

XIX.

Im älteren Römiſchen Prozeß kamen mehrere Hand-

lungen vor, die ſchon für ſich allein eine ſtrenge formelle

 

(e) L. 3 pr. si quid in fraud.

patr. (38. 5.).

(f) L. 1 § 17 de separat.

(42. 6.).

|0397 : 385|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Wirkung mit ſich führten, und daher dem Handelnden,

wenn ſie unvorſichtigerweiſe vorgenommen wurden, großen

Schaden bringen konnten. Gegen dieſen Nachtheil aber

konnte ihm Hülfe gewährt werden nach den Grundſätzen

vom Irrthum; das heißt alſo wenn der Irrthum nicht

nur ſeinem Daſeyn nach dargethan werden konnte, ſondern

auch weder ein Rechtsirrthum, noch ein leichtſinniger fac-

tiſcher Irrthum war. Die Hülfe aber beſtand hier nicht

in einer beſonderen Klage, wodurch ja der Gang des frü-

heren Prozeſſes nur hätte erſchwert und verwirrt werden

können, ſondern in einer Reſtitution, die hier, wo ſich oh-

nehin ſchon die Parteyen vor dem Prätor befanden, gewiß

die angemeſſenſte Form war. Die Fälle ſelbſt, wie ſie in

unſren Rechtsquellen vorkommen, ſind folgende.

1. Jedes Klagerecht wurde durch die angebrachte Klage

conſumirt, oft auch wenn man eine unrichtige Perſon als

Gegner gewählt hatte. Dieſes geſchah namentlich durch

die Klage gegen einen Pupillen, bey welcher ein falsus

tutor die auctoritas gegeben hatte; dagegen gab aber der

Prätor Reſtitution (a). — Eben ſo geſchah es, wenn eine

Erbſchaftsſchuld gegen einen der Miterben, der ſich fälſch-

lich für den einzigen Erben ausgegeben hatte, ganz einge-

klagt wurde. Dieſer war nun wirklich für das Ganze

verpflichtet, gegen die Miterben war die Klage conſumirt.

War nun aber jener, theilweiſe falſche, Beklagte inſolvent,

 

(a) L. 1 § 6 L. 2—6 quod

falso (27. 6.). Vgl. Keller

Litisconteſtation § 68. Burchar-

di Wiedereinſetzung § 21.

III. 25

|0398 : 386|

Beylage VIII.

ſo wurde die verlorne Klage gegen die Miterben reſtituirt (b).

2. Wer mehr einklagte, als er zu fordern hatte, ver-

lor ſein ganzes Recht (plus petendo). War es aber aus

erweislichem, und zugleich voͤllig gerechtfertigtem, Irrthum

geſchehen, ſo konnte er dagegen Reſtitution erhalten (c).

 

3. Wenn eine Partey Prozeßcaution zu fordern berech-

tigt war, und dafür einen Bürgen annahm, der nachher

als Sklave anerkannt wurde, folglich zur Bürgſchaft un-

tauglich war, ſo konnte die dadurch gefährdete Partey

Reſtitution erhalten (d).

 

4. Wer vor dem Prätor Etwas einräumte, ſey es aus

eigenem Antriebe (confessio), oder auf die Aufforderung

des Gegners (responsio), der war dadurch in der Regel

verpflichtet. Wenn er aber einen Irrthum in dieſem Ge-

ſtändniß beſonders nachweiſen konnte (e), oder wenn dieſer

Irrthum aus der nachher augenſcheinlich gewordenen Un-

möglichkeit der eingeräumten Thatſache von ſelbſt hervor-

gieng (f), ſo wurde er von dieſer Verpflichtung durch Re-

 

(b) L. 18 de interrog. (11. 1.).

(c) § 33 J. de act. (4. 6.)

Gajus Lib. 4 § 53. Vgl. Bur-

chardi Wiedereinſetzung S. 387.

— Die Reſtitution, die in einem

ähnlichen Fall der Beklagte er-

hielt (Gajus Lib. 4 § 57), bezog

ſich nicht auf deſſen Irrthum.

(d) L. 8 § 2 qui satisdare

(2. 8.). Der erſte Theil der

Stelle ſetzt einen factiſchen Irr-

thum voraus, und geſtattet daher

die Reſtitution allgemein; der

zweyte Theil, der den Minder-

jährigen und Frauen beſonders

die Reſtitution einräumt, muß

von dem Fall eines Rechtsirr-

thums verſtanden werden, näm-

lich ſo daß die Partey wußte, daß

es ein Sklave ſey, und ihn den-

noch für fähig hielt. Vgl. Müh-

lenbruch S. 390.

(e) L. 2 de confessis (42. 2.),

L. 11 §. 8. 10. 11 de interrog.

(11. 1.).

(f) L. 13 pr. de interrog.

|0399 : 387|

Irrthum und Unwiſſenheit.

ſtitution befreyt. Hier wird nun ausdrücklich bemerkt, es

dürfe weder ein Rechtsirrthum geweſen ſeyn (g), noch ein

auf grober Nachläſſigkeit beruhender factiſcher Irrthum (h).

Von dieſen Fällen ſind die meiſten ſchon im Juſtinia-

niſchen Recht, noch mehr aber in dem unſrigen, nicht mehr

anwendbar. Der letzte jedoch, welcher das gerichtliche

Geſtändniß betrifft, kann, ungeachtet der veränderten Form

des zum Grunde liegenden Rechtsſatzes, auch noch im heu-

tigen Recht zur Anwendung kommen (i).

 

Ich habe hier abſichtlich Fälle des älteren Rechts zu-

ſammengeſtellt. Die Art, wie in dem heutigen Prozeßrecht

der Irrthum behandelt wird, iſt dieſem ganz eigenthümlich,

und gehört nicht mehr zu den Entwicklungen der allgemei-

nen Rechtslehre vom Irrthum (k).

 

(11. 1.), L. 23 § 11 L. 21 L. 25

pr. ad L. Aquil. (9. 2.), L. 8

de confessis (42. 2.).

(g) L. 2 de confessis (42. 2.).

Dieſer Satz hängt zuſammen mit

dem Grundſatz der condictio

indebiti, welcher gleichfalls den

Rechtsirrthum von der Rückfor-

derung ausſchließt (Num. XXXV.

fg.). Denn wer geſteht, thut es,

eben ſo wie der welcher zahlt, in

der Meynung, damit nur ſeine

Schuldigkeit zu thun, nicht aus

freyer Willkühr.

(h) L. 11 § 11 de interrog.

(11. 1.).

(i) Wichtiger, als alle hier zu-

ſammengeſtellte, Prozeßreſtitutio-

nen iſt die gegen das rechtskräf-

tige Urtheil. Vgl. Burchardi

Wiedereinſetzung S. 185. Allein

dieſe gehört nicht zur Lehre vom

Irrthum, da der Irrthum der

unterliegenden Partey doch nur

unter andern, und nur auf indi-

recte Weiſe, als Urſache des Ur-

theils angeſehen werden kann.

(k) So z. B. ſteht die Behand-

lung des Irrthums eines Advo-

caten im Zuſammenhang mit der

beſondern Stellung der Advoca-

ten im Prozeß.

25*

|0400 : 388|

Beylage VIII.

XX.

In Anwendung auf Delicte (a) erſcheint die Lehre vom

Irrthum auf folgende eigenthümliche Weiſe.

 

Es giebt Delicte, deren Begriff zunächſt nur auf die

Erſcheinung eines äußeren Ereigniſſes gegründet iſt, ſo daß

dabey die Freyheit des Handelnden zwar auch als nöthig,

aber doch als untergeordnet erſcheint. Bey dieſen iſt Do-

lus und Culpa ſtrafbar; ſo bey dem Todſchlag, obgleich

mit verſchiedenem Grade der Strafbarkeit: ſo auch bey

der actio legis Aquiliae, bey welcher ſelbſt die Höhe der

Strafe von jenem Unterſchied unabhängig iſt. — Dagegen

giebt es andere Delicte, zu deren Begriff und Thatbeſtand

der rechtswidrige Wille, alſo auch das Bewußtſeyn der

Rechtsverletzung, gehört, ſo daß in deſſen Ermanglung

gar kein Delict vorhanden iſt. Bey dieſen kann es nicht

einmal einen Unterſchied machen, ob der den Dolus aus-

ſchließende Irrthum durch die Umſtände gerechtfertigt iſt

oder nicht, alſo auch ob er factiſch oder ein Rechtsirrthum

iſt. Denn der Dolus iſt eine Thatſache, deren Daſeyn

durch den Irrthum jeder Art ausgeſchloſſen wird.

 

(a) Ich gebrauche hier der

Kürze wegen dieſen Ausdruck,

und verſtehe darunter ſowohl das

öffentliche Verbrechen (crimen),

als das Privatdelict, das heißt

die Rechtsverletzung, welche im

Privatrecht die eigenthümliche

Wirkung einer actio quae poe-

nae causa datur hervorbringt;

es mag nun dieſe Klage zum

Inhalt haben eine Strafe (wie

die furti actio), oder bloßen

Schadenserſatz (wie die doli ac-

tio), oder beides zugleich (wie vi

bonorum raptorum). Beide Fälle

hier zuſammen zu faſſen, wird

dadurch nothwendig, daß die Be-

handlung des Irrthums in beiden

völlig dieſelbe iſt.

|0401 : 389|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Indeſſen iſt hierin noch folgender Unterſchied wohl zu

beachten. Wenn der Handelnde das Strafgeſetz kennt,

aber durch einen Rechtsirrthum über die ſtrafbare Beſchaf-

fenheit ſeiner Handlung getäuſcht wird, ſo iſt der eben

aufgeſtellte Satz allgemein wahr. Anders, was die Kennt-

niß des Strafgeſetzes ſelbſt betrifft. Dieſe wird bey Jedem

gefordert und vorausgeſetzt, und ihr Mangel ſchließt den

Dolus und die Strafbarkeit nicht aus. Von dieſer Strenge

ſind nur gewiſſe Klaſſen von Perſonen ausgenommen, de-

nen auch die Rechtsunwiſſenheit überhaupt nachgeſehen

wird; dahin gehört Minderjährigkeit, weibliches Geſchlecht,

Rusticitas und Soldatenſtand. Jedoch ſind auch dieſe Klaſ-

ſen nur bey denjenigen Strafgeſetzen ausgenommen, welche

eine mehr poſitive Natur haben (juris civilis), nicht bey

denen, welche ſchon dem natürlichen Rechtsgefühl einleuch-

ten (juris gentium) (b). Der Ausdruck juris ignorantia

nun iſt zweydeutig, indem er an ſich ſowohl auf die ſtraf-

bare Natur der Handlung, als auf die Unbekanntſchaft

mit dem Strafgeſetz bezogen werden kann; die juris igno-

rantia im erſten Sinn alſo wird jedes doloſe Delict aus-

ſchließen, die im zweyten Sinn dagegen nur in den be-

ſchränkten Fällen der angegebenen Ausnahmen. Durch dieſe

Zweydeutigkeit des Ausdrucks ſind manche ſcheinbare Wi-

derſprüche in unſren Rechtsquellen aufzulöſen (c).

 

(b) Der Unterſchied iſt deutlich

anerkannt in L. 38 § 2. 4 ad L.

J. de adult. (48. 5.), L. 2 C. de

in jus voc. (2. 2.), welche Stel-

len im Num. XXI., bey den ein-

zelnen Delicten, benutzt werden

ſollen.

(c) Coll. LL. Mos. et Rom.

|0402 : 390|

Beylage VIII.

Dieſe Grundſätze kommen in unſren Rechtsquellen nir-

gend in der Allgemeinheit vor, worin ſie hier aufgeſtellt

worden ſind; dagegen werden ſie in folgenden einzelnen

Anwendungen zum Theil ſo beſtimmt und unverkennbar

vorausgeſetzt, daß wir berechtigt ſind, dieſe beſtimmteren

Vorſchriften theilweiſe auch auf diejenigen Fälle anzuwen-

den, worüber wir weniger genau beſtimmte Vorſchriften

beſitzen.

 

XXI.

Zum Begriff des Diebſtahls gehört rechtswidrige, und

zwar insbeſondere gewinnſüchtige Abſicht. Wer nun dem

Andern eine Sache entwendet, die er irrigerweiſe für ſeine

eigene hält, begeht keinen Diebſtahl, und macht die Sache

nicht zur res furtiva, ſelbſt wenn er durch Rechtsirrthum

zu jener Meynung gekommen wäre; z. B. wenn er den

Niesbrauch einer Sklavin hat, und an dem Kind derſelben

aus Rechtsirrthum Eigenthum zu haben meynt (a). Die

 

I. § 12 (von Modeſtin): „Non-

nunquam per ignorantiam de-

linquentibus juris civilis venia

tribui solet, si modo rem facti

quis, non juris ignoret: quae

scilicet consilio delinquentibus

praestari non solet. Propter

quod necessarium est, addita

distinctione considerare, utrum

sciente an ignorante aliquo quid

gestum proponatur.” Hier wird

unzweifelhaft unter der juris igno-

rantia, die niemals entſchuldigen

ſoll, die Unbekanntſchaft mit dem

Strafgeſetz verſtanden, und auch

dafür blos die Regel vorgetragen,

mit Übergehung der perſönlichen

Ausnahmen, die dadurch nicht

etwa von Modeſtin verneint wer-

den ſollen. Das Nonnunquam

bezieht ſich darauf, daß die Straf-

loſigkeit ſelbſt des factiſchen Irr-

thums nicht für alle Delicte be-

hauptet werden kann, ſondern

nur für die doloſen.

(a) § 5 J. de usuc. (2. 5.),

L. 36 § 1 L. 37 pr. de usurp.

(41. 3.).

|0403 : 391|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Unbekanntſchaft mit dem Strafgeſetz gegen den Diebſtahl

würde ihn, da der Diebſtahl ſchon nach dem jus gentium

verboten iſt, ſelbſt dann nicht ſchützen, wenn er zu jenen

begünſtigten Klaſſen von Perſonen gehörte (Num. XX.).

Eben ſo, wer eine Sache, die er für ſein hält, mit

Gewalt wegnimmt, unbekannt mit dem Verbot der Selbſt-

hülfe, iſt frey von der actio vi bonorum raptorum, weil

zu dieſer das Bewußtſeyn der Eigenthumsverletzung erfor-

dert wird. Um dieſer Entſchuldigung zu begegnen, haben

daher die Kaiſer auch ſchon die bloße Selbſthülfe mit

ſchwerer Strafe bedroht (b). Offenbar liegt dabey die

Vorausſetzung zum Grunde, die Unbekanntſchaft mit dem

Geſetz gegen die Selbſthülfe befreye nicht von der Strafe

der Selbſthülfe, ſo wie die Unbekanntſchaft mit dem Edict

vi bonorum raptorum nicht von dieſer prätoriſchen Straf-

klage befreye. Beide Strafbeſtimmungen hatten auch nicht

einmal eine ſtreng poſitive Natur, ſie waren vielmehr in

dem natürlichen Rechtsgefühl gegründet.

 

Der Inceſt wird natürlich immer ausgeſchloſſen durch

die factiſche Unbekanntſchaft mit dem Verwandtſchaftsver-

hältniß (c). Dagegen ſoll der Rechtsirrthum, das heißt

die Unbekanntſchaft mit dem Eheverbot, nur ausnahms-

weiſe entſchuldigen: 1. die Frauen, jedoch nur wenn der

Inceſt juris civilis, nicht gentium, alſo begangen mit Sei-

tenverwandten, nicht mit Aſcendenten oder Deſcendenten,

 

(b) § 1 J. de vi bon. rapt.

(4. 2.).

(c) L. 4 C. de incestis (5. 5.).

|0404 : 392|

Beylage VIII.

iſt (d); 2. die minderjährigen Männer, und zwar unter

derſelben Einſchränkung wie die Frauen (e).

Das Sc. Turpillianum verbietet unter Strafe den An-

klägern, von ihrer Anklage ohne ausgewirkte obrigkeitliche

Abolition zurück zu treten. Dieſes Strafgeſetz iſt ganz

poſitiver Art, weshalb Frauen und Minderjährige wegen

Rechtsunwiſſenheit von der Strafe deſſelben Befreyung

erhalten (f).

 

Die doloſe Beſchädigung obrigkeitlicher Edicte war mit

einer Strafe von 500 aurei bedroht (g), und dieſe Strafe

konnte durch ihre Höhe als eine völlig poſitive Beſtimmung

 

(d) L. 38 pr. § 2. 4. 7 ad L.

Jul. de adult. (48. 5.), vgl. mit

L. 68 de ritu nupt. (23. 2).

(e) L. 38 § 4. 7 ad L. Jul.

de adult. (48. 5.), L. 4 C. de

incestis (5. 5.). — Wörtlich iſt

hier von incestus juris civilis

Nichts geſagt; dennoch können

wir dieſe Beſchränkung hinzu den-

ken wegen der völligen Zuſam-

menſtellung mit den Frauen. Daß

ſie nicht ausdrücklich erwähnt iſt,

mag aus der äußerſten Selten-

heit des incestus juris gentium

bey minderjährigen Männern er-

klärt werden. Denn mit der

Mutter (alſo der älteren Frau)

wird er nicht vorkommen, und

eine Tochter, die des Inceſts

fähig wäre, kann er ſchon ſeinen

Jahren nach nicht haben. — In

L. 38 § 4 cit. muß übrigens ſtatt

Claudiae geleſen werden Claudio,

da offenbar von einem Mann die

Rede iſt, wie der nachher folgende

Gegenſatz zeigt.

(f) L. 1 § 10 L. 4 pr. ad Sc.

Turpill. (48. 16.). Der § 10

enthält zwey verſchiedene Erwäh-

nungen der ſtrafloſen Frauen:

1. wenn ihre Anklage ohnehin

ungültig iſt, als nicht auf eige-

nes Intereſſe gegründet, 2. (am

Schluß) ganz allgemein, wobey

die Frauen mit den Minderjähri-

gen zuſammengeſtellt werden. Die

erſte (beſchränktere, aber beſonders

einleuchtende) Erwähnung beruft

ſich auf ein Reſponſum des Pa-

pinian, und dieſes Reſponſum

ſteht eben in der angeführten

L. 4 pr. eod., weshalb aber auch

in dieſer anſtatt injuriae propriae

emendirt werden muß injuriae

non propriae, wie ſchon Cujacius

bemerkt hat.

(g) L. 7 pr. de jurisd. (2. 1.).

|0405 : 393|

Irrthum und Unwiſſenheit.

angeſehen werden. Deshalb wurde hier dem Erforderniß

des Dolus eine größere Ausdehnung als in anderen Fäl-

len gegeben. Es ſollte daher der Thäter durch allgemeine

Rechtsunwiſſenheit oder durch gänzlichen Mangel an Bil-

dung von der Strafe befreyt werden (h).

Das Teſtament eines Ermordeten ſollte bey Strafe von

100 aurei nicht eher eröffnet werden, als die Sklaven

deſſelben gefoltert wären, damit nicht durch die im Teſta-

ment vielleicht enthaltene Freylaſſung ſolcher Sklaven die

Folter verhindert werden möchte (i). Die Strafe war

durch den Dolus des Thäters bedingt, und wegen der

ganz poſitiven Natur des Strafgeſetzes wurde dieſelbe Be-

freyung geſtattet, wie bey dem vorhergehenden Fall (k).

 

Wer aus Rechtsunwiſſenheit die Zollgeſetze übertritt,

wird dadurch von der Strafe um ſo weniger frey, als

dieſelbe überhaupt nur durch die materielle That, nicht

durch Dolus, bedingt iſt (l). Nur der Minderjährige bleibt

 

(h) L. 7 § 4 de Jurisd. (2. 1.)

„.. si per imperitiam vel ru-

sticitatem … aliquis fecerit,

non tenetur.” Imperitia iſt die

Unbekanntſchaft mit dem Recht

und den Geſchäften, die mit an-

derer Art von Bildung wohl be-

ſtehen kann, und damit ſind, nach

der Analogie anderer Stellen,

Frauen und Minderjährige, auch

wohl Soldaten, gemeynt. Ru-

sticitas iſt die allgemeine Roh-

heit und Unbildung, wie ſie in

der unterſten Klaſſe häufig vor-

kommt.

(i) L 25 § 2 de Sc. Silan.

(29. 5.).

(k) L. 3 § 22 de Sc. Silan.

(29. 5.) „Et si sciens, non ta-

men dolo aperuit, neque non

tenebitur: si forte per imperi-

tiam, vel per rusticitatem, ig-

narus Edicti Praetoris vel Scti,

aperuit.”

(l) L. 16 § 5 de publicanis

(39. 4.).

|0406 : 394|

Beylage VIII.

von der Strafe ausgenommen, wenn ihm nicht Dolus be-

ſonders nachgewieſen werden kann (m).

Wer einer in jus vocatio nicht Folge leiſtet, wird zu

einer willkührlichen Geldſtrafe verurtheilt, wovon jedoch

gänzliche Unbildung befreyt (n).

 

Der Schreiber, dem ein Teſtament dictirt wird, ſoll

bey ſchwerer Strafe kein ihm ſelbſt angewieſenes Legat

niederſchreiben. Dagegen ſollte Rechtsunwiſſenheit weniger

als in anderen Fällen ſchützen (o). Soldaten zwar waren

auch hier allgemein befreyt (p), Frauen aber nur unter

beſonderen entſchuldigenden Umſtänden (q).

 

Wer eine Frau innerhalb des Trauerjahres heurathet,

wird infam; dagegen ſchützt nur die Unwiſſenheit über die

Thatſache, nicht der Rechtsirrthum (r).

 

Der Freygelaſſene, der ſich eine in jus vocatio gegen

den Patron erlaubt, wird beſtraft. Dagegen ſchützt ſelbſt

gänzliche Unbildung nicht, weil ſchon das natürliche Ge-

fühl der Ehrfurcht ihn zurückhalten mußte (s).

 

(m) L. 9 § 5 de minor. (4. 4.)

Der Vorbehalt des Dolus iſt ei-

gentlich keine Ausnahme, da durch

den erwieſenen Dolus die behaup-

tete Rechtsunwiſſenheit von ſelbſt

widerlegt iſt.

(n) L. 2 § 1 si quis in jus.

voc. (2. 5.).

(o) L. 15 pr. ad L. Corn.

de falsis (48. 10.).

(p) L 5 C. de his qui sibi

adscrib. (9. 23.). Näm lich befreyt

von der Strafe, nicht von der

Ungültigkeit des Legats.

(q) L. 15 § 5 ad L. Corn.

de falsis (48. 10.).

(r) L. 1 L. 11 § 4 de his qui

not. (3. 2.). In dieſen Stellen

iſt blos von dem Mann die Rede,

Die Frau ſelbſt aber hatte gewiß

auch keine Strafloſigkeit, weil die-

ſes Verbot nichts weniger als po-

ſitiv war, und gerade den Frauen

vorzugsweiſe einleuchten mußte.

(s) L. 2 C. de in jus voc.

|0407 : 395|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Dem Vormund iſt unter Strafe verboten, ſeine vor-

malige Mündel für ſich oder ſeinen Sohn zur Ehefrau zu

nehmen. Dagegen ſchützt auch nicht imperitia und rusti-

citas (t).

 

Die Frau, die es unterläßt einen Vormund für ihr

Kind zu erbitten, wird beſtraft, und dagegen ſchützt ſie

nur Minderjährigkeit, nicht die allgemeine Rechtsunwiſſen-

heit des Geſchlechts, ohne Zweifel weil ſie als Mutter zur

äußerſten Sorgfalt durch die Natur aufgefordert war (u).

 

Der Senator, der eine Freygelaſſene zur Frau nahm,

war mit Strafen bedroht, wenn er es sciens dolo malo

that (v). Dagegen ſchützte ihn natürlich nicht die Unbe-

kanntſchaft mit dem Geſetz, wohl aber der Irrthum über

den Stand der Frau, vorausgeſetzt jedoch daß ſelbſt die-

ſer Irrthum nicht leicht zu vermeiden, alſo nicht tadelns-

werth war (w).

 

XXII.

Bisher iſt die Beziehung des Irrthums zum Dolus

 

(2. 2.) „Nec in ea re rusticitati

venia praebeatur, cum naturali

ratione honor hujusmodi per-

sonis debeatur.”

(t) L. 1 C. de interdicto ma-

trim. (5. 6.).

(u) L. 2 C. si adv. del. (2. 35.),

vgl. L. 8 C. qui pet. (5. 31.).

(v) L. 44 pr. de ritu nupt.

(23. 2.).

(w) L. 6 h. t. Die Beziehung

dieſer Stelle auf das Eheverbot

zwiſchen dem Senator und der

Freygelaſſenen folgt aus der In-

ſcription. Heineccius ad L. Jul.

p. 442. Aus gleichem Grunde

gehört eben dahin L. 5 h. t.,

welche ſagen will, es komme nur

auf Wiſſen oder Nichtwiſſen des

Senators ſelbſt, nicht auf das

der Frau, bey Beurtheilung ſei-

ner Strafbarkeit an. Vgl. oben

Num. I. Note b.

|0408 : 396|

Beylage VIII.

bey den Delicten nachgewieſen worden. Eine gleichartige

Beziehung aber kommt auch bey einigen Rechtsinſtituten

vor, worin der Dolus nicht ſelbſt als Delict erſcheint,

ſondern nur andere Rechtsverhältniſſe modificirt. Wegen

dieſer Gleichartigkeit wird es zweckmäßig ſeyn, davon an

dieſer Stelle zu reden.

Bey der hereditatis petitio und bey der rei vindicatio

macht es, wenn der Kläger Recht behält, einen großen

Unterſchied, ob der Beklagte ein b. f. oder ein m. f. pos-

sessor iſt, unter welchen letzten Fall insbeſondere auch der

praedo gehört, das heißt der Beſitzer, welcher ſeinen Beſitz

nicht einmal durch einen angeblichen Titel zu beſchönigen

weiß. Das Bewußtſeyn des redlichen Beſitzers kann ſich

nun entweder gründen auf einen factiſchen Irrthum über

die früheren Schickſale der Sache, oder auf einen Rechts-

irrthum. Wenden wir auf dieſen letzten Fall dieſelbe Be-

urtheilung, wie bey den Delicten (Num. XXI.) an, ſo er-

geben ſich als unzweifelhaft folgende Sätze. Niemand kann

ſich darauf berufen, daß er die Rechtsregeln über den un-

redlichen Beſitz und deſſen nachtheilige Folgen nicht gekannt

habe. Hat aber der Beſitzer über die Regeln des Eigen-

thumserwerbs geirrt, und ſich deswegen das Eigenthum

fälſchlich zugeſchrieben, ſo iſt er darum nicht weniger ein

redlicher Beſitzer, denn dieſer Zuſtand iſt eine Thatſache,

die durch den Rechtsirrthum, woraus ſie entſtanden ſeyn

mag, nicht ungeſchehen gemacht werden kann. Dieſer prak-

 

|0409 : 397|

Irrthum und Unwiſſenheit.

tiſch wichtige Satz wird nun in folgender Stelle auf das

Deutlichſte anerkannt.

L. 25 § 6 de hered. petit. (5. 3.) „Scire ad se non per-

tinere, utrum is tantummodo videtur, qui factum scit,

an et is, qui in jure erravit? putavit enim recte

factum testamentum, cum inutile erat: vel, cum eum

alius praecederet adgnatus, sibi potius deferri. Et

non puto hunc esse praedonem, qui dolo caret, quam-

vis in jure erret.”

Es iſt wohl zu bemerken, daß die Rechtsſätze, über welche

hier ein Irrthum vorausgeſetzt wird, nicht etwa verwickelte

und beſtrittene, ſondern einfache und gewiſſe ſind: die be-

kannten Formen des Teſtaments, und noch mehr die Ord-

nung worin die Agnaten zu der Inteſtaterbfolge berufen

werden. Dennoch wird ein ſo Irrender unbedingt als red-

licher Beſitzer anerkannt. — Hier zeigt ſich nun auch recht

deutlich die Unbrauchbarkeit des oben (Num. VIII.) beur-

theilten Princips, nach welchem der Rechtsirrthum zwar

ſoll Schaden abwehren, aber nicht Gewinn bringen können.

Der redliche Beſitz hat bey den oben angeführten Klagen

zweyerley Folgen: er wendet Schaden ab, indem der un-

redliche Beſitzer auch nicht gewonnene Früchte, und auch

den Werth der verſchenkten oder verſchwendeten Sachen

vergüten muß (a); er bringt Gewinn, indem der redliche

Beſitzer den Werth der verzehrten oder verkauften Früchte

als Bereicherung behalten darf, die der unredliche Beſitzer

 

(a) L. 25 § 2. 4. 11. 15 de hered. petit. (5. 3.).

|0410 : 398|

Beylage VIII.

zu vergüten hat (b). Da nun nach der oben mitgetheilten

Stelle der redliche Beſitz, ungeachtet des Rechtsirrthums,

unbedingt als vorhanden anerkannt wird, ſo iſt eben da-

durch dem Rechtsirrthum die Kraft zugeſchrieben, nicht nur

die Abwendung des Schadens, ſondern auch die Erwerbung

eines reinen Gewinns zu vermitteln.

XXIII.

Eine ähnliche, vielleicht noch wichtigere, Frage ent-

ſteht für die Beziehung des Irrthums auf die Klagver-

jährung. Dieſe Beziehung kommt auf zweyerley Weiſe

vor: bey dem Irrthum des Klagberechtigten, wovon wei-

ter unten, bey den Unterlaſſungen, die Rede ſeyn wird

(Num. XXV.); bey dem des Beklagten, welcher Irrthum

hier zu erwägen iſt, indem er mit einer delictähnlichen

Handlung des Beklagten in Verbindung ſteht.

 

Die Klagverjährung wird größtentheils vom Römi-

ſchen Recht als bloße Verſäumniß des Klagberechtigten

behandelt, ganz ohne Rückſicht auf das Verhalten des

möglichen Beklagten. Nur zu der longi temporis prae-

scriptio war es nöthig, daß der Beſitzer gerade ſo beſitze,

wie zum Zweck der Uſucapion, alſo mit redlichem Be-

wußtſeyn und mit einem Titel des Beſitzes. Dabey alſo

müſſen unzweifelhaft, auch in Beziehung auf den Irrthum,

und namentlich den Rechtsirrthum, genau dieſelben Re-

 

(b) § 35 J. de rer. divis. (2. 1.), § 2 J. de off. jud. (4. 27.).

|0411 : 399|

Irrthum und Unwiſſenheit.

geln angewendet werden, welche eben über den Irrthum

bey der Uſucapion aufgeſtellt worden ſind (Num. XV. XVI.).

Allein das canoniſche Recht hat für die Verjährung

zwey neue und wichtige beſchränkende Regeln aufgeſtellt:

die bona fides ſoll bey jeder Verjährung noͤthig ſeyn, und

ſie ſoll während der ganzen Verjährungsfriſt fortdauern (a),

anſtatt daß ſie das Römiſche Recht, da wo ſie überhaupt

nöthig war (bey der Uſucapion und l. t. praescriptio) doch

nur für den Anfang des Beſitzes erforderte. Was nun

die erſte neue Beſtimmung betrifft, ſo iſt anzunehmen,

daß das canoniſche Recht, abweichend von dem Roͤmi-

ſchen Sprachgebrauch, unter praescriptio jede durch Zeit-

lauf bewirkte Rechtsänderung begreift, alſo die Uſucapion

und die Klagverjährung zugleich; und als Klagverjäh-

rung nicht blos die longi temporis praescriptio, ſondern

gewiß auch die dreyßigjährige, welche die wichtigſte unter

allen iſt. Jedoch dieſe, nach der richtigern Meynung,

nicht in allen Fällen, ſondern nur inſofern ſie zum Schutz

eines Beſitzverhältniſſes des Beklagten geltend ge-

macht wird (b). Daher ſchließt das unredliche Bewußt-

 

(a) C. 5 und C. 20 X. de prae-

script. (2. 26.). — Die aus Au-

guſtin genommene Stelle c. 5

C. 34 q. 1 ſagt nur, daß der An-

fangs redliche Beſitzer durch ſpä-

teres Bewußtſeyn des fremden

Rechts ein injustus oder m. f.

possessor werde. Das iſt auch

ſchon nach R. R. wahr, aber es

folgt daraus noch nicht die Un-

terbrechung der Verjährung. Gra-

tian ſelbſt trägt vielmehr noch

das reine Römiſche Recht vor.

(Additio ad c. 15 C. 16 q. 3).

Daher iſt denn der Anfang des

neuen Rechtsſatzes auf die ange-

führten Decretalen von Alexan-

der III. und Innocenz III. zurück

zu führen.

(b) Unterholzner Verjäh-

rungslehre § 92.

|0412 : 400|

Beylage VIII.

ſeyn die Klagverjährung aus, nicht nur bey der rei vin-

dicatio und hereditatis petitio, ſondern auch bey der actio

commodati, depositi, locati auf Rückgabe der anvertrau-

ten Sache, weil auch durch dieſe der Kläger die Rück-

gabe eines unrechtmäßig vorenthaltenen Beſitzes verlangt;

dagegen nicht bey den gewöhnlichen Schuldklagen aus Ver-

trägen oder Delicten, auch nicht bey der actio emti oder

der Klage auf Erfüllung eines Tauſchvertrags.

Damit iſt der Umfang der neuen Regel beſtimmt, und

nun haben wir für dieſelbe die Frage zu beantworten, ob

etwa die Redlichkeit des Beſitzes, mithin die Klagverjäh-

rung ſelbſt, durch einen Rechtsirrthum des Beklagten aus-

geſchloſſen werde? Es iſt merkwürdig, daß dieſe von den

älteren Schriftſtellern lebhaft verhandelte Streitfrage von

den neueren gar nicht berührt zu werden pflegt.

 

Nach den oben aufgeſtellten Grundſätzen wird die Klag-

verjährung durch den Rechtsirrthum nicht verhindert. Denn

die Redlichkeit des Bewußtſeyns, die das canoniſche Recht

allein fordert, iſt eine Thatſache, für deren Daſeyn der

Entſtehungsgrund, auch wenn derſelbe in einem Rechtsirr-

thum liegen mag, ganz gleichgültig iſt. Die buchſtäbliche

Vorſchrift des canoniſchen Rechts hindert alſo die auf ei-

nem Rechtsirrthum beruhende Klagverjährung nicht. Aber

auch der Grund dieſes Geſetzes führt auf ein gleiches Re-

ſultat. Denn dieſer Grund wird darin geſetzt, daß vor

Allem die Sünde vermieden werden müſſe (Quoniam omne,

quod non est ex fide, peccatum est); Niemand aber wird

 

|0413 : 401|

Irrthum und Unwiſſenheit.

behaupten wollen, daß jeder Rechtsirrthum eine ſündliche

Natur an ſich trage. Endlich entſcheidet für dieſe Mey-

nung auch noch die augenſcheinliche Analogie der L. 25

§ 6 de hered. petit. (Num. XXII.). Denn wenn der

Rechtsirrthum den Beklagten nicht hindert, die Vortheile

des redlichen Beſitzes im Fall der Verurtheilung zu genie-

ßen, ſo iſt kein Grund denkbar, warum er den Vortheil

der Klagverjährung ſollte verhindern können.

Folgende Gegengründe ſind aufgeſtellt worden:

 

1) Die Klagverjährung bewirke eine Bereicherung des

Beklagten, wozu der Rechtsirrthum niemals führen dürfe.

— Dieſes Princip iſt oben ſchon an ſich widerlegt wor-

den (Num. VIII.). Auch hier aber zeigt ſich wieder ſeine

(von der hiſtoriſchen Begründung noch unabhängige) ge-

ringe Tauglichkeit zu irgend einer ſicheren Anwendung.

Denn ob der Beklagte durch die Klagverjährung reicher

wird, oder blos Schaden vermeidet, wird in den meiſten

Fällen völlig ungewiß bleiben; er wird reicher, wenn eine

wirklich vorhandene Klage untergeht; er vermeidet Scha-

den, wenn ihm blos der zufällig fehlende Beweis des ohne-

hin ſchon aufgehobenen Klagerechts durch die Verjährung

erſetzt wird. Ob nun aber im einzelnen Fall der eine

oder der andere Erfolg anzunehmen ſey, dieſes eben wird

meiſt im Dunkeln bleiben, und in der Umgehung dieſer

Schwierigkeit liegt ein Hauptvortheil des durchgreifenden

Princips der Klagverjährung.

 

2) Die Analogie der Uſucapion, welche gleichfalls

 

III. 26

|0414 : 402|

Beylage VIII.

durch den Rechtsirrthum verhindert werde. Allein bey die-

ſer bezieht ſich der allerdings hindernde Rechtsirrthum nicht

auf die bona fides, ſondern auf den Titel (Num. XV.),

und ein Titel wird zur Klagverjährung im Allgemeinen

nicht erfordert.

Mit der hier vertheidigten Meynung ſtimmten die äl-

teren Rechtslehrer größtentheils überein (c). Die neueren

haben dieſe Frage ſo wenig behandelt, daß ſich unter ih-

nen eine überwiegende Meynung gar nicht bilden konnte (d).

 

Das wahre Element aber, welches man in der ent-

gegengeſetzten Meynung noch anerkennen kann, iſt folgen-

des. Über die Annahme der Unredlichkeit als einer That-

ſache hat der Richter freyes Urtheil. Wenn nun der Be-

klagte nach den vorliegenden Beweiſen, vielleicht nach ei-

genem Geſtändniß, alle factiſchen Umſtände vollſtändig

kannte, und daneben ſein redliches Bewußtſeyn lediglich

aus einem Rechtsirrthum ableitet, ſo iſt dieſer nicht zu

vermuthen, vielmehr von dem Beklagten darzuthun (ſ. o.

Num. III.). Der Richter wird dabey ein freyes Ermeſſen

haben müſſen, und beſonders auch die Perſoͤnlichkeit des

Beklagten zu berückſichtigen haben (e). In dieſer Hinſicht

 

(c) Gilken de usucapione

P. 2 membr. 1 Cap. 3 Num. 8

sq. handelt ſehr gründlich von

dieſer Frage, und erklärt ſich für

die hier angenommene Meynung,

die auch, nach vielen von ihm

angeführten Schriftſtellern, als

communis opinio angeſehen wer-

den muß.

(d) Rave de praescriptione

§ 56 erklärt ſich für unſre Mey-

nung; gegen dieſelbe Lüder

Mencken an requiratur b. f. in

praescript. actionum persona-

lium Lips. 1692 Thes. 4.

(e) Gilken l. c. Num. 19.

|0415 : 403|

Irrthum und Unwiſſenheit.

kann man ſagen, daß der Beſitzer bey der Klagverjäh-

rung zuweilen in einer nachtheiligeren Lage ſeyn kann,

als bey der Uſucapion. Jedoch iſt dieſer Nachtheil nur

ſcheinbar. Der Unterſchied entſteht vielmehr daraus, daß

der uſucapirende Beſitzer ſtets einen Titel für ſich hat,

welcher ſeine bona fides bis zum Beweiſe des Gegentheils

außer Zweifel ſetzt (Num. XV.), und daß er nie in den

Fall kommen kann, durch Berufung auf Rechtsirrthum in

eine verdächtige und darum ungünſtige Lage zu gerathen.

Alles nun, was hier über den Irrthum im Verhältniß

zur Klagverjährung geſagt worden iſt, gilt ganz eben ſo

auch bey der außerordentlichen oder dreyßigjährigen Er-

ſitzung. Denn dieſe hat keine andere Vorausſetzungen, als

die bloße Klagverjährung, nur unter der hinzutretenden

Bedingung eines redlichen Beſitzes (f). Da nun dieſe Be-

dingung durch das canoniſche Recht ſchon zum Zweck der

bloßen Klagentilgung allgemein aufgeſtellt worden iſt, ſo

iſt die Klagverjährung des Beſitzers, in ihren factiſchen

Bedingungen, mit der dreyßigjährigen Erſitzung identiſch

geworden, ſo daß die eben beendigte Unterſuchung noth-

wendig beide zugleich umfaſſen muß.

 

XXIV.

Es bleibt nun noch übrig, von den Folgen des Irr-

thums bey bloßen Unterlaſſungen zu ſprechen. Auch hier

müſſen wir zuvörderſt an das allgemeine Princip erin-

 

(f) L. 8 § 1 C. de praescr. XXX. (7. 39.).

26*

|0416 : 404|

Beylage VIII.

nern, welches in dieſer Anwendung mehr als anderwärts

verkannt zu ſeyn ſcheint: Der Irrthum ſchützt in der Re-

gel gegen die nachtheilige Folge der Unterlaſſung nicht,

weder direct noch durch Reſtitution, und es ſind daher

nur einzelne, ausgenommene Fälle worin er ſchützt; aber

auch in dieſen Fällen wird der Schutz ausgeſchloſſen durch

beſondere Nachläſſigkeit, alſo auch in der Regel bey je-

dem Rechtsirrthum. — Die einzelnen Fälle, worin der

Irrthum als Urſache einer Unterlaſſung vorkommt, ſind

folgende:

I. Die Bonorum Possessio muß innerhalb einer Friſt

von einem Jahr oder 100 Tagen agnoſcirt werden, ſonſt

iſt ſie verloren. Wie aber, wenn der Berufene aus Un-

wiſſenheit die Friſt verſäumt hat? Da wir die Worte

des hier einſchlagenden Edicts nicht kennen, ſo iſt es nö-

thig, auf ein anderes, dem älteren Recht angehörendes,

Inſtitut zurück zu gehen. Es war üblich, die Erben cum

cretione einzuſetzen, und zwar beſonders häufig mit dieſer

Formel: Titius heres esto, cernitoque in diebus centum

proximis, quibus scieris, poterisque (a). Wahrſcheinlich

 

(a) Dieſes hieß cretio vulga-

ris. Ulpian. XXII. § 27. 31. 32,

Gajus Lib. 2 § 165. 171—173.

Ähnliche Bedingungen (des An-

tritts in einer beſtimmten Zeit)

können auch nach dem neueſten

Recht in einem Teſtamente vor-

kommen (L. 72 de adqu. her.

29. 2.). Ob dann die Friſt von

dem Todestage, oder von der Zeit

worin der Erbe die Bedingung

erfuhr, gerechnet werden ſoll, das

muß von dem Inhalt und der

Auslegung des Teſtaments abhän-

gen. — Auf den Fall einer cretio

vulgaris bezog ſich ohne Zweifel

in ihrer urſprünglichen Abfaſſung

L. 86 de adqu. her. (29. 2.), die

durch Verwandlung von cretio-

nis in aditionis interpolirt iſt.

|0417 : 405|

Irrthum und Unwiſſenheit.

hatte das Edict über die Bonorum Possessio dieſelben

Ausdrücke, oder doch ähnliche, gebraucht, ſo daß die Friſt

erſt anfangen ſollte von der Zeit, wo der Berufene den

Tod und zugleich den Grund ſeiner Berufung (Teſtament,

Verwandtſchaft u. ſ. w.) erfahren hatte (a¹). Die Unter-

laſſung durch factiſchen Irrthum war alſo ſchon unmittel-

bar durch die buchſtäbliche Faſſung der Rechtsregel gegen

Nachtheil geſchützt, ſo daß ſie eines künſtlichen Schutzes

gar nicht bedurfte (Num. II.). Allein auf den factiſchen

Irrthum ſollte dieſer Schutz beſchränkt bleiben, der Rechts-

irrthum ſollte ihn nicht genießen (b). Dieſer Satz geſtat-

tet zwey Anwendungen, und iſt in beiden wahr. Die Erb-

ſchaft geht alſo durch verſäumte Friſt verloren, ſowohl

wenn der Berufene über das Daſeyn oder die Länge die-

ſer Friſt in Unwiſſenheit iſt, als wenn er, bey völliger

Bekanntſchaft mit den verwandtſchaftlichen Verhältniſſen,

über die Succeſſionsordnung irrt; ſo z. B., wenn ein ent-

fernter Agnat des Verſtorbenen glaubt, daß ein naher

Cognat ihm vorgehe.

Von dieſer Regel werden zwey Ausnahmen erwähnt,

die rusticitas und die Minderjährigkeit. Wenn alſo der

Berufene durch ſeinen hohen Grad allgemeiner Unbildung

in einer ſolchen Rechtsunwiſſenheit ſich befindet, ſo ſoll

ihm die Verſäumniß nicht ſchaden, das heißt wohl, er ſoll

 

(a¹) L. 2 pr. quis ordo (38.

15.). „.. ut per singulos dies

et scierit et potuerit admittere.”

(b) L. 1 § 1 — 4 h. t., L. 3

C. h. t., L. 10 de Bon. Poss.

(37. 1.), L. 6 C. qui admitti

(6. 9.).

|0418 : 406|

Beylage VIII.

dagegen Reſtitution erhalten (c). Desgleichen haben Min-

derjährige allgemein Reſtitution gegen verſäumte Bonorum

Possessio (d); alſo auch im Fall des Rechtsirrthums, der

ihnen ja überall nachgeſehen wird (Num. XXX.).

II. Bey dem alten spatium deliberandi bedurfte es

keiner beſonderen Vorſorge für den Fall des Irrthums,

da es überhaupt nur auf die Bitte des berufenen Erben

gegeben wurde, die ja ohne Bewußtſeyn der Berufung

nicht denkbar iſt. Dagegen iſt im neueren Recht auf die

Befugniß zur Deliberation ein beſonderes Transmiſſions-

recht gegründet; dieſes dauert Ein Jahr, welches aller-

dings erſt von der Zeit der Kenntniß des berufenen Er-

ben angeht (e).

 

III. Eben ſo iſt in Juſtinians neuer Vorſchrift, daß

der berufene Erbe, um gegen jeden Verluſt ſicher zu ſeyn,

binnen Dreyßig Tagen ein Inventarium zu machen an-

 

(c) L. 8 C. qui admitti (6. 9.).

„.. sciat sibi non obesse, si

per rusticitatem, vel ignoran-

tiam facti, vel absentiam, vel

quamcunque aliam rationem in-

tra praefinitum tempus bono-

rum possessionem minime pe-

tiisse noscatur: quoniam haec

sanctio hujusmodi consuetudi-

nis necessitatem mutavit.” Soll

die Stelle keine müßige Wieder-

holung enthalten, ſo muß die ru-

sticitas auf den Rechtsirrthum

gehen, womit ſie ja auch ander-

wärts ſtets in Verbindung ge-

nannt wird: die quaecunque alia

ratio aber auf eine der Abweſen-

heit ähnliche äußere Abhaltung,

z. B. Gefangenſchaft am Wohn-

ort ſelbſt oder lange ſchwere

Krankheit. Die Schlußworte deu-

ten auf einen neuen Rechtsſatz;

damit iſt wohl der durch rustici-

tas entſchuldigte Rechtsirrthum,

und eben ſo die äußere (auch ne-

ben der factiſchen Sachkenntniß

denkbare) Abhaltung gemeynt,

denn der factiſche Irrthum ſchützte

ja auch ſchon früher gegen jeden

Nachtheil (Note b).

(d) L. 2 C. de in int. rest.

min. (2. 22.).

(e) L. 19 C. de j. delib. (6. 30.).

|0419 : 407|

Irrthum und Unwiſſenheit.

fangen ſolle, ausdrücklich hinzugefügt, dieſe Dreyßig Tage

ſeyen zu zählen von dem Tage an, wo der Erbe die Be-

rufung erfahre (f); dieſes jedoch mit Ausnahme der Sol-

daten, die durch die Verſäumniß der Friſt nicht leiden

ſollen (g).

XXV.

IV. Die wichtigſte Anwendung des Irrthums bey Un-

terlaſſungen betrifft die Klagverjährung, womit wir in

dieſer Beziehung auch die Verjährung der Reſtitution ver-

binden können, wenngleich das Reſtitutionsgeſuch nicht als

eine Römiſche actio bezeichnet werden kann. Kann nun

der Kläger die verjährte Klage mit Erfolg anſtellen, wenn

er ſie aus Unbekanntſchaft mit ſeinem Klagrecht in der

vorgeſchriebenen Zeit anzuſtellen unterlaſſen hat? Dieſe

Frage kommt in zwey verſchiedenen Bedeutungen vor.

Jede Verjährung hat einen beſtimmten Zeitraum angewie-

ſen, bey welchem zuerſt der Anfangspunkt feſtzuſtellen iſt.

Dieſer könnte möglicherweiſe entweder auf ein äußeres

Ereigniß geſetzt werden, oder auf des Klägers Bekannt-

ſchaft mit dieſem Ereigniß, welche vielleicht erſt in einem

weit ſpäteren Zeitpunkt eintritt. Darin liegt eine erſte

denkbare Einwirkung des Irrthums. Allein wenn man

 

(f) L. 22 § 2 C. de jure de-

lib. (6. 30.). „.. ut intra tri-

ginta dies post apertas tabu-

las, vel postquam nota fuerit

ei apertura tabularum, vel de-

latam sibi ab intestato heredi-

tatem cognoverit, numerandos,

exordium capiat inventarium”…

(g) L. 22 § 15 eod.

|0420 : 408|

Beylage VIII.

auch regelmäßig die Verjährung von dem äußeren Ereig-

niß an berechnet, ſo wäre es doch wiederum denkbar, daß

gegen den Ablauf derſelben der Kläger wegen ſeines Irr-

thums einen außerordentlichen Schutz (durch Reſtitution)

in ähnlicher Weiſe erhielte, wie es nun ſchon für viele

andere Fälle nachgewieſen worden iſt.

Zuerſt alſo: Wird die Klagverjährung regelmäßig be-

rechnet von dem äußeren Ereigniß, das heißt von der

Rechtsverletzung an, oder aber von des Klägers Bekannt-

ſchaft mit dieſem Ereigniß (a scientia)? Eine ſcheinbare

Ähnlichkeit mit den Friſten der Bonorum Possessio (Num.

XXIV.) könnte uns für dieſe letzte Behandlung beſtimmen.

Allein eine genauere Betrachtung muß uns von der we-

ſentlichen Verſchiedenheit beider Fälle überzeugen.

 

Die kurzen Friſten der Bonorum Possessio haben den

Zweck, die Perſon des Erben bald außer Zweifel zu ſetzen.

Dieſem Zweck iſt die von der Kenntniß des Berufenen

anfangende Berechnung nicht hinderlich, da Diejenigen,

welche bey der ſchnellen Entſcheidung Intereſſe haben, den

Berufenen unterrichten, und ſo den Lauf der Friſt veran-

laſſen können. Die Klagverjährung ſoll auf ſchnelle Rechts-

verfolgung hinwirken, damit die ſichere Entſcheidung er-

leichtert und die Rechtsungewißheit abgekürzt werde. Die-

ſem Zweck würde durch die Berechnung der Friſt von der

Kenntniß des Klägers an entgegengewirkt, da hier Nie-

mand iſt, der zu einer Aufforderung des Klägers veran-

laßt wäre; dem moͤglichen Beklagten kann man dieſe nicht

 

|0421 : 409|

Irrthum und Unwiſſenheit.

zumuthen, da in ſo vielen Fällen das Recht auf der Seite

des Beklagten, oder doch ungewiß iſt, der Beklagte aber

wünſchen muß, den Rechtsſtreit lieber ganz zu vermeiden.

In der That würde die wohlthätige Wirkung der Klag-

verjährung größtentheils vernichtet ſeyn, wenn man von

der erweislichen Kenntniß des Klägers an rechnen wollte.

Dazu kommt noch, daß der Kläger durch Aufmerkſamkeit

auf ſeine Rechte die Verletzung wahrnehmen kann, alſo

meiſt den Vorwurf der Nachläſſigkeit verdient, wenn er

die Verjährung, ſey es auch durch Unbekanntſchaft mit

der Verletzung, ablaufen läßt. Nicht ſo der prätoriſche

Erbe, der keinen Beruf hat, den vielleicht ganz zufälligen

und unerwarteten Anfall der Bonorum Possessio ſchnell

in Erfahrung zu bringen. Es iſt demnach der Natur der

Klagverjährung angemeſſen, die Friſt von dem äußeren

Ereigniß anfangen zu laſſen, ohne Rückſicht auf die Kennt-

niß des Klagberechtigten. Auch wird in allgemeineren

Verjährungsgeſetzen beyläufig bemerkt, die Unwiſſenheit

des Klägers ſey gleichgültig (a); vollends die Rechtsun-

wiſſenheit, das heißt die Unbekanntſchaft mit dem Ver-

jährungsgeſetze ſelbſt, ſollte gar keinen Einfluß haben (b).

(a) L. 12 C. de praescr. longi

temp. (7. 33.). „… nulla scien-

tia vel ignorantia exspectanda,

ne altera dubitationis inextri-

cabilis oriatur occasio.” — Eine

ganz andere Natur haben die Pro-

zeßfriſten, die ſtets von der Zeit

an berechnet werden, wo die Par-

tey das Ereigniß erfährt, welches

ſie zum Handeln veranlaſſen ſoll.

(b) L. 3 C. de praescr. XXX.

(7. 39.). „.. Post hanc vero

temporis definitionem nulli mo-

vendi ulterius facultatem com-

petere censemus, etiamsi se le-

gis ignorantia excusare tenta-

verit.” An ſich war dieſer Zu-

ſatz überflüſſig, er wurde wohl

|0422 : 410|

Beylage VIII.

XXVI.

Nur bey Einer, und zwar ſehr zahlreichen, Klaſſe von

Klagen konnte ein Zweifel entſtehen: bey den Klagen mit

utile tempus, alſo bey denen, welche eine einjährige oder

noch kürzere Verjährung hatten. In das utile tempus

nämlich wurden nur eingerechnet diejenigen Tage, an wel-

chen es dem Kläger möglich war, die Klage anzuſtellen

(quibus experiundi potestatem habebat); die übrigen Tage

wurden bey Berechnung des Ablaufs der Verjährung nicht

mitgezählt, ſo daß der wörtlich vorgeſchriebene Zeitraum

um die Zahl dieſer nicht mitgezählten Tage verlängert

wurde (a). Nun entſtand die Frage, ob der Kläger auch

dadurch in der Unmöglichkeit zu klagen ſey, daß er die

Verletzung nicht wiſſe? Faßt man die Stellen des Rö-

miſchen Rechts zuſammen, ſo ergiebt ſich folgende Ant-

wort. Jener Kläger iſt der Regel nach nicht in der Un-

moͤglichkeit zu klagen, denn in vielen Fällen iſt es augen-

ſcheinlich, daß er durch gehörige Aufmerkſamkeit die Ver-

letzung hätte erfahren können, und in noch mehreren Fäl-

len wird gerade dieſer Umſtand ungewiß bleiben. Es gilt

alſo die im Allgemeinen für den Anfang der Klagverjäh-

rung aufgeſtellte Regel auch bey den einjährigen Klagen.

In einzelnen, ſeltenen Fällen jedoch kann für den Kläger

 

deswegen nöthig gefunden, weil

das ganze ſo wichtige Princip ei-

ner allgemeinen Klagverjährung

etwas völlig Neues, dem frühe-

ren Recht Fremdes war.

(a) L. 1 de div. temp. praescr.

(44. 3.).

|0423 : 411|

Irrthum und Unwiſſenheit.

die Entdeckung der Rechtsverletzung ſo ſchwer ſeyn, daß

ſie der Unmöglichkeit gleich zu achten iſt; kann er alſo

ſolche Umſtände nachweiſen, ſo wird die Verjährung aus-

nahmsweiſe von der Zeit ſeiner Kenntniß an gerechnet.

Es verhält ſich alſo hier gerade umgekehrt, als in ande-

ren Fällen, worin die Unwiſſenheit Einfluß hat, und worin

dieſer Einfluß gilt, wenn nur nicht eine beſondere Nach-

läſſigkeit dargethan werden kann, anſtatt daß bey den

Klagen mit utile tempus die Unmöglichkeit der Kenntniß

zu erweiſen iſt. Die beſonders zahlreichen Fälle zweifel-

hafter, unerweislicher Umſtände kommen daher in anderen

Fällen dem Unwiſſenden, bey der Verjährung der einjaͤh-

rigen Klagen ſeinem Gegner zu gut. Hierin wird alſo

die einjährige Klagverjährung namentlich ganz anders be-

handelt, als die Friſt der Bonorum Possessio (Num.

XXIV.) (b). — Der hier aufgeſtellte Grundſatz iſt von

den Römern nirgend allgemein ausgeſprochen; er findet

ſich in einzelnen Anwendungen, und zwar hier bald mehr

bald weniger vollſtändig, ſo daß es gewiß das einzig rich-

tige Verfahren iſt, die weniger beſtimmten Stellen aus

den beſtimmteren zu ergänzen, da ihnen allen ohne Zwei-

(b) Vergl. über dieſe verſchie-

dene Behandlung das Syſtem

§ 190. — Mit Unrecht wirft beide

Fälle zuſammen Burchardi

Wiedereinſetzung S. 188. — Der

hier aufgeſtellten Anſicht nähert

ſich Arndts in Linde’s Zeitſchrift

B. 14 S. 31, der jedoch das Ver-

hältniß von Regel und Ausnah-

me nicht ſo, wie es hier geſche-

hen, auffaßt, ſondern Alles dem

richterlichen Ermeſſen überläßt,

und dabey eher geneigt ſcheint,

die Regel auf die entgegengeſetzte

Seite zu legen.

|0424 : 412|

Beylage VIII.

fel ein und derſelbe Gedanke zum Grunde liegt. Gerade

das wichtigſte Stück meiner Behauptung aber, daß näm-

lich auch bey den einjährigen Klagen in der Regel ge-

rechnet werde von dem äußeren Ereigniß an (alſo nicht

von der Kenntniß), iſt in allen Stellen deutlich anerkannt;

die Ausnahme, die ja ſo ſelten zur Anwendung kommen

kann, wird nur in einigen derſelben erwähnt. Da aber

dieſe letzten unſere ganze Behauptung am Vollſtändigſten

enthalten, will ich ſie hier voranſtellen.

A. Das Interdict quod vi aut clam dauert Ein Jahr,

und dieſes fängt an mit der widerrechtlichen Unterneh-

mung ſelbſt, nicht mit der Kenntniß, die davon der Klä-

ger erhält. Anders iſt es nur, wenn die Arbeit unter ſol-

chen beſonderen Umſtänden geſchieht, daß ſie der Kläger

faſt gar nicht ohne bloßen Zufall bemerken kann (c). Die

Vorſchrift für dieſen Fall iſt die klarſte und vollſtändigſte

unter allen, und ſie kann am Sicherſten zur Ergänzung

der übrigen weniger beſtimmten Vorſchriften benutzt werden.

 

B. Die Strafklage de calumnia gilt unter andern für

den Fall, da ein Anderer einem Dritten Geld giebt, da-

mit dieſer Dritte eine grundloſe Klage gegen mich erhebe.

 

(c) L. 15 § 4. 5 quod vi (43.

24.). Annus autem cedere in-

cipit, ex quo id opus factum

perfectum est, aut fieri desiit

..... (§ 5) Sed si is sit lo-

cus, in quo opus factum est,

qui facile non adiretur, utputa

in sepulchro vi aut clam fac-

tum est, vel in abdito alio lo-

co, sed et si sub terra fieret

opus, vel sub aqua, vel cloaca

aliquid factum sit; etiam post

annum causa cognita competit

interdictum de eo quod factum

est, nam causa cognita annu-

am exceptionem remittendam,

hoc est magna et justa causa

ignorantiae interveniente.”

|0425 : 413|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Dieſe Klage dauert Ein Jahr, welches aber berechnet

wird nicht von jener verwerflichen Verabredung an, ſon-

dern von meiner Kenntniß (d). Hier wird alſo das, was

die vorhergehende Beſtimmung als Ausnahme bezeichnete,

ſogleich als Regel ausgedrückt, und dieſer verſchiedene

Ausdruck erklärt ſich hinreichend aus der Eigenthümlichkeit

des Falles. Denn jene hinterliſtige Verabredung iſt für

mich immer und nothwendig ſo lange verborgen, bis die

ſpätere Ausführung oder ein anderer Zufall ſie mir offen-

bart. Ja, wenn man dieſes nicht annehmen wollte, ſo

würde die widerſinnige Folge eintreten, daß die Strafe

dieſes Delicts von den Thätern durch eine kleine Vorſicht

ſtets abgewendet werden könnte; ſie brauchten nur ihrer

Abrede den Zuſatz zu geben, daß ſie erſt nach einem Jahr

ausgeführt werden ſolle, und während dieſer Zeit über die

Sache zu ſchweigen.

C. Die Klagen aus dem Edict der Ädilen verjähren

theils in Einem Jahr, theils noch kürzer. Dieſe Verjäh-

 

(d) L. 6 de calumniatoribus

(3. 6.). „.. In illius vero per-

sonam, cum quo ut agatur alius

pecuniam dedit, dubitari po-

test, utrum ex die datae pecu-

niae numerari debeat, an po-

tius ex quo cognovit datam

esse, quia qui nescit, is vide-

tur experiundi potestatem non

habere: et verius est, ex eo

annum numerari, ex quo co-

gnovit.” Das qui nescit u. ſ. w.

iſt hier von dieſem einzelnen Rechts-

verhältniß (der calumnia) zu ver-

ſtehen, nicht als allgemeine Re-

gel für alle Verjährungen mit

utile tempus. Unbedenklich kön-

nen wir es auch anwenden auf

gleichartige Fälle, nur nicht (mit

Mühlenbruch S. 366) auf alle

Klagen aus einem factum alie-

num, wohin namentlich alle De-

lictenklagen gehören würden; denn

die meiſten Delicte berühren un-

ſre Rechte auf ſo merkliche Weiſe,

daß es ganz unſre Schuld iſt, wenn

wir darüber in Unwiſſenheit blei-

ben.

|0426 : 414|

Beylage VIII.

rung fängt an von dem abgeſchloſſenen Contract (e), nicht

von der Bekanntſchaft des Käufers mit dem mangelhaften

Zuſtand der Sache. Dieſe Regel gilt ſelbſt in dem Fall,

worin man ſie am leichteſten bezweifeln könnte, wenn der

gekaufte Sklave die Gewohnheit hat zu entlaufen (fugiti-

vus) (f); nur dann leidet ſie eine Ausnahme, wenn die-

ſer Fehler des Sklaven beſonders verſteckt war (etwa durch

ein täuſchendes gutes Betragen), und zugleich der Käufer

nicht durch verſäumte Erkundigung Nachläſſigkeit bewie-

ſen hat (g).

D. Die doli actio verjährte ehemals in Einem annus

utilis, und verjährt jetzt in Zwey gewöhnlichen Jahren

(continui). Dieſe ſollen angehen von der Zeit des Be-

trugs, nicht der Kenntniß des Betrogenen (h). Die Worte

 

(e) L. 19 § 6 de aedil. act.

(21. 1.).

(f) L. 2 C. de aedil. act. (4.

58.). Hier iſt allerdings blos die

Flucht des Sklaven als einzelne

Thatſache, nicht die fehlerhafte Ge-

wohnheit eines fugitivus erwähnt.

Dieſe wird aber offenbar voraus-

geſetzt, da die Regreßklage nicht

als an ſich unbegründet, ſondern

blos wegen der Verjährung, ver-

worfen wird.

(g) L. 55 de aedil. act. (21.

1.). „… non videbitur pote-

statem experiundi habuisse, qui

vitium fugitivi latens ignoravit:

non idcirco tamen dissolutam

ignorationem emtoris excusari

oportebit.” Hier ſind zwey Be-

dingungen aufgeſtellt für die gün-

ſtigere Zeitberechnung: erſtlich daß

die böſe Gewohnheit des Sklaven

nicht aus dem ſichtbaren Beneh-

men deſſelben vermuthet werden

konnte (latens); zweytens daß

auch ſonſt nicht die Unkunde des

Käufers leicht vermeidlich war.

Indeſſen könnte man auch den

zweyten Satz für eine Wiederho-

lung des erſten in anderen Wor-

ten halten, was den Sinn nicht

weſentlich ändern würde. — Der

Widerſpruch dieſer Stelle mit der

in der Note f angeführten iſt wohl

nur auf die im Text angegebene

Weiſe zu beſeitigen. Vgl. auch

Haubold opuscula T. 1 p. 429.

430.

(h) L. 8 C. de dolo (2. 21.),

d. h. L. 1 C. Th. de dolo (2. 15.).

|0427 : 415|

Irrthum und Unwiſſenheit.

dieſes Zuſatzes ſind ſo gefaßt, daß auch hierin eine beab-

ſichtigte Neuerung unverkennbar iſt. Der hier abgeän-

derte Zuſtand des älteren Rechts war aber nicht der, daß

immer von der Zeit der erlangten Kenntniß an gerechnet

wurde, ſondern daß dieſe Berechnung, eben ſo wie bey

den vorher erwähnten Klagen, zuweilen ſtatt finden konnte,

nämlich wenn der Betrug beſonders liſtig verſteckt war;

ſelbſt dieſe Ausnahme ſollte jetzt wegfallen (i).

E. Die Reſtitutionsfriſt dauerte früher Ein Jahr, wel-

ches bey Minderjährigen genau von ihrer Volljährigkeit

an berechnet wurde (k), bey Abweſenden von der Wieder-

kehr, alſo bey Allen ohne Rückſicht auf die erlangte Kennt-

niß. Dieſelbe Berechnungsweiſe iſt natürlich auch auf die

im neueſten Recht beſtimmten Vier Jahre übertragen

worden (l).

 

F. Die actio Pauliana dauert Ein Jahr lang, wel-

ches von der unredlichen Veräußerung des Schuldners an

 

„Optimum duximus, non ex eo

die, quo se quisque admissum

dolum didicisse commemorave-

rit, neque intra anni utilis tem-

pus, sed potius ex eo die, quo

adseritur commissus dolus in-

tra continuum biennium de dolo

actionem moveri” …

(i) Man könnte dieſes Letzte

für zu hart halten, um es an-

nehmbar zu finden, es paßt aber

völlig zu dem übrigen Inhalt die-

ſes Geſetzes, welches ja auch ganz

unerhörterweiſe nicht blos die An-

ſtellung der Klage, ſondern die

Beendigung des Prozeſſes, auf

die Zeit von zwey Jahren be-

ſchränkt. Praktiſch wird die eine

und die andere Härte dadurch ſehr

gemildert, daß dreyßig Jahre lang

eine actio in factum fortdauert

inſoweit der Betrüger Vortheil

durch den Betrug erlangt hat.

L. 28. 29 de dolo (4. 3.).

(k) L. 19 de minor. (4. 4.).

(l) L. 7 C. de tempor. in int.

rest. (2. 53.).

|0428 : 416|

Beylage VIII.

gerechnet wird, alſo nicht von der erlangten Kenntniß des

Glaubigers (m).

G. Die Anklage aus der Lex Julia de adulteriis ver-

jährte bey beiden Geſchlechtern in Fünf Jahren von der

Zeit des begangnen Verbrechens an; außerdem bey Frauen

auch noch in Sechs Monaten. Dieſe Sechs Monate wa-

ren ein utile tempus, und wurden dennoch berechnet, bey

Wittwen von der That an, bey Ehefrauen von der Schei-

dung an; in beiden Fällen alſo ganz ohne Rückſicht auf die

Kenntniß, die der Ankläger von der That haben mag (n).

 

In den Fällen nun, worin eine begünſtigende Berech-

nung als Ausnahme eintreten ſoll, könnte man zweifeln,

ob dieſe ganz von ſelbſt eintrete, oder nur vermittelſt ei-

ner Reſtitution. Nach den Ausdrücken mehrerer Stellen

(Note d und g) dürfte wohl das erſte angenommen wer-

den, womit jedoch eine vorgängige Cognition des Prä-

tors (Note c) wohl vereinbar iſt. Auch würde wenig-

ſtens die Anordnung einer Reſtitution hier gar nicht prak-

tiſch fühlbar geweſen ſeyn. Denn das Wichtigſte bey der

Reſtitution war die Einſchränkung auf Ein Jahr; in jenen

 

(m) L. 6 § 14 L. 10 § 18 quae

in fraud. (42. 8.).

(n) L. 29 § 5 ad L. Jul. de

adult. (48. 5.), L. 1 § 10 ad Sc.

Turp. (48. 16.). — Bey Witt-

wen wurden die Fünf Jahre ſtets

abſorbirt von den Sechs Mona-

ten, weil beide Zeiträume denſel-

ben Anfangspunkt haben; bey Ehe-

frauen kann bald die eine, bald

die andere Verjährung vortheil-

hafter ſeyn, und die Frau hatte

zwiſchen beiden die Wahl. L. 29

§ 5 cit. — Alles Dieſes übrigens

gehört nur dem ältern Recht an;

ſpäterhin wurde dieſe ſechsmonat-

liche Verjährung ganz aufgeho-

ben, und die fünfjährige für die

einzige erklärt. L. 28 C. ad L.

J. de adult. (9. 9.).

|0429 : 417|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Fällen aber wäre das Reſtitutionsjahr mit der einjähri-

gen Klagverjährung völlig zuſammen gefallen, da beide

von der Zeit der erlangten Kenntniß an gerechnet werden

mußten. Dagegen iſt es ſehr wichtig ſich davon zu über-

zeugen, daß nicht noch neben jenen ſtrengen Bedingungen

der Ausnahme, alſo in Ermanglung derſelben, eine Reſti-

tution gegen die einjährige Klagverjährung blos auf den

Grund des (nicht unüberwindlichen) Irrthums ſtatt finden

konnte. Wer die angeführten Stellen unbefangen betrach-

tet, kann wohl nicht an eine ſolche Reſtitution denken;

ohnehin wäre die Unterſcheidung einer ſolchen Reſtitution

von der ohne dieſelbe eintretenden günſtigen Berechnung

viel zu kleinlich und unpraktiſch geweſen, als daß wir ſie

bey den Römiſchen Juriſten vorausſetzen dürften.

Allein alles hier Geſagte darf blos auf die Fälle be-

zogen werden, worin der Irrthum allein, als ſolcher, die

Anſtellung der Klage verhindert. Anders iſt es, wenn

man den Beklagten nicht kennt, oder nicht verklagen kann

weil derſelbe entflohen oder verborgen iſt. Denn nun iſt

eine vom Irrthum ganz unabhängige wahre Unmöglichkeit

der Klage vorhanden, die den Lauf des utile tempus an

ſich ausſchließt (o).

 

(o) L. 1 de div. temp. praescr.

(44. 3.). So z. B. iſt die actio

vi bonorum raptorum einjährig

(L. 3. 4 pr. vi bon. rapt. 47. 8.).

Sind die Räuber entflohen, ſo

läuft keine Verjährung. Eben ſo

wäre es mit der actio furti, wenn

man, wie gewöhnlich, gar nicht

weiß wer der Dieb iſt; allein da-

von kann deswegen nicht die Rede

ſeyn, weil dieſe Klage 30 Jahre

dauert.

III. 27

|0430 : 418|

Beylage VIII.

XXVII.

Bisher iſt gezeigt worden, daß die Klagverjährung zu

laufen anfängt von dem äußern Ereigniß an, welches die

Klage begründet, ohne Rückſicht auf die mögliche Unwiſ-

ſenheit des Klägers über dieſes Ereigniß; und zwar bey

den Verjährungen mit tempus continuum ganz allgemein,

bey denen mit utile tempus unter Vorbehalt einer ſeltenen

Ausnahme (Num. XXV. XXVI.). Es bleibt nun noch die

Frage übrig, ob nach Ablauf einer ſolchen durch Unwiſſen-

heit veranlaßten Verjährung, dem früher Unwiſſenden durch

Reſtitution geholfen werde. Eine ſolche Reſtitution würde

wichtig ſeyn für die einjährigen Verjährungen, ſobald die

Bedingung der begünſtigenden Ausnahme fehlt; weit wich-

tiger noch für die übrigen, weil bey dieſen überhaupt keine

Ausnahme vorkommt.

 

Dieſe Frage aber nimmt wieder zwey verſchiedene Ge-

ſtalten an, indem die Reſtitution gedacht werden könnte

entweder wegen des Irrthums oder der Unwiſſenheit an

ſich, die alſo ſelbſt der Reſtitutionsgrund wäre: oder aber

wegen eines anderen, allgemeineren Reſtitutionsgrundes,

der dann die nachtheiligen Folgen der Unwiſſenheit hin-

wegnehmen würde.

 

Zuerſt alſo: Wird der Kläger ſchon aus dem Grund

allein reſtituirt, weil er aus Unbekanntſchaft mit dem Klag-

recht die Verjährung ablaufen ließ? Sind die bisher auf-

geſtellten Sätze richtig, ſo kann die Verneinung dieſer

 

|0431 : 419|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Frage keinen Zweifel haben. Sie folgt aus dem prakti-

ſchen Bedürfniß der Klagverjährung, deren wohlthätige

Wirkſamkeit durch dieſe Art der Reſtitution nicht minder

entkräftet werden würde, als durch die oben widerlegte

anfängliche Berechnung der Verjährung (Num. XXV.).

Sie folgt aber noch nothwendiger aus der Art, wie das

Römiſche Recht die einjährige, mit utile tempus verſehene

Verjährung behandelt. Daß bey dieſer eine Reſtitution

wegen Unwiſſenheit nicht gegeben wird, iſt bereits gezeigt

worden (Num. XXVI.). Daraus aber folgt unwiderſprech-

lich, daß ſie noch weit weniger bey den längeren Verjäh-

rungen gelten kann, die auf ein continuum tempus ange-

wieſen ſind. — Dennoch haben Viele der angeſehenſten

Rechtslehrer dieſe Reſtitution in Schutz genommen; Manche

ganz allgemein, Andere nur mit Ausnahme der dreyßigjäh-

rigen Verjährung (a). Alle dieſe Schriftſteller unterlaſſen

es, die Frage in dem hier dargeſtellten Zuſammenhang

aufzufaſſen, durch welchen ich ſie insgeſammt für widerlegt

halte. Daneben ſetzen ſie ſtillſchweigend voraus eine unbe-

ſchränkte Anwendbarkeit der Reſtitution aus Irrthum auf

alle denkbare Fälle; ſie ſelbſt ſuchen dieſe Vorausſetzung

mit Nichts zu begründen, und im Widerſpruch mit derſel-

ben iſt ſchon oben (Num. II.) bemerkt worden, daß die

(a) Cocceji Lib. 4 Tit. 6 qu.

4, Thibaut Beſitz und Verjäh-

rung § 73, Unterholzner Ver-

jährungslehre § 137 Num. 4,

Burchardi Wiedereinſetzung

S. 188. Sehr gut wird die ent-

gegengeſetzte Anſicht vertheidigt

von Emminghaus zu der ange-

führten Stelle von Cocceji ed.

Lips. 1791.

27*

|0432 : 420|

Beylage VIII.

Reſtitution aus Irrthum kein allgemeines Rechtsmittel iſt,

ſondern nur eine ziemlich beſchränkte Aushülfe darbietet

für einzelne genau beſtimmte Fälle. Und dieſe Behauptung

ſteht wieder mit unſrer Grundanſicht vom Irrthum (Num.

VI.) in ſo unzertrennlicher Verbindung, daß ſie mit der-

ſelben ſtehen und fallen muß.

Zweytens: Kann der Kläger, der aus Unwiſſenheit eine

Verjährung ablaufen ließ, gegen dieſen Verluſt durch all-

gemeine Reſtitutionsgründe, wie Minderjährigkeit, Abwe-

ſenheit u. ſ. w. geſchützt werden? Die Bejahung dieſer

Frage könnte, eben wegen der allgemein umfaſſenden Na-

tur jener Gründe keinen Zweifel haben, wenn nicht be-

ſondere geſetzliche Beſtimmungen gerade über dieſe Frage

vorhanden wären, deren Inhalt nunmehr dargeſtellt wer-

den ſoll.

 

A. Gehört die Klage zu einem ſogenannten peculium

adventitium ordinarium, ſo daß der eigentlich Klagberech-

tigte auf die Ausübung ſeiner Rechte keinen Einfluß hat,

ſo iſt während dieſes Rechtszuſtandes die Klagverjährung

ipso jure gehemmt, ſo daß es keiner Reſtitution bedarf.

Es iſt dabey gleichgültig, ob die Klage einer einjährigen

oder einer dreyßigjährigen Verjährung unterworfen iſt (b).

 

B. Völlig daſſelbe gilt, wenn der Klagberechtigte noch

unmündig iſt, ſolange dieſer perſönliche Zuſtand dauert (c).

 

C. Daſſelbe Recht, nur in einer beſchränkteren Anwen-

 

(b) L. 1 § 2 C. de annali

except. (7. 40.).

(c) L. 3 C. de praescr. XXX.

(7. 39.).

|0433 : 421|

Irrthum und Unwiſſenheit.

dung, gilt, ſolange der Klagberechtigte minderjährig iſt.

Es gilt dieſes nämlich bey denjenigen Verjährungen, welche

weniger als dreyßig Jahre dauern, ſo daß dabey der Min-

derjährige keiner Reſtitution bedarf (d).

Für alle übrige Fälle muß unterſchieden werden die

dreißigjährige Verjährung von den kürzeren, wobey alſo

die einjährige und zwanzigjährige ganz auf gleicher Linie

ſtehen. Bey der dreyßigjährigen iſt jede anderwärts gel-

tende Reſtitution völlig ausgeſchloſſen, und dieſer Satz ent-

hält eine poſitive Ausnahme von allgemeineren Rechtsre-

geln. Bey den kürzeren iſt gar nichts Poſitives vorge-

ſchrieben, ſo daß hier die gewöhnlichen Regeln der Reſti-

tution unbeſchränkt zur Anwendung kommen. Der erſte

Satz iſt in hohem Grade beſtritten (e); bey dem zweyten

kommt ein ſolcher Streit nicht vor.

 

Gegen die dreyßigjährige Klagverjährung alſo ſollen

auch Diejenigen keine Reſtitution erhalten, die gegen jeden

anderen Nachtheil reſtituirt werden, namentlich die Min-

 

(d) L. 5 C. in quib. causis

(2. 41.). — Voet IV. 4 § 29

behauptet, die Minderjährigen

müßten in dieſer Hinſicht gleiches

Recht mit den Unmündigen ha-

ben, weil ſie gleich dieſen unter

Tutoren ſtänden. Allein die Un-

terordnung unter Tutoren hin-

dert ſie nicht, zugleich ſelbſt von

ihren Geſchäften Kenntniß zu neh-

men. Auch zu Juſtinians Zeit

wurde ihr Vermögen nicht von

ihnen ſelbſt, ſondern von Cura-

toren verwaltet, und doch ſollten

ſie der dreißigjährigen Verjährung

völlig unterworfen ſeyn.

(e) Die hier vorgetragene Mey-

nung wird vertheidigt von Thi-

baut Beſitz und Verjährung § 65.

73, und Unterholzner Verjäh-

rungslehre § 136; die entgegen-

geſetzte von Burchardi Wieder-

einſetzung S. 136.

|0434 : 422|

Beylage VIII.

derjährigen. Der Beweis liegt in folgenden Worten der

L. 3 C. de praescr. XXX. (7. 39.):

non sexus fragilitate, non absentia, non militia contra

hanc legem defendenda, sed pupillari aetate duntaxat,

quamvis sub tutoris defensione consistat, huic eximenda

sanctioni. Nam cum ad eos annos pervenerint, qui ad

sollicitudinem pertinent curatoris, necessario eis simili-

ter ut aliis, annorum triginta intervalla servanda sunt.

 

Der Sinn dieſer Worte iſt folgender. Von der dreißig-

jährigen Verjährung ſind ipso jure frey (ſo daß ſie keiner

Reſtitution bedürfen), die Unmündigen (huic eximenda

sanctioni) (f). Alle übrigen dagegen ſollen nicht einmal

Reſtitution erhalten (contra hanc legem defendenda), noch

viel weniger alſo ipso jure frey ſeyn; in dieſer Hinſicht

ſollen die Minderjährigen ganz auf gleicher Linie ſtehen

mit den Frauen, Abweſenden, und Soldaten. — Hätten

wir blos den wörtlichen Gegenſatz von eximenda und de-

fendenda vor uns, ſo würde dieſer in einer Conſtitution

aus ſo ſpäter Zeit nicht völlig entſcheiden; der Verfaſſer

hätte eine nichtsſagende Abwechslung der Ausdrücke als

Zierlichkeit der Rede anbringen koͤnnen. Allein folgende

Gründe nöthigen uns, dieſe Ausdrücke in dem beſtimmte-

ren Sinn zu nehmen, welcher oben in unſrer Erklärung

vorausgeſetzt iſt. Erſtlich will der Geſetzgeber offenbar

(f) Daß nur dieſe ipso jure

Befreyten, und nicht auch die

filiifamilias (Note b) hier genannt

werden, erklärt ſich hiſtoriſch.

Das im Text abgedruckte Geſetz

iſt von Theodoſius II., die Be-

freyung der filiifamilias hat erſt

Juſtinian hinzugefügt.

|0435 : 423|

Irrthum und Unwiſſenheit.

einen ſtarken praktiſchen Unterſchied anordnen zwiſchen den

Pupillen und Minderjährigen. Nun iſt aber der Unter-

ſchied zwiſchen Befreyung ipso jure und durch Reſtitution

ungleich geringer, als der zwiſchen Befreyung überhaupt

und Nichtbefreyung. Der Geſetzgeber konnte alſo unmoͤg-

lich jenen geringeren Unterſchied mit Wichtigkeit behandeln,

und den größeren mit Stillſchweigen übergehen, alſo zwei-

felhaft laſſen; er konnte nicht von den Minderjährigen ſa-

gen, ſie ſeyen ſtrenge an die Beobachtung der 30 Jahre

gebunden, wenn ſie ſich von dieſer Strenge ſogleich wieder

durch Reſtitution los machen konnten. Zweytens zeigt der

ganze Ausdruck, daß der Geſetzgeber etwas Neues, Uner-

wartetes anordnen wollte, Etwas das ohne dieſe Vorſchrift

nicht ſo geweſen ſeyn würde. Dieſes paßt ganz zu unſrer

Erklärung, denn die hier zuſammen geſtellten Perſonen hat-

ten in der That einen ſehr ausgedehnten Anſpruch auf

Reſtitution, der ihnen unzweifelhaft auch gegen die dreißig-

jährige Verjährung geholfen haben würde, wenn nicht hier

die Reſtitution ausdrücklich verboten worden wäre. Zu

der entgegengeſetzten Erklärung paßt jener Ausdruck gar

nicht, da Niemand daran denken konnte, den Frauen u. ſ. w.

gegen die dreyßigjährige Verjährung eine Befreyung ipso

jure zu geben, die ſie ſelbſt gegen kürzere Verjährungen

niemals gehabt hatten (g).

(g) Burchardi S. 136 ſtellt

dagegen die Behauptung auf, die

Abweſenden und Soldaten hätten

allerdings oft ipso jure Befreyung

gehabt, und er führt zum Beweiſe

mehrere Stellen an, die in der That

nicht ausdrücklich von Reſtitution

ſprechen. Allein es iſt eine ganz

|0436 : 424|

Beylage VIII.

Der zweyte oben aufgeſtellte Satz war der, daß gegen

alle kürzere als dreyßigjährige Verjährungen jede an ſich

begründete Reſtitution geltend gemacht werden könne, wo-

durch dann auch der Nachtheil aus der Unwiſſenheit ab-

gewendet werde, die nur nicht als ein ſelbſtſtändiger Re-

ſtitutionsgrund angeſehen werden darf. Dieſen zweyten

Satz haben wir nicht, ſo wie den erſten, gegen den Wi-

derſpruch Anderer zu vertheidigen, ſondern nur in unſren

Rechtsquellen als anerkannt und vielfältig angewendet nach-

zuweiſen. Darüber iſt voraus im Allgemeinen zu bemer-

ken, daß auch diejenigen Stellen von dieſer Reſtitution

verſtanden werden müſſen, welche bey Abweſenden u. ſ. w.

nur überhaupt die Befreyung von der Verjährung erwäh-

nen, ſelbſt wenn darin die Reſtitution nicht namentlich

angegeben wird (Note g). Die vorkommenden Fälle ſelbſt

ſind folgende.

 

1. Abweſenheit ſchützt gegen die vierjährige Verjährung

der Regreßklage gegen den Fiscus, der die Sache des Ab-

weſenden veräußert hat (h).

 

verwerfliche Interpretation, aus

jeder etwas unbeſtimmt redenden

Stelle (beſonders wenn es ein

Reſcript iſt) ſogleich einen iſolir-

ten Rechtsſatz zu machen, da wo

ſich die Zurückführung auf ein

ſonſt ſchon bekanntes Princip ſo

ungezwungen darbietet. Zudem

ſtehen in der Reihe jener befrey-

ten Perſonen auch die Frauen;

bey dieſen aber hat Burchardi

auch nicht einmal den Schein ei-

ner früheren Befreyung ipso

jure, ſo wie bey Abweſenden,

hervorzubringen vermocht.

(h) L. 5 C. de rest. mil.

(2. 51.) „Neque … praescrip-

tionem quadriennii .. obesse

manifestum est,” nämlich eben

wegen der Reſtitution, worauf

ſogar in den hier ausgelaſſenen

Worten ausdrücklich hingewieſen

wird. Burchardi S. 136 ver-

ſteht es dennoch von der Befreyung

|0437 : 425|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Ferner gegen die Verjährung einer öffentlichen An-

klage (i).

 

Ferner gegen die einjährige Verjährung des Interdicts

quod vi (k).

 

Ferner gegen die longi temporis praescriptio (l).

 

2. Die Abhaltung durch Amtsgeſchäfte (ſie mag mit

Abweſenheit verbunden ſeyn oder nicht) ſchützt gegen die

Verjährung der doli actio (m).

 

3. Wer die Klage, die er gegen einen Pupillen hat,

gegen den falsus tutor anſtellt, und darüber die Verjäh-

rung ablaufen läßt, hat die Wahl zwiſchen der Reſtitution

und dem Regreß gegen den Tutor; die erſte gilt allgemein,

der Regreß nur wenn der Tutor in mala fide war (n).

 

4. Minderjährige würden dieſe Reſtitution haben, wenn

ſie nicht von Juſtinian die günſtigere Befreyung ipso jure

 

ipso jure. Der ganze Titel han-

delt aber von der Reſtitution.

(i) L. 44 pr. ex quib. causis

maj. (4. 6.) „.. non perimitur,”

nämlich mit Hülfe der Reſtitution,

von welcher ja der ganze Titel

handelt.

(k) L. 15 § 6 quod vi (43. 24.).

(l) L. 1. 2. 4. 6. 8 C. quibus

non objicitur (7. 35.). In eini-

gen dieſer Stellen wird deutlich

genug auf die Reſtitution hinge-

wieſen, in anderen iſt der Aus-

druck unbeſtimmter; ohne Zweifel

aber kann dieſe ganz zufällige

Abwechslung des Ausdrucks eine

verſchiedene Auslegung dieſer we-

ſentlich übereinſtimmenden Re-

ſcripte nicht rechtfertigen. — Die

L. 8 cit. ſteht nochmals im Codex

als L. 8 C. de rest. mil. (2. 51.).

(m) L. 3 C. de dolo (2. 21.).

(n) L. 1 § 6 L. 7 pr. quod

falso (27. 6.) enthalten das Prin-

cip des Wahlrechts überhaupt,

L. 10 eod. enthält die Anwen-

dung der Regreßklage auf den

Fall der erlittenen Klagverjäh-

rung. Die Reſtitution gegen die

Klagverjährung iſt eben ſo un-

zweifelhaft; die alten Juriſten

haben ſie wohl deswegen nicht

beſonders erwähnt, weil ſie zu

ihrer Zeit mit der Reſtitution

gegen die Klageconſumtion (Num.

XIX.) zuſammen fiel.

|0438 : 426|

Beylage VIII.

erhalten hätten (o). Vor dieſem Geſetz hatten ſie die Re-

ſtitution unzweifelhaft; eben ſo auch die Pupillen vor dem

Geſetz von Theodoſius II.

5. Kirchen ſollen adversus lapsum temporis reſtituirt

werden (p). Da dieſelben jedoch im Allgemeinen die Rechte

der Minderjährigen haben (q), ſo müſſen ſie bey der Klag-

verjährung theils ipso jure geſchützt ſeyn, theils auch nicht

einmal durch Reſtitution. Daher kann ihre oben erwähnte

Reſtitution gar nicht auf die Klagverjährung bezogen wer-

den, ſondern auf andere Zeitverſäumniſſe, namentlich auf

die bey den Prozeßfriſten (r).

 

Es iſt alſo überhaupt die Reſtitution gegen Klagver-

jährungen von ſehr beſchränkter Anwendung, ja die Ab-

weſenheit iſt eigentlich die einzige etwas umfaſſende Ver-

anlaſſung derſelben. Und nicht nur die Abweſenheit des

Klägers kann ſie veranlaſſen, ſondern auch die des Be-

klagten. Zwar bey den einjährigen Klagen (mit utile

tempus) würde es einer Reſtitution nicht einmal bedürfen,

weil die Tage der Abweſenheit, wegen der fehlenden ex-

periundi potestas, ohnehin nicht mitgezählt werden. Allein

bey den Verjährungen von Zwey, Vier, Fünf, Zehen,

Zwanzig Jahren kann dieſe Reſtitution eine wichtige und

billige Hülfe gewähren.

 

(o) S. o. Note d. — Daraus

erklärt es ſich wohl, daß in den

Digeſten ſo wenig von dieſer Re-

ſtitution die Rede iſt. Ich finde

ſie nur einmal erwähnt, in L. 15

§ 6 quod vi (43. 24.).

(p) Clem. un. de restit. (1. 11.).

(q) C. 1. 3 X. de in int. rest.

(2. 41.).

(r) Unterholzner Verjäh-

rungslehre § 136.

|0439 : 427|

Irrthum und Unwiſſenheit.

XXVIII.

Ich faſſe das hier Dargeſtellte kurz zuſammen. Gegen

die Verſäumniß der Friſt zur Bonorum Possessio ſchützt

der factiſche Irrthum, nicht der Rechtsirrthum, außer bey

gänzlichem Mangel an Bildung (Num. XXIV.). — Die

Klagverjährung wird in der Regel berechnet von der Ent-

ſtehung des Klagrechts an, ohne Rückſicht auf die Be-

kanntſchaft des Klägers mit ihrem Daſeyn (Num. XXV.).

Dieſes letzte leidet eine Ausnahme bey den einjährigen

Klagen, vorausgeſetzt daß durch beſondere Umſtände die

Unbekanntſchaft des Klägers unüberwindlich war (Num.

XXVI.). Außerdem ſind manche Perſonen gegen die Klag-

verjährung (alſo auch gegen den dieſelbe veranlaſſenden

Irrthum) ipso jure, ohne Reſtitution geſchützt: nämlich

filiifamilias und Pupillen allgemein, Minderjährige gegen

die Verjährungen die weniger als dreyßig Jahre dauern.

Endlich gilt jede gewöhnliche Reſtitution auch gegen die

Klagverjährungen unter dreißig Jahren: gegen die drey-

ßigjährige gilt gar keine Reſtitution (Num. XXVII.).

 

XXIX.

Nachdem die wichtigſten Fälle der Unterlaſſungen, wo-

bey der Irrthum von Einfluß ſeyn kann, betrachtet wor-

den ſind (Num. XXIV. XXV. u. fg.), bleiben jetzt nur noch

folgende zu erwägen übrig.

 

V. Wer es zur Zeit des älteren Prozeſſes unterließ,

 

|0440 : 428|

Beylage VIII.

zugleich mit einer angeſtellten Klage die Beweisurkunden

einzureichen, ſollte dieſe nachher nicht mehr gebrauchen

dürfen. Gegen dieſen Nachtheil erhielten Reſtitution die

Minderjährigen, Frauen, und ſehr ungebildete Menſchen (a).

VI. Gegen die unterlaſſene Einwendung einer perem-

toriſchen Einrede wurde im älteren Prozeß allgemein Re-

ſtitution ertheilt; bey dilatoriſchen Einreden war es be-

ſtritten (b).

 

VII. Wenn eine ſchwangere Frau nach aufgelöſter Ehe

die vorgeſchriebenen Formen wegen der künftigen Geburt

aus Unkunde verſäumt, ſo wird ihr dieſes nachgeſehen (c).

 

VIII. Der Erbe, der es unterläßt, die Moͤrder ſeines

Erblaſſers gerichtlich zu verfolgen, verliert ſein Erbrecht,

und ſelbſt die Klagen, die ihm durch Confuſion verloren

giengen, werden ihm nicht reſtituirt. Unterläßt er es aber

aus factiſcher Unwiſſenheit über den Hergang, ſo bekommt

er Reſtitution gegen dieſe Confuſion, nicht gegen den Ver-

luſt des Erbrechts (d).

 

IX. Wenn ein Teſtament die Erfüllung einer Bedin-

gung vor einem beſtimmten Tage vorſchreibt, der Erbe

oder Legatar aber dieſe Bedingung deswegen nicht erfuhr,

 

(a) L. 1 § 2—5 de edendo

(2. 13.). Vgl. Schulting enar-

ratio Lib. 2 Tit. 13 § 13. Bur-

chardi Wiedereinſetzung S. 184.

— Unrichtig erklärt dieſe Stelle

Noodt ad Pand. II. 13.

(b) Gajus Lib. 4 § 125. Vgl.

Burchardi Wiedereinſetzung

S. 185.

(c) L. 2 § 1 de inspic. ventre

(25. 4.).

(d) L. 8. 17 de his quae ut

ind. (34. 9.), L. 29 § 1. 2 de j.

fisci (49. 14.), L. 21 § 1 de Sc.

Silan. (29. 5.). Vgl. Burchardi

Wiedereinſetzung S. 390.

|0441 : 429|

Irrthum und Unwiſſenheit.

weil die Eröffnung des Teſtaments wegen einer geſetzlichen

Vorſchrift verſchoben wurde, ſo wird gegen die Unterlaſ-

ſung rechtzeitiger Erfüllung Reſtitution gegeben (e).

X. Endlich werden die Prozeßfriſten in der Regel, und

ohne daß es dabey einer Reſtitution bedarf, von dem Zeit-

punkt an berechnet, in welcher der Partey die ihren An-

fang beſtimmende Thatſache bekannt geworden iſt, ſo daß

ſie in dieſer Hinſicht wie die Bonorum Possessio, und nicht

wie die Klagverjährung, behandelt werden. In dieſer Be-

ziehung iſt auch die Excuſationsfriſt gegen eine uns ange-

fallene Vormundſchaft, ganz wie eine Prozeßfriſt zu be-

handeln (f).

 

XXX.

Im Laufe dieſer Unterſuchung ſind viele Fälle vorge-

kommen, in welchen der Irrthum bey gewiſſen Klaſſen von

Perſonen günſtiger als bey allen Übrigen behandelt wurde.

Es gehören dahin:

Minderjährige, Frauen, Ungebildete (Rusticitas), Sol-

daten.

 

Indem dieſe jetzt einzeln betrachtet werden ſollen, iſt

es nöthig, neben jener gemeinſchaftlichen Begünſtigung,

 

(e) L. 3 § 31 de Sc. Silan.

(29. 5.). Vgl. Burchardi Wie-

dereinſetzung S. 185.

(f) § 16 J. de excus. (1. 25.),

L. 13 § 9 eod. (27. 1.), L. 6 C.

eod. (5. 62.) Fragm. Vatic.

§ 156. — Über die Prozeßfriſten

vgl. u. a. L. 1 § 15 quando ap-

pell. (49. 4.).

|0442 : 430|

Beylage VIII.

zugleich die eigenthümliche Natur jeder Klaſſe ſorgfältig

im Auge zu behalten.

Die Minderjährigen haben bekanntlich einen allge-

meinen Anſpruch auf Reſtitution gegen alles Thun oder

Laſſen, welches ihnen im erlaubten Rechtsverkehr (alſo

abgeſehen von Verletzungen) Nachtheil bringen kann. Die-

ſer allgemeine Grundſatz hat die wichtigſten Folgen auch

in Beziehung auf den Irrthum. Volljährige werden in

der Regel nicht gegen den aus ihrem Irrthum entſtehen-

den Nachtheil geſchützt, ſondern nur in beſonders beſtimm-

ten Fällen (Num. VI.): Minderjährige allgemein (a). Bey

Volljährigen wird der Schutz gegen Irrthum ausgeſchloſ-

ſen durch beſondere Nachläſſigkeit, und deshalb in der Re-

gel bey jedem Rechtsirrthum: Minderjährige dürfen ſich

auch auf den Rechtsirrthum berufen (b). Bei Volljährigen

deutet der Schutz gegen Irrthum darauf hin, daß durch

wiſſentliches Handeln jeder Schutz ausgeſchloſſen ſeyn ſoll:

Minderjährige werden auch in dieſem Fall geſchützt.

 

Folgende Anwendungen dieſer Grundſätze werden aus-

drücklich erwähnt: Wenn der Minderjährige einem filius-

familias Geld als Darlehen giebt (Num. XIII.), wenn er

einen untauglichen Bürgen zur Prozeßcaution annimmt

(Num. XIX. Note d.), und wenn er die Friſt einer Bono-

 

(a) L. 8 C. de in int. rest. min.

(2. 22.), interpolirt aus L. 3 C.

Th. de int. rest. (2. 16.) ſ. u.

Num. XXXI.

(b) L. 9 pr. h. t., L. 11 C.

h. t., interpolirt aus L. 3 C. Th.

de sponsal. (3. 5.).

|0443 : 431|

Irrthum und Unwiſſenheit.

rum Possessio verſäumt (Num. XXIV.). Es hat aber

durchaus keinen Zweifel, daß ſie auch in allen anderen,

nichterwähnten, Fällen gelten müſſen, ſo daß alſo gewiß

ein Minderjähriger uſucapiren kann, auch wenn ſein Be-

ſitztitel mit einem Rechtsirrthum in Verbindung ſteht.

Es iſt jedoch wohl zu bemerken, daß dieſe Beguͤnſti-

gung bey dem Irrthum, ſo wie die Reſtitution überhaupt,

nur auf den erlaubten Verkehr zu beziehen iſt. Auf De-

licte geht Beides nicht, hier wird überhaupt keine Reſti-

tution gegeben, und der Minderjährige kann ſich alſo auch

nicht durch die Unbekanntſchaft mit dem Strafgeſetz ent-

ſchuldigen (c). Dieſe Regel gilt ohne Unterſchied der do-

loſen und culpoſen Delicte, ja auch bey dem in Contracten

begangenen Dolus, da dieſer eine delictenähnliche Natur

hat (d). Jedoch gilt ſie nur für diejenigen Rechtsverletzun-

gen, deren Strafbarkeit ſchon dem natürlichen Rechtsgefühl

einleuchtet, nicht auf die welche eine mehr poſitive Natur

haben (Num. XX.). Daher ſollte der Minderjährige frey

ſeyn von der Strafe des incestus juris civilis und der

übertretenen Zollgeſetze, ſo wie die minderjährige Frau,

 

(c) L. 9 pr. h. t. „ .. ante

praemisso, quod minoribus vi-

gintiquinque annis jus ignorare

permissum est: quod et in fe-

minis in quibusdam causis prop-

ter sexus infirmitatem dicitur:

et ideo sicubi non est delictum,

sed juris ignorantia, non lae-

duntur.” Die hier curſiv gedruck-

ten Worte müſſen als Parentheſe

gedacht werden, ſo daß der letzte

Satz unmittelbar an den erſten

anſchließt, und auf die Minder-

jährigen geht, nicht auf die Frauen

(vgl. Num. XXXI.). — L. 9 § 2.

3. 4 L. 37 § 1 de minor. (4. 4.),

L. 1 C. si adv. del. (2. 35.).

(d) L. 9 § 2 de minor. (4. 4.).

|0444 : 432|

Beylage VIII.

die ihrem Kind keinen Vormund erbittet, von der Strafe

dieſer Unterlaſſung (Num. XXI.) (e).

XXXI.

Frauen befinden ſich in einer ganz anderen Lage als

Minderjährige. Einen allgemeinen Anſpruch auf Reſtitu-

tion haben ſie überhaupt nicht, alſo auch nicht bey Gele-

genheit des Irrthums. Wenn aber der Fall, worin ihnen

ein Irrthum Nachtheil gebracht hat, ſo geſtaltet iſt, daß

dagegen ohnehin, und ſelbſt Männern, Hülfe gewährt wird,

dann haben die Frauen die Begünſtigung, daß ihnen auch

der Rechtsirrthum, nicht blos wie den Männern der facti-

ſche, zu gut kommen ſoll. Sie gehören alſo auch zu den

Perſonen, quibus jus ignorare permissum est, und das iſt

die einzige Ähnlichkeit, die wir zwiſchen ihnen und den

Minderjährigen annehmen können.

 

Jedoch iſt hierin noch eine wichtige Veränderung des

Rechts zu bemerken. Urſprünglich war dieſe Begünſtigung

der Frauen in Anſehung des Rechtsirrthums eben ſo un-

beſchränkt als die der Minderjährigen. K. Leo aber hob

dieſelbe im J. 469. als allgemeine Regel auf, und ließ ſie

 

(e) Von ſolchen Fällen müſſen

denn auch folgende etwas unbe-

ſtimmt beſchränkende Ausdrücke

verſtanden werden: L. 37 § 1 de

minor. (4. 4.) „utique atrocio-

ribus,” L. 1 C. si adv. del. (2.

35.) „Si tamen delictum non

ex animo, sed extra venit …

restitutionis auxilium compe-

tit.” Auf die culpoſen Delicte im

Allgemeinen kann dieſe mildernde

Vorſchrift nicht bezogen werden,

da gerade bey der actio Legis

Aquiliae die Reſtitution ſchlecht-

hin verneint wird (Note d).

|0445 : 433|

Irrthum und Unwiſſenheit.

nur als Ausnahme für diejenigen einzelnen Fälle fortdau-

ern, worin ihre Anwendung in früheren Geſetzen ſpeciell

erwähnt worden war (a). Von dieſer Änderung des Rechts

haben ſich die ſichtbarſten Spuren erhalten theils in In-

terpolationen (b), theils in ſolchen Stellen, worin das frü-

her ausgedehntere Recht nicht ſowohl ausgeſprochen, als

unverkennbar vorausgeſetzt iſt (c). — Nur für Eine Art

(a) L. 13 C. h. t. „Ne passim

liceat mulieribus omnes suos

contractus retractare, in his

quae praetermiserint vel igno-

raverint: statuimus, si per ig-

norantiam juris damnum ali-

quod circa jus vel substantiam

suam patiantur, in his tantum

casibus, in quibus praeterita-

rum legum auctoritas eis suf-

fragatur, subveniri.” Hätten wir

dieſe Stelle allein, ſo könnte man

annehmen, das Recht der Frauen

ſey von jeher ſo beſchränkt ge-

weſen, und die bisher geltende

Rechtsregel ſollte nicht abgeän-

dert, ſondern nur eingeſchärft

werden. Allein die Stellen in

Note b. und c. machen die im

Text dargeſtellte Erklärung nöthig.

(b) L. 3 C. Th. de integri re-

stit. (2. 16.) vom J. 414 „Etmulie-

ribus, et minoribus in his, quae

vel praetermiserint, vel ignora-

verint, innumeris auctoritatibus

constat esse consultum.” Daß

damit eine unbeſchränkte Begün-

ſtigung der Frauen in Beziehung

auf die juris ignorantia gemeynt

war, zeigt theils die unbeſtimmte

Allgemeinheit des Ausdrucks, theils

die Zuſammenſtellung mit den

Minderjährigen, deren Recht oh-

nehin unzweifelhaft iſt. Dieſelbe

Stelle nun lautet im Juſtiniani-

ſchen Codex (L. 8 C. de in int.

rest. min. 2. 22.) wörtlich eben

ſo, nur mit Weglaſſung der drey

erſten Worte (Et mulieribus et),

wobey die Abſicht unverkennbar

iſt, dieſes Recht der Frauen nicht

mehr gelten zu laſſen. — Eine

gleiche Interpolation, nur durch

Zuſetzen anſtatt durch Weglaſſen,

findet ſich in L. 9 pr. h. t. (Num.

XXX. Note c), wo die Worte in

quibusdam causis ganz im Sinn

der Conſtitution des K. Leo, ein-

geſchoben ſind.

(c) L. 3 C. de praescr. XXX.

(7. 39.) ſagt, bey Einführung der

dreyßigjährigen Klagverjährung:

non sexus fragilitate, non ab-

sentia, non militia contra hanc

legem defendenda (ſ. o. Num.

XXVII.) welches offenbar voraus-

ſetzt, daß die hier zuſammenge-

ſtellten Perſonen gegen die bis-

her bekannten kürzeren Verjäh-

rungen Reſtitution haben konnten,

weil es außerdem überflüſſig war,

dieſe Reſtitution für die neu ein-

III. 28

|0446 : 434|

Beylage VIII.

von Rechtsgeſchäften ſollte auch ſchon im älteren Recht

die juris ignorantia den Frauen nicht zu gut kommen, bey

Schenkungen nämlich (d).

Wir haben alſo nunmehr die einzelnen Fälle aufzuſu-

chen, in welchen die Frauen ausnahmsweiſe befugt ſeyn

ſollen, ſich auf ihre Rechtsunwiſſenheit zu berufen, und

worauf der Ausdruck der Conſtitution von Leo (in his tan-

tum casibus), nach dem Inhalt der Juſtinianiſchen

Geſetzgebung, allein noch anzuwenden iſt.

 

Es gehört dahin die Annahme eines untauglichen Bür-

gen im Prozeß (Num. XIX. Note d.).

 

Ferner die unterlaſſene Urkundenedition (Num. XXIX.).

 

Ferner die verſäumte Form, welche nach aufgelöſter

Ehe im Fall der Schwangerſchaft zu beobachten war

(Num. XXIX.).

 

Ferner die Zahlung einer ſolchen Schuld, gegen welche

ſie durch die exceptio Scti Vellejani geſchützt war, wenn

die Frau dieſes Senatusconſult nicht kannte (e).

 

geführte längere Verjährung zu

verbieten. Bey den Frauen nun

kann dieſe Reſtitution nichts An-

deres ſeyn, als eine Folge der

ihnen damals allgemein nachge-

ſehenen Rechtsunwiſſenheit. —

Eben dahin gehört die in den

Stellen der folgenden Note er-

wähnte Ausnahme bey Schenkun-

gen, die nur unter Vorausſetzung

der entgegengeſetzten Regel bey

allen anderen Rechtsgeſchäften

Sinn hat. Endlich auch die all-

gemeine Gleichſtellung von rusti-

citas und sexus im L. 2 § 7 de

j. fisci (49. 14.).

(d) L. 11 C. h. t., und die

auf dieſelbe Ausnahme anſpielen-

den Worte ne maribus quidem

in L. 8 h. t. Vgl. über beide

Stellen oben Num. VIII.

(e) L. 9 C. ad Sc. Vell. (4. 29.).

Es iſt dieſes eine einzelne Aus-

nahme von der Regel, welche die

condictio indebiti im Fall des

Rechtsirrthums überhaupt aus-

ſchließt. Donellus will dieſe

Ausnahme auf alle von Frauen

|0447 : 435|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Außerdem aber gehören dahin auch die Fälle des Straf-

rechts, worin die Frau aus Unkunde eines völlig poſitiven

Strafgeſetzes (juris civilis) gefehlt hat. Hierin ſteht die

Frau mit dem Minderjährigen noch jetzt faſt ganz auf

gleicher Linie. Als ſolche Fälle werden namentlich erwähnt:

Incestus juris civilis, Sc. Turpillianum, und das Vergehen

der Frau, welche in ein ihr dictirtes Teſtament Verfügun-

gen zu ihrem eigenen Vortheil aufnimmt; dieſes letzte je-

doch nur unter beſonderen, entſchuldigenden Umſtänden

(Num. XXI.).

 

Dagegen kommt nun gewiß nicht mehr der Rechtsirr-

thum einer Frau zu gut in folgenden wichtigen Fällen:

 

Bey dem Titel einer Uſucapion.

Bey der Friſt der Bonorum Possessio (f).

Bey der Friſt der Klagverjährung.

Denn für die dreyßigjährige iſt ihr die Begünſtigung aus-

drücklich unterſagt (Num. XXVII.), für die kürzeren aber

iſt ſie ihr nicht beſonders beygelegt, folglich kann ſie dar-

 

aus Rechtsirrthum geleiſtete Zah-

lungen ausdehnen (I. 21 § 13),

und er führt zum Beweiſe an

die L. 5 C. de pactis (2. 3.).

Allein die Worte dieſer Stelle

„cum et solutum per ignoran-

tiam repeti potuisset” können

eben ſo gut von einem factiſchen

Irrthum verſtanden werden, be-

weiſen alſo jene ausgedehnte Aus-

nahme nicht.

(f) Hier iſt die Begünſtigung

ausdrücklich verneint in L. 3 C.

h. t., und L. 6 C. qui admitti

(6. 9.). Beide Stellen ſind älter

als die Verordnung des K. Leo.

Ob ſie nun mit Rückſicht auf dieſe

interpolirt ſind (was man ihnen

allerdings nicht anſieht), oder ob

den Frauen von jeher, bey der

B. P. allein, der Rechtsirrthum

weniger als in allen anderen Fäl-

len zu Hülfe kommen ſollte, muß

unentſchieden bleiben. Das Re-

ſultat des neueſten Rechts iſt un-

zweifelhaft.

28*

|0448 : 436|

Beylage VIII.

auf, nach dem Geſetz des K. Leo, keinen Anſpruch mehr

haben, obgleich ſie einen ſolchen vor dieſem Geſetz ohne

Zweifel hatte.

XXXII.

Es iſt ferner zu betrachten der Zuſtand ganz roher,

ungebildeter Menſchen (Rusticitas), deren allgemeine

Unwiſſenheit auch über ihre beſondere Rechtsunkunde kei-

nen Zweifel läßt (a).

 

Dieſe haben eben ſo wenig, als die Frauen, einen

allgemeinen Reſtitutionsgrund. Ihnen kommt die Rechts-

unwiſſenheit nur in folgenden einzelnen Fällen zu gut.

 

Bey der verſäumten Friſt der Bonorum Possessio,

wobey ſie gerade den Frauen nicht geſtattet iſt (Num.

XXIV.) (b).

 

(a) Rusticitas bezeichnet alſo

nicht einen Stand oder ein Ge-

werbe, ſondern einen Geiſteszu-

ſtand, der ſich allerdings vorzugs-

weiſe bey dem abgeſonderten Le-

ben der unterſten Klaſſen auf dem

Lande finden wird. Imperitia iſt

zweydeutiger: Es heißt oft die

Unwiſſenheit im Einzelnen, als

Thatſache, alſo ſo viel als igno-

rantia. Einigemal ſteht es ne-

ben rusticitas (imperitia vel ru-

sticitas, vgl. Num. XXI. Note

h. k und t). Dann heißt es wohl

die allgemeine Rechtsunwiſ-

ſenheit der einzelnen Perſon,

die neben mancher andern Art

von Kenntniß oder Bildung be-

ſtehen kann, und darum von der

umfaſſenderen rusticitas noch ver-

ſchieden iſt. — Vgl. auch Müh-

lenbruch S. 446 fg.

(b) Es iſt wohl nicht zufällig,

daß gerade hierin eine Begünſti-

gung gilt. Verwandtſchaft und

Erbſchaft findet ſich bey jeder Bil-

dungsſtufe, und iſt auch jedem

Stande gleich wichtig. Bey ſehr

ungebildeten Menſchen wird es

aber leicht ſelbſt an der Ahnung

fehlen, daß Formen zu beobach-

ten und Rath einzuholen ſeyn

möchte. Frauen dagegen, die nicht

zu der unterſten Klaſſe gehören,

auch wenn ſie völlig rechtsunkun-

dig ſind, werden doch leichter die

|0449 : 437|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Bey der verſäumten Urkundenedition (Num. XXIX.).

 

Bey einigen ſtrafbaren Handlungen, deren Strafbar-

keit eine blos poſitive Natur hat; namentlich bey der Ver-

letzung obrigkeitlicher Edicte, Sc. Silanianum, und bey Un-

gehorſam gegen eine in jus vocatio (Num. XXI.).

 

In anderen Fällen, namentlich bey der Uſucapion und

der Klagverjährung, kann keine Ausnahme zum Vortheil

dieſes Zuſtandes behauptet werden.

 

XXXIII.

Bey Soldaten kamen zwey verſchiedene Rückſichten

zuſammen, um große Begünſtigungen zu bewirken: die An-

erkennung, daß ſie meiſt durch ihre Beſchäftigung an der

Erwerbung von Rechtskenntniſſen verhindert werden; zu-

gleich aber der Wunſch, durch Privilegien die Neigung

zum Soldatenſtand zu befoͤrdern, wovon ſich ja auch an-

derwärts viele Beyſpiele finden.

 

Dennoch haben ſie ihres Standes wegen eine allge-

meine Reſtitution, etwa gleich den Minderjährigen, nie

erhalten; in vielen Fällen aber werden ſie an der allge-

meinen Reſtitution der Abweſenden Antheil nehmen, die

ſogar urſprünglich als ein höchſt billiger Schutz der im

Feld ſtehenden Soldaten eingeführt worden iſt.

 

Dagegen iſt allerdings von den Kaiſern die unverſchul-

dete Rechtsunwiſſenheit der Soldaten im Allgemeinen an-

 

Wichtigkeit eines Todesfalls inſoweit begreifen, daß ſie um Rath fra-

gen werden.

|0450 : 438|

Beylage VIII.

erkannt worden (a). Indeſſen hat dieſelbe niemals zu ei-

ner allgemeinen Reſtitution der Soldaten wegen Rechts-

unwiſſenheit geführt, ſondern nur zu einzelnen, allerdings

wichtigen, Begünſtigungen, worüber jetzt eine Überſicht

gegeben werden ſoll.

Eine derſelben iſt zu einer regelmäßigen Rechtsform aus-

gebildet worden, und kommt alſo nicht mehr als Reſtitu-

tionsgrund in Betracht; es iſt das Soldatenteſtament, deſ-

ſen privilegirte Gültigkeit ausdruͤcklich durch die Rechts-

unkunde der Soldaten begründet wird (b).

 

Soldaten werden reſtituirt, wenn ſie die Friſt zur adi-

tio einer hereditas verſäumen (c), oder zur agnitio einer

Bonorum Possessio (d).

 

Wenn ſie aus Unkunde eine ſehr verſchuldete Erbſchaft

antraten, ſo erhielten ſie dagegen im früheren Recht Re-

ſtitution (e). Dieſe hat Juſtinian dadurch entbehrlich ge-

macht, daß er allgemein, nicht blos für Soldaten, das

Inventarium einführte, wodurch der Erbe von den die

Erbſchaft überſteigenden Schulden frey wird. Für dieſes

 

(a) L. 22 pr. C. de j. delib.

(6. 30.). „arma etenim magis

quam jura scire milites, sacra-

tissimus Legislator existimavit.

(b) L. 1 pr. de test. mil. (29.

1.). „simplicitati eorum con-

sulendum existimavi.” — pr. J.

de militari test. (2. 11.). „pro-

pter nimiam imperitiam.”

(c) L. 9 § 1 h. t. Ohne Zwei-

fel ſprach die Stelle von einer

cretio, und iſt daher interpolirt.

Im Juſtinianiſchen Recht muß ſie

verſtanden werden von einer Erb-

einſetzung, bedingt durch den An-

tritt innerhalb eines beſtimmten

Zeitraums, alſo dem Weſen nach

der alten cretio ähnlich.

(d) L. 1 C. de restit. mil.

(2. 51.).

(e) § 5 J. de hered. qual. (2.

19.), L. 22 pr. C. de j. delib.

(6. 30.).

|0451 : 439|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Inventarium freylich ſind kurze Friſten vorgeſchrieben; aber

von der Beobachtung dieſer Friſten ſind wieder die Sol-

daten dispenſirt (f).

Bey Strafgeſetzen genießen ſie keine allgemeine Be-

freyung. Ein Soldat, der in ein ihm dictirtes Teſtament

eine Verfügung zu ſeinem Vortheil aufnahm, erhielt Frey-

heit von der Strafe (Num. XXI. Note p).

 

Über dieſe einzelnen Fälle hinaus zu gehen, iſt ſelbſt

im Juſtinianiſchen Recht kein Grund vorhanden. Für das

heutige Recht aber müſſen wir die Unanwendbarkeit auch

dieſer Beſtimmungen behaupten, da ſie ſich auf die Stel-

lung der Soldaten als eines eigenen Standes bezieht, die

zu den Staatseinrichtungen, alſo zum öffentlichen Rechte,

gehört (g).

 

Faſſen wir die hier dargeſtellten Klaſſen von Perſo-

nen (Num. XXX — XXXIII.) unter einen gemeinſamen Ge-

ſichtspunkt zuſammen, ſo finden wir, daß ihnen allen mehr

als gewöhnlich die Rechtsunwiſſenheit nachgeſehen, das

heißt daß ſie zu ihrem Vortheil der factiſchen Unwiſſenheit

gleich behandelt wird; jedoch dieſes wieder in verſchiede-

nen Graden, ſo daß ſich eine durchgreifende praktiſche Re-

 

(f) L. 22 § 15 C. de j. delib.

(6. 30.).

(g) Anders iſt es mit dem Mi-

litärteſtament, wobey nicht blos

der Stand als ſolcher, ſondern

auch die Handlung unter beſon-

deren Umſtänden, in Betracht

kommt, welche Umſtände in un-

ſrer Zeit dieſelben ſind wie bey

den Römern. Ohnehin iſt dieſe

Teſtamentsform in den Deut-

ſchen Reichsgeſetzen ausdrücklich

anerkannt.

|0452 : 440|

Beylage VIII.

gel für die Vier Klaſſen nicht aufſtellen läßt. Aber nicht

blos dieſe Nachſicht muß bey ihnen angewendet werden,

ſondern es liegt dabey auch unzweifelhaft der Gedanke

zum Grunde, daß bey ihnen ſtets die Rechtsunwiſſenheit

als Thatſache vermuthet werde, ſo lange nicht ihre Rechts-

kenntniß beſonders bewieſen werden kann (h).

XXXIV.

Die juriſtiſche Lehre vom Irrthum iſt dadurch nicht

wenig verdunkelt worden, daß man (theilweiſe ſchon in

den alten Rechtsquellen) Fälle in dieſelbe eingemiſcht hat,

die eigentlich außer ihrem Gebiet liegen. Von einer Ein-

wirkung des Irrthums nämlich kann nur da die Rede ſeyn,

wo die gewöhnlichen, regelmaͤßigen Folgen ſolcher juriſti-

ſchen Thatſachen, die auf dem freyen Willen beruhen,

durch das Daſeyn eines Irrthums aufgehoben oder verän-

dert werden, indem der Wille, mit Rückſicht auf dieſen

Irrthum, als ein unvollkommner Wille betrachtet wird

(Num. II.). Iſt aber der Fall, worin ein Irrthum vor-

kam, auch ſchon an ſich ſelbſt ſo geſtaltet, daß es an den

nothwendigen Bedingungen einer juriſtiſchen Thatſache

fehlt, ſo iſt es nicht der Irrthum, der die Folgen derſel-

ben hindert, weshalb es unrichtig iſt, in dieſen Fällen von

einer Einwirkung des Irrthums zu reden, und dieſelben

überhaupt mit den bisher abgehandelten Fällen zuſammen

 

(h) Dieſe Anſicht iſt deutlich

ausgeſprochen bey dem Minder-

jährigen, der die Zollgeſetze über-

tritt, ſ. o. Num. XXI. Note m.

|0453 : 441|

Irrthum und Unwiſſenheit.

zu ſtellen. Man kann dieſe Fälle als unächten Irrthum

bezeichnen.

Wenn alſo ein Eigenthümer fälſchlich glaubt, ſeine

Sache gehöre einem Andern, und dieſe Meynung auch

wörtlich ausſpricht, ſo ſchadet das ſeinem Eigenthum

nicht (a). Eben ſo wenn er es dadurch ausſpricht, daß

er dem Andern, der dieſelbe Sache gegen einen Dritten

vindicirt, in dieſem Rechtsſtreit Beyſtand leiſtet (b). Eben

ſo, wenn er es durch die That erklärt, indem er dem An-

dern, den er für den Eigenthümer hält, Früchte der Sache

zukommen läßt (c). Der Grund der Unſchädlichkeit liegt

nicht in dem Irrthum, ſondern darin daß dieſe einſeitige

Handlungen ſchon an ſich ſelbſt keine rechtsverbindliche Na-

tur haben.

 

Wenn der Eigenthümer eines Sklaven dieſen aus Irr-

thum als einen freyen Menſchen anerkennt, ſo wird da-

durch der Sklave nicht frey, und der Eigenthümer oder

deſſen Erben können ihn noch immer in servitutem vindi-

ciren (d). Denn die Freyheit des Sklaven entſteht nur

durch die Freylaſſung in beſtimmten Formen (e), und die

 

(a) L. 18 C. de rei vind. (3.

32.).

(b) L. 54 de rei vind. (6. 1.).

(c) L. 79 de leg. II. (31. un.).

Hier heißt es „juris ignoratione

lapsi;” und dennoch ſollen ſie ihr

wahres Recht geltend machen

können.

(d) L. 8. 9 C. de jur. et

facti ign, (1. 18.). Dieſe beide

Stellen gehören unter diejenigen,

woraus man die unrichtige allge-

meine Regel gebildet hat, daß

jeder Irrthum den Willen aus-

ſchließe (Num. VII.). Der Aus-

druck derſelben iſt freylich nicht

vorſichtig genug gefaßt.

(e) Allerdings gehörte unter

dieſe Formen auch die unfeyer-

liche manumissio inter amicos,

|0454 : 442|

Beylage VIII.

einſeitige Anerkennung einer ſchon vorhandenen Freyheit iſt

eine gleichgültige, wirkungsloſe Handlung.

Wenn ein Erbe gegen ſeine Miterben eine unvollſtän-

dige Collation vornimmt, indem dieſe ſie für vollſtändig

halten, alſo nicht durch Vertrag das Fehlende erlaſſen,

ſo können dieſelben das Fehlende in der Theilung nach-

fordern, weil jene vorläufige Handlung an ſich nichts

Rechtsverbindliches hat (f). Es iſt alſo wie eine unvoll-

ſtändige Geldzahlung, die man für vollſtändig hält, und

wodurch die Nachforderung des Reſtes nicht ausgeſchloſ-

ſen wird (g).

 

Wer ein Stück ſeines Vermögens für mütterliches Erb-

gut irrig erklärt, da es in der That väterliches iſt, wird

dadurch nicht gebunden, weil eine ſolche einſeitige Erklä-

rung an ſich nichts Verbindliches hat (h).

 

Nach altem Recht ſollte der Eheloſe aus einem Teſta-

ment gar Nichts bekommen können, der Kinderloſe nur

die Hälfte des ihm angewieſenen Werthes; das, was ein

 

und die Berufung auf den Irr-

thum konnte dazu dienen, um die

Behauptung einer ſolchen zu wi-

derlegen. Dann aber ſtand doch

nur die Thatſache in Frage, und

der Grund, warum der Sklave

nicht frey wurde, lag nicht in dem

Irrthum, ſondern darin daß der

Wille des Herrn, den Sklaven

in einen Freyen zu verwandeln,

nicht vorhanden war.

(f) L. 20 pr. fam. hercisc.

(10. 2.).

(g) Wer zu viel zahlt, bedarf

einer condictio indebiti, weil

die Tradition des Geldes Eigen-

thum übertragen hat. Wer zu

wenig annimmt, bedarf weder

einer Klage noch einer Exception,

weil für den nicht gezahlten Theil

der Schuld noch gar nichts juri-

ſtiſch Wirkſames geſchehen iſt.

Nur wenn eine Acceptilation der

ganzen Schuld hinzugekommen

wäre, würde er eine condictio

gebrauchen.

(h) L. 5 C. de jur. et facti

ign. (1. 18.).

|0455 : 443|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Solcher nicht erwerben konnte, ſollte in vielen Fällen (ſpä-

terhin immer) dem Fiscus zufallen. Nur wer die ihm

günſtige Verfügung des Teſtaments und ſeine Incapacität

freywillig anzeigte, ſollte zum Lohn für dieſe Offenheit die

Hälfte der dem Fiscus gebührenden Portion erhalten (i).

Hatte er aber aus Irrthum die Anzeige gemacht, obgleich

er in der That nicht unfähig war (k), ſo ſollte ihm dieſe

irrige Anzeige nicht ſchaden, das heißt er ſollte dennoch

alles ihm Zugedachte bekommen, ohne die Hälfte an den

Fiscus abgeben zu müſſen (l). Der Grund lag hier offen-

bar nicht in dem entſchuldigenden Irrthum bey der Dela-

tion, ſondern darin daß der Anſpruch des Fiscus an ſich

gar nicht auf die Delation gegründet war, ſondern auf

die (in einem ſolchen Fall gar nicht vorhandene) Inca-

pacität.

Ein ähnlicher Fall iſt der, wenn Jemand ſeine eigene

Sache, die er für eine fremde hält, aus dem Beſitz eines

 

(i) L. 13 pr. § 1 de j. fisci

(49. 14.).

(k) Dieſes läßt ſich beyſpiels-

weiſe ſo denken. Das Geſetz ſollte

überhaupt nicht Anwendung fin-

den bey den an nahe Verwandte

angewieſenen Erbſchaften oder Le-

gaten. Nun konnte es geſchehen,

daß ein zum Erben eingeſetzter

Erbe ſich irrig für unfähig hielt,

entweder weil er über die Ver-

wandtſchaft in Unwiſſenheit war,

oder weil er die geſetzliche Be-

günſtigung nicht kannte; das erſte

war ein factiſcher, das zweyte

ein Rechtsirrthum.

(l) L. 13 § 10 de j. fisci (49.

14.), nach Reſcripten dreyer Kai-

ſer. L. 2 § 7 eod., nach com-

plura rescripta. Dann folgt aber

der Zuſatz, nach Einem Reſcript

könnte man behaupten, dieſe Frey-

heit von den Nachtheilen der ir-

rigen Selbſtdelation gelte nur „si

ea persona sit, quae ignorare

propter rusticitatem, vel pro-

pter sexum femininum, jus su-

um possit.” Von dieſem Zuſatz

wird ſogleich weiter die Rede ſeyn.

|0456 : 444|

Beylage VIII.

Andern entwendet, der gar kein Recht (auch nicht ein jus

in re) daran hat, vielleicht ſelbſt durch Diebſtahl in ihren

Beſitz gekommen iſt. Der entwendende Eigenthümer hat

zwar die Abſicht eines Diebſtahls, begeht aber einen ſol-

chen dennoch nicht, weil zum Weſen des Diebſtahls eine

Rechtsverletzung gehört, die hier unmöglich iſt. Es be-

freyt ihn alſo nicht etwa der entſchuldigende Irrthum, ſon-

dern der Umſtand, daß der Begriff des Diebſtahls (das

corpus delicti) gar nicht vorhanden iſt (m).

Unter einen gleichen Geſichtspunkt aber ſind ferner auch

die Fälle zu bringen, welche man als error in corpore

oder in substantia bezeichnet. Bey dieſen iſt gar nicht (ſo

wie bey dem wahren Irrthum) von einem unvollkomme-

nen, und darum oft minder wirkſamen, Willen die Rede,

ſondern vielmehr von einem Mangel an Übereinſtimmung

des Willens ſelbſt, mit der Erklärung des Willens (n).

Ein Beyſpiel wird die Grundverſchiedenheit ſogleich an-

ſchaulich machen. Wenn ein Kaufcontract über den Skla-

 

(m) Ähnliche Fälle kommen

auch im Prozeß vor. Dabey hängt

Alles von der Frage ab, unter

welchen Bedingungen die Erklä-

rung einer Partey an ſich unver-

bindlich, oder einer Berichtigung

empfänglich iſt, und die Beant-

wortung dieſer Frage kann nicht

aus der allgemeinen Lehre vom

Irrthum, ſondern nur aus den

beſonderen Beſtimmungen des

Prozeßrechts entnommen werden.

Dahin gehören L. 6 § 1 de off.

praes. (1. 18.), L. un. C. ut quae

desunt (2. 11.), L. 1. 2. 3 C. de

error. advoc. (2. 10.), und noch

mehrere andere Stellen.

(n) Vgl. hierüber das Rechts-

ſyſtem § 135. 138. Auf den er-

ror in corpore iſt am Wahr-

ſcheinlichſten zu beziehen L. 116

§ 2 de R. J. (50. 17.), eine der

Stellen, woraus man beweiſen

wollte, daß der Irrthum den Wil-

len überhaupt ganz ausſchließe

(Num. VII.). Vgl. § 136. m.

|0457 : 445|

Irrthum und Unwiſſenheit.

ven Stichus geſchloſſen wird, der Verkäufer aber hat zwey

Sklaven dieſes Namens, und Jeder der Contrahenten denkt

an einen andern Stichus, ſo hat Keiner von Beiden ge-

irrt, vielmehr hat Jeder einen beſtimmten und richtigen

Gedanken gehabt, und es fehlt nur an der Übereinſtim-

mung, die blos ſcheinbar vorhanden war, und über deren

Daſeyn allein Beide irrten. Wir haben alſo nicht zu

thun mit einem geſchloſſenen, wegen des Irrthums unwirk-

ſamen, Vertrag. Vielmehr fehlt das Daſeyn irgend eines

Vertrags gerade ſo, wie wenn Einer einen Vertrag an-

bietet, der Andere verneint, und der Erſte glaubt fälſch-

lich, eine Bejahung gehört zu haben.

Endlich gehören zu dieſem unächten Irrthum auch meh-

rere der ſchon oben abgehandelten Fälle. Wenn nämlich

wegen des Irrthums diejenige Auslegung einer Handlung

verneint wird, wodurch ſie außerdem als ſtillſchweigende

Willenserklärung zu betrachten geweſen wäre (Num. XII.),

ſo wollen wir nicht die regelmäßige Wirkung einer juri-

ſtiſchen Thatſache ausſchließen, ſondern vielmehr das Da-

ſeyn einer ſolchen verneinen, und nur den falſchen Schein

aufdecken, der uns zur Annahme dieſes Daſeyns verleiten

könnte. Ganz eben ſo verhält es ſich in den wichtigen

Fällen, worin wir wegen des Irrthums das Daſeyn eines

Dolus nicht annehmen können, alſo auch, weil derſelbe

gar nicht vorhanden iſt, jede rechtliche Folge deſſelben

ſchlechthin abweiſen müſſen (Num. XX — XXIII.).

 

Indem ich nun behaupte, daß alle dieſe Fälle des un-

 

|0458 : 446|

Beylage VIII.

ächten Irrthums aus der Lehre vom Irrthum ſorgfältig

entfernt werden müſſen, könnte man einwenden, dieſes ſey

eine überflüſſige, blos theoretiſche Strenge, da das Re-

ſultat ja doch daſſelbe ſey. Allein das praktiſche In-

tereſſe der Unterſcheidung iſt im Gegentheil ſehr groß.

Die Grundregel des eigentlichen Irrthums iſt die, daß

derſelbe, da wo er überhaupt von Einfluß iſt, dieſen Ein-

fluß dennoch verlieren ſoll, wenn er ein verſchuldeter, na-

mentlich alſo wenn er ein Rechtsirrthum iſt. In allen

hier zuſammen geſtellten Fällen dagegen kann es auf die-

ſen Umſtand durchaus nicht ankommen. Wer alſo durch

eine einſeitige Erklärung an ſeiner Sache das Eigenthum

eines Andern fälſchlich anerkennt, der iſt daran nicht ge-

bunden, auch wenn ein Rechtsirrthum ſeiner falſchen Mey-

nung zum Grunde liegt. In einer der oben angeführten

Stellen iſt dieſes ſogar ausdrücklich anerkannt (Note c).

Allerdings wird in einer anderen Stelle (Note l) eine ent-

gegengeſetzte Behauptung aufgeſtellt; die irrige Selbſtde-

lation an den Fiscus ſoll nur dann nicht ſchaden, wenn

der Irrthum durch die Ruſticität oder durch das weib-

liche Geſchlecht der irrenden Perſon entſchuldigt werde.

Allein dieſer (der Natur der Caducität ganz widerſpre-

chende) Satz wird doch nur als die mögliche Conſequenz

eines einzelnen (von den übrigen verſchieden lautenden)

Reſcripts verſuchsweiſe aufgeſtellt, nicht beſtimmt behaup-

tet; auch iſt darin eine bloße Fiscalität kaum zu verken-

nen. — Eben ſo iſt es bey dem error in corpore ganz

|0459 : 447|

Irrthum und Unwiſſenheit.

gleichgültig, ob das Misverſtändniß vielleicht von einer

Seite leicht zu vermeiden, alſo verſchuldet war. — End-

lich iſt auch da, wo der Dolus durch Irrthum ausge-

ſchloſſen wird, die Beſchaffenheit deſſelben ganz ohne Ein-

fluß, ſo daß ſelbſt der Rechtsirrthum keine nachtheilige

Folgen hat, wie dieſes in einer Stelle des R. R. (Num.

XXII.) ausdrücklich anerkannt wird.

XXXV.

Ich kehre jetzt zu der oben (Num. XI.) einſtweilen

ausgeſetzten, wichtigen und beſtrittenen, Frage zurück, ob

die condictio indebiti nicht blos durch einen factiſchen Irr-

thum (worüber kein Streit iſt), ſondern auch durch einen

Rechtsirrthum, begründet werden könne? Ich muß dieſe

Frage entſchieden verneinen, und habe hierin die größere

Zahl namhafter Rechtslehrer auf meiner Seite (a).

 

(a) Die Frage wird gleichfalls

verneint von Cujacius opp. VII.

895. Donellus I. 21 § 12. 18,

XIV. 14 § 5 — 10. Voet. XII. 6

N. 7. Cocceji XII. 6. qu. 14 (wo

zugleich viele Schriftſteller für die

Anerkennung dieſer Meynung in

der Praxis angegeben werden).

Merlin Répertorie v. Ignorance

§ 1. — Sie wird bejaht von Vin-

nius quaest. I. 47. Mühlen-

bruch S. 419 — 431. — Höpf-

ner § 954 unterſcheidet zwiſchen

Gewinn und Schadensabwen-

dung, womit ohnehin Nichts an-

zufangen iſt. Thibaut Pandek-

ten § 29 bejaht die Frage, aber

in den Vorleſungen (Braun

S. 41 — 43) fügt er die Bedin-

gung hinzu, wenn der Rechtsirr-

thum entſchuldbar ſey, und damit

bin ich ganz einverſtanden. Eben

ſo Bangerow Pandekten I.

S. 100 — 104, der alſo auch nur

ſcheinbar zu den Gegnern gehört.

Glück B. 13 S. 128 — 151 ver-

neinte zuerſt; nachdem aber die

Abhandlung von Mühlenbruch er-

ſchienen war, gerieth er (B. 22

S. 336 — 340) in ſolches Schwan-

ken, daß der Leſer völlig rathlos

bleibt.

|0460 : 448|

Beylage VIII.

Die hier ausgeſprochene Verneinung geht mit Noth-

wendigkeit hervor aus der ganzen, in gegenwärtiger Ab-

handlung dargeſtellten, Natur des Irrthums. Derſelbe

ſoll nicht überall helfen, ſondern nur ausnahmsweiſe in

einzelnen Fällen; auch die condictio indebiti verſteht ſich

nicht von ſelbſt, der Zahlende hat freywillig das Geld

veräußert, und es iſt beſondere Begünſtigung aus Billig-

keit, wenn ihm die Rückforderung verſtattet wird (b). In

den Fällen aber, worin der Irrthum zur Abwendung eines

Nachtheils geltend gemacht werden kann, iſt doch dieſe

Hülfe ausgeſchloſſen im Fall eines verſchuldeten Irrthums,

und als ein ſolcher wird in der Regel jeder Rechtsirr-

thum betrachtet (Num. III.). Durch dieſe allgemeine Be-

trachtung iſt die Verneinung der aufgeworfenen Frage be-

gründet, und ſie erhält eine große Unterſtützung dadurch,

daß dieſe Betrachtung ſich jetzt bereits in der Anwendung

auf ſo viele andere Rechtsverhältniſſe, worin der Irrthum

von Einfluß iſt, bewährt hat.

 

Ich will aber ſogleich einige, ſchon oben begründete,

Einſchränkungen des Satzes hinzufügen, wodurch vielleicht

die Gegner geneigter werden möchten ihn anzunehmen.

Der Satz gilt nicht, wenn der Irrthum nicht den Inhalt

der Rechtsregel, ſondern die Subſumtion einer verwickel-

ten Thatſache unter die Regel betrifft (Num. I. V.). —

Eben ſo auch nicht, wenn die Rechtsregel ſelbſt nicht leicht

mit Sicherheit zu erkennen iſt, welches ſowohl bey dem

 

(b) Cujacius opp. VII. 895. A.

|0461 : 449|

Irrthum und Unwiſſenheit.

controverſen, als bey dem partikulären Recht vorzugs-

weiſe der Fall ſeyn wird; denn in dieſen Fällen führt ſelbſt

die Erkundigung bey Rechtsverſtändigen oft zu keinem ſichern

Erfolg, wodurch alſo der Rechtsirrthum, wo er ſich zeigt,

zu einem unverſchuldeten wird (Num. IV.). Dieſes wird

häufiger in unſrem heutigen Rechtszuſtand eintreten, aber

auch bey den Römern fehlt es nicht an Beyſpielen eines

Rechtsirrthums, bey welchem nach dieſem Grundſatz die

condictio indebiti zugelaſſen werden mußte. So z. B.

wenn der Erbe ein unter unmöglicher Bedingung aufer-

legtes Damnationslegat auszahlte (c), oder wenn der Kauf

auf die Beſtimmung des Kaufpreiſes durch eine dritte Per-

ſon geſchloſſen war, und nun der Käufer das Geld aus-

zahlte (d). Denn in dieſen beiden Fällen war vor Juſti-

nian die Gültigkeit der Obligation controvers, und es

konnte daher von keiner Seite der etwa vorhandene Rechts-

irrthum als ein verſchuldeter, leicht zu vermeidender, an-

geſehen werden. — Ferner darf auch der aufgeſtellte Satz

nicht zur Anwendung kommen, da wo nicht der Irrthum

als ſolcher, ſondern etwas außer ihm Liegendes, das Über-

wiegende iſt. Dieſer Fall tritt ein, wenn der Empfänger

den Irrthum veranlaßt hat oder wenigſtens wiſſentlich dul-

det (Num. V.). Hier gilt der Empfang des Geldes ſo-

gar als wahrer Diebſtahl (e), wobey es natürlich keinen

(c) Gajus Lib. 3 § 98.

(d) Gajus Lib. 3 § 140.

(e) L. 18 de condict. furtiva

(13. 1.). „.... furtum fit, cum

quis indebitos numos sciens ac-

ceperit” …

III. 29

|0462 : 450|

Beylage VIII.

Unterſchied machen kann, ob es bey dem Geber ein facti-

ſcher oder ein Rechtsirrthum war. Dann aber muß con-

ſequenterweiſe auch für den Fall, wo nicht ſogleich Geld

gegeben, ſondern erſt eine Obligation contrahirt war (in-

debita obligatio) (f), dem Schuldner die condictio inde-

biti geſtattet werden. Ja wollte man ſie verſagen, ſo

würde ihm wenigſtens die doli actio eingeräumt werden

müſſen, worin aber eine noch härtere Behandlung des

Gegners liegen würde. Daſſelbe aber, was hier vom Do-

lus behauptet worden iſt, muß gewiß auch gelten in den

ausgenommenen Fällen, worin ſelbſt das wiſſentlich Ge-

zahlte mit der Condiction zurückgefordert werden kann, wie

bey der Spielſchuld, der nicht inſinuirten großen Schen-

kung, und den wucherlichen Zinſen; denn da, wo ſelbſt

das Bewußtſeyn des Zahlenden die Condiction nicht hin-

dert, kann um ſo weniger der etwa vorhandene Rechts-

irrthum im Wege ſtehen, indem hier überhaupt nicht der

Irrthum das entſcheidende Moment iſt, ſondern die durch-

greifende Handhabung abſoluter Rechtsregeln. — Endlich

aber wird jener Satz auch nicht gelten können zum Nach-

theil ſolcher Perſonen, denen im Allgemeinen jeder Rechts-

irrthum nachgeſehen wird. Dieſes iſt unſtreitig der Fall

bey den Minderjährigen (Num. XXX.). Im früheren

Recht war es eben ſo bey den Frauen; im Juſtinianiſchen

Recht iſt nur noch als einzelne Ausnahme der Fall übrig,

wenn eine Frau aus Unbekanntſchaft mit dem Sc. Velle-

(f) L. 5 § 1 de act. emti (19. 1.), L. 51 pr. de pactis (2. 14.).

|0463 : 451|

Irrthum und Unwiſſenheit.

janum eine Zahlung leiſtet, die ſie verweigern konnte

(Num. XXXI. e).

XXXVI.

Für die entgegengeſetzte Meynung werden folgende all-

gemeine Gründe geltend gemacht.

 

1. Die Regel, daß ſich Niemand durch den Schaden

eines Andern bereichern ſoll (a). — Dieſe Regel iſt in-

deſſen ſo allgemeiner und unbeſtimmter Natur, daß ſie eine

unmittelbare Anwendung auf die Beurtheilung praktiſcher

Rechtsfragen gar nicht zuläßt, ſondern lediglich auf die

Entſtehung mancher Rechtsregeln Einfluß gehabt hat, ſo

daß ſie höchſtens als einzelnes Element in wirklich prakti-

ſchen Regeln enthalten iſt, wo ſie nur in Verbindung mit

ſehr concreten Vorausſetzungen Leben und Wirkſamkeit er-

hält. So wird ſie in der That in den angeführten Stellen

(Note a) erwähnt, und zwar gerade als ein Element der

in der condictio indebiti wirkſamen praktiſchen Regel, ſo

daß wir aus ihr allein unmöglich den Umfang der zur

condictio indebiti noch außerdem nöthigen rein praktiſchen

Bedingungen beſtimmen können. Wollten wir aber in der

That jener Regel, nach ihrer buchſtäblichen Faſſung, prak-

tiſche Anwendbarkeit einräumen, ſo würden wir ſogleich

durch die Folgen zur Umkehr genoͤthigt werden. Denn

nach ihr koͤnnte jeder theure Kauf angefochten werden,

 

(a) L. 14 de cond. indeb. (12. 6.), L. 206 de R. J. (50. 17.)

Mühlenbruch S. 417.

29*

|0464 : 452|

Beylage VIII.

weil durch ihn der Verkäufer mit dem Schaden des Käu-

fers reicher wird. Um die Sicherheit eines lebendigen

Verkehrs, die auf der Möglichkeit des Gewinns und Ver-

luſtes durch freyen Austauſch beruht, wäre es alsdann

geſchehen.

2. Der Umſtand, daß ſo viele Stellen, und zwar na-

mentlich im Digeſtentitel de condictione indebiti, den error

im Allgemeinen als Bedingung der Condiction ausdrücken,

ohne den Rechtsirrthum auszuſchließen (b). — Dieſer Grund

widerlegt ſich durch den oben dargeſtellten Zuſammenhang,

in welchem allein der Rechtsirrthum vorkommt. Allerdings

iſt error die wahre Bedingung der Condiction, aber es iſt

dieſem Begriff in allen Anwendungen (nicht blos bey der

Condiction) die nähere Beſtimmung gegeben worden, daß

er, um wirkſam zu ſeyn, nur nicht ein verſchuldeter Irr-

thum ſeyn dürfe, wohin aber in der Regel jeder Rechts-

irrthum gehört. War es nun nöthig oder moͤglich, bey

jeder einzelnen Erwähnung des Irrthums dieſe nähere

Beſtimmung ausführlich zu wiederholen? Es war genug,

wenn ſie in einzelnen Stellen niedergelegt war, und dazu

war der Titel de juris et facti ignorantia gerade der paſ-

ſende Ort. Dieſe Anſicht der Sache erhält volle Beſtäti-

gung durch die ſchlagende Analogie der actio quod metus

causa. Bey dieſer iſt metus die allgemeine Bedingung,

ſo einfach wird ſie im Edict, und auf gleiche Weiſe in

 

(b) Mühlenbruch S. 420. 421. — Vgl. hierüber Donellus

XIV. 14. § 6. 7.

|0465 : 453|

Irrthum und Unwiſſenheit.

zahlreichen Anwendungen des Digeſtentitels ausgedrückt.

Beyläufig wird geſagt, es reiche nicht jede Furcht hin,

ſondern nur die vor einem großen Übel, und nur die vor

einem wahrſcheinlichen, nicht in der Ängſtlichkeit einer un-

männlichen Seele gegründeten (c). Sollte nun etwa dieſe

Einſchränkung in jeder einzelnen Anwendung wiederholt

werden, und dürfen wir darum, daß dieſes nicht geſchehen

iſt, die Klage bey jeder Furcht ohne Unterſchied zulaſſen?

Der Fall iſt genau derſelbe, wie bey der Ausſchließung

des Rechtsirrthums als Veranlaſſung der condictio indebiti.

3. Der Rechtsirrthum könne überhaupt geltend gemacht

werden zur bloßen Abwendung eines Schadens, eine ſolche

aber, und nicht Gewinn, werde ſtets durch die Condiction

bezweckt. — Hier muß ich mich auf Dasjenige beziehen,

was oben über die Unhaltbarkeit dieſer ganzen Unterſchei-

dung ausgeführt worden iſt; insbeſondere auch darauf,

daß dieſelbe, gerade in Anwendung auf die Condiction,

zu gar keinem ſicheren Reſultat fuͤhrt (d).

 

4. Der Irrthum überhaupt werde bey der Condiction

nur gefordert, um die Abſicht der Schenkung auszuſchlie-

ßen (e), eine ſolche Abſicht aber ſey bey dem Rechtsirr-

thum eben ſo wenig, als bey dem factiſchen, vorhanden.

 

(c) L. 5. 6. quod metus (4. 2.).

(d) S. o. Num. VIII. — Um

dieſem Grunde zu begegnen, hatte

Donellus ſeine Unterſcheidung von

damnum rei amittendae und

amissae ausgeſonnen (I. 21 § 12.

8, XIV. 14 § 9).

(e) L. 53 de R. J. (50. 17.)

„Cujus per errorem dati repe-

titio est, ejus consulto dati do-

natio est.” L. 82 eod., L. 29 pr.

de don. (39. 5.), L. 47 de operis

libert. (38.1.), L. 7 § 2 pro emt.

(41.4.), L. 12 de novat. (46. 2.).

|0466 : 454|

Beylage VIII.

— Dieſer Grund iſt der ſcheinbarſte unter allen, jedoch

nicht entſcheidend. Es ſteht feſt, daß die wiſſentliche Zah-

lung (mit einigen Ausnahmen) nicht zurückgefordert werden

kann, wohl aber die aus factiſchem Irrthum geleiſtete; der

Rechtsirrthum iſt beſtritten. Der Fall der wiſſentlichen

Zahlung war am leichteſten und ſicherſten durch die Ab-

ſicht der Schenkung zu beſeitigen, und darum wurde vor-

zugsweiſe dieſer Grund geltend gemacht. Es folgt aber

daraus nicht, daß es der einzige Grund ſey, und daß in

Ermanglung deſſelben das Gegentheil gelten müſſe. Ge-

rade umgekehrt bedarf jede Anwendung der Condiction ei-

ner poſitiven Begründung, dieſe liegt in dem Irrthum, der

Irrthum aber darf überall, um wirken zu können, kein

verſchuldeter, alſo unter andern kein Rechtsirrthum ſeyn.

XXXVII.

Bisher iſt die Frage aus allgemeinen, für beide Mey-

nungen aufgeſtellten, Gründen erwogen worden; ich wende

mich jetzt zu einzelnen Ausſprüchen unſrer Rechtsquellen,

welche aber wiederum die Frage theils im Allgemeinen,

theils in der Anwendung auf beſondere Fälle, beantworten.

Allgemein redende Stellen ſind folgende.

 

L. 10 C. h. t. „Cum quis jus ignorans indebitam pe-

cuniam solverit, cessat repetitio. Per ignorantiam

enim facti tantum repetitionem indebiti soluti com-

petere tibi notum est.”

L. 6 C. h. t. „Si . . indebitam, errore facti, olei mate-

|0467 : 455|

Irrthum und Unwiſſenheit.

riam spopondisse . . animadverterit … condicentes

audiet.”

L. 7 C. h. t. „Error facti, necdum finito negotio, ne-

mini nocet” …

L. 6 C. de cond. ind. (4. 5.) „Si per ignorantiam facti

non debitam quantitatem pro alio solvisti . . restitui

eo agente providebit.”

L. 7 C. eod. „Fideicommissum vel legatum indebitum,

per errorem facti solutum, repeti posse, explorati

juris est.”

Wer dieſe übereinſtimmende Stellen läſe, ohne noch

irgend eine Meynung über die vorliegende Frage gefaßt

zu haben, möchte die entſcheidende Kraft derſelben ſchwer-

lich in Zweifel ziehen. Wir wollen zuſehen, was unſre

Gegner dawider vorzubringen haben (a). Alle dieſe Stel-

len, ſagt man, haben den großen Fehler, daß ſie Reſcripte

ſind: einem Reſcript aber ſoll niemals recht zu trauen

ſeyn, weil man nicht weiß, was noch neben dem mitge-

theilten Excerpt geſtanden hat, und wie viel von der darin

ſcheinbar enthaltenen Regel auf die beſonderen Bedingun-

gen des einzelnen Falles zu rechnen iſt. — Dieſer, die

Reſcripte überhaupt entkräftende, Grund darf indeſſen über-

all nur mit großer Vorſicht angewendet werden. Bey den

vier letzten unter den oben abgedruckten Stellen gewinnt

er dadurch Schein, daß in denſelben unſre Regel über den

Rechtsirrthum nur vermittelſt des argumentum a contrario

 

(a) Mühlenbruch S. 427 — 431.

|0468 : 456|

Beylage VIII.

gefunden werden kann, dieſes aber allerdings in Reſcripten

bedenklicher als in anderen Stellen iſt. Es wäre alſo

denkbar, daß die Kaiſer in dieſen vier Stellen die Zuläſ-

ſigkeit des factiſchen Irrthums ausgeſprochen hätten, ohne

dabey als Gegenſatz die Unzuläſſigkeit des Rechtsirrthums

andeuten zu wollen. Allein wahrſcheinlich iſt dieſes doch

nicht, weil ſonſt überall der Gegenſatz beider Arten des

Irrthums in der Art vorkommt, daß der eine hilft, der

andere nicht hilft. Wer alſo in irgend einer Anwendung

die helfende Natur des factiſchen Irrthums ausſpricht (wie

es in jenen vier Stellen geſchieht), der wird dabey ſo

nothwendig an die nichthelfende Natur des Rechtsirrthums

erinnert, daß er es faſt unvermeidlich ausdrücken müßte,

wenn er ſie nicht anerkennen wollte. — Allein ſelbſt jener

ſchwache Schein verſchwindet bey der erſten der abgedruck-

ten Stellen. Dieſe ſagt auf das Beſtimmteſte: der facti-

ſche Irrthum hilft zur condictio indebiti, der Rechtsirr-

thum hilft dazu nicht. Was ſagt nun dagegen Mühlen-

bruch? Nichts, als es ſey ein Reſcript, und es könne

irgend Etwas dabey geſtanden haben, wodurch die ausge-

ſprochene Regel beſchränkt, oder eigentlich vernichtet werde.

Doch nein: er giebt ſogar an, was daneben geſtanden

haben werde, nämlich ein Fall von der Falcidiſchen Quart.

Aber erſtlich iſt dieſes eine rein willkührliche Zuthat, und

zweytens führt es ihn gar nicht einmal zu ſeinem Zweck,

wie ſich ſogleich bey der folgenden Stelle zeigen wird.

Und heißt denn das überhaupt interpretiren? Die Römer

|0469 : 457|

Irrthum und Unwiſſenheit.

wußten auch, was Reſcripte ſeyen, und wie ſie behandelt

werden müßten, damit der Kern einer reinen Regel von

der Hülſe ſeiner zufälligen concreten Umgebung befreyt

würde. Von dem Theil des Reſcripts, welcher allein in

den Codex aufgenommen iſt, hätten ſie ohne Zweifel ge-

ſagt, wie ſie es von anderen Reſcripten wirklich ſagen:

illa pars rescripti generalis est (b).

Zu jenen allgemein redenden Stellen will ich nun noch

folgende hinzufügen, welche die Unzuläſſigkeit des Rechts-

irrthums in einzelnen Anwendungen ausſprechen (c).

 

L. 9 § 5 h. t. Der Erbe, welcher ein Legat ganz aus-

zahlt, ohne die Falcidia, wozu er berechtigt wäre, abzu-

ziehen, hat keine condictio indebiti, wenn er durch Rechts-

irrthum dazu veranlaßt wurde. Dieſer Satz wird durch

ein ausführliches Kaiſerreſcript belegt (d). Es iſt wohl

zu bemerken, in welchem Zuſammenhang dieſe Stelle ſteht.

Paulus hatte (im princ.) den allgemeinen Satz an die

Spitze geſtellt, der factiſche Irrthum ſey unſchädlich, der

Rechtsirrthum aber ſchädlich. Dieſe Sätze werden theils

mit Beſchränkungen verſehen, theils durch Anwendungen

erläutert, und eine ſolche Anwendung der Schädlichkeit

 

(b) Vgl. das Syſtem § 24

Note k.

(c) Unter dieſe einzelnen An-

wendungen kann man auch rech-

nen die irrige in jure confessio,

die nicht ſchadet, außer wenn ſie

auf einem Rechtsirrthum beruht.

Denn Das geht ganz aus dem der

condictio indebiti zum Grunde

liegenden Princip hervor (Num.

XIX. g).

(d) Wörtlich Daſſelbe, und eben

ſo beſtimmt, nur kürzer, findet

ſich in L. 9 C. ad. L. Falc.

(6. 50.).

|0470 : 458|

Beylage VIII.

des Rechtsirrthums iſt es denn auch, die in dem eben an-

geführten § 5 weitläufig dargeſtellt wird. Könnte man

noch daran zweifeln, daß es ſo gemeynt ſey, ſo würde

durch folgende Worte des Reſcrips jeder Zweifel ver-

ſchwinden:

„Quod si ideo repetitionem ejus pecuniae habere cre-

dunt, quod imperitia lapsi legis Falcidiae beneficio usi

non sunt: sciant, ignorantiam facti non juris prodesse:

nec stultis solere succurri, sed errantibus.”

 

Alſo wegen des Rechtsirrthums ſollen ſie die Condiction

nicht haben, und zwar weil in dem Rechtsirrthum ein

thörichter Leichtſinn liegt, deſſen Folgen ſie mit Recht zu

tragen haben. Es iſt wohl einleuchtend, daß die Entſcheidung

und der Grund derſelben ganz unverändert geblieben wäre,

wenn auch irgend eine andere Veranlaſſung der Condiction

vorgelegen hätte; ſo daß alſo die Erwähnung der Falcidia

ein ganz gleichgültiger Nebenumſtand war. — Zu dieſer

Stelle ſagt Mühlenbruch (e), der Grund der Entſcheidung

liege lediglich in der Falcidia. Die volle Auszahlung der

Legate ſey nämlich zwar keine naturalis obligatio, aber

doch eine Gewiſſenspflicht, und dieſes habe die Folge, daß

die Condiction wegen eines Rechtsirrthums wegfalle, die

bey jedem andern Indebitum gelten würde. Allein durch

dieſe Erklärung wird zuerſt willkührlich der oben darge-

legte Zuſammenhang der ganzen Stelle ignorirt. Eben

ſo wird ignorirt der wahre Sinn des von den Kaiſern

(e) Mühlenbruch S. 393. 394.

|0471 : 459|

Irrthum und Unwiſſenheit.

ausgeſprochenen Grundes, der ja auf jedes andere Inde-

bitum völlig eben ſo paßt. Was ſoll nun hier die Ge-

wiſſenspflicht die keine naturalis obligatio erzeugt? Sie

könnte nur erheblich ſeyn als Beweggrund der Auszahlung;

dann waren die Erben wegen ihres Edelmuths zu loben,

nicht als stulti zu ſchelten: davon alſo war im vorliegen-

den Fall gar nicht die Rede, ſondern vielmehr von einem

ganz entgegengeſetzten Beweggrund, dem Rechtsirrthum (f).

Die ganze von Mühlenbruch zur Rettung ſeiner Meynung

verſuchte Erklärung iſt alſo der Stelle völlig aufgezwun-

gen. Und dieſe Erklärung nun iſt es zugleich, die er zur

Fiction eines Rechtsfalls benutzt, der urſprünglich in der

L. 10 C. h. t. geſtanden haben ſoll (g). Wollte man ihm

alſo auch dieſe Fiction nachſehen, ſo würde damit für die

Vertheidigung ſeiner Sache gegen die L. 10 C. h. t. gar

Nichts gewonnen ſeyn.

Eine andere Stelle, L. 2 C. si adv. sol. (2. 33.) drückt

unſre Regel in folgender noch allgemeineren Anwendung aus:

„Indebito legato, licet per errorem juris a minore so-

luto, repetitionem ei decerni, si necdum tempus, quo

restitutionis tribuitur auxilium, excesserit, rationis est.”

 

Ein Minderjähriger hatte ein Legat, das er aus irgend

 

(f) Darum iſt es denn auch

völlig unrichtig, wenn Mühlen-

bruch a. a. O. mit L. 9 § 5 h.

t. die L. 2 C. de fideic. (6. 42.)

zuſammenſtellt. Denn in dieſer

letzten iſt geradezu von einem Fall

wiſſentlicher Zahlung aus Achtung

gegen den Willen des Verſtorbe-

nen die Rede. Der Inhalt bei-

der Stellen hat alſo gar keine

Ähnlichkeit.

(g) Mühlenbruch S. 430.

431.

|0472 : 460|

Beylage VIII.

einem Grunde nicht ſchuldig war, aus Rechtsirrthum aus-

gezahlt. Er ſoll es zurück bekommen, wenn die Reſtitu-

tionszeit noch nicht abgelaufen iſt. (Alſo nicht, wenn ſie

abgelaufen iſt; und eben ſo wenig, wenn die Zahlung von

einem Volljährigen geſchah. Gegen dieſes arg. a contrario

wird wohl Niemand Etwas einwenden.). — In dieſer

Stelle liegt wiederum eine reine, einfache Anwendung un-

ſrer Regel. Mühlenbruch erklärt auch ſie wieder aus der

(oben wiederlegten) Natur der Gewiſſenspflicht (h). Frey-

lich iſt er zu dieſem Behuf genöthigt, erſt noch den Fall

einer ſolchen in die Stelle hinein zu tragen; denn das inde-

bitum legatum, wovon die Stelle ſpricht, kann ja auch ſo

gedacht werden, daß dabey ſelbſt nach ſeiner Anſicht von

einer Gewiſſenspflicht nicht die Rede ſeyn würde (i).

XXXVIII.

Ich will nun noch die Stellen angeben, welche von

den Gegnern für ihre Meynung angeführt werden (a).

Davon iſt eigentlich nur die erſte von einiger Erheblichkeit.

 

L. 1 pr. ut in poss. (36. 4.). Der Teſtamentserbe

mußte den Legataren Caution ſtellen, und davon konnte

 

(h) Mühlenbruch S. 440,

verbunden mit S. 393. 394.

(i) So z. B. wenn der Teſta-

tor die Legate einem Miterben

allein auflegte, und der Minder-

jährige aus Rechtsirrthum glaub-

te, er ſey dennoch mit verpflichtet;

oder wenn der Legatar ein Pere-

grinus war, und der Minderjäh-

rige von dieſer Unfähigkeit Nichts

wußte, der Teſtator vielleicht auch

Nichts.

(a) Die meiſten dieſer Stellen

finden ſich bey Mühlenbruch

S. 418 u. fg., einige bey Glück.

|0473 : 461|

Irrthum und Unwiſſenheit.

ihn nach älterem Recht ſelbſt der Wille des Teſtators nicht

entbinden; dieſe letzte Beſtimmung wurde von M. Aurel

durch ein Reſcript aufgehoben, welches in die Semestria

dieſes Kaiſers aufgenommen wurde (b). Nun hatte ein

Erbe die ihm erlaſſene Caution dennoch geleiſtet. That

er es, weil er von dem Erlaß im Teſtament Nichts wußte,

ſo konnte er unſtreitig mit der condictio indebiti die Be-

freyung von der Caution verlangen. Wie aber, wenn er

dieſen Erlaß für unwirkſam hielt, alſo in einem Rechts-

irrthum befangen war? Darüber ſagt hier Ulpian:

„Adhuc tamen benigne quis dixerit, satisdationem con-

dici posse.”

 

Auf den erſten Blick iſt es einleuchtend, wie ſchüchtern

und zweifelnd der Juriſt ſeine Meynung vorbringt, gleich-

ſam verſuchsweiſe; daran iſt alſo wohl nicht zu denken,

mit dieſer einzelnen Äußerung die vielen entſchiedenen Aus-

ſprüche für die entgegengeſetzte Meynung zu entkräften.

Aber wie iſt auch nur dieſe zweifelnde Äußerung zu er-

klären, da alle andere Stellen ſo entſchieden ſprechen?

Man hat geſagt, es ſey hier nur ein geringes Intereſſe

im Spiel geweſen (c); das iſt völlig willkührlich, und wo

wäre die Gränze? Eine andere Erklärung iſt die, es

handle ſich hier von einer indebita promissio, nicht solu-

tio (d); aber beide haben nicht nur auch ſonſt überall glei-

(b) L. 46 de pactis (2. 14.),

L. 2 C. ut in poss. (6. 54.).

Über die Semestria von D. Mar-

cus vgl. das Syſtem § 24 Note v.

(c) Cujacius opp. IV. 1432.

(d) Donellus I. 21 § 18.

|0474 : 462|

Beylage VIII.

ches Recht, ſondern gerade die Nothwendigkeit des facti-

ſchen Irrthums wird auch bey der indebita promissio aus-

drücklich anerkannt (e). Andere ſagen, es ſey eine ſpecielle

Ausnahme, zur Aufrechthaltung des letzten Willens (f),

und dieſe Erklärung könnte zur Noth zugelaſſen werden.

Allein ich halte auch ſie nicht für nöthig, und erkläre die

zweifelnde Äußerung Ulpians aus der Natur des vorliegen-

den Rechtsſatzes. Dieſer enthält eine Abänderung des frühe-

ren Rechts, nicht etwa durch eigentliches Geſetz begrün-

det, ſondern durch praktiſches Bedürfniß herbeygeführt, und

in dem Reſcript eines Kaiſers anerkannt, das ja kein Geſetz

war, ungeachtet der Aufnahme in die Semestria (§ 24).

Es konnte alſo als ungewiſſes Recht betrachtet werden,

und in dieſer Sachlage konnte ein billiger, nachſichtiger

Prätor wohl Grund finden (benigne quis dixerit), den

Rechtsirrthum als unverſchuldet anzuſehen, und daher die

condictio indebiti zu geſtatten.

Die übrigen Stellen geben weit weniger Schein; die

meiſten trifft die gemeinſchaftliche Bemerkung, daß in ihnen

eben ſo gut ein factiſcher, als ein Rechtsirrthum voraus-

geſetzt werden kann, daß wir alſo dieſen erſt willkührlich

hinzu denken müßten, um die Stellen für unſre Frage ent-

ſcheidend zu machen.

 

L. 17 § 10 ad mun. (50. 1.). Kann factiſcher Irr-

thum ſeyn.

 

(e) L. 6 C. h. t.

(f) Glück B. 13 S. 145, und

eben ſo vor ihm Weſtenberg und

Weber, die er anführt.

|0475 : 463|

Irrthum und Unwiſſenheit.

L. 16 § 2 de minor. (4. 4.). Eben ſo; wahrſcheinlich

Irrthum über den Inhalt oder die Auslegung des Teſta-

ments. So iſt wenigſtens die Stelle nach dem Juſtinia-

niſchen Recht auszulegen; der Verfaſſer der Stelle (Ulpian)

wollte wohl ſagen, dieſe Frau würde auch nach ihrer

Volljährigkeit durch die Condiction geſchützt ſeyn, weil

nämlich zu ſeiner Zeit die Frauen auch durch den Rechts-

irrthum nicht leiden konnten (Num. XXXI.). Man muß

dann am Ende der Stelle leſen: munita (anſtatt munitus),

welches auch durch ſehr alte Ausgaben unterſtützt wird.

 

L. 10 C. de cond. ind. (4. 5.). Es hatte Einer zwey

Sachen alternativ verſprochen, und aus Irrthum beide

abgeliefert. Darüber waren Alle einig, daß er Eine zu-

rückfordern könne, nur das Wahlrecht war ſtreitig; Ju-

ſtinian entſchied für das Wahlrecht des zurückfordernden

Schuldners. — Auch hier iſt ein Rechtsirrthum nicht noth-

wendig vorauszuſetzen; der Inhalt oder die Auslegung der

Stipulation konnte zweifelhaft ſeyn, beſonders wenn die

Erfüllung nicht von dem urſprünglichen Schuldner, ſondern

von dem Erben ausgieng. Hätte ein Rechtsirrthum (über

die Natur der Alternativobligation) zum Grunde gelegen,

ſo wäre es undenkbar, daß von ſo vielen über die Neben-

frage ſtreitenden Rechtslehrern nicht Einer dieſen Haupt-

punkt auch nur der Erwähnung werth gehalten haben ſollte.

 

L. 16 § 4 de publicanis (39. 4.). Wer aus Irrthum

dem Zollpächter zahlt, was er nicht ſchuldig iſt, kann es

zurück fordern. — Auch hier kann der Irrthum ein facti-

 

|0476 : 464|

Beylage VIII.

ſcher ſeyn, z. B. in unrichtigem Wiegen der Waare be-

ſtehen. Aber ſelbſt wenn er das Zollgeſetz, z B. den Ta-

rif, betrifft, ſo hat doch die Condiction kein Bedenken.

Denn der Zollpächter kennt gewiß das Zollgeſetz; wenn

er alſo das indebitum dennoch annimmt, ſo iſt ſein Do-

lus unzweifelhaft, und dann iſt dieſer, und nicht der

Rechtsirrthum des Zahlenden, der Grund der Rückforde-

rung (Num. V. und XXXV.) (g).

L. 38 de cond. indebiti (12. 6.). In dem hier beur-

theilten Rechtsfall betraf der Irrthum nicht die Rechtsre-

gel, ſondern die Subſumtion der Thatſache, und hatte

daher die Natur eines factiſchen Irrthums (Num. I. und V.).

 

L. 37 de auro (34. 2.). Ob die Frauenkleider zu den

Ornamentis gerechnet werden ſollten, war eine die Ausle-

gung der Teſtamente betreffende Frage, mithin hatte ein

Irrthum darüber blos factiſche Natur. Eine beſtimmte

Rechtsregel iſt erſt entſtanden durch die Aufnahme dieſer

Stelle in die Digeſten. Auch iſt nicht geſagt, ob der Irr-

thum des Erben bereits zur Tradition, oder nur erſt zu

einer einſeitigen Erklärung geführt hatte, die ohnehin nicht

bindend war, und einer condictio indebiti zur Abhülfe

gar nicht bedurfte.

 

L. 79 de leg. II. (31. un.). Dieſe Stelle ſpricht von

 

(g) Selbſt die Worte der Stelle

weiſen nicht undeutlich auf den

Dolus des Zollpächters hin: „si

quid autem indebitum per er-

rorem solventis publicanus ac-

cepit;” alſo der Zahler allein

war im Irrthum, der Publicanus

benutzte das, und nahm ſtillſchwei-

gend das Geld an.

|0477 : 465|

Irrthum und Unwiſſenheit.

einer einſeitigen, ſchon ihrer Form nach nicht verbindli-

chen, Handlung, wobey es einer Condiction gar nicht be-

darf (Num. XXXIV. c).

L. 20 pr. fam. herc. (10. 2.). Es gilt hier daſſelbe

wie bey der vorhergehenden Stelle (Num. XXXIV. f)

Auch iſt dabey nicht einmal geſagt, daß gerade ein Rechts-

irrthum zum Grunde gelegen habe.

 

XXXIX.

Die condictio indebiti giebt außerdem Veranlaſſung,

auf eine ſchon oben (Num. III.) aufgeſtellte Anſicht über

den Beweis des Irrthums zurück zu kommen. Wo näm-

lich der Irrthum überhaupt hilft (welches in der Regel

nur vom factiſchen gilt), da wird zugleich ſein Daſeyn

von ſelbſt angenommen, anſtatt daß bey dem Rechtsirr-

thum, welcher überhaupt nicht helfen ſoll, auch ſchon das

bloße Daſeyn nicht anzunehmen iſt. Daher braucht denn

bey der Uſucapion, der mit einem Titel verſehene Beſitzer

den factiſchen Irrthum, der die bona fides möglich machte,

nicht zu beweiſen: eben ſo der Bonorum Possessor, dem

der Lauf der Agnitionsfriſt erſt angerechnet werden kann

von dem Tage, für welchen ihm die Kenntniß der Dela-

tion zuerſt nachgewieſen werden kann.

 

Dieſe ganze Anſicht liegt zum Grunde bey folgender

Beſtimmung, welche in Anwendung auf die condictio in-

debiti eine feſtere Regel über die Beweislaſt enthält, als

 

III. 30

|0478 : 466|

Beylage VIII.

ſonſt wohl über dieſelbe vorzukommen pflegt (a). Wenn

nämlich die Frage ſtreitig iſt, ob die Schuld vorhanden

war oder nicht, ſo ſoll der Zurückfordernde das indebi-

tum in der Regel beweiſen, alſo indirect auch den bey der

Zahlung vorgefallenen Irrthum: aber nicht etwa wegen

der allgemeinen Natur des Irrthums überhaupt, ſondern

gerade umgekehrt, nur wegen der beſondern Beſchaffen-

heit dieſes Falles. Der Grund wird nämlich darin ge-

ſetzt, daß nicht leicht Jemand ſo unvorſichtig ſeyn werde,

ſein Geld, wenn er Nichts ſchuldig iſt, wegzuwerfen (b):

dieſes aber beſonders in dem Fall, wenn außerdem der

Zahler als ein ſorgfältiger Mann und beſonnener Haus-

halter anerkannt iſt. Ausnahmsweiſe aber ſoll gerade das

Gegentheil angenommen, und dem Empfänger der Beweis

der Schuld auferlegt werden, wenn die Zahlung geſchah

von einem Minderjährigen, Weibe, Soldaten, Bauer, oder

überhaupt einem Solchen, der aller Geſchäfte unkundig,

oder einfältig und ſorglos iſt. Dieſe Eigenſchaften alſo

ſollen wieder die Unwahrſcheinlichkeit aufwiegen, daß Ei-

(a) L. 25 pr. § 1 de prob.

(22. 3.).

(b) „qui enim solvit, nun-

quam ita resupinus est, ut fa-

cile suas pecunias jactet, et in-

debitas effundat .... et ideo

eum, qui dicit indebitas sol-

visse, compelli ad probationes,

quod per dolum accipientis, vel

aliquam justam ignorantiae

causam indebitum ab eo solu-

tum” … Hier erſcheint alſo die

justa ignorantiae causa, die an-

derwärts als Bedingung eines zu-

läſſigen, nicht völlig verwerflichen

Irrthums vorkommt (Num. III.),

zugleich als Grund, das bloße

Daſeyn deſſelben anzunehmen:

und Dieſes iſt praktiſch um ſo

wichtiger, als der Irrthum ein

innerer Zuſtand iſt, der nur ſel-

ten und zufällig durch unmittel-

baren Beweis dargethan werden

kann.

|0479 : 467|

Irrthum und Unwiſſenheit.

ner ſein Geld wegwerfen werde. In der Mitte liegen

nun noch manche unentſchiednere Fälle, worin der Richter

ein freyes Urtheil nach den individuellen Umſtänden haben

muß. Im Ganzen aber liegt die Hauptanſicht zum Grunde,

daß der factiſche Irrthum, da wo jene beſondere Unwahr-

ſcheinlichkeit nicht vorhanden iſt, Dem der ihn behauptet,

vorläufig wohl geglaubt werden kann.

XL.

Es ſind oben zwey ſcheinbare Principien für die Lehre

vom Irrthum geprüft und verworfen worden (Num. VII.

VIII.); dieſe laſſen ſich jetzt, nachdem dieſe Lehre im Ein-

zelnen durchgeführt worden iſt, mit noch größerer Sicher-

heit zu ihrer wahren und ſehr beſchränkten Bedeutung zu-

rückführen.

 

Das eine lautete ſo: der Irrthum ſchließt das Daſeyn

des freyen Willens ſelbſt aus. Was zu einem ſo ſtarken

Ausdruck in einigen Stellen des Römiſchen Rechts Gele-

genheit gab, waren nur folgende einfache Sätze: Wenn

eine Handlung als ſtillſchweigende Willenserklärung gelten

ſoll, darf ſie nicht auf Irrthum beruhen, ſonſt würde man

ihr durch jene Auslegung Gewalt anthun (Num. XII.

Note a und c). Ferner: Wenn eine Handlung ſchon an

ſich, ihrer Form nach, keine verbindliche Kraft hat, ſo

wird ſie noch weniger als Grund eines Rechts angeführt

werden können, wenn ſie auf Irrthum beruht (Num. XXXIV.

Note d und o).

 

30*

|0480 : 468|

Beylage VIII.

Das andere Princip war: Der factiſche Irrthum hilft

in allen Fällen, der Rechtsirrthum nur wenn man Scha-

den abwenden, nicht wenn man reicher werden will. Die-

ſes ſehr eingreifende Princip zeigt ſich in den unzweifel-

hafteſten Anwendungen bald falſch, bald unbrauchbar zu

irgend einem ſicheren praktiſchen Reſultat. Als wahre

Veranlaſſung ergab ſich nur der Satz des älteren Rechts:

Frauen haben das Vorrecht, ſich eben ſowohl auf Rechts-

irrthum, als auf factiſchen Irrthum, berufen zu dürfen,

nur mit Ausnahme der Schenkungen. Dieſer Satz war

im ſpäteren Recht größtentheils aufgegeben worden. Durch

ungeſchickte Behandlung in der Compilation hatten dann

Stellen der alten Juriſten, welche jenen Satz enthielten,

die trügeriſche Geſtalt angenommen, in welcher ſie uns

jenes falſche Princip verkündigen (Num. VIII. XXXI.).

 

XLI.

Nachdem jetzt die Römiſche Lehre vom Irrthum dar-

geſtellt worden iſt, wird es nicht unintereſſant ſeyn, einen

vergleichenden Blick auf die Behandlung dieſer Lehre in-

neueren Geſetzbüchern zu werfen.

 

Das Preußiſche Landrecht ſtellt den allgemeinen

Satz auf: „Es kann ſich Niemand mit der Unwiſſenheit

„eines gehörig publicirten Geſetzes entſchuldigen“ (Einl.

§ 12), wovon es nur eine Ausnahme bey den Strafge-

ſetzen gegen vorher unverbotene Handlungen zuläßt (§ 13).

 

Bey den Willenserklärungen (I. 4 § 75—82) werden

 

|0481 : 469|

Irrthum und Unwiſſenheit.

Regeln aufgeſtellt, die großentheils mit den Römiſchen

Grundſätzen über den error in corpore u. ſ. w., jedoch

mit manchen Erweiterungen, übereinſtimmen. Dann aber

wird ausdrücklich der wichtige Satz anerkannt, daß jeder

andere Irrthum die Gültigkeit der Willenserklärung nicht

aufhebe, namentlich nicht der Irrthum im Beweggrund,

außer wenn der Gegner in dolo ſey, oder das Geſchäft

eine blos lucrative Natur habe (§ 83. 148—150). Die-

ſes ſtimmt im Ganzen mit dem R. R. überein, nur die

letzte Ausnahme enthält eine abſichtliche und nicht zu tad-

lende Abweichung von demſelben.

Endlich die condictio indebiti (I. 16) wird, ſo wie im

Römiſchen Recht, auf Irrthum des Zahlenden gegründet,

den Derſelbe zu beweiſen hat (§ 166. 178. 181). Ein Rechts-

irrthum aber iſt dazu deswegen nicht hinreichend, weil das

Daſeyn deſſelben in der Regel nicht angenommen werden

kann (a). Nur der Dolus des Gegners erſetzt jede an-

dere fehlende Bedingung (§ 167).

 

Im Ganzen alſo wird hier die Rechtsunwiſſenheit mit

noch weniger Nachſicht, als im Römiſchen Recht, behan-

delt, obgleich unſer heutiger Rechtszuſtand eine mildere

 

(a) Urſprünglich hatte Suarez,

dem R. R. folgend, die condic-

tio indebiti wegen jedes Rechts-

irrthums ſchlechthin verſagen wol-

len. Dieſes wurde ſpäterhin ver-

worfen, und die Condiction, dem

Grundſatz nach, für jeden Irr-

thum ohne Unterſchied zugelaſſen.

Jedoch iſt dieſe geänderte Anſicht

praktiſch nicht erheblich. Denn da

in der Regel ein Rechtsirrthum

gar nicht als vorhanden angenom-

men werden darf (L. R., Einlei-

tung § 12. 13), ſo kann man ſich

auch zur Begründung der con-

dictio indebiti auf denſelben nicht

berufen. Dieſer Gedanke liegt zum

Grunde bey L. R. I. 16 § 176. 184

|0482 : 470|

Beylage VIII.

Behandlung wohl rechtfertigen dürfte (Num. IV.). Man

wird aber jene Beſtimmung natürlich finden, wenn man

erwägt, daß bey der Abfaſſung des Landrechts die Er-

wartung gehegt wurde, das Recht werde von nun an

nicht nur unzweifelhaft, ſondern auch der ganzen Nation

bekannt ſeyn. Die angeführte Beſtimmung iſt ohne Zwei-

fel gemeynt von jedem Rechtsirrthum überhaupt; der Aus-

druck aber geht zunächſt auf das Daſeyn der einzelnen

Geſetze, indem deren Publication als das einzig entſchei-

dende Moment betrachtet wird. Es iſt alſo dabey nicht

beachtet, daß der Rechtsirrthum in den allermeiſten Fällen

nicht auf der Unbekanntſchaft mit dem Daſeyn eines ein-

zelnen Geſetzes, ſondern auf der Bildung einer unrichti-

gen, aus vielen Geſetzen abgezogenen, wiſſenſchaftlichen

Theorie beruhen wird. Wir müßten daher, zur Rechtferti-

gung jener Strenge des Landrechts, annehmen, daß Nie-

mand ohne eine leicht vermeidliche Nachläſſigkeit in einen

ſolchen theoretiſchen Irrthum gerathen könne. Dieſer An-

nahme aber ſteht ſchon die große Zahl von Geſetzdeclara-

tionen entgegen, die ſeit der Erſcheinung des Landrechts

nöthig gefunden worden ſind, und die faſt immer durch

irrige, oder widerſprechende, Entſcheidungen der mit wohl-

geprüften Perſonen beſetzten Gerichtshöfe veranlaßt wurden.

Das Öſterreichiſche Geſetzbuch ſagt § 2, ſo wie

das Preußiſche, es könne ſich Niemand durch die Unbe-

kanntſchaft mit dem Geſetze entſchuldigen (b). — Der Irr-

 

(b) Zeillar Vorbereitung zur Öſterreich. Geſetzkunde B. 4 S. 84

|0483 : 471|

Irrthum und Unwiſſenheit.

thum entkräftet den Vertrag nur bey dem Dolus des Geg-

ners (§ 871); nicht, wenn er durch einen Dritten oder

den Irrenden ſelbſt (alſo auch nicht wenn er durch blo-

ßen Zufall) entſtanden iſt (§ 875. 876). — Die condictio

indebiti wird durch jeden Irrthum begründet, auch durch

den Rechtsirrthum (§ 1431); welches letzte, verglichen mit

der vorher angegebenen Strenge der allgemeinen Vor-

ſchrift, nicht ganz conſequent ſcheint.

Das Franzöſiſche Geſetzbuch ſcheint im Fall je-

der Art des Irrthums die Verträge für ungültig anzuſe-

hen (art. 1109). In der That aber iſt damit doch nur

der error in corpore und Ähnliches gemeynt (art. 1110).

Der Irrthum im Beweggrund, wohin namentlich der über

den Werth und die Brauchbarkeit der Sache gehört, wird

unter der allgemeinen Bezeichnung der lésion begriffen,

und gegen dieſe finden zwar die Minderjährigen allgemein

Schutz (art. 1305), die Volljährigen aber in der Regel

nicht (art. 1313), und nur ausnahmsweiſe bey dem Ver-

 

rechtfertigt dieſe Vorſchrift da-

durch, daß bey einem guten ein-

heimiſchen Geſetzbuch ſelbſt der

minder Gebildete nicht leicht durch

Rechtsunwiſſenheit in Schaden

kommen könne. Das R. R., ſagt

er, geſtattete in mehreren Fällen

den Landleuten, Soldaten, Wei-

bern u. ſ. w. die Entſchuldigung

der Rechtsunwiſſenheit. „Bey ei-

ner zahlloſen Menge unordentlich

zuſammengehäufter, in einer

gelehrten, wenigſtens den er-

wähnten Perſonen unverſtändli-

chen Sprache abgefaßter Geſetze

war die Ausnahme billig, ja ſie

hätte billigerweiſe ſchon zur Zeit

der Römer .... beynahe auf alle

… ausgedehnt werden ſollen.“

Dabey ſcheint faſt die Voraus-

ſetzung zum Grund zu liegen, das

Römiſche Volk habe Wieneriſch

geſprochen, und deshalb die latei-

niſch geſchriebenen Volksſchlüſſe

und Edicte nicht verſtehen können.

|0484 : 472|

Beylage VIII.

kauf eines Grundſtücks mit einem Verluſt von mehr als

7/12 des Werthes. — Der Rechtsirrthum wird nur in zwey

einzelnen Fällen nachtheiliger, als der factiſche, behan-

delt: bey dem gerichtlichen Geſtändniß (art. 1356), und

bey dem Vergleich (art. 2052. 2053). In allen übrigen

Fällen ſtehen beide Arten des Irrthums einander ganz

gleich. Namentlich zur condictio indebiti berechtigt jeder

Irrthum ohne Unterſchied (art. 1235. 1376—1381), und

dieſer allgemeine Ausdruck wird von den Auslegern und

in der Praxis ſo verſtanden, daß auch der Rechtsirrthum

zur Klage berechtigt (c). Dieſes Letzte iſt bemerkenswerth,

da Pothier, deſſen Lehrmeynungen ſonſt auf die Beſtim-

mungen des Code überwiegenden Einfluß auszuüben pfle-

gen, für das Roͤmiſche Recht den entgegengeſetzten Grund-

ſatz vertheidigt (d).

Vergleicht man dieſe geſetzliche Beſtimmungen in Be-

ziehung auf die condictio indebiti, ſo geben ſie folgendes

merkwürdige Reſultat. Das Römiſche und das Preußiſche

Recht laſſen den Rechtsirrthum nicht zu, das Öſterreichi-

ſche und das Franzöſiſche laſſen ihn zu. Und betrachtet

man dieſe letzte Beſtimmung von dem legislativen Stand-

punkt aus, ſo liegt darin eigentlich die praktiſche Aner-

 

(c) Merlin Répertoire v. Igno-

rance § 1. Toullier droit ci-

vil T. 6 Num. 59—67 Num. 75.

T. 11 Num. 63.

(d) Pothier traités de bien-

faisance, Condictio indebiti

Num. 162. Anders freylich äu-

ßert ſich derſelbe an einem an-

dern Ort. Pandectae Justin.

XXII. 6. Num. 5.

|0485 : 473|

Irrthum und Unwiſſenheit.

kennung des Umſtandes, daß nach heutigem Rechtszuſtand

weniger, als nach dem Römiſchen, der Rechtsirrthum des

Zahlenden den Vorwurf großer Nachläſſigkeit begründen

könne (Num. XXXV.). Dieſe eingetretene Veränderung

iſt in den erwähnten Geſetzgebungen dahin ausgebildet wor-

den, daß die Präſumtion in Beziehung auf Verſchuldung

nunmehr auf die entgegengeſetzte Seite gelegt worden iſt.

Gedruckt bei den Gebr. Unger.

 

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